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Soz.- Praventivmed.43 (1998) 90-99 0303-8408/98/020090-10 $1,50 + 0.20/0 BirkhauserVerlag, Basel, 1998 Sozial- und Pr~ventivmedizin Erika Sieber, Veronique H~on, Stefan N. Willich tnstitut for Arbeits-, Sozialmedizin und Epiderniologie, Universitgtsklinikum CharitO, Humboldt-Universitgt zu Berlin Alkoholmissbrauch und-abh ingigkeit in der ehemaligen DDR und in den neuen Bundesl ndern sten ausser den Planabererfial- lungsangaben auch Teilnahme an ,,Volkswirtschaftlichen Massen- initiativen" und Gemeinschafts- erlebnisse abgerechnet werden (Brigadetagebuch) wie z.B. Bri- gadefeiern, Kegelabende, Brigade- ausflflge usw. die auch nicht ohne Alkoholkonsum abliefen. In der DDR war der Alkohol die bedeutsamste Droge, da daneben durch die nahezu undurchlassigen Grenzen und die fehlende Konver- tierbarkeit der W~ihrung kein Markt f~irillegalisierte Drogen ent- stehen konnte 1. Es ist bekannt, dass Alkoholgebrauch und -miss- brauch mit der sozialen Stellung korrelieren 2 und der gesellschaft- liche und pers6nliche Umgang mit Alkohol yon vielen Faktoren be- einflusst wird. In diesem Zusam- menhang ist der Begriff des ,,Kol- lektives" yon grosser Bedeutung. Die ,,Kollektivierung" der Arbeits- welt und das ,,kollektive Erleben" hat in der DDR neue Trinksitten geschaffen3. Dies wurde besonders in den Naturalien-Zugaben zum Gehalt deutlich, z.B. durch die Ver- gabe von Grubenschnaps an Berg- leute oder Deputat-Alkohol an Brauereimitarbeiter. Viele neue Anl~isse zum Trinken wurden geschaffen: z.B. neu festgelegte Ehrentage einer jeden Berufsgrup- pe: ,,Tag des Bauarbeiters", ,,Tag des Lehrers", ,,Tag des Einzelhan- dels" usw. Auch der Internationale Frauentag (8. Marz) war in den Betrieben immer Anlass zu gr6sse- ren Feiern. Auszeichnungen wie ,,Kollektiv der sozialistischen Ar- beit" oder ,,Aktivist der sozialisti- schen Arbeit", die allj~ihrlich in den Betrieben in Auswertung des ,,sozialistischen Wettbewerbs" der verschiedenen Arbeitskollek- tive bzw. Brigaden vergeben wur- den, waren Anlass zu ttichtigem Feiern. Urn die Anerkennung als ,,Kollektiv der sozialistischen Arbeit" erhalten zu k/Snnen, mus- Alkoholkonsum in der ehemaligen DDR Beim Alkoholkonsum sind 3 For- men zu differenzieren: Gebrauch, Missbrauch und Abh~ingigkeit von Alkohol. Der Alkoholmissbrauch erh6ht das Risiko far bio-psycho- soziale Schfiden. Nach Auffassung der WHO wird heute davon ausge- gangen, dass ab einem durch- schnittlichen taglichen Konsum yon 40 g Reinalkohol pro Tag fur M~inner (Frauen ab 20g) ein Gesundheitsrisiko besteht 4,2 Alko- holabhangigkeit hat vielf~iltige De- finitionen (DSM-III, DSM-III-R, ICD-10). Eine Definition yon 1992 aus den USA ist fur die Arbeit mit diesen Patienten von besonde- rer Wichtigkeit, weil darin der Schweregrad der Erkrankung deutlich wird: ,,Alkoholismus ist eine prim~ire, chronische Erkran- kung, deren Entwicklung und Manifestation durch genetisehe, 90

Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in der ehemaligen DDR und in den neuen Bundesländern

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Page 1: Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in der ehemaligen DDR und in den neuen Bundesländern

Soz.- Praventivmed. 43 (1998) 90-99 0303-8408/98/020090-10 $1,50 + 0.20/0 �9 Birkhauser Verlag, Basel, 1998

Sozial- und Pr~ventivmedizin

Erika Sieber, Veronique H~on, Stefan N. Willich

tnstitut for Arbeits-, Sozialmedizin und Epiderniologie, Universitgtsklinikum CharitO, Humboldt-Universitgt zu Berlin

Alkoholmissbrauch und-abh ingigkeit in der ehemaligen DDR und in den neuen Bundesl ndern

sten ausser den Planabererfial- lungsangaben auch Teilnahme an ,,Volkswirtschaftlichen Massen- initiativen" und Gemeinschafts- erlebnisse abgerechnet werden (Brigadetagebuch) wie z.B. Bri- gadefeiern, Kegelabende, Brigade- ausflflge usw. die auch nicht ohne Alkoholkonsum abliefen.

In der DDR war der Alkohol die bedeutsamste Droge, da daneben durch die nahezu undurchlassigen Grenzen und die fehlende Konver- tierbarkeit der W~ihrung kein Markt f~ir illegalisierte Drogen ent- stehen konnte 1. Es ist bekannt, dass Alkoholgebrauch und -miss- brauch mit der sozialen Stellung korrelieren 2 und der gesellschaft- liche und pers6nliche Umgang mit Alkohol yon vielen Faktoren be- einflusst wird. In diesem Zusam- menhang ist der Begriff des ,,Kol- lektives" yon grosser Bedeutung. Die ,,Kollektivierung" der Arbeits- welt und das ,,kollektive Erleben" hat in der DDR neue Trinksitten geschaffen 3. Dies wurde besonders in den Naturalien-Zugaben zum Gehalt deutlich, z.B. durch die Ver- gabe von Grubenschnaps an Berg-

