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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn Raumschiff der Kinder Band 1 aus der Reihe „Raumschiff der Kinder“ ungekürzte Originaledition der nicht mehr aufgelegten Einzelausgabe von 1977 © Ensslin & Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1977. Sämtliche Rechte, auch die der Verfilmung, des Vortrags, der Rundfunk- und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Kassetten und Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany. ISBN 3-7709-0387-0

Alpers, Hans J. ,Hahn, Ronald M. - Raumschiff der Kinder - Band 1 - Raumschiff der Kinder (1977)

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Hans J. Alpers / Ronald M. Hahn

Raumschiff

der Kinder

Band 1

aus der Reihe„Raumschiff der Kinder“

ungekürzte Originaleditionder nicht mehr aufgelegten

Einzelausgabe von 1977

©   Ensslin   &   Laiblin   Verlag   GmbH   &   Co.   KG   Reutlingen   1977.   SämtlicheRechte,   auch   die   der   Verfilmung,   des   Vortrags,   der   Rundfunk­   undFernsehübertragung,   der   Verbreitung   durch   Kassetten   und   Schallplattensowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Printed in Germany.

ISBN 3­7709­0387­0

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Im Plastikwald

Die Maus kroch schnuppernd aus ihrer  Höhle.  Harpo Trumpff  hielt  denAtem an. Seine Finger umklammerten den Griff des Keschers. Vor Aufregungpackte er so fest zu, daß die Haut an den Knöcheln ganz weiß wurde.

Anca zuckte mit einer Schulter, weil dort der Pullover auf der Haut kratzte.Harpo strafte seine Schwester mit einem ärgerlichen Blick. Wie konnte manin diesem Moment an etwas derart Nebensächliches denken!

Zum Glück hatte die Maus die Bewegung nicht bemerkt. Sie schob ihrenmit grellrotem Fell bedeckten kleinen Körper beinahe sorglos vollständig ausdem Unterschlupf,  wirbelte  mit  der witternden Nase etwas Staub auf undverschwand unter dem Blatt einer Plastikpflanze. Nur der Schwanz schautenoch hervor.

Auf diesen Moment hatte Harpo gewartet. Vorsichtig balancierte er den Ke­scher,  bis  er  genau über der Stelle  schwebte,  die  von dem Mäuseschwanzmarkiert  wurde.  Er  wollte  den  Kescher  mit  einer  blitzschnellen  Bewegungüber das Tier stülpen – aber im gleichen Moment verlor er den Halt unter denFüßen. Mitten im sandigen Boden hatte sich ein Krater gebildet, in den derlockere Sand wie Wasser floß, den zappelnden Harpo mit sich reißend.

Im ersten Moment konnte Anca überhaupt nicht begreifen, was dort vor ih­ren Augen geschah. Sie hatte erwartet, daß ihr Bruder mit einem Triumph­schrei in den Kescher greifen und ihr stolz die gefangene Maus zeigen würde.Statt  dessen tat  sich der Boden auf und verschlang den Jungen. Die Mausflitzte wie ein geölter Blitz in das Dickicht der Plastikpflanzen. Wie hypno­tisiert starrte Anca auf den Kescher,  der Harpo aus der Hand geglitten warund nun am Rande des Sandtrichters lag.

„Hilfe! Hilfe!“Harpos  Rufe  lösten die Erstarrung.  Ängstlich  beugte  sich Anca über den

Trichter und versuchte in die Tiefe zu spähen. Aber man sah nur ein dunklesLoch, das wie ein schräger und ziemlich steiler Tunnel unter das Gebüschführte. Von den Rändern abbrechende Sandbrocken warnten das Mädchengerade noch rechtzeitig davor, einen weiteren Schritt zu tun.

„Harpo!“ rief Anca. „Ist dir etwas passiert? Harpo, antworte doch!“Aber der Junge hörte ihre dünne Stimme vermutlich gar nicht. Er schrie viel

zu laut und ohne Pause. Einzelne Wörter wie: „Nein!“ – „Holt mich raus!“   –„Ich habe Angst!“ konnte man gerade noch verstehen, aber das meiste ging inunartikuliertem Kreischen unter.

„Harpo, beruhige dich doch! Ich hole Hilfe!“Anca war erst zwölf Jahre alt, und ihr Bruder war sechzehn. Seit dem Tod

der   Eltern  –  beide   starben   bei   der   Reaktorkatastrophe   von   São   Paulo   vorsechs Jahren – waren die Kinder nur aufeinander angewiesen. Meist war Har­po der Beschützer der Schwester. Aber jetzt kam es allein auf sie an, das wuß­te Anca.

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Sie   fühlte   sich   verzweifelt   und   hilflos.   Tränenblind   rannte   sie   den   Pfadentlang, ohne überhaupt zu bemerken, daß ihr die Blätter und Ranken derkünstlichen Pflanzen ins Gesicht peitschten. Während sie lief, formte sich un­deutlich   ein   Bild   in   ihrem   Innern.   Sie   sah   das   Tal   der   Wigwams   mit   denFreunden vor dem Feuer. Dorthin mußte sie laufen. Die Freunde würden Ratwissen. Aber der Weg war lang. Wenn nur Harpo inzwischen nichts geschah!Ihr einziger Trost war, daß es hier keine gefährlichen Tiere gab. Aber wußtensie das wirklich so genau?

Sie prallte urplötzlich mit etwas zusammen, das eigentlich flauschig undweich war, bei diesem ungestümen Aufprall aber doch einen ziemlich hartenWiderstand bot. Sowohl Anca als auch das Ding hüpften wie Tennisbälle aus­einander und fielen ins Dickicht.

Benommen   richtete   sich   das   Mädchen   auf.   Auf   der   anderen   Seite   desWeges kroch ein unglaublich dicker grüner Bär zwischen den Blättern hervor,das heißt, im ersten Moment hätte man ihn für einen Bären halten können.

„Hoppla,  kleines  Fräulein“,  brummte  das  Wesen und half   ihr  beim  Auf­stehen. „Du hast es aber eilig.“

Der Bär war kein Bär. Schließlich haben lebendige Bären kein grünes Fell.Wenn man genau hinsah, erkannte man die Nahtstellen der Plüschhülle. Undaus   den   Bärenaugen   blickte   weder   Sanftmut   noch   Wildheit,   sondern   dasgleichmütige Leuchten einer elektronisch gesteuerten Sehzelle. Ein Roboteroder wegen der grünen Verkleidung von den Kindern so genannt  – ein Grü­ner. Normalerweise hätte sich Anca an ihm vorbeigedrückt, denn wie alle imTal der Wigwams war sie mißtrauisch gegen diese elektronischen Aufpasserund Lehrer, die wie Plüschtiere aussahen. Aber schließlich ging es dieses Malum Wichtigeres als um ihr Mißtrauen.

„Schnell“, keuchte sie. „Mein Bruder ist in ein Sandloch gefallen und kannallein nicht wieder heraus.“

„Sandloch?“  wiederholte  der  Grüne. „Das werden wir  gleich haben.  Zeigmir die Stelle.“

Aufgeregt lief Anca dem Grünen voraus. Es fiel ihm sichtlich schwer, demMädchen zu folgen. Er war um einen Kopf kleiner als Anca und hatte kürzereBeine.

Als   sie   den   Trichter   erreichten,   glaubte   Anca   für   einen   schrecklichenMoment, daß jemand dem Bruder etwas angetan hatte. Denn alles war ruhig.

„Harpo!“ rief sie, so laut es ging.Erleichtert hörte sie ein leises Wimmern als Antwort.„Es dauert nicht mehr lange“, versprach das Mädchen. „Ein Grüner ist hier

und wird dir helfen.“Die Bezeichnung war ihr so herausgerutscht. Als artiges Mädchen hätte sie

„Lehrer“ sagen müssen. Doch der Roboter zeigte keine Reaktion.„Ein stillgelegter Ventilationsschacht“, erklärte er, nachdem er die Ränder

des Trichters untersucht hatte. „Der Sand muß sich im Laufe der Zeit überdie Pflanzenblätter gelegt und den Eingang verdeckt haben.“

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Unter seinem linken Ohr machte sich ein hellgrünes Glimmen bemerkbar.Aha, dachte Anca, jetzt ruft er über Funk Unterstützung herbei. Die Kinderhatten es  im Laufe der Zeit  gelernt,   so  ziemlich alle  Verhaltensweisen  derGrünen zu deuten.

Einige Minuten später, während sie noch beruhigend in den Trichter hin­einsprach, öffnete sich etwa hundert Meter entfernt  eine Wand, die bisherfugenlos erschienen war, und spuckte vier weitere Grüne aus. Einer trug eindünnes Drahtseil, ein anderer eine Handwinde. Ohne sich lange aufzuhalten,ließ sich einer der Roboter in den Trichter gleiten. Die anderen warfen dasSeilende hinab,  befestigten das Seil  an der Winde und zogen wenig  späterden Grünen und Harpo unter den Büschen hervor.

Erleichtert  umarmte Anca ihren Bruder.  Er wirkte etwas erschöpft,  sonstaber ganz normal. Nichts erinnerte mehr an den kreischenden, jammerndenJungen in der Tiefe. Anca wußte aber, daß diese panische Angst kein Traumwar. Sie erlebte es nicht zum ersten Mal. Harpo war krank wie so viele Kinderder Erde, die in ihrer Umwelt nicht glücklich sein konnten. Niemand durfteaußerhalb  der Städte spielen,  und in  den  Städten war  es höllisch  eng.   ImGrunde   lebten   sie   in   einem   muffigen   Gefängnis.   Manche   Kinder   quältenAlpträume. Auch Harpo. Er litt unter Fallangst und Schwindelgefühlen, aberam schlimmsten wurde es,  wenn er sich im Dunkeln alleingelassen fühlte.Deshalb   hatte   man   ihn   auf   dieses   Raumschiff   geschickt,   und   Anca,   diegesund war, durfte mit. Einsichtige Ärzte hatten erkannt, daß die Geschwisterzusammenbleiben wollten.

„Findet ihr allein zurück, oder soll ich euch zu eurer Siedlung begleiten?“fragte der Grüne, der als erster am Ort des Unfalls gewesen war.

„Nein,   nein,   es   ist   alles   in   Ordnung“,   antwortete   Harpo   hastig.   „Und  –vielen Dank.“

Es fiel ihm nicht leicht, dem Grünen zu danken.„Wir werden den Schacht so absichern, daß sich solch ein Malheur nicht

wiederholen kann“, versicherte der Grüne. Wie übergroße Teddybären wat­schelten die Roboter davon und verschwanden hinter jener verborgenen Türin der Wand.

„Am besten erzählen wir den anderen gar nichts  davon“, meinte Harpo,dem seine Angst, wie die Hilfe der Grünen, unangenehm war und der nichtweiter darüber reden wollte.

„Wenn du meinst“, sagte Anca. Eigentlich verstand sie den Bruder nicht.Wie konnte man sich für eine Krankheit schämen?

Harpo wollte ihr gerade den Kescher abnehmen, als sie plötzlich damit eineblitzschnelle Bewegung ausführte.

„Juchhu!“ rief sie und hielt den zappelnden Fang in die Höhe. „Jetzt habenwir am Ende die Maus doch noch gefangen!“

„Klasse!“ Harpo freute sich. Ihm war entgangen, was Anca aus den Augen­winkeln erspäht hatte: daß die Maus neugierig ihr Versteck verlassen hatte.

Furchtlos griff  Harpo in  den Kescher und zog das strampelnde Tierchenheraus. Er betrachtete es eine Weile und hielt es dann an sein Ohr.

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„Ach“, sagte er ganz enttäuscht. „Alles umsonst. Die Maus summt.“Er reichte Anca das Tier. Tatsächlich: Die Maus summte. Und wenn man

genau hinsah, konnte man auch die winzigen Metallgelenke an den Beinchenerkennen.  Achtlos  setzte  Anca  den kleinen  Roboter­Mechanismus   auf  denBoden. Wie eine echte Maus flitzte das künstliche Wesen in die Höhle zurück;schließlich  besaß  es  ein  kleines   Computergehirn,  das   ihm   die   Verhaltens­weisen einer Maus aufprägte.

„Schade“, meinte Harpo. „Jetzt habe ich keine Lust mehr, noch einmal aufJagd zu gehen.“

„Aber Micel hat auf Deck 28 einen richtigen Frosch gesehen“, erinnerte An­ca. Ob das nun Trotz war oder der Versuch, ihn zu trösten, wußte Harpo nichtso genau.

„Micel Fopp ist ein Angeber“, gab er deshalb zurück. „Wenn ein Telepathdie   Gedanken   anderer   Kinder   liest,   dann   gibt   er   deren   Erlebnisse   immergleich als die eigenen aus. Micel war nie im Leben auf Deck 28. Also kann erdort auch keinen Frosch gesehen haben.“

„Dann eben nicht. Aber einer auf dem Schiff hat einen lebendigen Froschgesehen“, trumpfte Anca auf. „Genügt dir das nicht?“

„Hm“,  machte  Harpo.  Er   ärgerte   sich,   daß   seine   kleine  Schwester   rechthatte.  „Wir  wollen gehen“,  lenkte er deshalb ab. „In zwei Stunden wird esdunkel.“

Die Schlange

Harpo ging den Pfad entlang. Anca folgte ihm. Sie mußte laufen, um demBruder folgen zu können.

Das Mädchen glich Harpo äußerlich nicht sehr. Sie hatte schwarzes Haar,das glatt  und voll ihr zierlich geschnittenes Gesicht umrahmte und so langwar, daß es fast bis an die Hüften reichte. Obwohl alles an Anca klein undniedlich wirkte, neigte sie doch ein wenig zur Rundlichkeit, was ihr den Spitz­namen Pummelchen eingetragen hatte.

„Ich habe Kohldampf“, beschwerte sie sich nach einer Weile.„Es ist nicht mehr weit“, antwortete Harpo. „Sicherlich wartet am Wigwam

auf uns ein großer Topf mit Bohnensuppe und viel Speck.“Wenn man es genau nahm, dann war das mit der Bohnensuppe mehr ein

Wunschdenken. Harpo aß Bohnensuppe leidenschaftlich gern. Aber mit ihrwar heute kaum zu rechnen,  denn Karlie Müllerchen, der  Riese,  hatte  Kü­chendienst. Und der aß für sein Leben gern Kartoffelpuffer. Brrrr ...

Der Pfad schlängelte sich wie eine dünne schwarze Linie durch das farben­frohe Dickicht der Plastikpflanzen. Störende Blätter und Ranken bog Harpomit dem dünnen Metallstab zur Seite, den er vor einigen Wochen gefundenhatte und seitdem immer bei sich trug.

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So unübersichtlich  der Dschungel  auch wirkte:  Weder Harpo noch Ancamachten sich Sorgen, wie sie von hier in das Tal der Wigwams zurückfindenwürden. Sie kannten sich auf diesem Deck aus wie ein Floh in der Westenta­sche.

Als sie vor zwei Jahren auf das Schiff  gekommen waren, hatten sie nochjede Einzelheit  bestaunt: Die violetten Rhabarberblätter, dick und groß wiePolsterkissen und genauso weich und elastisch; das hüfthohe Gras mit dengelben und blauen Halmen, die mit jeweils einer Farbe ein Quadrat formtenund zusammen eine Fläche bildeten, die aus der Ferne wie ein Schachbrettmit  gelben und blauen Karos  aussah.  Es  gab Bäume,  Schlingpflanzen undviele Blumen, kleine und riesengroße, unterschiedlich in der Form und buntwie durcheinandergeworfene Farbnäpfe eines Malkastens.

In dieser Deckzone hatten die Alten alles so farbenfroh wie nur möglichgestaltet.   Selbst   die   Wände   waren   mit   leuchtenden   Farben   bemalt.   Dortallerdings schimmerte an einigen Stellen rostiges Metall durch. Die Farbe warim Laufe der Zeit  brüchig geworden und bröckelte  ab. Die  Plastikpflanzenwirkten hingegen frisch wie am ersten Tag.