leute oder Deputat-Alkohol an Brauereimitarbeiter. Viele neue Anl~isse zum Trinken wurden geschaffen: z.B. neu festgelegte Ehrentage einer jeden Berufsgrup- pe: ,,Tag des Bauarbeiters", ,,Tag des Lehrers", ,,Tag des Einzelhan- dels" usw. Auch der Internationale Frauentag (8. Marz) war in den Betrieben immer Anlass zu gr6sse- ren Feiern. Auszeichnungen wie ,,Kollektiv der sozialistischen Ar- beit" oder ,,Aktivist der sozialisti- schen Arbeit", die allj~ihrlich in den Betrieben in Auswertung des ,,sozialistischen Wettbewerbs" der verschiedenen Arbeitskollek- tive bzw. Brigaden vergeben wur- den, waren Anlass zu ttichtigem Feiern. Urn die Anerkennung als ,,Kollektiv der sozialistischen Arbeit" erhalten zu k/Snnen, mus-

Alkoholkonsum in der ehemaligen DDR

Beim Alkoholkonsum sind 3 For- men zu differenzieren: Gebrauch, Missbrauch und Abh~ingigkeit von Alkohol. Der Alkoholmissbrauch erh6ht das Risiko far bio-psycho- soziale Schfiden. Nach Auffassung der WHO wird heute davon ausge- gangen, dass ab einem durch- schnittlichen taglichen Konsum yon 40 g Reinalkohol pro Tag fur M~inner (Frauen ab 20g) ein Gesundheitsrisiko besteht 4,2 Alko- holabhangigkeit hat vielf~iltige De- finitionen (DSM-III, DSM-III-R, ICD-10). Eine Definition yon 1992 aus den USA ist fur die Arbeit mit diesen Patienten von besonde- rer Wichtigkeit, weil darin der Schweregrad der Erkrankung deutlich wird: ,,Alkoholismus ist eine prim~ire, chronische Erkran- kung, deren Entwicklung und Manifestation durch genetisehe,

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psychosoziale und umweltbedingte Jahr Faktoren beeinflusst werden. Die Erkrankung verl~iuft h/iufig pro- gressiv und t6dlich. Sie ist gekenn- i955 zeichnet durch eine unzureichende 1960 F~ihigkeit, den Alkoholkonsum zu 1965 kontrollieren, durch die zwanghaf- 1970 te gedankliche Beschfiftigung mit der Droge Alkohol, durch den 1975 Konsum von Alkohol trotz nach- 1980 teiliger Folgen und durch Denk- 1985 st6rungen, insbesondere durch 1986 Verdrangung des Problems. Alle 1987 diese Symptome k6nnen vorhan- 1988 den sein oder sporadisch auftre- 1989 ten." (Daunderer, Drogenhand- buch-7. Erg.Lfg. 12/93) 6. Die Entwicklung des j~ihrlichen Pro-Kopf-Verbrauchs an den ver- schiedenen alkoholischen Getran- kearten in der D D R ist in Tabelle 1 zu sehen. Da 50% des Alkohols von 10 % der Bev61kerung getrun- ken werden, ist der Verbrauch extrem schief verteilt in der Bev/Jl- kerung. Auf dieser Grundlage sch~itzte Keyserlingk 7 1987 auf der 1. Tagung der Arbeitsgemeinschaft ,,Suchtkrankheiten": in der D D R sind 9 % der Manner und 2 % der Frauen von einer permanenten Schfidigung durch Alkohol betrof- fen, wenn man die oberen Grenz- werte einer Gesundheitsschfidi- gung bei langzeitigem Konsum von tiber 80 g reinem Alkohol pro Tag bei Mgnnern und von tiber 50 g bei Frauen ansetzt 7. In einem internationalen Vergleich (49 L~inder, 1961-1988) hatte die DDR-Bev61kerung 1988 den hOch- sten Verbrauch an Spirituosen mit 16 Litern pro Person pro Jahr. Umgerechnet auf Reinalko- hol sind das 5,2 Liter 8 oder 47% des gesamten Reinalkoholkon- sums. Die Angaben zur bundes- deutschen Bev/51kerung im Jahr 1988 lagen hingegen bei 6 Litern Spirituosen bzw. 2,1 Litern Rein- DDR alkohol oder 18% des gesamten BRD Reinalkohols. Allerdings war der Pro-Kopf-Verbrauch an Rein- alkohol aller alkoholischen Ge- trfinkearten zusammengenommen insgesamt in der BRD immer

Bier (1) Wein/Sekt (1) Spirituosen (1) Reinalkohol [1) gesamt

68,5 1,7 4,4 3.9 79,5 3,2 3,5 4,1 80,6 4,2 4.7 4,8 95,7 5,0 6,6 6,1

119,7 7,4 8,6 8,0 139,1 9,6 12,3 10,1 141,6 10,3 15,2 10,3 142,t 10,9 15,4 10,5 141,3 11,7 15,9 10,7 143,0 12,1 16,1 11,0 t46,5 12,1 15,5 10,9

Quelle: Statistische Jahrb0cher der DDR. Der Pro-Kopf-Verbrauch wurde nach einer m Rat for Gegenseitige WlrtschaftsNIfe bescnlossenen Methodik berechnet. Er ergab sich ats Quotient aus dem Gesamtverbrauch und der mittleren 8evOlke- rung. Der Gesamtverbrauch wurde berechnet aus der Inlanderzeugung zuz~gtich des AussenhandeIs- saldos und unter Ber0cksichtigung der 8estandsveranderungen sowie der Verluste bei Lagerung, Trans- port und Weiterverarbeitung (Statist. Jahrbuch der DDR 1983, S. 271),

Tabelle 1. J#hrlicher Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol nach Getr~nkearten in der DDR.

gr6sser als in der ehemaligen DDR (Tabelle 2). In einer fiar die Berufsschulen repr~isentativen Untersuchung von 694 Lehrlingen (14-19 Jahre) des VEB (Volkseigener Betrieb) Bau- montagekombinat Schwerin im Jahre 1981 wurden 7 % der m~inn- lichen Lehrlinge als ,,alkoholkrank" (Kriterien: im letzten Jahr tgglich tiber 60 g Reinalkoholkonsum und zwanghafter Wunsch zum Trinken, viele soziale Schwierigkeiten) und 15 % als ~usserst ,,alkoholgefahr- det" (Kriterien: gleiche Trinkmen- ge aber ohne zwanghaften Wunsch zum Trinken, viele soziale Schwie-

rigkeiten) eingestuft. In einer wei- teren Studie eines Schweriner Betriebes, dem VEB Grtinanlagen wurden unter den 293 Besch~iftig- ten sogar 12% ,,alkoholabh~ingig" und 9,2% als ,,alkoholismusgef~ihr- det" diagnostiziertL Man kann davon ausgehen, dass diese Ergeb- nisse nicht zu verallgemeinern sind (Selektion durch Betriebsprofile) und damit eher eine lDberschat- zung erfolgt ist. Dagegen sind die Ergebnisse der Befragung einer repr~isentativen Stichprobe dcr Bev61kerung in 3 Kreisen von M6bius und Schirmer 19769 zum Trinkverhalten als realistischere

1960 1970 1980 1987 1988

4,1 6,1 10,1 10,7 11,0 7,3 10,8 12,5 t l ,8 11,8

1989: :

10,9 1t,8 .. . .

QueIle Statistische Jahrb0cher der DDR und der BRD.

Tabelle 2. Pro-Kopf-Verbrauch an Reinalkohol (L/ted im Jahr in der DDR und der BRD, 1960- 1989.

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Sch/itzung einzustufen. Bei einer Rate yon 3,2 % Verweigerern unter den Probanden kann eher yon einer Untersch/itzung des Alkohol- problems ausgegangen werden. Sie fanden unter den m/innlichen Facharbeitern 38,2% t/igliche A1- koholkonsumenten, 60% unter den ungelernten Arbeitern und 13,8% unter den Fach- bzw. Hoch- sehulabsolventen. 3,2% der be- fragten M/inner und 0,2% der Frauen gaben an, vom Alkohol nicht wieder losgekommen zu sein und wurden als ,,alkoholabh/ingig" erfasst. Zu Differenzierungen nach Trin- kertypen (Jellinek) bzw. zum Binge-Trinken liegen for die ehe- malige D D R keine Untersuchun- gen vor.

System der Alkoholiker- betreuung

Fiir die Betreuung verschiedener Krankheitsgruppen hatte sich ein Dispensairesystem entwickelt, u.a. auch das Suchtkrankendispen- saire 1~ Unter dem Suchtdispen- saire verstand man ein System, in dem alle Einrichtungen bzw. Perso- hen (Ambulanzen ftir Suchtkranke in Polikliniken, Tages- und Nacht- kliniken und Kreiskrankenhaus sowie pflegerischen Komplemen- t/ireinrichtungen bis hin zu Nach- betreuungsstrukturen inklusive Gruppen- und Selbsthilfegruppen- angeboten) zur Behandlung eines Abh/ingigen regional und iiberre- gional zusammenarbeiten. Dabei hielt die Abteilung bzw. Klinik fiir Suchtkranke oder falls vorhanden, die Fachambulanz fiir Alkohol- und Drogen eine SchlOsselposition inne (siehe Abb. 1). Die Dispensai- res unterschieden sich in Aufbau, Vernetzung, Kapazit/iten und Durchftihrung (Inhalte) der Betreuung von Abh/ingigen in den 15 Bezirken bzw. ihren Kreisen. Im April 1980 gab der Magistrat yon Berlin, Hauptstadt der DDR, Abteilung Gesundheits- und So-

Betriebe

Betriebsgesund heitswesen

Ambulanzen

AIIgemein- krankenhaus

Fach- Krankenhaus

Staatliche Organe

Selbstmeldung

Dispensa i re

Effassung

I Familie Betrieb

"-1" ambulant

- Motivations-Gruppe

--~ teilstation~r

- Tagesklinik

- Nachtklinik

- Wochenbetreuuna

--~ stationer

- Klinik for suchtkranke M~nner

-Abteilung for suchtkranke Frauen

- Neurologische b Klinik

- Neuropsychiatrische Intensivstation

- Psychiatrische Kliniken

- Abteilung for fnrensisehe P~vchi~tri~

- - * rein pflegerisch

- Chronisch- psychiatrische Stationen

- Bef~Jrsorgte Wohnheime

- Pflege- und Feierabendheime

Staatliche ] Organe

Intensivgruppe ] ~ DisPensaire , ~angze i t - [ Nachbetreuung I betreuung s- I I gruppe L'

Therapeutischer Klub I

Abbildung 1. Das Suchtkrankendispensaire (Windischmann 1990).

zialwesen den ,,Massnahmeplan zur weiteren Verbesserung der Betreuung von Alkoholkranken und Medikamentenabh/ingigen in der Hauptstadt far die Jahre 1980/81 ' 'n heraus. Darin wurden die Betreuungsstrukturen in den einzelnen Stadtbezirken Ostber- lins, die Kompetenzen und die Aufgaben der an der medizini- sehen Betreuung beteiligten Ein- richtungen festgelegt. Es gab in jedem Stadtbezirk eine Beratungs- stelle ftir Neurologie und Psychia- trie zur Erfassung und Betreuung der Alkohol- und Medikamenten- abh/ingigen. Die personelle Mini- malausstattung bestand aus einem arztlichen Leiter, einem Psycholo- gen und einem ftirsorgerisch t~iti- gen Mitarbeiter (jeweils vollzeitbe- sch/iftigt). Weiterhin waren alle

Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens angewiesen, die Patienten mit Verdacht auf Alko- hol- und Medikamentenabusus an die territorial zust/indige Bera- tungsstelle zu tiberweisen. 1989 bestand ein tiberregionales, station/ires Versorgungsnetz aus 50 speziellen Abteilungen fiir Alko- holkranke an psychiatrischen Krankenh/iusern, verteilt fiber die 15 Bezirke der DDR. Dabei gab es keine speziellen Behandlungsmo- delle for Untergruppen von Alko- holabh/ingigen wie Jugendliche, Frauen, Vorbestrafte, Krirninelle 8. FOr die ambulante Versorgung bestand 1989 ein Netz aus insge- saint 400 Beratungs- und Behand- lungsstellen (inklusive 263 ambu- lante Suchttherapiestellen) mit verschiedenen Betreuungsangebo-

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ten far Alkohol- und Medikamen- tenabhgngige 12. Fach~irzte (Neuro- logen, Psychiater, Internisten, All- gemeinmediziner, Sozialhygieni- ker) leiteten fberwiegend diese Suchttherapiestellen, so dass eine fach~rztliche Behandlung unmit- telbar durchgeftthrt werden konn- te. In den Alkohol-Beratungsstel- len arbeiteten Diplom-Psycho- logen, Medizinfachpsychologen, Sozialpfidagogen, Medizinp~idago- gen, Ffrsorger, Krankenschwe- stern und -pfleger sowie abstinente Alkoholabhfingige 8. Beratungs- stellen an psychiatrischen Fach- krankenhfiusern batten den Vor- teil, dass eine personelle Konti- nuit~it in der pr~istation~iren, sta- tion~iren und poststation~iren Betreuung bestand. Das war aber nur in st~idtischen Ballungsgebie- ten der Fall, da in l~tndlichen Gebieten die Infrastruktur fehlte. Das Versorgungsnetz dieser Am- bulanzen bildete die Grundlage der Behandlungen yon Alkohol- abh~ingigen. Die Erfahrungen zeig- ten, dass 70-80% der alkohol- kranken Patienten ausschliesslich ambulant behandelt werden ktSn- nen, von der Entgiftung fiber die Entw~ihnungsbehandlung bis zur Nachbetreuung13, 14. Das sozialisti- sche Gesundheitssystem nahm for sich in Anspruch, dem Kranken eine umfassende Versorgung zu ge- w~ihren. Daher wurde der Begriff ,,Selbsthilfe" im sozialistischen Gesnndheitssystem als Kritik emp- funden und anstelle yon Selbsthil- fegruppen von ,,Therapeutische Gruppen und -Klubs" gesprochen, die formal unter Anleitung und Betreuung einer Gesundheitsein- richtung standen. Daneben fiber- nahmen kirchliche sowie kirchlich- karitative Strukturen einen gros- sen Teil der Suchtkrankenhilfe 15. Erw~ihnenswert sind die ,,Absti- nententreffen" der Gruppen aus allen Bezirken (mehrere hundert Teilnehmer), die seit 1979 alle 2-3 Jahre stattfanden und von der Bezirksnervenkfinik in Branden- burg organisiert wurden.

Daten aus dem station~ren Versorgungsbereich

Um die Gr6ssenordnung und die Entwicklung des Alkohol-Pro- blems in der DDR zu erfassen, kann die Routinedokumentation der station~iren Behandlungsfglle in der DDR von 1970-1989 heran- gezogen werden. Zu den sta- tion~iren Einrichtungen wurden alle Krankenhfiuser unabhangig von ihrer Trfigerschaft und alle Fachkliniken inklusive Rehabilita- tionseinrichtungen gezfihlt. Ff r jeden Aufnahmefall in eine dieser station/iren Einrichtungen wurde ein sogenanntes ,,einheitliches dokumentationsgerechtes Kran- kenblatt" als Patientenakte ge- ffhrt, welches mit einem anony- men abtrennbaren Codierstreifen versehen war. Bei Entlassung wur- de der anonyme Codierstreifen nach festgelegten Regeln 16 vom Stationsarzt ausgeffllt und quar- talsweise zur zentralen Auswer- tung auf Bezirks- und Landesebe- ne weitergeleitet. Auf diesem ano- nymen Codierstreifen war auch die Behandlungsdiagnose nach der gfltigen International Classifica- tion of Diseases (ICD) verschlfs- selt. Diese republikweit erhobenen Daten wurden einmal jfihrlich zen- tral ausgewertet und in einem kom- primierten Tabellarium mit Kurz- kommentaren vom Institut f f r Medizinische Statistik und Daten- verarbeitung als Mitteilungsheft 16 herausgegeben und einem be- grenzten Nutzerkreis zur Verff- gung gestellt. Somit bestand eine LJbersicht fiber die Entwicklung der station~iren Behandlungsfall- h~iufigkeit f fr die Diagnose Alko- holismus (303 ICD 9)17 Die Behandlungshfiufigkeit des Alkoholismus in station~iren Ein- richtungen hat sich von 1970 bis 1989 mehr als verffnffacht. Da Ende der sechziger Jahre, wie in der Bundesrepublik Deutschland auch, Alkoholismus als Krankheit anerkannt wurde, kam es zu zuneh- mend h~iufigeren Krankenhausein-