Es gab Bezirke auf diesem Deck, das die Nummer 27 trug, die anders aussa­hen. Etwa das Tal  der Wigwams. Dort sah man nur grünblaues Plastikgrasund einen strahlendgelben „Himmel“ mit einer künstlichen Sonne, die amEnde des  Tages erlosch.  Manchmal  machte es Harpo Spaß,  sich zwischendiesen bunten Pflanzen zu bewegen. Aber es gab auch Tage, an denen er sienicht ausstehen konnte und sich in Ecken zurückzog, wo es nichts gab als di­cke, graue Felsbrocken.

Alle Kinder waren sich darin einig, daß es ihnen auf dem Schiff besser gefielals zwischen den grauen Betonklötzen der irdischen Städte oder dem kahlenUmland. Unvernünftige Fabrikbesitzer hatten so lange schädliche Gase undgiftige   Flüssigkeiten   in   Luft   und   Wasser   geleitet,   bis   die   Menschen   krankwurden und fast alle Tiere und Pflanzen starben.

Riesige Maschinen mußten fortan die  Aufgaben übernehmen,  die  früherden Pflanzen zugefallen waren. Sie wandelten Kohlensäure in den lebensnot­wendigen Sauerstoff um und fraßen dabei gewaltige Energiemengen in sichhinein. Doch so sehr sich die Wissenschaftler und Gärtner auch abmühten:Die   wenigen   Tiere   und   Pflanzen,   die   die   Umweltverschmutzung   überlebthatten, kümmerten in überdachten Schutzgebieten vor sich hin und wolltenan der freien Luft nicht mehr gedeihen.

Die   meisten   Kinder   an   Bord   des   Schiffes   hatten   noch   niemals   frischePflanzen und lebendige Tiere gesehen und freuten sich über den Ersatz ausKunststoff, den sie hier vorfanden. Nicht so Thunderclap Genius. Er dachteanders   und   hatte   seine   Freunde   mit   seinen   Ideen   angesteckt.   Der   blasseJunge,   der   sich   nur   in   seinem   automatischen   Rollstuhl   vorwärtsbewegenkonnte, war einmal in einem Erholungsheim gewesen, zu dem ein Zoo mitrichtigen Tieren und Pflanzen gehörte. Seitdem litt er unter einer unstillbarenSehnsucht nach lebendigen Geschöpfen und verachtete den bunten Kunst­stoff,  der nicht altern mußte.  Er war vor Aufregung ganz und gar aus dem

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Häuschen geraten,  als  Micel  Fopp,  der  Junge mit  dem sechsten  Sinn,  vondem richtigen Frosch erzählte, den er  gesehen haben wollte.  Nur mühsamhatten die anderen Kinder Thunderclap davon abhalten können, mit seinemRollstuhl einen Weg nach Deck 28 zu suchen, wo er nach dem Tierchen for­schen wollte.

Seltsam,  daß   sich  auf  dem   Schiff   lebendige   Tiere   aufhalten  sollten.   Wiewaren sie dorthin gelangt? Wovon ernährten sie sich?

Diese Gedanken gingen Harpo Trumpff durch den Kopf. Er war damit sostark   beschäftigt,   daß   er   Sekunden   brauchte,   ehe   er   realisierte,   daß   seineSchwester Anca aufschrie.

Harpo   wirbelte   herum   und   machte   ein   erschrecktes   Gesicht.   Aber   nurdeshalb, weil ihn Pummelchens piepsende Stimme aus seinen Überlegungengerissen hatte.

„Das ist doch – das ist doch eine Schlange!“ rief Anca und deutete auf eineStelle im Plastikgebüsch. Im ersten Moment konnte Harpo überhaupt nichtserkennen. Aber dann bemerkte er zwischen zwei dicken Blättern ein kleines,hellbraunes Tier, nur halb so  lang wie sein  Unterarm. Durch Ancas  lautesRufen aufgescheucht, ringelte es sich gerade tiefer in das Dickicht hinein.

„Nicht entkommen lassen!“ schrie Harpo. „Es gibt keine Roboterschlangenan Bord. Die ist echt!“

Er  stürzte  hinterher  und brach ungestüm die Plastikblätter  auseinander.Anca folgte ihm und durchsuchte ein verfilztes Gestrüpp.

„Sie kann noch nicht weit sein“, versicherte sie eifrig und kroch selbst wieeine Schlange über den Sandboden.

Der   gelbe   Sand   und   die   bunten   Gräser   und   Blätter   erleichterten   es   derSchlange,  ein  sicheres Versteck zu suchen.  Die Färbung ihres  Körpers  hobsich kaum zu suchen. Die Färbung ihres Körpers hob sich kaum von der Um­gebung ab.

Harpo klopfte mit seinem Metallstab gegen die Büsche und hoffte darauf,daß sich die Schlange weiterschlängeln und dadurch verraten würde.  Aberdas Manöver blieb erfolglos. Ärgerlich wollte er sich abwenden, als ihm AncasStimme erneut durch Mark und Bein fuhr.

„Hier ist sie! Hier ist sie! Harpo, komm schnell, ich habe sie. Aaaaauuuu!“„Was ist denn?“ rief Harpo verdutzt und rannte zu Anca hin.„Ich glaube, sie hat mich gebissen“, sagte Anca mit zusammengepreßten

Lippen, um aufkommende Tränen zu unterdrücken. Sie zeigte auf ihren lin­ken Fuß.

„Dort!“ rief sie und zeigte auf ein Gebüsch. „Laß sie nicht entkommen, Har­po. Wir wollen sie doch den anderen zeigen.“

„Ach,  das  ist   jetzt  nicht  mehr so wichtig“,  meinte  Harpo und kümmertesich besorgt um das Mädchen. „Wir sind ganz schön leichtsinnig gewesen“,sagte   er.   „Hätte   uns   auch   früher   einfallen   können,   daß   Schlangen   keinSpielzeug sind.“

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Auf den ersten Blick konnte er an dem nackten Fuß – wie alle Kinder liefauch Anca stets barfuß – nichts Besonderes erkennen, aber dann entdeckte ereine winzige Bißwunde, aus der zwei Tropfen Blut ausgetreten waren.

Sekundenlang fühlte er sich hilflos. Wäre Thunderclap Genius mit seinerBegeisterung für  Tiere und Pflanzen und deren Lebensgewohnheiten nichtgewesen, hätte er auch nach drei Stunden nicht gewußt, was zu tun war. Soentsann er sich jedoch an einen der endlosen Vorträge des Jungen im Roll­stuhl.

„Manche Schlangen sind giftig“, hatte Thunderclap gesagt. „Man muß ver­suchen, das Gift auszusaugen, damit es nicht in den Blutkreislauf gerät. Undman darf, wenn man von einer giftigen Schlange gebissen wurde, nicht weg­rennen, weil sich das Gift dann noch schneller im Körper verteilt.“

Thunderclap   war   sicherlich   noch   weiter   in   Einzelheiten   vorgedrungen,aber Harpo hatte nur diese Sätze im Gedächtnis  behalten. Er mußte etwastun, das war klar. Denn ein zweites Mal würden sie heute kaum das Glückhaben, in einer Notlage auf einen Grünen oder gar einen Alten zu stoßen. Ja,die Alten in ihren weißen Kitteln, mit ihren Spritzen, Tabletten und Abhorch­geräten: Die hätten das Problem in Minutenschnelle aus der Welt geschafft.Doch die saßen in ihrer Zentrale, irgendwo im Schiff, weit weg vermutlich.

„Stillhalten!“ befahl Harpo und beugte sich über das Bein seiner Schwester,die jammernd auf den Pfad zurückgekrochen war. Er preßte seinen Mund aufdie  Wunde   und  begann   mit   aller  Kraft  zu saugen.   Eine  salzige  Flüssigkeitsammelte sich schnell in seiner Mundhöhle. Harpo spuckte sie aus. Dort woer gesaugt hatte, war der Fuß ganz rot geworden, außerhalb dieser Zone hin­gegen   weiß,   weil   hier   das   Blut   fehlte.   Noch   einmal   lutschte   er   an   AncasWunde, bis er nicht mehr konnte. Leider hatte Thunderclap nicht erwähnt,wie lange man saugen mußte.

Harpo versuchte zu verbergen, daß er Angst um Anca hatte. Sie mußten soschnell wie möglich zu den Freunden zurück. Und von dort zu den Grünen.Die würden auf jeden Fall  helfen. Aber wie, wenn Anca doch nicht rennendurfte?

Hoffentlich war kein Gift im Blut geblieben, hoffentlich wirkte es nicht töd­lich, hoffentlich ... Harpos Gedanken bewegten sich wie in einem rasendenKreisel.

„Kannst du gehen?“ fragte er ängstlich. „Komm, ich stütze dich.“„Laß nur“,  antwortete  Anca tapfer.  Sie  blickte  Harpo mit  großen,   leuch­

tenden Augen vertrauensvoll an. Als sie zum ersten Mal auftrat, sah ihr Bru­der jedoch sofort, wie sich ihr Gesicht schmerzlich verzog.

„Leg deinen Arm um meine Schultern“, ordnete er an. „Wir haben es nichtmehr weit.“

Anca tat, was er verlangte. Humpelnd bewegte sie sich an seiner Seite. Siekamen nur langsam voran.

Harpo   dachte   nur   daran,   daß   der   Schwester   nichts   geschehen   durfte.Flüchtig überlegte er, daß sie ein richtiges Tier an Bord des Raumschiffs gese­hen   hatten   und   daß   nach   diesem   Biß   überhaupt   nicht   mehr   daran   zu

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zweifeln war, daß die Gerüchte auf Tatsachen beruhten. Robottiere würdenniemals beißen. Aber er verscheuchte den Gedanken und konzentrierte sichauf den vor ihnen liegenden Weg. Für alles andere war später noch Zeit.

Das Tal der Wigwams

„Das ist doch ... das sind doch ... ei der Dauz ... wenn das nicht ... ich glaub’,mich   trifft  der  Psychoschlag   ...“,  quakte   jemand,  als   Harpo  und  Anca  denDschungel verließen und in das Tal der Wigwams traten.

„Lonzo! Gott sei Dank!“ rief Harpo. „Du mußt uns helfen! Anca ist von einerrichtigen Schlange gebissen worden. Kannst du uns helfen? Oder müssen wirzu den Grünen?“

Im letzten Moment verkniff sich Harpo den Zusatz: „zu den anderen Grü­nen“. Das hörte Lonzo gar nicht gern, da er sich für  einen Menschen hieltund sich auch so benahm. Es wäre unfair gewesen. Gewiß, Lonzo war ein Ro­boter  wie die anderen Grünen auch,  aber er war auf der  Seite der Kinder,während die anderen auf der Seite der Erwachsenen standen. Nachdem siegemerkt hatten, daß ihr Kollege Lonzo die Plüschverkleidung abgelegt hatteund   nicht   länger   ihren   Befehlen   gehorchte,   wollten   die   Grünen   ihn   fort­bringen. Aber die Kinder hatten ihren Freund versteckt. Niemand hatte dasRecht, ihn fortzunehmen und gegen seinen Willen in einen verkleideten Ted­dybären zu verwandeln.

„Schlangenbiß?“ fragte Lonzo. „Potz Galaxis!“ Er beugte sich über das Beindes Mädchens. „Nicht verzagen – Lonzo fragen!“

„Kannst du uns helfen?“ wiederholte Harpo seine Frage.„Mir sollen gleich die Ohren abfallen, wenn ich das nicht kann“, knurrte

Lonzo. Zwar besaß er überhaupt keine sichtbaren Ohren an seinem glatten,kugelförmigen Körper, aber er meinte es ernst.

Harpo sah, wie der kleine Roboter im unteren Bereich seines blitzblankenKörpers ein paar Instrumente ausfuhr und sich damit an Ancas Bein zu schaf­fen machte. Das Mädchen guckte ein bißchen bange, aber sie weinte nicht.

„Wirst  du mir auch nicht weh tun?“ fragte sie nur ein wenig besorgt. Siemochte Lonzo gern, aber das war nicht außergewöhnlich. Alle Kinder im Wig­wamtal mochten ihn.

„Aber nicht doch, mein kleines, dickes Pummelchen“, krächzte Lonzo be­ruhigend.  „Wie könnte ich das denn, wo ich dich so gern habe wie meineeigene Tochter?“

„Du hast  mich schon wieder Pummelchen genannt!“   fuhr Anca wie voneiner  Hornisse   gestochen  zornig   auf.  „Du  weißt   doch,   daß du  mich  nichtPummelchen nennen ... Aaaauuuuh!“

„Operation geglückt, Patient gerettet“, krähte Lonzo. „Macht drei Pfennigachtzig. Ich schicke die Rechnung.“

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Seine Tentakelarme wirbelten so schnell durch die Luft, daß man sie ein­zeln gar nicht mehr wahrnehmen konnte. Dann hielt er inne. Ancas Bein warbereits verbunden.

„Blutanalyse: kein Gift. Wunde desinfiziert. Tetanus­Injektion erfolgt. Ver­band mit Heilkulturen angelegt“, schnarrte er herunter.

Im   nächsten   Moment   schlug   Lonzo   ein   Rad   mit   seinen  Tentakelarmen.„Kein Arzt zur Stelle – ruft Lonzo, gelle?“ blubberte es aus der Mitte des Me­tallknäuels. Der Roboter verschwand mit glucksenden Geräuschen zwischenden Dschungelpflanzen.  Klatschend  kam  er  zur   Ruhe,  als  sein  Körper  miteinem dicken Plastikbaumstamm kollidierte.

„Zu Hülfe! Zu Hülfe!“ kreischte Lonzo und begann mit feierlichem Timbrein der Stimme „In Lauterbach hab’ i mein’ Strumpf verlor’n“ zu singen.

„Ein verrückter Kerl“, sagte Harpo lachend. Aber er war überzeugt davon,daß man sich auf Lonzo verlassen konnte. Er hatte eigenartige Angewohnhei­ten entwickelt und zweifellos einen Defekt in seinem positronischen Gehirn.Aber man konnte jederzeit auf ihn setzen, wenn Not am Mann war.

„Hallo, meine Kleinen“, kam eine zaghafte Stimme aus einem Grasbüschel.„Trompo!“ jauchzte Anca, noch bevor sie ihren kleinen Spielgefährten zwi­

schen den blauen Halmen entdeckt hatte.Ihre Verletzung hatte sie im gleichen Moment vergessen. Sie kniete nieder

und glättete mit den Händen die Halme am Rande des Weges. Ein seltsameskleines Wesen stolzierte mit hocherhobenem Rüssel auf das Mädchen zu undließ sich bereitwillig auf den Arm nehmen.

Trompo glich bis auf die langen, pelzbedeckten Schlappohren in beinaheallen Einzelheiten einem irdischen Elefanten – aber er war nicht größer alsein Kätzchen und genauso anschmiegsam. Trompo war ihnen allen ein Rätselgeblieben, obwohl er länger im Wigwamtal lebte als die Kinder.

Er war kein Robottierchen und stammte auch nicht von der Erde. Vielleichthatte ihn ein Raumfahrer vor langer Zeit von einem anderen Planeten mitge­bracht und hier ausgesetzt oder vergessen. Jedenfalls konnte er sprechen. Dieseltsamen Trompetentöne, die Trompo von sich gab, wenn eines der Kinderein Lied anstimmte, hatten ihm zu seinem Namen verholfen.

Die Kinder kannten aus alten Filmen die  riesigen Elefanten,  die  einst   inAfrika und Indien gelebt hatten. Nun waren sie ausgestorben, und zwar, wiesie gelernt hatten, bereits bevor das große Sterben der Pflanzen und anderenTiere   auf   der   Erde   eingesetzt   hatte.   Elfenbeinjäger   hatten   sie   wegen   ihrerStoßzähne gnadenlos  verfolgt,  und Sonntagsjäger,  die überall  auf der Erdenach einem Nervenkitzel suchten, hatten sie abgeknallt.

Auch Trompo besaß Stoßzähne, die aber so winzig wie alles andere an ihmwaren. Er erzählte niemals, woher er kam und was er bei den Kindern suchte.Aber es schien ihm im Tal der Wigwams zu gefallen, denn er blieb. Er warebenso intelligent wie die menschlichen Talbewohner, doch wie Lonzo hatteer größtenteils nur Unsinn im Kopf.