weisungen von Alkoholikern18 Seit Mitte der siebziger Jahre kam noch dazu, dass von der Polizei aufgegriffene volltrunkene Perso- nen nicht mehr in Polizeigewahr- sam ausgenfchtert werden duff- ten. Sie wurden in Rettungsstellen yon Krankenh~usern gebracht und kamen yon da zur Aufnahme in akute Aufnahmestationen dieser Hfiuser. Zun~chst waren die Psy- chiatrischen Krankenh~iuser bzw. Fachabteilungen fiJr Psychiatrie in anderen Krankenh~iusern Haupt- aufnahmeeinrichtungen. Ab Mitte der siebziger Jahre reichte diese Bettenkapazitgt nicht mehr aus, so dass in immer st~irkerem Masse die allgemeinen Krankenhfiuser bzw. Inneren Abteilungen an der Ent- giftung Alkoholintoxikierter und ihrer somatischen Behandlung beteiligt werden mussten. Von 1973-1988 verzehnfachten sich die Aufnahmen yon Alkoho- lismusf/illen (303 ICD 9) in den Abteilungen der Innerne Medizin. Anfangs wurden nur etwa 18% - aber 1988 bereits 41% aller sta- tion~iren Alkoholismusf~ille durch die Innere Medizin entgiftet. Aus der Sicht der Psychiatrie/Neurolo- gie bestand ein anffinglich sehr hoher Versorgungsanteil von 73 % (1973) aller Alkoholismusf~ille, der bis 1988 auf 51% sank, obwohl sich die absoluten Fallzahlen an aufge- nommenen Alkoholismuspatien- ten in psychiatrischen Abteilungen und Kliniken in dieser Zeit mehr als verdreifachten 19. Das Verh~ilt- nis yon M~innern zu Frauen im sta- tionfiren Behandlungsbereich tag von 1970-1989 durchg~ingig bei etwa 5:1 (Tabelle3). Die durch- schnittliche station~ire Aufent- haltsdauer je Fall sank von 1970 (65,0 Tage) bis 1989 auf 30,8 Tage, also um fiber 50%. Im Durch- schnitt waren 1970 ca. 838 Betten pro Tag durch AlkoholismusfNle belegt, 1989 hatte sich diese Zahl um das 2,5fache auf 2116 Betten pro Tag erhOht (Tabelle 3). Die Senkung der durchschnittlichen Verweildauer beruhte auf dem

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T~iglich belegte Betten

838

990 1495

1832 1997

2116

19t

201

221

103 120

423 390

Tabelle 3. Stationgre Behandlungsf~lle und -tage mit der Hauptbehandtungsdiagnose Alkohofismus (303 ICD 9) in der DDR 1970-1989 sowie in Ostberlin 1981-1995 und Westberlin 1993, 1995.

tiberproportionalen Anstieg an Kurzzeitpatienten (Verweildauer unter 7 Tage) yon 20% auf tiber 30% aller Alkoholismusbehand- lungsf~ille 17. In der Psychiatric war die station~tre Verweildauer ffir die Behandlung von Alkoholismus am lgngsten. Bezogen aul alle 57 Alko- hol- und Drogenkliniken der DDR betrug sie im Durchschnitt 61 Tage (1985), wohingegen in der Inneren Medizin die Entlassung durch- schnittlich nach 13 Tagen erfolgte. Aus dem Verweildauerprofil aller F~ille mit der Diagnose 303 ICD 9 konnte indirekt riickgeschlossen werden, dass es sich bei etwa 90 % um Entzugsbehandlungen und somatische Versorgung handetn musste. Denn nur ca. 10% aller F~ille kamen aus einer Psychiatri- schen Abteilung mit einer Liege- dauer yon mindestens 4 Monaten, die ftir eine Entw6hnungstherapie als Minimum angesehen wurde 17.

Die Behandlungshaufigkeit der Alkoholkrankheit zeigte erhebli- che Unterschiede zwischen den 15 Territorien (Bezirken) der DDR. Dies l~isst sieh durch unterschied- lich umfangreiche ambulante und station~re Behandlungsangebote insbesondere im psychiatrischen Bereich, unterschiedliches Enga- gement von professionellen Hel- fern ftir Alkoholabh~ingige und regional bedingte Morbiditgtsun- terschiede erkl~iren. Vergleicht man alle Bezirke, so hatte der Bezirk Dresden von 1970-1989 die niedrigste Behand- lungsh~iufigkeit von Alkoholis- mus TM, die 1989 8,6 F~ille je 10000 der Bezirksbev~51kerung betrug, wohingegen die n/Srdlichen Bezir- ke die h6chsten Fallh~iufigkeiten batten. Die hiSchste Fallh~iufigkeit wurde im Bezirk Schwerin mit 29,5 Fgllen, gefolgt vom Bezirk Neu- brandenburg mit 24,8 F~illen und

dem Bezirk Rostock mit 21,7 F~illen je 10000 der Bezirksbev61kerung fiir 1989 gefunden. Die Fallh~iufig- keit des Bezirkes Schwerin iibertraf also die des Bezirkes Dresden um das 3,4fache (Abb. 2). Der Vergleieh dieser Daten mit denen der Bundesrepublik Deutschland ftir das Jahr 1989 macht einige Unterschiede sichtbar (Tabelle 4). In der BRD wurden deutlich mehr F~ille an Alkoholis- mus im Krankenhaus behandelt als in der DDR. Es ist ausserdem zu beachten, dass in diesen Angaben der BRD die EntwOhnungsthera- pieen nicht mit enthalten sind, da diese von den Rentenversicherern getrennt ausgewiesen werden. Dadurch sind die durchschnittli- chen Tage je Fall in der DDR l~in- ger, da die Routinedokumentation die Entgiftungs- und auch die Ent- w6hnungsf~ille (4 Monate und l~in- ger) gemeinsam ausweist.

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Berlin

Dresden

Frankfurt/O,

Halle

Leipzig

Neubrandbg,

Rostock

Suhl

Abbildung 2. Bezirksvergleich der station#ren Behandlungsh~ufigkeit Oe 10000 der Bev.) mit der Hauptbehandlungsdiagnose Alkoholismus (303 ICD), 1975, 1985, 1989.

Nach der ,,Wende" werden im Land Berlin seit 1993 nach einheit- lichen Kriterien Daten aus dem stationfiren Bereich erhoben, wobei eine Trennung nach Ost- und Westberliner Btirgern m6glich ist 2~ Daran zeigt sich, dass auch im vereinigten Land Berlin die Unter- schiede zwischen West und Ost in der Behandlungsh~iufigkeit an A1- koholismus noch vorhanden sind (Tabelle 3). So ist die stationfire Fallhfiufigkeit bei Westberlinern immer noch etwa doppelt so hoch wie bei Ostberlinern, wobei eine

Tendenz leichten Anstiegs in Ost- und eines leichten Abfalls in West- berlin im Jahre 1995 angedeutet ist. Dagegen haben die durchschnitt- lichen Tage je Fall yon Ostberliner Patienten die von Westberlinern bereits leicht unterschritten (19,9 versus 20,9 Tage).

Transformationsprozess ab 1989

Nach der deutschen Wiedervereini- gung kam es zu tiefgreifenden 6ko- nomischen und gesellschaftlichen

kei 1989 Station~ire Fallh~ufig t je 10000 Versicherte

Durchschnittliche "rage je Fall

m~innl, weibl, gesamt m~nnl, weibl, gesamt

DDR a 25,7 5,3 15,1 29,4

BRD b'~ 34,2 15,4 26,5 17,0 26,3 6,3 t3,9 23,8

Je 10000 tier Bev~lkerung, Je 10000 Mitglieder der AIIgemelnen Krankenversicherung (AVK). Je 10000 Mitgtieder der Krankenversicherung eer Rentner (KVdR).

Que e b, c Daten des Gesundhetswesens, Ausgabe 1991, S 118-121.

36,9 30,8

18,3 17,3 26,2 24,5

Tabelle 4. Krankenhausf~lle und -tage 1989 an Alkoholismus (303 ICD 9) in der DDR und der BRD.

Umstrukturierungen in der ehema- ligen DDR vor allem auf dem Arbeitsmarkt, im Konsumbereich, im Gesundheitswesen-, Sozial- Bil- dungswesenZL In Ost- und West- deutschland existierten zwei unter- schiedliche Gesundheitssysteme, und somit gab es nach der Wieder- vereinigung auch zwei unterschied- liche Betreuungssysteme far Ab- h~ingigkeitskranke, die auf ver- schiedenen Erfahrungen und Managements von Hilfeleistung basierten. Es galt ein neues Finan- zierungssystem der Suchtkranken- hilfe nach Aufl6sung der Sozialver- sicherung der DDR aufzubauen. Dabei wurde das gegliederte System der Gesundheitsversor- gung mit den unterschiedlichen Kostentr~igern (Renten-, Kranken-, Unfallversicherung etc.) einge- ftihrt. Rechtliche Regelungen wur- den iibernommen, ohne dass daffir schon die infrastrukturellen Vor- aussetzungen gegeben waren. Durch diese neuen strukturell bedingten Anforderungen waren sowohl Jkrzte wie auch Alkoholab- h~ingige zun~ichst fiberfordert. Es entstand innerhalb kurzer Zeit ein grosser Bedarf an Weiter- und Fortbildung bzw. Umqualifizie- rung. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass Vorstellun- gen zum Krankheitsmodell und zu strukturell-organisatorischen Kon- sequenzen die Therapeuten in Ost und West nicht trennten. Es erfolgte der Aufbau yon Struk- turen, die in den ,,alten" Bundes- l~indern fiber lange Zeitr~iume ent- wickelt worden waren. Die Ver~in- derungen im speziellen Betreu- ungssystem ffir Alkoholabh~ingige im Osten gingen einher mit neuen Beantragungsformalitgten (z. B. zur EntwOhnung beim Rentenver- sicherer: Antrag auf stationfire Massnahme, Gutachten des ver- trauens~irztlichen Dienstes, ein Sozialbericht). Auch die strikte Kompetenztrennung zwischen den einzelnen ambulanten (niederge- lassene Arzte, Beratnngsstellen, Fachambulanzen) sowie den sta-

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tion~iren und ambulanten Lei- stungsanbietern war bisher unbe- kannt. Die Aufl6sung von Polikli- niken sowie des Dispensairesy- stems und die grundlegenden Ver- ~inderungen in der ambulanten Versorgung (z.B. Einzelpraxis als niedergelassener Arzt) ftihrte zu starken Verunsieherungen aller beteiligten. Bis zur Wende waren Wartelisten fiir Alkoholentw~Shnungsbehand- lungen die Regel. Die allgemeine Verunsicherung beziiglich der beruflichen Situation sowie des neustrukturierten Gesundheits- systemes ftihrte zun~ichst zum Rtickgang der Inanspruchnahme des Suchtkrankenhilfesystems. Ebenfalls ging in den Beratungs- stellen die Nachfrage ambulanter Hilfeleistung drastisch zurtiek 22. Aber bereits 1991 war wieder ein Anstieg der Inanspruchnahme zu verzeiehnen. Viele Suchttherapeuten haben fiber eine Zunahme an mehrfachge- sch~digten Patienten mit schweren Entgiftungsverl~iufen in den neuen Bundesl~indern berichtet 23. Das zeigen auch die Daten der Kran- kenhausstatistik, die nach der Wende seit 1993 in Berlin (Ost und West) wieder erhoben werden. 1989 wurden in Ostberlin an Alko- holpsychosen (291 ICD 9), die das Delirium tremens als schwerste Komplikation des Alkoholentzugs