Anca   sah   schon   lange   nicht   mehr   so   blaß   aus   wie   kurz   nach   demSchlangenbiß. Sie humpelte zwar noch immer, mußte sich aber nicht mehr

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auf Harpo stützen. Mit Trompo auf dem Arm folgte sie dem Bruder, der zuden Zelten schlenderte und dabei seinen leeren Kescher um den Finger wir­belte.

Das Tal bestand eigentlich nur aus einer Mulde mit Sand und blaugrünemGras sowie einer Kunstsonne darüber. In der Mitte der Mulde standen dreiZelte aus künstlichem Leder. Sie waren nach Indianerart erbaut: kegelförmig,mit herausragenden Stangen und einem zum „Himmel“ offenen Rauchfang.Hier lebten Harpo und seine Freunde.

Vor   dem   größten   Wigwam   loderte   ein   Feuer,   über   dessen   Flammen   aneinem Eisenhaken eine große Pfanne hing. Es machte eigentlich wenig aus,daß die Kinder inzwischen herausgefunden hatten, wie das Feuer entstand:durch mehrere Düsen im sandigen Boden, aus denen Gas drang. Natürlichhätte ihnen ein Holzfeuer – wie sie es von den Indianergeschichten kannten –mehr Spaß gemacht.  Aber Holz gab es nicht  auf dem Schiff,  selbst  auf derErde kaum noch. Trotzdem war es schön, das Feuer zu sehen und sich darandie Hände zu wärmen. Im Tal roch es nach ...

„Kartoffelpuffer!“ rief Harpo mit gespielter Verzweiflung. Er hatte es dochgleich geahnt.

„Was   dagegen?“   begrüßte   ihn   Karlie   Müllerchen,   der   fast   zwei   Meterzwanzig   große,   riesenwüchsige   Junge   mit   kieksender   Fistelstimme   unddünnem Kinnbart.  Die   lebensfeindliche  Umwelt  der  Erde hatte  bei  seinenEltern   genetische   Schäden   hervorgerufen.   Wenn   das   jungenhafte   Gesichtnicht gewesen wäre, hätte man ihn für einen Erwachsenen halten können.Aber Karlie war gerade erst fünfzehn Jahre alt geworden.

Verzückt leckte er sich jetzt die Lippen, als er die Produkte seiner Bratkunstin der Pfanne betrachtete und dann mit einer gewaltigen Gabel wendete.

Thunderclap Genius saß neben dem Feuer und sah beim Braten zu. Karlieund er waren gleichaltrig,  boten aber wohl den denkbar größten Kontrast.Während   Karlie   wie   eine   Bohnenstange   in   die   Höhe   geschossen   war,   er­krankte Thunderclap als kleiner Junge an einer der neuen Krankheiten, die soschnell   und   zahlreich   auftauchten,   daß   die   Wissenschaftler   machtlosdagegen waren. Karlie wuchs immer noch, und niemand konnte sagen, wiegroß er eines Tages sein würde. Thunderclaps Körper war klein wie der einesSiebenjährigen und bis auf die Arme und den Kopf beinahe bewegungsunfä­hig.

„Wenn  Karlie   den   Koch   macht,  gibt   es   aber   auch  ewig   Kartoffelpuffer“,maulte Harpo.

„Wenn gewisse andere Leute kochen, gibt es dagegen immer diese dünneBrühe,   die   uns   als   Bohnensuppe   verkauft   wird“,   zahlte   es   ihm   der   Langeheim.

„Ist doch sowieso egal“, meinte Thunderclap, „der Grundstoff ist in jedemFall Synthofood und enthält die gleichen Nährwertstoffe.“

„Aber auch synthetische Kartoffelpuffer schmecken eben wie Kartoffelpuf­fer“, beharrte Harpo trotzig.

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„Thunderclap!“ platzte nun Anca heraus, die es nicht mehr ertragen konn­te, als eigentliche Hauptperson des Tages unbeachtet zu bleiben. Dabei hattesie extra kräftig gehumpelt, als sie in Sichtweite der anderen kam. „Stell dirnur vor: Mich hat eine richtige Schlange gebissen! Wahrscheinlich muß ichsogar sterben!“

Im gleichen Moment  versuchte sie ein bißchen zu weinen,  was ihr  abernicht gelingen wollte, weil sie die Sache gar nicht mehr so ernst nahm, seit­dem Lonzo ihr Bein verbunden hatte. Und die Schmerzen hatten auch nach­gelassen.   Außerdem   war   es   schwierig,   im   gleichen   Satz   Triumph   undSchmerz unterzubringen. Leider.

Immerhin verfehlten Ancas Worte nicht die nötige Wirkung.„Was!“ schrie Thunderclap Genius und richtete sich kerzengerade in sei­

nem Rollstuhl auf. Seine Augen begannen zu glühen.„Das mit der Schlange ist wahr“, schwächte Harpo ab. „Aber davon, daß sie

sterben muß, kann überhaupt nicht die Rede sein.“„Ich fühle mich aber schon ganz matt.“„Unsinn!“ beharrte Harpo. „Lonzo hat sie versorgt. Es ist alles in Ordnung.“

Dennoch sah man ihm an, daß ihn seine Schwester ganz schön erschreckthatte.

„Na ja“, schränkte Anca ein, „vielleicht überlebe ich es wirklich, aber dannnur um Haaresbreite. Ja, ich glaube, jetzt geht es mir tatsächlich schon etwasbesser ...“

„Erzähl von der Schlange“, befahl Thunderclap aufgeregt. „Da seht ihr es:Es gibt doch richtige Tiere an Bord!“

„Für mich ist das nichts Neues“, meinte Micel Fopp, der gerade aus demWigwam getreten war und der Unterhaltung unbewegt zuhörte. Er tat gelang­weilt, aber man sah ihm an der Spitze seiner kleinen, krummen Nase an, daßer nur  schauspielerte.   Immerhin  hatte  er  gegenüber  den anderen Kindernden Vorteil, daß er nicht darauf warten mußte, bis Anca ihre Geschichte er­zählte. Er konnte nämlich Gedanken lesen. Talente wie seines waren eben­falls   Produkte   der   irdischen   Lebensbedingungen,   bedingt   wahrscheinlichdurch die radioaktive Strahlung der zu Versuchszwecken gezündeten Atom­bomben und die zahlreichen Schäden an Atomkraftwerken. Man wußte nichtgenau, ob Gedankenlesen Segen oder Fluch war,  aber auf  jeden Fall   littenTelepathen   wie   man   diese   Menschen   nennt   –   besonders   unter   einer   un­freundlichen Umgebung. Deshalb war Micel an Bord des Schiffes. Doch esgab noch einen zweiten Grund, der ebenfalls auf radioaktive Strahlung zu­rückzuführen war:  Seine Arme  hingen kraftlos  und verkrüppelt  an seinemKörper, kaum halb so groß wie bei anderen Kindern.

„Sie hat übrigens recht: Es war eine Schlange“, fügte Micel hinzu, ließ seinebraunen Augen unter dem struppigen schwarzen Haar pfiffig aufblitzen undsetzte sich an das Feuer. Das war ein sicheres Zeichen dafür, daß er die Szenein Ancas Gedächtnis „nachgelesen“ und nun selbst einen Eindruck von derSchlange gewonnen hatte.  Sollte er  auch von Harpos Abenteuer  im Venti­lationsschacht erfahren haben, so schwieg er jedenfalls darüber.

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„Anc­cc­ca soll  erz­z­zählen“, stotterte Brim Boriam. Er war hinter Micelaus dem Zelt gekommen. Ein vierzehnjähriger Junge wie Micel, aber schwarz­häutig, mit weißen Zähnen und krausen Haaren, die eigentlich gar nicht solang waren, den Kopf aber wie einen Helm umschlossen. Er hatte eine lustige,dicke Nase und ein breites, freundliches Grinsen – wenn man ihn mal zumLachen bringen konnte.

Niemand machte sich über sein Stottern lustig. Sie hatten sich alle darangewöhnt,   daß   Brim   stotterte,   wenn   er   aufgeregt   war.   Und   je   weniger   dieKinder auf seinen Sprachfehler achteten, desto sicherer wurde Brim. Denneigentlich war es vor allem Angst vor seiner Umgebung, die ihn stottern ließ.Und natürlich – das war die Meinung aller Kinder im Wigwamtal – war es so­wieso beknackt, über Stotterer zu lachen. Niemand ist vollkommen – die La­cher am allerwenigsten.

Einer fehlt

Jetzt hatten sich alle Kinder um das Feuer versammelt und lauschten auf­geregt Ancas Erzählung. Sie schmückte sie aus und würzte sie mit ruhmrei­chen Einzelheiten. Brim Boriam und Karlie Müllerchen, Thunderclap Genius,Fidel Flottbek und Fantasia Einstein, selbst Trompo und Lonzo hörten auf­merksam zu. Nur Lucky Cicero lächelte wie immer glücklich vor sich hin undverstand   nicht,   worum   es   ging.   Über   ihren   Gefährten   Lucky   wußten   dieKinder kaum mehr, als daß er ungefähr zehn Jahre alt und ein Mongoloidewar. Das war die Schwierigkeit: Man kam an ihn einfach nicht heran, konntesich kaum mit ihm unterhalten und ihm höchstens ein freundliches Lächelnschenken. Lucky war ein hübscher Junge mit  großen,  tiefschwarzen Augenund   dichten   braunen   Locken.   Er   hatte   ein   glattes,   zierlich   geschnittenesGesicht, doch was sich hinter seiner Stirn abspielte, konnte selbst Micel nurselten erfahren. Lucky war gehirnkrank. Aber alle liebten ihn, denn er war derfreundlichste und sanftmütigste unter ihnen.

Harpo   und   Micel   sahen   sich   während   Ancas   Bericht   vielsagend   an,schwiegen aber,  wenn das Mädchen besonders  dick auftrug.  Aus der  fünf­zehn Zentimeter langen Schlange war im Laufe der Erzählung eine sehr dickeund lange Boa constrictor  geworden,  die von dem Mädchen nach helden­haftem Kampf in die Flucht geschlagen wurde.

„Oh,   Pummelchen“,   kommentierte   Lonzo   knarrend,   wackelte   mit   demstählernen   Kopf,   der   wie   ein   poliertes   Ei   aussah,  und   fuhr   zum   Spaß   amobersten Punkt eine Antenne mehrmals aus und wieder ein. „Du bist ja einweiblicher   Tarzan.   Ich   hätte   das   niemals   in   dir   vermutet,   mein   kleinesSchmusekätzchen.“

„Du glaubst mir nicht?“ protestierte Anca zornig. „Und außerdem sollst dumich nicht immer Pummelchen nennen!“

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„Aber natürlich  glaube  ich dir,  Pum...  äh, mein Schätzchen“,  versicherteLonzo eilig und tat zerknirscht. „Wahrhaftig: Ich will sofort meinen Kopf auf­essen, wenn das nicht wahr ist.“

„Nein, nicht Kopf aufessen“, weinte Lucky. Diesen Satz hatte er verstanden.„Er tut es ja gar nicht, Lucky“, versicherte Fantasia. „Außerdem hat Lonzo

ja überhaupt keinen Mund. Er macht doch nur Spaß.“Lucky verstand „Spaß“ und freute sich. „Das ist lustig“, meinte er.Auch Fantasia freute sich. Über das schmale, weiße Gesicht des Mädchens

glitt ein Lächeln. Es war ihr wieder einmal gelungen, Luckys Ängste zu ver­scheuchen.

„Die Kartoffelpuffer sind jetzt fertig“, meldete Karlie, der nur auf das Stich­wort „Essen“ gewartet hatte.  Er schlug energisch gegen einen großen Gongneben der Feuerstelle.

„Seltsam“, sagte er dann. „Sonst ist Ollie beim Essen doch stets der erste.“„Ja, wo steckt er denn?“ fragte Fidel. „Ich habe ihn seit Stunden nicht mehr

gesehen.“„Oliver! Oliver! Oliver! Oooollliiieee!“ riefen die Kinder, so laut sie konnten,

aber niemand antwortete ihnen.„Vielleicht hat er ein Gelübde abgelegt, niemals mehr zu essen?“ vermutete

Micel. „Und deshalb versteckt er sich, damit es ihm nicht so schwerfällt.“„Ach wo“,  antwortete  Karlie.  „Solch ein  Gelübde würde der  niemals  ab­

legen.“„Bin ich mir nicht so sicher. Denkst du nicht mehr an das Gelübde, zehn

Jahre lang zu schweigen?“„Er hat es nur zehn Minuten ausgehalten“, entgegnete Karlie grinsend auf

diese Bemerkung von Fidel. „Aber wir sollten jetzt wirklich mit dem Essen be­ginnen. Wir lassen für Ollie eine reichliche Portion übrig.“

„Na?“   zweifelte   Harpo,   der   den   guten   Appetit   des   Riesen   kannte.   KeinWunder, der brauchte eine Menge Kalorien bei seiner Größe.

„Bei   meiner   Ehre   als   Küchenchef“,   schwor   Karlie,   teilte   die   erstenPortionen aus und machte sich dann selbst schmatzend über einen StapelPuffer her.

Selbst Harpo langte tüchtig zu und vergaß seine geschätzte Bohnensuppe.Der   lange  Marsch  durch den Plastikdschungel  hatte   ihn doch hungrig  ge­macht. Und wenn man richtigen Hunger hat, schmeckt eigentlich alles. SogarKartoffelpuffer. In der Not frißt der Teufel bekanntlich Fliegen ...

„Wir suchen gleich nach dem Essen weitere Tiere“, schlug Micel Fopp vor,der von Fantasia gefüttert wurde, weil er mit seinen kleinen, kraftlosen Händ­chen die Gabel nicht halten konnte. Da Fantasia gleichzeitig auch ein Augedarauf hatte, daß Lucky zu seinem Recht kam, mußten die Freunde sie ge­legentlich daran erinnern, auch selbst etwas zu essen. An der fehlenden Nah­rung   lag   es   allerdings   nicht,   daß   die   Rothaarige   so   dünn   war.   Und   ihreFürsorge ließ sie sich von keinem abnehmen.

„Es wird bereits dunkel“, erinnerte sie.„Dann eben morgen früh.“

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„Aber nur, wenn die Aufgaben gemacht sind“, entgegnete das Mädchen mitden   Sommersprossen   und   den   schmalen   Lippen   noch   einmal.   „Morgennachmittag kommen die Grünen, das wißt ihr ja. Wenn wir die Aufgaben bisdahin nicht gelöst  haben, wird es Ärger geben. Vielleicht reißen sie unsereGruppe sogar auseinander.“

„Hm“, machte Micel mißmutig.Das wäre natürlich schlimm. Fantasia hatte nicht übertrieben. Die Grünen

kamen zweimal in der Woche, holten die Rechenaufgaben und Bastelarbeitenab, unterrichteten die Kinder und stellten ihnen neue Aufgaben. Man vermu­tete, daß die Grünen mit den Lösungen zu den Alten gingen. Und wenn diesenicht zufrieden waren, konnte die Weisung kommen, daß die Gruppe aufge­löst   wurde.   Das   war   anderen   Kindergruppen   auf   anderen   Decks   bereitspassiert, wie Micel in Erfahrung gebracht hatte.

„Wir machen morgen früh erst einmal die restlichen Aufgaben“, entschiedThunderclap. Alle waren seiner Meinung, denn schließlich liefen ihnen dieTiere   ja  nicht  weg.  Daß sie  beieinander  blieben,   war  viel  wichtiger.  Über­morgen war schließlich auch noch ein Tag.

„Anca und Harpo wissen noch gar nicht, was Brim gesehen hat“, stieß Fidelplötzlich hervor. Seine Augen leuchteten begeistert wie selten. Er hatte langeZeit die meisten Schwierigkeiten gehabt, mit anderen Kindern Freundschaftzu schließen, weil er überall Feinde sah, die ihm an den Kragen wollten.

„Ja, Brim soll noch einmal erzählen“, stimmten die anderen zu. Die Kunst­sonne war bereits merklich dunkler geworden, und in zehn Minuten würdesich die Nacht über das Tal der Wigwams und die Dschungellandschaft vonDeck 27 senken. Aber das machte nichts. Es machte Spaß, im Schein des Feu­ers zu hocken und Geschichten zu erzählen.

Brim war nervös geworden, weil sich die Aufmerksamkeit aller nun ihm zu­wendete, aber nach den ersten Sätzen wurde er ruhiger.

„I­i­i­ch hab’ die St­st­station der Gr­grü­grünen beobachtet“, sagte er. „Ihrwißt schsch­schon, am Antigravlift.  Plötzlich kamen zwei Alte aus dem Liftund   gin­ging­gingen   zur   Station.   Sie   wirkten   ziemlich   nervös.   Der   eineschwitzte so, daß er dauernd mit einem Tuch über das Gesicht fahren muß­te.“

„Vergiß nicht den anderen“, unterbrach Fidel.„Das   war   Doktor   Einbein“,   fuhr   Brim   fort.   Ja,   den   kannten   alle   in   der

Runde: den kleinen Arzt mit der Beinprothese, der jedes Kind bei seinem Ein­treffen auf dem Schiff untersucht hatte. Im Gegensatz zu den kühlen Blickender anderen Ärzte und Wissenschaftler lag auf seinem Gesicht meistens einLächeln, wenn er mit den Kindern sprach.

„Ja, ja“, sagte Brim weiter. „Die beiden wurden von einem Grünen bis ganzin die Nähe meines Verstecks geführt. Ich sah erst jetzt, d­d­d­daß d­d­d­dortein weiterer Grüner im Gras lag. Er bewegte sich nicht. Der schwitzende Alteöffnete seinen Rumpf, probierte eine ganze Zeitlang daran herum und setztemehrere Teile neu ein, bis sich der Grüne endlich wieder bewegte. Eigenartigwar aber der Satz, den der schwitzende Mann zu Doktor Einbein sagte, als die

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beiden   gingen:   ,Das   war   erst   der   Anfang.   Wir   werden   noch   unser   blauesWunder erleben!’“

„Doll!“ kommentierte Harpo. Das war wirklich eigenartig. Es waren schonfrüher gelegentlich Grüne repariert  worden, aber niemals in Sichtweite derKinder. Man brachte die Grünen dann an irgendeinen unbekannten Ort imSchiff, und später kamen sie zurück und waren wieder ganz in Ordnung. Unddann diese Bemerkung ...

Karlie  Müllerchen  schielte  nach  den kalten  Kartoffelpuffern,  die   für  denkleinen Oliver gedacht waren und leckte sich verstohlen die Lippen.

„Mein Gott“, sagte er plötzlich. „Ollie ist immer noch nicht zurück. Lang­sam mache ich mir wirklich Sorgen.“

Auch die anderen hatten ein ungutes Gefühl.  So lange fortzubleiben, daswar   auch   für   Oliver   ein   ungewöhnliches   Verhalten.   Es   war   ein   unge­schriebenes Gesetz in der Gruppe, daß die Nacht im Tal der Wigwams ver­bracht   wurde.   Ob   sich   Ollie   verlaufen   hatte?   Aber   selbst,   wenn   er   mit  elfJahren einer der Jüngsten war, so kannte er sich doch auf dem Deck aus wiein der eigenen Hosentasche.

„Dem heizen wir aber ein, wenn er wieder auftaucht“, verkündete Karlie.Eigentlich  sagte  er   es  nur,  um  die   plötzlich  gedrückte  Stimmung   aufzulo­ckern. Und die restlichen Puffer ließ er auch liegen.

Im  Moment  konnten   sie   nichts  anderes   tun,   als   schlafen   zu  gehen.  AmMorgen würden sie den kleinen Oliver suchen.

Ein ungewöhnlicher Zwischenfall

An diesem Morgen regte sich im Tal der Wigwams das Leben zeitiger als ge­wöhnlich. Karlie kletterte als erster schlaftrunken zum Vorratsbunker. Wenigspäter duftete es nach heißem Kakao und knusprigen Brötchen. Synthofoodnatürlich, aber es schmeckte.

Noch bevor die Kunstsonne den vollen morgendlichen Leuchtwert erreich­te, saßen sie alle beim Frühstück. Die Kinder verhielten sich ungewöhnlichstill.

Der kleine Oliver blieb verschwunden. Niemand konnte sich erklären, woer steckte.

„Vielleicht ist  er ausgerückt,  weil  er Schlangenbisse für ansteckend hält“,witzelte Micel  und spielte damit auf Ollies eingebildete Krankheiten an. Esgab wenig auf der ganzen Welt, gegen das der kleine Oliver nicht allergisch zusein   vorgab.   Wenn   jemand   krank   wurde   oder   auch   nur   Bauchweh   hatte,glaubte der winzige Krauskopf in der nach Indianerart fransenverzierten Le­derhose im nächsten Moment an sich selbst bereits die gleichen Symptomewahrzunehmen.

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Obwohl Micel ein Gedankenleser war, konnte er der Gruppe nicht helfen.Seine Talente waren noch nicht so weit entwickelt, daß er in der Lage war, ge­zielt nach den Gedanken eines bestimmten Menschen zu suchen. Es gelangihm zwar meistens, die Gedanken der Leute in seiner Nähe zu empfangen,und manchmal fing er auch Eindrücke auf, die aus der Ferne kamen. Aber daswar alles.

Die Gruppe hatte beschlossen, nach dem verschwundenen Freund zu su­chen.  Auch  wenn  die   Aufgaben   liegenbleiben  mußten.   Sie  würden  es  denGrünen schon erklären.

Was   mochte   nur   geschehen   sein?   Unbekannte   Gefahren   gab   es   docheigentlich nicht. Zumindest hätte jedes der Kinder noch vor ein paar Tagenso geredet. Jetzt waren sie alle nicht mehr ganz so sicher. Es gab Schlangenund Frösche auf dem Schiff. Auch größere Tiere? Auf der Erde hatte es großeRaubtiere gegeben ...

Wenn dem Jungen nichts zugestoßen war, blieb eigentlich nur noch die Er­klärung, daß er von einem plötzlichen Entdeckerdrang befallen in eines deranderen Decks hinab­ oder hinaufgestiegen war und sich dort verirrt hatte.

Oder gab es noch eine andere Möglichkeit? Wenn es nur nicht so schwieriggewesen wäre, sich mit Lucky Cicero zu unterhalten. Wann immer der NameOliver fiel, horchte er auf und murmelte das Wort „Grüne“. Aber er war nichtin der Lage, sich näher zu erklären.

Thunderclap   und  Lucky   blieben   bei   den  Wigwams   zurück.   Die   anderenKinder streiften in Zweiergruppen durch das Deck. Auch Lonzo ließ es sichnicht nehmen, mit den Freunden zu suchen. Er schloß sich Karlie und Briman, eilte   ihnen singend und radschlagend voraus  und machte dabei  einensolchen Höllenlärm, daß davon tausend Olivers aus tiefstem Schlummer hät­ten erwachen müssen.

Trompo wollte gerne mit, aber er konnte den anderen nur mühsam mit sei­nen kurzen Beinchen folgen. Da Lucky unbedingt mit ihm spielen wollte, lös­te sich das Problem von selbst.

Anca   und   Harpo   zogen   gemeinsam   los,   um   nach   dem   so   rätselhaftverschwundenen Jungen zu suchen.  Lonzo hatte vorher Ancas Wunde neuverbunden. Die Stelle heilte bereits, und Anca fühlte sich wieder quietsch­fidel. Sie verfolgte sogar den gackernden Lonzo ein Stückchen, weil er sie inden Po gekniffen hatte. Und da jetzt ein anderes Problem die Aufmerksam­keit der Gemeinschaft in Anspruch nahm, strengte sie sich auch nicht beson­ders an, durch Humpeln und Stöhnen Eindruck zu schinden. Insgeheim warsie   allerdings   der   Meinung,   daß   man   ihren   Schlangenbiß   entschieden   zuwenig beachtet hatte. Aber was sollte man machen? Wochenlang geschah aufDeck 27 gar nichts, und dann jagte eine Sensation die andere.

Thunderclap hatte von irgendwoher eine Karte ihres Decks hervorgezau­bert   und   jeder   Gruppe   einen   Suchbezirk   zugeteilt.   Er   war   der   geboreneOrganisator, das mußten alle neidlos zugeben.

Es machte den Geschwistern nichts aus, daß sie eines der langweiligstenGebiete zugewiesen bekamen. Schließlich wollten sie keine Entdeckungsreise

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unternehmen.   Noch   nicht.   Die   Expedition   in   andere   Decks   stand   für   dienächsten Tage auf dem Programm, falls man Ollie bis dahin nicht gefundenhatte.

Die Südzone war das Revier der beiden. Hier gab es mehrere Kilometer langnur Sand und Felsbrocken, und ganz am Ende, an der Wand des Schiffes, soetwas wie eine Oase mit Plastikpalmen und einem idyllischen See.

Das Gelände  war schwierig.   Immer  wieder  sanken  ihre  Füße tief   in dengelben Sand ein. Die vielen Dünen und großen Felsen erschwerten den Über­blick. Sie durchstreiften das Terrain mehrmals, bis sie sicher waren, daß ihrFreund dort bestimmt nicht steckte.

Sie wurden müde, die Füße taten weh. Nicht zum ersten Mal wunderte sichHarpo, daß die Decks so riesig waren. Das Schiff hatte einige hundert dieseDecks.  Und gemessen an den gewaltigen Dimensionen des Schiffes  lebtennur verschwindend wenige Kinder hier – zumindest wenn man davon aus­ging daß auf jedem Deck nur eine Gruppe existierte. Ob es stimmte, daß manvon Anfang an beabsichtigt hatte, das Schiff für die Gesundung verhaltensge­störter Kinder einzusetzen?

Harpos und Ancas Großeltern – bei denen sie seit dem Tod ihrer Eltern ge­lebt  hatten – wohnten auf der Erde in einer  winzigen Wohnung mitten  ineinem Block, in dem es Tausende solcher Wohnungen in endlosen Korrido­ren aneinandergereiht gab. Wenn sie aus dem Fenster sahen, guckten sie inhundert Meter Entfernung auf einen anderen Block und rechts und links aufweitere. Für sie war es unglaublich, daß zehn Kinder ein ganzes Schiffsdeckfür sich allein hatten.

Aber auch hier sollte es bald anders aussehen. Die Beamten der Psycholo­gischen Abteilung hatten den Großeltern alles erklärt, und einiges davon warin   Harpos   Gedächtnis   haften   geblieben:   Sie   bildeten   die   Vorhut   für   vielehunderttausend Kinder, die später einmal in Gruppen auf dem Schiff lebensollten. Dann würde es hier so eng werden wie auf der Erde. Vorausgesetztnatürlich, das Experiment glückte.

„Es hat keinen Zweck“, sagte Harpo schließlich.„Sicher haben die anderen ihn längst gefunden“, stimmte Anca zu.Sie waren hundemüde und hatten keine Lust mehr. Aber sie hätten wei­

tergesucht,   wenn   ihnen   nur   noch   ein   Winkel   eingefallen   wäre,   den   sievergessen haben konnten. Ermattet traten sie den Rückweg an.

„Sieh   mal“,   meinte   Anca   plötzlich,   als   sie   ihr   Suchgebiet   verließen   unddabei erneut in die Nähe einer Metallwand des Raumschiffs kamen.

„Na und?“ fragte Harpo, als er die Stelle in Augenschein genommen hatte,auf die Anca deutete. „Eine Tür, schon ziemlich verrostet. Müßte mal wiedergestrichen werden.“ Es gab so viele solcher Türen auf dem Deck. Ihr Zweckblieb   weitgehend   unbekannt,   und   auf   jeden   Fall   waren   sie   fast   alleverschlossen. Moment mal, diese Tür hier ...

„Sie steht vor“, sagte Anca aufgeregt.

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Neugierig näherten sich die beiden. Ja, wirklich, die Tür war nur angelehnt.Harpo vergrößerte den schon bestehenden Spalt und lugte in den Raum, derhinter der Tür lag.

„Ohh!“ entfuhr es ihm. „Das müssen wir uns näher ansehen.“Er nahm Anca bei der Hand und zog sie hinter sich hinein. Die Tür schloß

er wieder bis auf den Spalt, der vorher ihre Aufmerksamkeit erregt hatte undachtete darauf, daß sie nicht unvermutet ins Schloß fiel und ihnen den Rück­weg versperrte.

Sie befanden sich in einem kleinen, engen Raum, wohl eher einem Gang.Auf dem Metallboden lag ein Läufer aus Kunstfasern. Von den Wänden herableuchteten mattgelbe Lampen.

„Weiter“, flüsterte Harpo. Was ihn interessierte, lag am Ende des Ganges:ein größerer Raum und dahinter noch ein weiterer. Atemlos traten die Kinderein. Auch hier tauchten Wandlampen das Innere in ein sanftes, angenehmesLicht. Der Boden bestand aus einem weichen, schwammigen Kunststoff, inden man beim Gehen einige Millimeter versank. Eine Wand war von oben bisunten mit dicht gefüllten Bücherregalen bedeckt, eine andere mit schrank­ähnlichen Fächern und Türen davor. In der Mitte des Raumes lagen einigeSitzpolster, auf denen man es sich gemütlich machen konnte. Über der Ein­gangstür  stand in einer Konsole ein Bildschirm. Im Nachbarraum sah manverschiedene Küchengeräte.

„Laß   uns   lieber   schnell   verschwinden“,   flüsterte   Anca.   „Diese   Räumewerden bestimmt von den Alten benutzt.“

Die Schwester hatte recht. Und die Alten würden ihre Neugier bestrafen,wenn sie die Anwesenheit der Kinder entdeckten.

„Einen Moment noch“, bat Harpo.Er   spähte   in   den   nächsten   Raum,   in   der   Hoffnung,   dort   vielleicht   den

kleinen Oliver zu finden. Doch er sah nur schmutziges Eßgeschirr. Oberhauptwirkte er unaufgeräumt.

„Sieh doch“, rief Anca leise, „ein Kleid!“Sie hielt ein gelbes Kleid mit weißen Rüschen in der Hand. Der Größe nach

zu urteilen, mußte es einer Alten gehören.„Lag   hinter   den   Polstern“,   erklärte   das   Mädchen.   „Und   in   einem   der

Schrankfächer ist Unterwäsche.“Dann hörten sie Schritte und ein Rascheln. Es kam von jenseits der Küche,

wo Harpo eine weitere Tür entdeckt hatte.„Nichts wie weg“, raunte Harpo.Die beiden rannten zur Tür, schlüpften ins Freie, stießen die Tür wieder zu

und hasteten ins nahe Dickicht. Atemlos beobachteten sie die Tür.Eine Weile verging, ohne daß sich etwas rührte. Harpo und Anca wollten

sich schon aus dem Staub machen, als sich die Tür schließlich doch noch be­wegte.  Für   ein   oder   zwei   Sekunden  erschien  dort   ein   Gesicht  und   blicktenach draußen. Dann wurde die Tür ins Schloß gezogen. Viel hatte man nichterkennen   können,   aber   Harpo   prägten   sich   ein   paar   seltsam   erschreckteAugen im Gesicht einer jungen Frau mit blonden Haaren ein.

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Es fiel  den Geschwistern schwer,  sich einen Reim auf dieses Erlebnis  zumachen, so oft sie auf dem Rückweg auch über jede Einzelheit sprachen. Dieanderen Kinder waren ebenfalls ratlos, als sie davon hörten. Aber viel mehrim Vordergrund stand, daß sie den kleinen Oliver nirgends gefunden hatten.

Denn die anderen Gruppen waren bereits früher zurückgekehrt. Alle guck­ten enttäuscht, als Harpo und Anca allein in das Tal kamen. Ollie blieb wievom Erdboden verschluckt.

Ollie kehrt zurück

Dafür gab es eine andere erregende Neuigkeit! Fantasia und Micel hatteneinen  weiteren  Grünen  gefunden,  der  sich  nicht  mehr  bewegte.   Das  helleFunkeln in seinen Sehlinsen war erloschen. Das bedeutete, daß er tot oderaußer Betrieb war, wie immer man das nennen wollte. Seltsam war nur, daßdie anderen Grünen ihren Kollegen nicht abgeholt hatten!