einschliessen, 2,9 station~ire Be- handlungsf~tlle je 10000 Einwohner registriert. Das entsprach dem Durchschnittswert der gesamten D D R yon 2,3 F~illen tT. Fiir den Zeitraum 1990-1992, in dem die Auswirkungen der Umstrukturie- rung des Gesundheitsversorgungs- systems am st~irksten auftraten, stehen keine Vergleichsdaten zur Verftigung. Fiir 1993 wurden in Ostberlin extrem hohe Behand- lungshaufigkeiten von 10,3 F~llen von Alkoholpsychosen je 10000 der Bev61kerung registriert, die 1995 auf 4,7 F~ille deutlich zurtick- gegangen waren, aber damit immer noch 60 % tiber den Angaben von 1989 lagen. Ausserdem beobachte- ten sie eine H~iufung von Patienten mit sehr kurzer ,,Suchtkarriere". Dabei scheinen die Betroffenen nicht durch die bisher funktionie- renden sozialen Netzwerke abge- fangen worden zu sein, so dass ein schneller l)bergang zum stichtigen Trinken mit allen psyehisehen, physischen und sozialen Folgen stattgefunden hat. Weiterhin ging die Zahl der einge- wiesenen Frauen relativ zurack, wie aus Tabelle 3 ftir die Jahre 1993 und 1995 in Ostberlin deutlich wird und auch am Beispiel der Suchtkli- nik Brandenburg zu erkennen ist. Das Verh~iltnis yon M~innern zu Frauen betrug 1991 6:1 und stieg 1992 auf 10:124. Eine m6gliche

Erkl~irung hierfiir k6nnte sein, dass alkoholabh~ingige Frauen, die vor- her in Betrieben arbeiteten und von dort Druck zur Behandlung erfuhren, nun vermehrt arbeitslos wurden und zu Hause eher ohne Motivation zur Behandlung blei- ben, jedoch fehlen dazu derzeit noch entsprechende Untersuehun- gen. Arbeitslosigkeit - ein in der ehemaligen D D R unbekanntes so- ziales Ph~inomen - trat als negative Folge der Wende in den Vorder- grund, da es zum Zusammenbruch vieler Wirtschaftsstrukturen in den neuen Bundesl~indern kam. In einigen Regionen wie z.B. in Mecklenburg-Vorpommern, waren ursprtinglich 35-51% der Besch~if- tigten in landwirtschaftlichen Pro- duktionsgenossenschaften t~itig, die nach der Wiedervereinigung fast vollstandig aufgel6st wurden 25. Dabei entstanden in ktirzester Zeit arbeit smarktpolitische Problemre- gionen mit Arbeitslosigkeit von einem Ausmass, das es in den alten Bundesl~indern nie gegeben hat. Die Arbeitslosenquote erreichte 1996 den bisherigen Spitzenwert von 16,7% in den neuen Bundes- l~indern (Tabelle 5). Die Quoten variieren betr~ichtlich zwischen den einzelnen Bundesl~indern, wobei 1996 in Berlin/Ost mit 14,4% die gtinstigste und Sachsen-Anhalt mit 18,8% die ungfinstigste Arbeitslo- senrate zu verzeichnen war. Die

Berlin- Ost

10,2 12,2 1 5,4 14,3 16,3 13,7 16,5 13,0 15,0 12,4 16,7 14,4

Tabelle 5. Entwicklung der Arbeitslosenquoten a in den Neuen Bundesl~ndern, 1991 - 1996.

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Jahr Personen Mit Arbeit gesamt n n %

1992 t88 55 29 1993 390 150 38 t994 510 147 29 t995 512 149 29

a Arbe tsbeschaffungsmassnanme. quelle: KliNkstatistiken zum 31.12. aer ~eweiligen Jahre,

ABM~/Umschulung Arbeitslose Dar

n n % n

- 133 71 15 26 214 55 24 33 330 65 30 29 334 65 28

6 ~ !il : ! i i !i ! ! ! !!i

5 : i

Tabelle 6. Sozialstruktur der M~nner mit Alkoholentzugsbehandlung in der Suchtklinik Brandenburg, 1992- 1995.

Arbeitslosigkeit betrifft vor allem Frauen (65 % aller Arbeitslosen26). Die Sozialstruktur der seit 1992 in der Suchtklinik Brandenburg auf- genommenen alkoholabhgngigen Manner wird aus Tabelle 6 ersicht- lich. Es fgllt auf, dass tiber 50 9/0 der zur Akutbehandlung (Entzug) auf- genommenen Mfinner arbeitslos sind, so liegen die Arbeitslosen- quoten zwischen 55% (1993) und 71% (1992). Wobei in diesem Zu- sammenhang die Frage nach dem ,,Was war zuerst - Alkoholismus oder Arbeitslosigkeit?" in den Hin- tergrund tritt, da sich ftir beide Varianten Argumente finden las- sen 27, 2s und die Patienten unter die- ser Konstellation auf der Aufnah- mestation der Suchtklinik liegen und zu einer weitergehenden The- rapie motiviert werden sollen. Eine fihnliche Entwicklung zeichne- te sich auch in der gr6ssten Ostber- liner Suchtklinik ab. Auch hier stell- te man lest, dass die zur Alkohol- entzugsbehandlung aufgenomme- hen Personen nach 1993 in schlech- terem Allgemeinzustand waren und eine schwerere Multimorbidit~t aufwiesen als vor 199029. Dabei hat- ten sich die negativen sozialen Fol- gen verstfirkt. 1994 waren yon den 750 Patienten, die zur Entzugs- behandlung aufgenommen wurden, durchschnittlich 70% arbeitslos, 15% obdachlos, wobei ausserdem eine hohe Schuldnerrate unter den Patienten vorhanden war 3~

Aufgrund der weiterhin unsiche- ren wirtschaftlichen Entwicklung muss davon ausgegangen werden, dass die Zahl der Arbeitslosen und Sozialhilfeempffinger weiterhin steigen wird 26.