Die große Uhr über dem Vorratsbunker zeigte auf zwei. Thunderclap hatteKarlies Küchendienst übernommen und ein Reisgericht mit viel Rindfleischgekocht. Einige der anderen Kinder hatten bereits gegessen, aber es war nochmehr als genug für die Nachzügler da.

Für die Aufgaben war es jetzt zu spät. Die Grünen würden exakt um vierUhr eintreffen. In den verbleibenden zwei Stunden konnten sie die Arbeitennicht   schaffen.   Sie   beratschlagten,   wie   man   den   Grünen   das   seltsameVerschwinden des kleinen Oliver beibringen sollte.

„Sie hetzen uns die Alten auf den Hals“, prophezeite Fidel.„Na und?“ meinte Fantasia trotzig. „Wenn sie uns helfen können? Willst du

vielleicht, daß Ollie verschwunden bleibt?“Fidel   sah   stur   zu   Boden   und   schwieg.   Sie   alle   wußten,   daß   er   die

Erwachsenen haßte.„Der Streit ist sinnlos“, griff Thunderclap schlichtend ein. „Die Grünen wä­

ren nicht die Grünen, wenn sie nicht auf den ersten Blick bemerkten, daß je­mand fehlt. Was soll’s also?“

„Grüne?“ sprach Lucky dazwischen. Er nickte und fügte hinzu: „Ollie! Ja.“Ein nachdenklicher Zug lief über das Gesicht von Micel Fopp. Er verharrte

einige Sekunden regungslos, dann schlug er sich mit der flachen Hand gegendie Stirn, daß es nur so klatschte.

„Ohhhh, Mann!“ stöhnte er. „Daß ich nicht gleich auf die Idee gekommenbin. Ich bin doch wirklich ein Schussel.“

„Ich will sofort meinen Kopf aufessen, wenn das nicht wahr ist“, gab Lonzoihm recht.

„Du bist  ein elender  Klaubruder“,  knurrte Micel   ihn an. „Diesen Spruchhast du dir gar nicht selbst ausgedacht, sondern bei Charles Dickens aufge­pickt.“

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„Heute   so   und   morgen   gestern“,   philosophierte   Lonzo.   Aber   er   machteeinen ertappten Eindruck.

„Www­wolltest   du   uns   nicht   etw­w­was   Wichtiges   mitteilen?“   erinnerteBrim Boriam. Seine großen Augen funkelten neugierig aus dem schwarzenGesicht.

„Ich  habe   Luckys   Gedanken  gelesen“,   verkündete  Micel  mit  wichtigtue­rischer Stimme. „Und wißt ihr, was ich dabei herausgefunden habe?“

„Ja.“ Lucky nickte. Entweder hatte er verstanden oder nur seinen Namengehört. Jedenfalls strahlte er.

„Die Grünen haben Oliver abgeholt“, fuhr Micel lakonisch fort. „Eine Ab­ordnung   von   vier   Grünen   war   es.   Sie   sagten,   sie   müßten   ihn   zu   denErwachsenen bringen, um einige Tests mit ihm durchzuführen.“

„Diese verfluchten Alten!“ schimpfte Fidel.„Ach geh“, meinte Harpo. „Es ist doch nicht alles schlecht,  was sie tun.“

Aber insgeheim fürchtete er wie die anderen, daß es nur einen Grund für dasüberraschende   Eingreifen   der   Grünen   geben   konnte:   Ollie   sollte   aus   derGruppe entfernt werden. Wahrscheinlich würden sie ihn niemals wiederse­hen.

Trompo raste wie ein Wiesel über Ancas im Sand ausgestreckten Körper.Anca mußte lachen, weil die winzigen Füßchen des Wesens sie kitzelten. Sieblickte zum Vorratsbunker hinüber zu der Uhr.

„Heee!“ entfuhr es ihr. „Seht doch mal. Es ist jetzt zwanzig nach vier. Aberdie Grünen sind immer noch nicht aufgetaucht!“

Alle schauten hin. Tatsächlich! Das war außergewöhnlich, denn die Grünenhatten sich bisher niemals verspätet. Was mochte sie aufgehalten haben? Imgleichen Moment tauchte eine kleine Gestalt am Eingang der Talmulde auf.Ein Grüner? Im ersten Moment konnten sie es nicht erkennen.

„Ollie!“   jubelte  Fantasia  und eilte  dem Jungen mit  wehendem Haar ent­gegen.

Die anderen  folgten   ihr   lärmend.  Kein Zweifel:  Es  war  Oliver.  Begeistertschlugen sie dem Kleinen auf die Schultern.

„Mann, hab’ ich ‘n Durst!“ krähte der kleine Oliver. „Ich könnt’ ‘n ganzesPferd aufessen, so müde bin ich!“ Er rang nach Luft. „Hoffentlich hab’ ich mirbei dem Marsch nicht wieder jede Menge Krankheiten aufgehalst. Ich fühlemich schon ganz mies.“

Bevor er Gelegenheit hatte, weiter von seinen Beschwerden zu berichten,drückten   ihn   die   einen   ins   Gras,   während   die   anderen   die   Reste   vonThunderclaps famoser Mahlzeit zusammenkratzten. Es war schon kalt, aberfür ausgehungerte Wanderer wie den kleinen Oliver war das kein Hindernis,mit Appetit zu essen.

„Wo warst du denn, Menschenskind?“ überfielen ihn die Freunde mit ihrenFragen. „Wir haben auf dem ganzen Deck nach dir gesucht!“

„Haben dich die Grünen zu den Alten gebracht?“„Du sollst nicht so schlingen. Das ist ungesund!“„Wie sieht es in der Zentrale aus?“

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„Hast du Mondkälber gesehen?“„Was macht der Chefpü­püsch­püschologe?“Ollie genoß die Aufmerksamkeit, die ihm sonst nur selten zuteil wurde. Als

Jüngster in der Gruppe wurde er eigentlich mehr als dankbares Publikum fürdie Angebereien der Älteren angesehen. Er murmelte undeutlich mit vollemMund etwas.

„Waaaas?“ erkundigten sich die Zuhörer.Trompo turnte sich an den glücklich wiedergefundenen Vermißten heran.

Er trug eine große Flasche mit einem Saft aus allerlei Heilkräutern im Rüsselund mußte sich redlich damit abschleppen.

Jedermann   wußte,   daß   Ollie   auf   diese   Medizin   als   Allheilmittel   schwor.Dankbar tätschelte er Trompos Köpfchen, nahm die Flasche und kraulte demkleinen Gefährten die Schlappohren. Nachdem er den letzten Bissen hinun­tergewürgt hatte, schraubte er die Flasche auf und roch verzückt daran.

„Nur das kann mich noch retten! Trompo – du bist ein wahrer Kumpel“,seufzte er. „Ich hab’, glaub’ ich, ‘n gefährlichen Hautausschlag.“

Er deutete auf einen einsamen Pickel auf der glatten Haut seines Armes.„Den armseligen Pickel hattest du gestern schon“, bemerkte Karlie trocken.„Nun   ist   es   aber   genug“,   schimpfte   Thunderclap   Genius.   „Würdest   du

vielleicht freundlicherweise erklären, was vorgefallen ist?“„Soll   ich es  tun?“ grinste Micel,  der  natürlich  schon alles  wußte,  weil  er

Ollies Gedanken gelesen hatte.„Nee!“ protestierte  Ollie  entschieden.  Er   fürchtete,  aus dem Brennpunkt

des Interesses zu rücken.„Dann   mal   los“,   meinte   Fidel   Flottbek,   der   so   ungeduldig   war   wie   die

anderen.„Is’ ga’ nich’ viel zu verzählen“, sagte der kleine Oliver. „Die Grünen ham

mich geholt und auf ihre Bas... Bis...“„Basis“, half Thunderclap aus.„... auf ihre Basis gebracht“, vollendete Ollie den Satz. „Und dann war auf

einmal Sense ...“„Was heißt hier Sense?“ regte sich Thunderclap auf. „Kannst du nicht deut­

licher werden?“„Na ja, die kippten einfach um, bums!“Ollie verzichtete nicht auf eine kleine kabarettistische Einlage und demons­

trierte, wie die Roboter im Teddybärenfell zu Boden gefallen waren.„Und dann?“ fragten die Umstehenden, nachdem sie sich von ihrem Lach­

anfall erholt hatten.„Dann hab’ ich Mücke gemacht!“„Mücke?“ fragte Brim Boriam verständnislos. Er hatte diese Redensart noch

nie gehört.„Ich bin abgehau’n“, erklärte Ollie. „Ausgebüxt. Hab’ mich auf die Socken

gemacht. Verstehste?“„Und die Grünen?“ fragte Fidel aufgeregt.„Na, die waren doch kaputt“, sagte Ollie.

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„Du meinst, sie kippten nicht nur um, sondern waren endgültig im Eimer?“forschte Harpo nach.

„Genauuuu!“ antwortete Micel für den kleinen Oliver. „Ich schätze, daß wirhier vorläufig keinen Grünen mehr sehen. Es hat sich ausgegrünt!“

„Dann hab’ ich mich zu euch durchgekämpft“, holte der kleine Oliver zueiner längeren Erlebnisschilderung aus. „Zuerst kam ich ...“

„Später“, unterbrach Micel. „Ist euch eigentlich schon aufgefallen, daß eszwanzig nach vier ist?“

„Na und?“, fragte Harpo verständnislos.„Weil es schon zwanzig nach vier war, als Ollie auftauchte“, antwortete Mi­

cel. „Deshalb!“„Dann ist die Uhr stehengeblieben!“ rief Fidel.„Du merkst aber auch alles!“In diesem Moment geschah etwas, das die Kinder zutiefst erschreckte. Der

Boden   von   Deck   27   begann   heftig   zu   zittern.   Ein   harter   Stoß   folgte.   DieKinder purzelten durcheinander, und zwei ihrer drei Wigwams stürzten kra­chend in sich zusammen. Ein lautes, quietschendes Geräusch drang in ihreOhren und wurde so laut, daß es fast weh tat.

Dann folgte ein erneuter Stoß. Und dann war Stille.

Aufbruch zur Basis der Grünen

Der Schreck war ihnen ganz schön in die Glieder gefahren.Zum Glück blieb der Schock größer als der meßbare Schaden. Die Kinder

kamen mit Beulen und blauen Flecken davon.Am ärgsten hatte es noch Thunderclap Genius erwischt. Der Rollstuhl war

umgestürzt  und hatte den Jungen unter sich begraben.  Nach dem zweitenStoß kümmerten sich alle um den Bedauernswerten und halfen ihm auf. EineChromstange des Rollstuhls hatte sich leicht verbogen, ohne daß dadurch je­doch die Funktion beeinträchtigt wurde.

Mit Jammern hielt sich Thunderclap nicht lange auf. Er strich nur ab undzu mit den Fingerspitzen über seine Stirn, auf der sich ein dickes, rotblauesHorn zu bilden begann. Da solche Beulen die Eigenschaft haben, nach einerWeile in allen Regenbogenfarben zu schillern, erregen sie eher Spott als Mit­leid.

Aber rasch merkten die Kinder, daß nun andere Probleme anstanden, alssich  über  rotblaue   Hörner   lustig  zu machen.   Jeder  wußte,  daß  ein Raum­schiff, welches in einer festgesetzten Parkbahn die Erde umkreist, nicht voneinem   Erdbeben   erschüttert   werden   kann.   Erdbeben   sind   die   Folgen   vonSpannungen der Erdkruste, die deshalb entstehen, weil die feste Erdoberflä­che nur eine verhältnismäßig dünne Schale über dem feurig­flüssigen Erd­kern ist. Wenn sich im Erdkern mit starken Energieentladungen verbundene

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Prozesse   abspielen,   dann   kommt   es   zu   Eruptionen,   die   sich   mal   als   Vul­kanausbrüche, mal aber auch als Beben äußern. So, als würde ein gefangenerRiese an seinen Fesseln zerren und dabei  wild um sich schlagen.  Aber imWeltraum?

Auch das Schiff, auf dem sich die Kinder befanden, besaß einen „feurigenKern“, nämlich einen Atomreaktor, der die Energie für den Antrieb und alleLebensprozesse   lieferte.   Doch  soweit   sie   wußten,   war   er  von   dicken   Blei­wänden   ummantelt.   Der   Atomreaktor   hatte   keine   Chance   gegen   sie.   Undaußerdem lief er auf kleiner Leistung, weil sich das Schiff auch ohne Antriebim Orbit der Erde stabilisierte. Wenn die Kreisbahn von den Wissenschaftlernauf der Erde richtig berechnet war, hielten sich die Anziehungskraft der Erdeund die Fliehkraft aus der Eigengeschwindigkeit die Waage.

„Etwas ist geschehen!“ sagte Thunderclap nur. Mehr wußte er nicht. Wohersollte er auch?

Ohne daß jemand Kommandos geben mußte, kümmerten sich die Kinderzunächst   einmal   um   die   zusammengebrochenen   Wigwams.   Zwei   Stangenwaren geknickt, aber sie schafften es, die Zelte wieder aufzustellen.

Harpo machte sich Sorgen. Die ersten Probleme traten auf. Einige der Grü­nen waren ausgefallen. Vielleicht sogar alle. Zwei der Wigwamstangen konn­ten nicht mehr verwendet werden und Ersatz gab es nicht.

Doch das war im Moment nicht weiter schlimm. Aber was sollte werden,wenn die Nahrungsmittel im Vorratsbunker aufgebraucht waren und kein Er­satz eintraf? Wenn sich niemand auf Deck 27 blicken ließ, kein Grüner undkeiner von den Alten?

Zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewußt, daß sie in einem gewaltigenRaumschiff lebten, das über der Erde schwebte. Vielleicht stürzte es bereitsdem überbevölkerten Planeten entgegen? Auf sich selbst gestellt waren sie imGrunde doch recht hilflos. Obwohl sie eine ganze Menge Neues dazugelernthatten, seit sie nicht mehr in den Betonkolossen der Erde lebten.

Thunderclap mochte  von  ähnlichen Gedanken geplagt  sein.  „Du solltestmal ausprobieren, ob das Feuer noch in Ordnung ist“, bat er Karlie.

Karlie drehte an den Hähnen, die das Gas ausströmen ließen und bei Betä­tigung gleichzeitig einen Zündfunken freisetzten. Nichts geschah.

„Wir haben kein Feuer mehr!“ rief Karlie enttäuscht. „Kartoffelpuffer ade!“Thunderclap schwieg. Er schien damit gerechnet zu haben.„Wir werden eben ohne Feuer auskommen müssen – für eine Weile“, warf

Harpo ein. Er wirkte ruhig, war es aber nicht. Sie hatten sich ein bißchen zusehr darauf verlassen, daß ihnen die gebratenen Tauben in den Mund flogen.Nein, nicht ganz so. Ein gewisses Maß an Selbständigkeit hatten sie durchauserlangt. Aber immer noch nahmen sie Sachen als gegeben hin, die so selbst­verständlich gar nicht waren. Vielleicht mußten sie sich jetzt an ganz neueMaßstäbe gewöhnen.

„Micel“, beschwor Harpo seinen Freund. „Kannst du uns nicht sagen, wasgeschehen ist?“

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Der Gedankenleser senkte den Blick, als sich mehrere Augenpaare auf ihnhefteten.

„Es tut mir leid“, sagte er leise und ließ seine verkümmerten Ärmchen trau­rig hängen. „Ihr erwartet zuviel von mir. Ich spüre nichts.“

Fidel  Flottbek, der sich bisher aus den Gesprächen herausgehalten hatte,meldete sich zu Wort. Er hatte eine Weile nachgedacht. „Gehen wir mal da­von aus“, sagte er, „daß die Grünen nicht wiederkommen, daß sie niemalswiederkommen. Wißt ihr, was das heißt?“

Er  sah sich fragend im Kreis  um, aber  niemand hatte  Lust,   ihm zu ant­worten.

„Das bedeutet“, gab er sich triumphierend selbst die Antwort, „daß wir un­abhängig und frei sind! Niemand erteilt uns Befehle, niemand sagt uns, waswir zu tun und zu lassen haben, niemand zwingt uns, Rechenaufgaben undBastelarbeiten zu erledigen!“ Vor Begeisterung hatte er sich richtig in Ekstasegeredet und war laut geworden wie ein Politiker bei einer Wahlrede.

„Immer langsam“, bremste Harpo. „Die Grünen sind nicht die Herren aufdiesem Schiff, Fidel. Du hast die Alten vergessen!“

„Wenn  die  Grünen  nicht   mehr   funktionieren“,  unterstützte  Micel  FidelsÜberlegungen, „dann werden die Alten alle Hände voll zu tun haben, um dasSchiff unter Kontrolle zu halten. Um uns werden sie sich dann gar nicht mehrkümmern.“

„Zerbrecht  euch nicht  die  Köpfe“,  meinte  Anca.  „Wir  werden  noch  frühgenug feststellen, wer recht hat.“

„Jawoll“, pflichtete der kleine Oliver bei. „Un’ solang machen wer Feeerien!Juchhuuu!“

Thunderclap wiegte zögernd seinen Kopf. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“,sagte er. „Ich finde, ihr seht die Sache zu rosig. Überlegt doch mal: Was denGrünen   oder   den   Alten   gefährlich   wird,   das   kann   auch   uns   in   Gefahrbringen.“

„Richtig!“ hakte Harpo sofort ein. Er scharrte unruhig mit den Füßen. „Statthier   rumzusitzen,  sollten  wir   lieber  eine Expedition  zusammenstellen  undherauszufinden versuchen, was wirklich los ist! Und dann wäre es noch gut,wenn   wir   mit   den   Gruppen   auf   anderen   Decks   Kontakt   aufnehmen.   Wirkönnten uns gegenseitig helfen.“

„Als erstes wollen wir eine Ratsversammlung einberufen, in der jeder Sitzund Stimme hat“, rief Karlie begeistert.

„Eine gute Idee!“„Klasse!“„Mensch, Karlie, du hast ja mächtig einen drauf!“Alle waren mit  Feuer und Flamme dabei.  Das  Tal  der Wigwams war ein

eigener Staat geworden, dessen Bewohner demokratisch darüber abstimm­ten, was weiter geschehen sollte.

„Auch   Lonzo   und   Trompo   müssen   mitentscheiden“,   forderte   Ancaenergisch.

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„Klar, Mensch“, stimmten die anderen zu. „Sie haben die gleichen Rechtewie wir alle!“ Niemand hatte etwas gegen diesen Vorschlag einzuwenden.

„Lonzo“, fragte Thunderclap den fast kugelrunden Roboter, der auf seinenelastischen Beinen herantanzte, „du wirst mir nicht böse sein, wenn ich dichdanach   frage,   nicht   wahr?   Warum   bist   du   nicht   von   dem   Schicksal   deranderen Roboter betroffen?“

Die   Kinder  erwarteten,   daß  Lonzo   nun   wieder   steif  und   fest   behauptenwürde, daß er gar kein Roboter sei, sondern ein Mensch. Aber nichts derglei­chen kam.

„Vielleicht deshalb, weil ich nicht mehr der Zentralschaltung des GroßenElektronengehirns unterstehe“, gab Lonzo unerwartet ernsthaft zur Antwort.„Ich bin ganz auf mich allein gestellt, weil die Funkverbindung zwischen mirund der  Zentralschaltung  kaputt   ist.  Die  anderen Roboter  bekommen ihreBefehle vom Großen Elektronengehirn.“

Nachdenklich und mit in Falten gelegter Stirn sagte Thunderclap: „Könntees sein,  Lonzo,  daß es  am Großen Elektronengehirn  liegt,  daß die  Grünennicht mehr funktionieren?“

Und Harpo fügte  hinzu: „Und der  Stoß von vorhin? Könnte er  auch da­durch ausgelöst worden sein?“

Lonzo klickte nervös. Zum ersten Mal, seit er sich selbst das Bärenfell überdie Ohren gezogen hatte, benahm er sich nicht wie ein Clown. Dann gab erzur   Antwort,   dabei   fast   traurig   mit   seinen   Tentakeln   wedelnd:   „MeineSpeicherbänke sagen mir, daß es am Großen Elektronengehirn liegen muß.Es hat offenbar einen Defekt. Seine Verbindung zu den Grünen ist unterbro­chen.“

Die Kinder schwiegen ratlos. Jedes einzelne von ihnen – außer Lucky Cice­ro, der so aussah, als würde er gleich anfangen zu weinen – machte sich seineGedanken.   Lucky   merkte   genau,  wenn   die   anderen  etwas   bedrückte.   Undwenn   das   Elektronengehirn   ausgefallen   war,   bedeutete   dies   eine   großeGefahr   für   das   Schiff   und   seine   Besatzung.   Und   leider   war   es   nun,   nachLonzos   Aussage,   nicht   mehr   von   der   Hand   zu   weisen,   daß   der   riesigeSchiffscomputer, der nahezu alles steuerte, seinen Geist ausgehaucht hatte.

„Ob das Schiff nun steuerlos ist?“ fragte Harpo in das Schweigen hinein.„Die Alten sind doch noch da“, meinte Anca zaghaft, als erwarte sie von ih­

nen die Rettung.„Hast du überhaupt schon mal einen von denen gesehen?“ fragte Fantasia

zweifelnd.Der kleine Oliver war blaß geworden, und sogar Thunderclap Genius, der

Junge, der von ihnen allen am meisten wußte und der besonnenste war, be­kam blasse Lippen.

„Wir müssen nachsehen, was genau geschehen ist“, schlug Harpo vor undstand auf. „Zuerst sollten wir zur Basis der Grünen gehen und herausfinden,ob sie wirklich außer Betrieb sind. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.“ SeinVorschlag fand allgemeine Zustimmung.

„Wollen wir abstimmen?“

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„Hat jemand einen Gegenvorschlag?“Einen Gegenvorschlag hatte niemand. Die Abstimmung ergab, daß Harpos

Vorschlag einstimmig angenommen war. Blieb nur die Frage, wer an der For­schungsreise teilnehmen sollte, da es natürlich keinen gab, der gerne zurück­blieb. Aber alle zusammen konnten sie nicht gehen, weil das zuviel Gepäckund noch mehr Umstände erforderte,   falls  wirklich Gefahren drohten.  DieExistenz der Schlange hatte noch keines der Kinder vergessen ...

Thunderclap sagte: „Lonzo soll vorschlagen, wer von uns mit zur Basis derGrünen   geht.   Er   ist   der   einzige   Neutrale   unter   uns,   weil   er   Gefühle   wieAbenteuerlust nicht kennt und deshalb eine unbeeinflußte Auswahl treffenkann.“

Nach diesen Worten gebärdete  sich Lonzo wie in  alten Tagen.  „Ich undkeine Abenteuerlust kennen?“ krächzte er. „Haaah ... soll ich euch erzählen,wie ich mit dem alten Käpt’n Kidd gegen Kunibert Krötenschreck und seinefiesen Piraten kämpfte? Auf allen neun Weltmeeren? Ich könnte euch Dingeerzählen, daß euch die Haare zu Berge stehen ...“

Der quäkende Tonfall, in dem er das sagte, löste die bedrückte Stimmungder Kinder. Lachend hielten sich Harpo und seine Freunde die Bäuche. Derulkige Eisenmann hatte  zu  jeder Bemerkung eine kleine Geschichte  parat.Und er schreckte auch nicht davor zurück, furchtbar aufzuschneiden, wennes galt, seine witzigen Erzählungen an das Publikum zu bringen. Wer hatte jevon neun Weltmeeren gehört – wo es doch nur sieben gab, von denen viernichts   anderes   waren   als   stinkende,   längst   tote   Kloaken,   in   denen   keineFische mehr lebten.

Lonzo schritt mit vor der Metallbrust gekreuzten Tentakeln gravitätisch aufund ab. Dann, als sei er Admiral Piratenschreck persönlich, fuhr er fort: „Soeine   Expedition   ist   eine   nervenaufreibende   Sache,   meine   Freunde!   Darankönnen nur Leute teilnehmen, die das Herz nicht in der Hose aufbewahren.Und gewieft müssen Expeditionsleute sein, furchtlos und allen Eisverkäuferndes Universums gegenüber standhaft bleiben!“

Er drehte sich um und schnarrte: „Wir brauchen zuerst jemand, der jedeGefahr riecht! Und das ist Micel Fopp, der Junge mit dem sechsten Sinn!“

„Au ja!“ sagte Micel freudig.„Und jemanden, der stark ist!“ Lonzos Blick fiel auf Anca, die sich soeben

hinter der Rückenlehne von Thunderclaps Rollstuhl verkriechen wollte, weilsie schon ahnte, was nun kam.

„Anca hat mit einer Riesenschlange gekämpft“, kicherte Lonzo, „und sie indie Flucht geschlagen! Sie soll die zweite sein!“

„J­ja“,   hauchte  das  Mädchen.   Anca   fühlte   sich  eigentlich   jetzt   gar   nichtmehr so stark wie noch am Tag vorher. Dennoch freute sie sich, an dieser auf­regenden Expedition teilnehmen zu dürfen.

„Dazu einen Jungen, der den genauen Weg zur Basis der Grünen kennt!“„Ich! Ich!“ rief der kleine Oliver. „Ich war schon mal da. Ich kenn’ den Weg!“„Richtig“, bestätigte Harpo. Die anderen nickten.

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„Und der  vierte  im Bunde“,  sagte  Lonzo.  „Welche Fähigkeiten sollte  derhaben?“ Er sah fragend in die Runde und wartete auf Vorschläge, wobei seineroten Kunstlichtäuglein flackerten.

„Furchtlos soll er sein!“ trompetete Trompo, der es sich auf ThunderclapsSchoß bequem gemacht hatte und mit den Ohren wedelte. „Und der Furcht­loseste von allen ist Harpo Trumpff!“

Harpo glaubte vor Schreck im Boden zu versinken.

Eine geheimnisvolle Botschaft

Die Basis der Grünen lag in nördlicher Richtung hinter dem felsigen Land.Da das Schiff einen eigenen Magnetpol besaß, konnte man die Himmelsrich­tungen der Erde beibehalten und sich mit  einem Kompaß orientieren.  DieKinder   durchquerten   zunächst   ein   Wäldchen   und   gelangten   in   diegraubraune,  felsige Öde, die sich fast  einen Kilometer   lang hinzog,  ehe siewieder in eine allmählich absinkende Grünzone überging.

Als   das   Grünland   sich   vor   ihnen   abzeichnete,   deutete   Harpo,   der   dieGruppe   anführte,   nach   unten.   Die   grünlackierte   Schiffswand   schnitt   dieLandschaft   abrupt   ab.   Sie   ragte   in   zweihundert   Meter   Entfernung   empor.Und in ihr befand sich das große schwarze, runde Loch, das den Eingang zumLift bildete, der zu den anderen Decks führte.

Direkt  neben dem schwarzen Loch standen vier  kleine,  aus  künstlichemHolz hergestellte und dennoch echt wirkende Blockhütten. Die Schornsteinerauchten nicht. Alles wirkte verlassen.

Die Basis.Die   Türen   der   Hütten   waren   geschlossen,   und   vor   dem   malerisch   aus­

sehenden alten Ziehbrunnen, der auf dem Vorplatz der Basis stand, lag derKörper eines Grünen auf dem Rücken, leblos und starr. Das rechte Knie deskünstlichen Wesens war  leicht  angewinkelt,  und ein Arm ragte  steil   in dieLuft, als sei der Roboter mitten in der Bewegung abgeschaltet worden.

Der   kleine   Oliver  sagte,   während  sie  vorsichtig  den  Hügel   hinabstiegen:„Zwei haben mich abgeholt. Wo is’ denn der andere?“

Sie entdeckten ihn bald. Er lag hinter dem Brunnenrand. Auch er rührtesich nicht.  Sein grünes Fell  war staubig und verschmutzt.  Die Äuglein,  diesonst so listig blitzen konnten, waren erloschen.

Harpo kniete neben den Grünen nieder und untersuchte sie, während Mi­cel neben ihm stand und seine Gedankenströme in die Umgebung hinaus­schickte.

„Liest du was?“ platzte Anca heraus, die beobachtet hatte, daß sich MicelsBlick versonnen nach innen gekehrt hatte.

Micel schüttelte den Kopf. „Es ist alles tot.“

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„Haben die Grünen überhaupt Gedanken?“ fragte Harpo, als sie die ersteHütte betraten. Die Kleincomputer, die hier herumstanden, hatten ihre Tä­tigkeit eingestellt. Auch sie waren abgeschaltet.

„Richtige   Gedanken   haben   sie   nicht“,   erklärte   Micel   stirnrunzelnd,   alsmüßte  er   sich  selbst   erst  über   die   Antwort   klar  werden.  „Aber   ich  konnteschon mal was von ihnen hören. Ein Kitzeln in meinem Kopf ...“

„Ein Kitzeln?“ fragte Harpo verblüfft. „Ein Kitzeln im Kopf?“ Das konnte ersich beim besten Willen nicht vorstellen.

Micel zuckte mit den Achseln. „Kein echtes Kitzeln ... Ach, ich kann es dirnicht erklären. Das ist genauso schwierig, als müßtest du einem Blinden eineFarbe erklären. Aber das ist jetzt auch nicht wichtig. Auf jeden Fall spüre ichhier nichts. Die Grünen strahlen kein ,Kitzeln‘ mehr aus.“

„Hab’ ich doch gesagt, daß die im Eimer sind“, meinte Ollie.Neugierig betrachteten die Kinder die seltsamen Instrumente. Mit der In­

neneinrichtung der Hütten hatten sich die Alten nicht sonderlich viel Mühegegeben. Die Wände sahen kalt und grau aus. Nur die Maschinen blitzten vorSauberkeit.  Sie  waren  verchromt  wie  medizinische   Instrumente  oder  ganzteure Autos und besaßen so viele Knöpfe, Schalter und Tasten, daß Harpo fastschwindlig wurde, als er den zaghaften Versuch unternahm, sie zu zählen.Anca deutete auf einen kleinen Bildschirm, auf dessen Sichtfläche sich einwinziger weißer Punkt abzeichnete.

„Seht nur“, sagte Micel aufgeregt und zeigte ebenfalls dorthin.Täuschten  sie  sich   oder   wurde  der   Punkt   tatsächlich   größer?   Das   Gerät

summte leise. Die Kinder wußten, daß man es dazu benutzte, mit anderenMenschen zu reden. Ein gewöhnlicher Bildschirm wie beim Fernsehen wardas nicht. In gewisser Hinsicht konnte man dieses Gerät als Weiterentwick­lung des Telephons bezeichnen. Der Unterschied war nur, daß man seinenGesprächspartner  nicht  nur hören, sondern auch sehen konnte.  Visiophonwurde das Gerät genannt.

Der weiße Punkt war zuerst nicht größer als eine Erbse, aber er wuchs tat­sächlich.   Der   Bildschirm   erwachte   zum   Leben.   Verzerrte   Linien   huschtenüber die Mattscheibe.  Das Gerät  summte etwas lauter als vorhin,  aber dasGeräusch war immer noch so leise, daß man schon den Atem anhalten muß­te, um es überhaupt wahrzunehmen.

„Jemand versucht, hier anzurufen!“ rief Harpo. Er fuchtelte nervös mit derrechten   Hand   durch   die   Luft   und   tastete   dann   nach   den   kleinen   weißenSchaltknöpfen an der Vorderseite des Visiophons. Aber so recht traute er sichnicht. „Soll ich mal versuchen, das Bild richtig reinzukriegen?“

„Paß bloß auf“, raunte Anca. „Vielleicht machst du es kaputt.“Diese   Bemerkung   seiner   Schwester   hätte   Harpo   unter   normalen   Um­

ständen vielleicht wütend gemacht, aber jetzt störte er sich nicht daran undging so sanft zu Werke wie niemals zuvor.

Für  zwei  Sekunden blieb das Bild  stehen. Erfreut  bemerkten die Kinder,daß das Gesicht eines Mannes sichtbar wurde. Er war dunkelhäutig wie Brim

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Boriam, trug jedoch einen buschigen Bart. Und das war etwas, zu dem es beiBrim noch nicht gereicht hatte.

Dann verschwand das Bild wieder. Harpo fluchte wie ein Matrose, der sichauf allen sieben Weltmeeren herumgetrieben hatte. Das Visiophon begann zuknattern. Harpo verstummte. Erneut erschienen die farbigen Linien.