Umstrukturierung der Alkoholikerbetreuung und Ausblick auf die Entwicklung

Die ostdeutschen Suchtkliniken waren t~berwiegend in einem deso- laten Bauzustand und entsprachen nicht den bundesdeutschen Nor- men der Kostentrfiger. Es folgten dringend notwendige umfangrei- che Rekonstruktionsmassnahmen, die auch mit einem Abbau der Ver- sorgungskapazitfit in diesen psy- chiatrischen Kliniken (befristet oder auf Dauer) verbunden waren. Dies wurde ausgeglichen durch die Fertigstellung neuer grosser Fach- kliniken der Rentenversicherer zur stationfiren Rehabilitation Alko- holabh~ingiger in den neuen Bun- desl~indern mit einer Kapazit~it yon 100-150 Suchtbetten. Es kam zu einer Betten-Uberkapazit~it, aus der sich erstmalig eine Konkur- renzsituation um Patienten ent- wickelte. Man beobachtete eine Tendenz, dass in die meist wohn- orffernen neu erbauten Kliniken die Patienten mit der gfinstigeren Prognose zur Aufnahme kamen, wohingegen die chronisch mehr-

fachgeschgdigten, sozial isolierten Ffille mit ungtinstigerer Prognose in die gemeindenahen, ehemali- gen Suchtkliniken eingewiesen wurden 31. Wesentliche Schritte der Umge- staltung des Suchtkrankenhilfe- systems in den neuen Bundeslgn- dern waren:

- Ubernahme des nach Verant- wortlichkeit aufgegliederten Sy- stems und der Kostentiber- nahme durch die unterschiedli- chen Kostentrfiger, Tr~igerviel- falt bei den Suchthilfeeinrich- tungen aufbauen,

- Abbau der Tagesklinik- und der Nachtklinikplgtze,

- Sanierung und Neubau von Suchtkliniken,

- Schaffung von Obergangshei- men zur Betreuung zwischen Entzug und Entw6hnung,

- Aus- und Aufbau yon Selbsthil- fegruppen und Bewegungen wie Almedro, Synanon,

- Schaffen von ,,niedrigschwelli- gen" Einrichtungen (suchtmit- telfreie Begegnungsstfitten),

- Aufbau einer integrativen Mo- dell-Versorgung fiir alle Sucht- formen (z. B. Spielsiichtige, Ess- siichtige, Abh~ingige von ille- galisierten Drogen und Alko- hol),

- Ausbau von verschiedenen be- treuteu Wohnformen,

- Besch~iftigungsprojekte,

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l)berft~hrung kommunaler Be- ratungsstellen in freie Trager- schaften 22.

Dutch diese Umstrukturierungen kam es zur Aufl6sung traditionel- ler Kooperationsbeziehungen und Arbeitsweisen. Somit gleichen sich die Versorgungsstrukturen yon Alkoholabhfingigen in den neuen Bundesl~indern denen der alten Bundesl~inder an. Dort werden ca. 5% der Abh~ingigen vom spezifi- schen Suchthilfesystem erfasst und betreut. Mehr als 70% der Alko- holiker sind aber bei einem nieder- gelassenen Arzt in Behandlung und gelangen nicht in das Suchthil- fesystem 3a. Es fehlen im derzeiti- gen Suchthilfesystem Hilfsangebo-

te for obdachlose Alkoholabhan- gige bzw. polytoxikomane, multi- morbide, schwer gesch~idigte, in schlechtem Allgemeinzustand be- findliche Personen. Es mtissen hierft~r akzeptable und erreichbare Hilfsangebote mit geringer Hemm- schwelle, d.h. ,,Szene nahe" Hilfen ohne vorgeschaltete Beantra- gungsbUrokratie geschaffen wer- den. Zusammenfassend kann man sagen, dass kein Mangel an Behandlungskonzepten in der Suchttherapie besteht, sondern ein Mangel bzw. Riickstand in der Umsetzung und Durchft~hrung die- ser Konzepte 31. Eine Verlaufsein- sch~itzung der Suchtproblematik kann nur bei gleichzeitiger Ein- sch~itzung der Wirtschaftsentwick-

lung erfolgen. Diese ist for die neu- en Bundeslander schlecht, da ein weiterer Abbau yon Industrieker- nen stattfindet. Es sind keine neu- en Infrastrukturen in 1/~ndlichen Regionen geschaffen worden, die die abgebauten Arbeitspl~itze in Landwirtschaft (LPG) und Hand- werk (PGH) ersetzt hatten. Ein Abbau der hohen Arbeitslosen- quoten ist derzeit nicht abzusehen, so dass eine Verarmung yon bestimmten BevOlkerungsschich- ten welter fortschreiten wird. Somit kann man sagen, dass die sucht- und gesundheitsspezifischen Risi- kofaktoren in Zukunft nicht gemin- dert, sondern verst~irkt werden.

Summary

Alcohol abuse and ,dependence in the former GDR and the new German states

The Objective of this paper is the description of the transformation pro- cess after the reunification of East-and WeSt-Germany taking the health Care Structures for alcoholics as an example First the epidemiology of alcohol abuse and alcohol dependence are presented such as the indivi- dual alcohol consumption. These data are completed by hospital data: The social and organizationat problems created by the transformation process after the reunification of Germany are describedl Necessary structural changes and the expected development are discussed.

i

Resum~

De I'abus de'alcool et sa d~pendence dans I'ancienne RDA et dans les nouveaux L~nder

Le but de cet article est la description du proc~ssus de transformation aprOs la rOunification de I'Allemagne en prenant l'exemple des structures de soins pour les alcoliques. L alcoolisme ainsi que le syst~me de prise en charge des alcoliques dans I'ancienne RDA sont expliques et completes par des donn#es provenant du secteur hospitalier. Vient ensuite la description des probl~mes dus ~ la transformation de t'organisation de la societO ~ la suite de la rOunification. Les changements n~cessaires r~aliser sont dOcrits et une perspective sur les transformations a venir est mise en avant.

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Korrespondenzadresse

Dr. reed. Erika Sieber Universit~tsklinikum Charitd Institut ftir Arbeits-, Sozialmedizin und Epidemiologie Wilhelmstr. 67 D-10117 Berlin

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