Der bärtige Schwarze war zurück.„Geschafft!“ freute sich Harpo.Das   Gesicht   des   Mannes   auf   dem   Bildschirm   zeigte   für   einen   Moment

Freude. Zweifellos hatte er auf seinem Visiophon jetzt die Gruppe der Kinderim   Bild.   Dann   lief   jedoch  ein  Schatten  über   sein   Gesicht.   Er  bewegte   dieLippen, begann hastig zu sprechen und ruderte wild mit den Händen durchdie Luft. Es sah komisch aus, wie er sich abmühte, ihnen etwas mitzuteilen,ohne daß man ihn verstand. Ohne es zu wollen, mußten die Kinder lachen.

„Was will er denn?“ fragte der kleine Oliver schließlich. Er stand breitbeinigvor dem Bildschirm und bohrte in der Nase.

„Uns etwas sagen“, zischte Anca aufgeregt. Sie hatte als erste den Ernst derSituation erfaßt. „Man kann ja nix verstehen, Harpo! Kannst du nicht nocheinmal an den Knöpfen drehen?“

Harpo zögerte. Er kannte sich mit dieser Anlage nicht so gut aus, wie er zu­erst gedacht hatte.

Und außerdem hatte er Angst davor, die Verbindung zu dem Unbekanntenzu unterbrechen. Was sollte er nur tun?

Der Retter konnte Micel sein.„Kannst du seine Gedanken lesen?“ wisperte er hastig dem Freund ins Ohr.

„Erfahren, was der Mann will?“Ehe Micel noch antworten konnte, veränderte sich die Szene erneut. Der

Bärtige hatte jetzt wohl bemerkt, daß man ihn nicht hören konnte. Er deutetemit   dem   rechten   Zeigefinger   auf   seinen   Mund.   Dann   auf   seine   Ohren.Schließlich zeigte er  aus  dem Bildschirm  heraus auf die Kinder,  schütteltefragend den Kopf und hob die Schultern.

„Er will wissen, ob wir ihn hören können“, sagte Micel. „Neeeiiiin!“Auch   die   anderen   fielen   in   den   Ruf   ein   und   schüttelten   wild   mit   den

Köpfen.Die   Reaktion   des   Mannes   war   erstaunlich.   Sein   Gesicht   spiegelte   nun

Verzweiflung. Er stand auf. Für einen Augenblick zeigte die Kamera nur sei­nen breiten Brustkorb mit den blanken Uniformknöpfen, bis die Automatikdie Linse verstellt hatte. Der Mann bewegte sich im Raum auf und ab wie eingefangener   Tiger  und   raufte   sich   gelegentlich   die   Haare.   Dann   griff   er   zueinem Raumanzug, der an einem Wandhaken hing, und zog ihn an. Ehe erden Helm aufsetzte, sah er noch einmal in das Aufnahmeobjektiv. Er wirkteunendlich traurig. Drei oder vier Sekunden lang schaute er so. Dann wandteer sich ab und schlug mit der geballten Rechten in den offenen Handschuhder linken Hand. Er machte eine Bewegung mit beiden Armen, die bedeutenmochte, daß etwas explodierte. Mit dem Daumen zeigte er mehrmals nachunten und auf die Kinder. Schließlich setzte er seinen Helm mit einem weh­

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mütigen Gesicht auf, winkte noch einmal und verließ den Raum. Eine Metall­tür schloß sich hinter ihm.

Mit offenen Mündern hatten die Kinder die Szene verfolgt. Jetzt starrten siesich gegenseitig an.

„Wer war das?“ platzte der kleine Oliver heraus.  „Den hab’  ich noch niegesehen. War das vielleicht der Schäff­Püschologe?“

„Er hatte eine Uniform an. Das war kein Arzt, nicht, Harpo?“ meinte Anca.In ihrer Stimme schwang deutlich leise Angst mit. Harpo legte einen Arm umdie Schulter seiner Schwester, um sie zu beruhigen.

Micel schien der einzige zu sein, den die Szene nicht aus der Ruhe gebrachthatte.  Seine  Augen hatten  jenen seltsamen  abwesenden Ausdruck,  den sieimmer   annahmen,   wenn   er   sich   auf   weit   entfernte   Gedanken   zu   kon­zentrieren versuchte.

Ehe ihn Harpo fragen konnte,  sagte er schulterzuckend: „Er  war zu weitweg, Harpo. Viel zu weit. Ich konnte nichts in ihm lesen. Da war nur so einkomisches Gefühl ...“ Micel schüttelte sich, als liefe ein kalter Schauer überseinen Rücken.

„Was für ein Gefühl? Micel!“ rief Harpo heiser. Er spürte,  daß in ihm dieAngst wuchs. Gänsehaut bedeckte seine nackten Arme.

Micel  antwortete nicht.  Er verließ die Hütte als erster und ging vor demBrunnen nachdenklich auf und ab. Dabei murmelte er etwas, das weder Har­po noch die anderen verstanden.

Was hatte Micel aufgefangen?Doch andere Dinge nahmen nun die Aufmerksamkeit  der Kinder   in  An­

spruch. Der kleine Oliver hatte – neugierig wie er war – an der Türklinke derzweiten Hütte gerüttelt. Plötzlich sprang die Tür auf, und ein Knäuel kleinerTiere schoß aus der Hütte ins Freie. Geschickt wichen die Tiere den Kindernaus und rannten ins freie Land hinaus, als ginge es um ihr Leben.

Harpo machte einen Satz und erwischte ein schwarzes Kätzchen, das sichverzweifelt bemühte, seinen Händen zu entwischen.

„Eine Katze! Eine richtige Katze!“ Ollie war außer sich vor Freude. AncasBlicke folgten den anderen Tieren,  von denen die meisten schon aus demBlickfeld geraten waren. Sie sah aber noch zwei  langhaarige Hunde, einenkleinen tolpatschigen Bären mit schneeweißem Fell, drei Eichhörnchen undeine laut quakende Ente, die auf ihren Plattfüßen von dannen watschelte unddabei   die   Flügel   schwang,   als   wollte   sie   sich   jeden   Moment   in   die   Lufterheben.  Dann hatten sich  die Tiere hinter  Plastiksträuchern,  Hecken undSteinen versteckt. Nur die Ente hörte man noch eine Weile aus der Ferne qua­ken.

Micel sagte: „Das ist keine Katze, Ollie. Das ist eine verkleidete Robotma­schine.“

Harpo, der das leise Summen des Tiers ebenfalls bemerkt hatte, gab es frei.Allmählich   glaubte   er   nun   wirklich   nicht   mehr   daran,   daß   es   auf   diesemSchiff  etwas   Echtes   gab,  etwas,   das  nicht   in   einer  Fabrik   nachempfunden

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worden war. Aber dann fiel ihm wieder die Schlange ein, die Anca gebissenhatte.

In   der   zweiten   Hütte   lagen   zwei   weitere   Roboter   auf   dem   Boden   undrührten   sich   nicht   mehr.   Die   Aufgaben,   die   sie   für  die   Kinder  vorbereitethatten, lagen auf dem Boden verstreut, als seien sie ihnen aus den Händengefallen.   Harpo   bückte   sich   und   hob   einen   der   vorgedruckten   Zettel   auf.Geometrie.   Er   schüttelte   sich.   Das   war   eines   der   Fächer,   vor   denen   ihmgraute.

„Wir können hier wohl nichts mehr tun“, hörte er Micel hinter sich sagen.„Wollen wir nicht zurückgehen?“

Anca stimmte ihm zu, während Ollie in den Schubladen herumkramte undstoßweise Papier und Bücher zutage förderte, die er kichernd auf dem Bodenverstreute. „Keine Aufgaben mehr!“ rief er jubelnd. „Das ist der schönste Tagin meinem Leben!“

Zusammen mit Anca legte er anschließend einen Indianertanz aufs Parkett,wobei beide sich redlich bemühten, den anderen im Freudengeheul an Laut­stärke zu übertreffen.

Micel,   der   ebenfalls   gerne   mitgemacht   hätte,   aber   aufgrund   seiner   ver­kürzten Ärmchen nicht so konnte, wie er wohl wollte, stellte fest, daß Harpoein bedrücktes Gesicht machte.

„Was hast du?“ fragte er. „Freust du dich nicht, daß wir jetzt tun und lassenkönnen, was uns gefällt?“

„Doch, doch“, sagte Harpo zögernd. „Aber ... ich habe nicht vergessen, Mi­cel.   Der   Mann   auf   dem   Bildschirm.   Dein   komisches   Gesicht   und   deineAndeutungen. Ich weiß, daß du uns etwas verschweigst. Du weißt mehr, alsdu zugeben willst, stimmt’s?“

„Du hast recht, Harpo“, gab Micel nun zu. „Ich weiß jetzt, welches Gefühlder Mann hatte, als er den Raumanzug anzog und ging.“

„Und?   Heraus   mit  der   Sprache.   Du   mußt   es   uns   sagen.   Wir   sind   deineFreunde.“

„Nun ... ich wollte es nicht für mich behalten. Aber ich war meiner Sachenicht sicher.“ Micel druckste ein bißchen herum. Die Freunde hatten recht.Das Geheimnis ging sie alle an, nicht nur ihn allein.

„Das Schiff hat sich aus seiner Erdumlaufbahn losgerissen, Harpo“, erläu­terte  er und stellte  insgeheim erstaunt fest, daß es erleichterte, darüber zusprechen. „Es ist völlig außer Kontrolle. Die Erwachsenen sind anscheinendalle geflüchtet. Und der letzte Mann – der auf dem Bildschirm – hatte Angst ...Angst um uns, weil ihm keine Zeit mehr blieb, uns hier herauszuholen ...“

Anca und der kleine Oliver hörten auf zu tanzen. Micel drückte seinen Kopfan Harpos Brust und begann zu weinen. Auf dem Rückweg ins Wigwamtalsprachen sie kein Wort.

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Vorstoß nach Deck 28

Das Plastikparadies, in dem die Kinder bisher gelebt hatten, erschien ihnennun, nachdem sie genau darüber informiert waren, was geschehen war, garnicht mehr so rosig.

Im Gegenteil:   Jede rostige Stelle an den Wänden fiel   ihnen plötzlich auf,und   auch   der   Duft,   den   die   zahllosen   bunten   Blumen,   Pflanzen   und   Ge­wächse ausströmten,  kam ihnen künstlich  vor.  Die  kleinen,  putzigen Tier­chen,   die   sich   gelegentlich   ins   Wigwamtal   verliefen   und   aus   schützenderEntfernung   den   Kindern   zusahen   oder   manchmal   mit   ihnen   spielten,   er­schienen ihnen leblos.

Nur Lucky Cicero, der kleine Mongoloide, der geistig zurückgeblieben war,schien von alledem nichts zu merken. Er konnte sich über fast alles freuen. Ertobte   mit   Trompo   über   die   künstliche   Wiese,   lag   unter   den   Strahlen   derkünstlichen Sonne oder jagte den Eichhörnchen nach, die sich im Geäst na­hegelegener Bäume tummelten.

Nachdem die Kinder drei Tage lang vor sich hingedämmert hatten, sagteThunderclap Genius nachdenklich: „Ich glaube, die Sonne ist nicht mehr sowarm wie früher.“

Erschreckt sahen die Kinder auf. Der gelbe Ball, der tagtäglich die gleicheBahn über die hohe Decke des Himmels zog, erschien den meisten von ihnenunverändert. Oder doch nicht? Zweifel stiegen auf.

Karlie Müllerchen, den nicht einmal mehr – ohnehin kalte – Kartoffelpuffererfreuen   konnten,   meinte,   das   könne   Einbildung   sein.   Aber   sicher   war   ernicht. Lonzo hatte sich seit dem letzten Tag nicht mehr sehen lassen, weil erden kuriosen Plan entwickelt und verkündet hatte, einen Piratenschatz zu su­chen, den er angeblich vor zweihundert Jahren hier in der Nähe vergrabenhatte. Aber es war ihm nicht gelungen, die Schar der Jungen und Mädchenmit seiner Begeisterung anzustecken. Schließlich zog er ganz allein los.

Anca hatte sich beim Herumtollen einen klassischen Dreiangel in die Jeansgerissen. Thunderclap, der die Vorräte verwaltete, gab ihr neue Jeans und Mi­cel ein anderes Hemd für sein abgenutztes altes. Dabei machte er ein ernstesGesicht.   Gewiß,   noch   gab   es   genügend   Vorräte.   Aber   sie   würden   lernenmüssen,  mit  allem  sorgfältig  umzugehen.  Als  erstes  mußten sie  damit  be­ginnen, die Wäsche selbst zu waschen – jetzt gab es keine Grünen mehr, dieschmutziges Zeug abholten und frische Wäsche brachten.

„Es ist gar nicht so schön, wenn man keine Aufgaben hat“, klagte der kleineOliver und zupfte Fantasia Einstein am Ärmel ihrer bunten Bluse. „Kannst dumir nicht ‘n paar Rechenaufgaben stellen?“

Harpo lächelte. Die erwartete Gemütlichkeit, mit der alle Kinder gerechnethatten, war nicht eingetreten. Im Gegenteil: Man langweilte sich mit der Zeit,weil alles das, was man sonst nicht tun konnte, nicht mehr aufregend war,wenn man es  jeden Tag machte.  Harpo selbst  hatte  sich eigentlich  vorge­nommen, jeden Tag schwimmen zu gehen und die Plastikfische im See in die

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Schwänze zu zwicken, weil sie dann zu quieken anfingen. Aber er war nureinmal hingegangen. Jeden Tag dasselbe Vergnügen macht bald keinen Spaßmehr.

„Ich habe einen Plan“, sagte Thunderclap plötzlich. „Kommt doch mal alleher!“

Seinem leicht  geröteten Gesicht  sah man an,  daß er  Feuer und Flammewar. Die Kinder scharten sich um ihn; auch Lucky, der aus der Ferne gesehenhatte, daß eine Versammlung stattfand, kam herbeigelaufen.

„Ihr   wißt   alle“,   begann   Thunderclap,   während   er   seinen   automatischenRollstuhl in die richtige Position bugsierte, „daß es auf den anderen Decksnoch   weitere   Gruppen   gibt.   Warum   nehmen   wir   unseren   ursprünglichenPlan nicht wieder auf und stoßen bis zum nächsten Deck vor?“

„Ja!“ unterbrach ihn Brim begeistert. „Vielleicht ww­wissen d­die anderenmm­mm­mm­mehr!“ Seine Augen leuchteten.

„Vielleicht“, meinte Fantasia mit leuchtenden Augen, „sind nur die Grünenauf unserem Deck kaputt?“

„Dieses Mal bin ich aber mit dabei!“ rief Karlie. „Ich fange schon mal an,Proviant zusammenzupacken!“

„Kartoffelpuffer!“   schrie   der   kleine   Oliver.   „Nimm   sie   nur   alle   mit!   Ichbleibe   hier   und   esse   zusammen   mit   Thunderclap   sechs   Tage   lang   nurSalami!“

Die anderen lachten. Natürlich hatte Karlie nur einen Scherz gemacht.„Thunderclap hat recht“, stimmte auch Harpo zu. Er baute sich im Kreis

der anderen auf und stemmte die Arme in die Hüften. „Es hilft uns nichts,wenn wir  hier  rumgammeln  und darauf  warten,  daß etwas  passiert.  Es   istwahrscheinlich, daß wir Kinder allein auf dem Schiff sind. Die Erwachsenenhaben uns verraten. Wenn wir uns gegenseitig helfen, können wir vielleichtein paar Grüne finden, die das Gehirn wieder in Ordnung bringen! Vielleichtkönnen wir sogar Hilfe von der Erde herbeifunken.“

„Wenn wir die Zentrale finden“, sagte Fidel Flottbek finster. Ihm schien dasgar nicht zu gefallen. Er war auf die Alten nicht gut zu sprechen. Seine Elternhatten ihn als Baby in ein Kinderheim gesteckt, weil sie ihn nicht haben woll­ten, und er hatte nie ein richtiges Zuhause gekannt. Das war auch der Grund,daß   er   auf   der   Erde   oft   andere   Kinder   verprügelt   hatte,   als   sie   ihn   einenZigeuner nannten und hänselten. Seit Fidel auf dem Schiff war, hatte er sichgebessert, aber die Erwachsenen konnte er immer noch nicht leiden. Für ihnwaren alle gleich, und das bedeutete: gleich schlecht.

Thunderclap sah Fidel an. „Ich habe noch gar nicht alles aufgezählt, wasauf   uns  zukommen  kann,  wenn wir   weiterhin  so  in  den  Tag hineinleben,Fidel. Sicher möchtest auch du nicht, daß hier alle Lichter ausgehen und wirnichts mehr zu essen haben, weil die Maschinen nicht mehr arbeiten. Ich er­innere nur daran, welche Probleme wir  allein deshalb haben, weil das Gasnicht mehr strömt. Und das war vielleicht nur ein winziger Vorgeschmack.Stell dir einmal vor, wenn eines Tages die Sonne dort oben ausfällt ...“ Er deu­tete  auf die Plastikbäume.  „Und die Pflanzen,  die aus Kunststoff  sind.  Wir

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können sie nicht essen. Was ist, wenn unsere Vorräte erschöpft sind? Wovonsollen wir uns ernähren?“

Harpo nickte. „Wenn das Große Gehirn gestört ist, werden nach und nachalle   anderen   Mechanismen   ausfallen,   zumindest   erst   einmal   die   kom­plizierten.“

„Wir   kommen   schon   durch“,   beharrte   Fidel   trotzig,   aber   seine   Stimmeklang unsicher.

„Aber du mmm­mm­mußt doch einsehen, daß sich nn­nn­nnicht alle P­pp­pp­probleme so einfach  lösen  lassen wie der  Verlust  des Feuers“,  warfBrim aufgeregt ein.

„Richtig“,  stimmte Anca zu.  „Und selbst,  was das Feuer betrifft   ...  Karliemag es ja egal sein, ob seine Kartoffelpuffer warm oder kalt sind ...“

„Iss nich wahr!“ unterbrach Karlie protestierend. „So richtig heiß sind sieam besten!“

„...   aber   ich   sehne   mich   jedenfalls   nach   einem   richtig   schön   warmen,dampfenden Kakao“, beendete Anca ihren Satz.

„Nun  laßt  doch  mal  die  Kartoffelpuffer  und  den Kakao   aus   dem  Spiel“,schimpfte Thunderclap.

„Na, ihr habt ja irgendwie recht“, brummte Fidel. Natürlich wollte auch ernicht, daß sie eines Tages in totaler Dunkelheit vor Hunger sterben mußten.Und vor allen Dingen wußte er, daß Harpo, der Junge, der am gesündestenund kräftigsten wirkte, ganz schreckliche Angst vor der Finsternis hatte. Vorallem dann, wenn niemand bei ihm war. Und Thunderclap? Wenn es dunkelwurde,   konnte   er   mit   seinem   Rollstuhl   nicht   mehr   gefahrlos   durch   dieGegend fahren. Die Kameraden in der Gruppe waren Fidels erste Freunde,sonst hatte er in jedem anderen Menschen immer nur Gegner gesehen. Erwollte nicht, daß sie litten. Widerwillig gestand er sich ein, daß es zumindesteiniges gab, was an den Alten nicht so übel war.

Die Kinder stimmten über Thunderclaps Vorschlag ab. Alle waren für dieExpedition, auch Fidel. Selbst Trompo hob zustimmend seinen kleinen Rüs­sel.

Sie machten sich sofort daran, eine zweite Expeditionsgruppe auf die Beinezu stellen, die dieses Mal versuchen sollte, an der Basis der Grünen vorbei indas schwarze Loch zu gelangen. Das führte, soweit ihnen bekannt war, zumAntigravlift, in dem man schwerelos wurde und langsam nach oben oder un­ten schweben konnte, bis zum nächsten Deck.

Es   war   anzunehmen,   daß   die   zweite   Expedition   länger   unterwegs   seinwürde als  die  erste.  Entsprechend viel  Proviant  mußte eingepackt  werden.Fantasia füllte mehrere Flaschen mit kaltem Tee, und Karlie stellte die Ver­pflegung zusammen. Bei der Durchsuchung des Vorratsbunkers stellte sichheraus, daß die Gruppe nur noch für knapp drei Wochen zu essen hatte. Siewaren also gezwungen, sich schnellstens nach anderen Vorratsquellen umzu­schauen.

„Ich habe mal gehört“, sagte Karlie, „daß es auf jedem Zwischendeck einLebensmittellager geben soll. Da muß Essen für Jahrzehnte gelagert sein.“

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Da die Ausrüstung getragen werden mußte, teilte man der Expedition diekörperlich  stärksten Kinder  zu:  Harpo und Anca,  Brim Boriam und Karlie.Und   weil   sich   jemand   um   Thunderclap   und   Micel   kümmern   mußte,   dieallein ziemlich hilflos waren, blieb Fidel mit Fantasia und dem kleinen Oliverfreiwillig zurück. Auch Lonzo tauchte noch auf, mit Lucky an der Hand. Alsohatte er schließlich doch noch einen Gefährten bei der Schatzsuche gehabt.Natürlich kehrten die beiden mit leeren Händen zurück. Aber Lonzos kugel­runder Metalleib war über und über mit wieselflinken Eichhörnchen bedeckt,als er mit Lucky unter den Büschen hervorkroch.

„Heißt Flagge!“ krächzte Lonzo. „Das Schiff legt sofort zur neuen Schatzsu­che ab. Täterätää!“ Er brachte wirklich so etwas wie ein Trompetensolo zu­stande, in das Trompo mit seinem dünnen Stimmchen einfiel. Lucky lächelteglücklich   und   winkte   der   Gruppe   zu,   bevor   er   wieder   hinter   den   Felsenverschwand.   Genius   folgte   den   Schatzsuchern   mit   seinem   blitzschnellenRollstuhl so weit, bis der Boden eine gefahrlose Rückkehr nicht mehr zuließ.Er gab noch ein halbes Dutzend gute Ratschläge und fuhr dann traurig zu­rück.

Es dauerte diesmal nicht so lange, bis die Kinder die Basis der Grünen er­reicht hatten. Früher hatten sie sich nicht so gern hier aufgehalten, weil siegenauso dachten wie  die  meisten Kinder  auf  der Erde:  Hier  wohnten  ihreLehrer. Und wer geht schon gern nach Schulschluß am Haus seines Lehrersvorbei? Manchmal hatten sie kichernd auf den Hügeln gelegen und die Grü­nen nach Indianerart beobachtet. Dabei hatten sie dem entfernten Ratternder Fernschreiber gelauscht, mit denen die Grünen ihre Ergebnisse zu denAlten hinauf oder hinunter? – niemand wußte ganz genau, wo sie auf demriesigen Schiff lebten – funkten.

Karlie und Brim, die zum ersten Mal die leblosen Grünen aus der Nähe sa­hen, schüttelten sich. Irgendwie hatten sie die kleinen Maschinenbären dochgemocht, die ferngelenkt reagierten.

Am Eingang des Liftlochs hielten sie an.Brim hielt Harpo eine Taschenlampe hin. Er hatte offenbar nicht weniger

Angst   vor   der   Dunkelheit   als   die   anderen.   Wer   wußte   schon,   was   sie   indiesem dunklen Schacht erwartete?

Harpo gab sich mutig, obwohl er insgeheim fürchtete, daß ihn in der Dun­kelheit wieder diese entsetzliche Furcht befallen würde. Schon mehrmals wares so gewesen, vor allem auf der Erde. Er hatte geschrien wie ein kleines Kind.„Geht jemand mit?“ fragte er schüchtern.

Karlie   trat  vor.   Er   schlang   ein   Seil  um  seinen   Bauch   und  befestigte  dasandere Ende an Harpos Gürtel.  Zusammen gingen sie dann zögernd in dieDunkelheit hinein, während Anca und Brim beim Gepäck blieben.

Geisterhaft huschte der bleiche Schein der Taschenlampe über die röhren­förmige Metallwand. Hier hatte man sich keine Mühe gegeben, eine natürli­che Landschaft vorzutäuschen. Harpo und Karlie hatten das Gefühl, in einemMetallrohr  zu stehen,  und genau das war der Gang ja auch.  Unwillkürlich

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duckten   sich   die   beiden   Jungen,   obwohl   genügend   Platz   vorhanden   war,selbst für den langen Karlie.

Harpo hatte Angst, aber er bemühte sich, sie nicht zu zeigen, denn Karliewar ja bei ihm. Er wußte nicht,  wie es kam, daß ein Junge in seinem Alternoch Angst im Dunkeln haben konnte, aber er hatte von klein auf Angst ge­habt, allein und ohne Licht in ein schwarzes Loch zu fallen. Überhaupt hatteer Angst vor dem Hinfallen, und manchmal, wenn er ausrutschte, wurde ersofort bewußtlos und konnte sich hinterher nicht mehr an alles erinnern, wasgeschehen war.

Die Schritte  der  beiden Jungen klangen  hohl  und geisterhaft.  Nahm derWeg denn überhaupt kein Ende?

Der Lichtstrahl traf plötzlich auf ein rechteckiges Schild, das an zwei Kettenbefestigt von der Decke herabhing. Die Leuchtbuchstaben waren längst erlo­schen, aber dennoch vermochten Harpo und Karlie zu lesen, was dort stand:

SIE VERLASSEN DECK 27BITTE BEDIENEN SIE DIE ANTIGRAVSCHALTUNG

NUR UNTER HINZUZIEHUNG EINESFACHINGENIEURS!

„Da haben wir  den Salat!“   fluchte  Karlie.  „Woher sollen wir  einen Fach­ingenieur nehmen? Wir haben ja nicht einmal einen Ingenieur, der kein Fachist!“

Enttäuscht gingen sie einige Schritte weiter. Vor ihnen ragte ein zweitei­liges, eisernes Tor auf, an dessen rechter Hälfte ein kleiner schwarzer Kastenhing. Der Strahl der Taschenlampe huschte über mehrere Knöpfe. Sie leuch­teten   auf.   Darunter   waren   kleine   Schilder   mit   Funktionshinweisen   ange­schraubt.

„Verstehst du das?“ fragte Karlie. Harpo überlegte eine Weile. Er versuchtesich daran zu erinnern, was der Grüne vor zwei Jahren getan hatte, als er Har­po nach Deck 27 führte, aber es gelang ihm nicht.  Was TOR ÖFFNEN undTOR SCHLIESSEN bedeutete, war klar. Wenn man nach OBEN wollte – undDeck 28 lag oben – mußte man auf AUFSTIEG drücken. Soweit gab es keineMöglichkeit,   etwas   falsch   zu   machen.   Was   aber   bedeutete   der   rätselhafteschwarze Knopf unter der Aufschrift ZIEL DECK 00031000?

Karlie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, daß es ordentlichklatschte. „Bin ich bematscht“, sagte er zu Harpo. „Die Sache ist doch so klarwie die Brühe, die du uns immer als Bohnensuppe vorsetzt! Damit stellst dudas Deck ein, auf welches du gebracht werden willst!“

Schnell   hasteten   die   beiden   Jungen   zurück.   Sie   informierten   Anca   undBrim, schulterten dann eilig das Gepäck und liefen sofort den Röhrenweg zu­rück.

Nervös  warteten sie,  als  Harpo die einzelnen Knöpfe bediente.  Zischendund etwas schwerfällig, wie sie alle bemerkten, öffnete sich die linke Torhälfteum einen Meter. Dunkelrotes Licht drang heraus. Für einen Moment warendie Kinder geblendet. Dann sagte Anca erschreckt: „Aber ... aber das ist ja einbodenloses Loch!“

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Die Kinder gingen auf die Knie nieder und starrten in die Tiefe. Alle hatteneinen   Antigravlift   benutzt,   als   sie   auf   das   Schiff   gebracht   wurden.   Aberdamals hatte ein Grüner sie an der Hand gehalten, und alles war so schnellgegangen,   daß   für   Angst   keine   Zeit   blieb.   Daß   der   Antigravlift   aus   einembodenlosen Abgrund bestand, war ihnen überhaupt nicht klar geworden.

Bebend starrten sie hinab. Vor ihnen lag ein endloser  Schacht,  der rundund glatt war und einen Durchmesser von vielleicht drei Metern hatte. Wennman in einen tiefen Brunnen schaut, kann man mitunter in weiter Ferne dieWasseroberfläche glitzern sehen, und ein hinabgeworfener Stein kündigt ir­gendwann  durch sein  Aufplatschen an,  daß der Brunnenschacht  nicht   insLeere führt. Aber dieser Schacht hier schien ohne Anfang und Ende.

„Kein Grund, in die Hosen zu machen“, faßte sich Harpo als erster. Seinekleine Schwester hatte sich an ihn geklammert. Er streichelte ihr zärtlich überdas glatte, schwarze Haar. „Die Schwerkraft ist hier aufgehoben. Wahrschein­lich führt der Antigravschacht quer durch das ganze Schiff. Man kann ruhigin den Schacht springen und fällt trotzdem nicht nach unten.“

Er zeigte auf die Schalttafel. „Wenn ich hier Deck 00028000 programmiere,trägt uns der Antigrav nach oben.“

Innerlich fühlte er sich längst nicht so kühn, wie seine Stimme klang. Eswar  richtig,  was  er sagte.  Aber  würde der  Schacht  so  funktionieren wie ersollte?  Es gab Dinge auf dem Schiff,  die  nicht  mehr funktionierten:  Feuer­stellen, Roboter ...

Anca schüttelte sich. Zweifellos hatte sie ähnliche Gedanken.  Auch Brimschluckte und sah Karlie fragend an, der ebenfalls nicht den Eindruck mach­te, als sei er von Harpos Worten restlos überzeugt.

Harpo sah ein, daß Worte in diesem Fall wertlos waren. Um zu beweisen,daß   man   in   diesem   Schacht   tatsächlich   langsam   nach   oben   oder   untenschweben konnte, stand er auf und drückte so lange den Knopf unter demZählwerk,  bis die Skala anzeigte,  daß der  Antigrav auf Deck 00028000 pro­grammiert  war.  Dann warf  er  seinen Rucksack   in den Schacht hinein.  Mitstaunenden Augen folgten Anca, Brim und Karlie dem Gepäckstück, das ge­mächlich nach oben segelte bis es verschwunden war.

„Na?“ fragte Harpo und konnte in seiner Stimme nicht eine dicke PortionStolz und Selbstzufriedenheit unterdrücken.

„Ich   habe   keine   Angst“,   sagte   Brim   tapfer   und   ohne   zu   stottern.   Erverschwand   im  Schacht.  Wenige  Sekunden  später  hörten  die  anderen   ihnjauchzen, als er nach oben schwebte und dabei wild mit den Armen ruderte.

„Ich fliege!“ rief er. „Ich fliiieeege! Juchhuuu!“

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Ein Schatten in der Finsternis

Deck 28 unterschied sich von Deck 27 für die Neuankömmlinge so gut wieüberhaupt nicht: Auch hier gab es am Eingang eine Basis der Grünen. Flach­land erstreckte sich einige hundert Meter weit  bis zu aufragenden Hügeln.Dort standen Bäume, wuchsen Sträucher und Plastikblumen, und ein weniglandeinwärts   plätscherte   munter   ein   Bächlein,   das   irgendwo   im   Bodenverschwand   und   dort   von   mächtigen   Pumpen   auf   unterirdischen   Wegenwieder zur Quelle geleitet wurde, wo es erneut aus dem Boden sprang.

Die Kinder schenkten der Basis der Grünen keine große Aufmerksamkeit,weil sofort zu sehen war,  daß hier alles genauso außer Betrieb war wie aufDeck 27. Sie machten sich deshalb sofort auf den Weg ins Inland, um nachder anderen Kindergruppe zu suchen.

Weit kamen sie jedoch nicht, denn bald begann es zu dämmern. Die künst­liche Sonne, die hier die bunte Landschaft mit ihren warmen Strahlen über­warf, wurde ausgeblendet, als sie das Ende des Decks erreicht hatte.

Gemeinsam schlugen die Kinder auf einer Waldlichtung ein Lager auf. Kar­lie,  der  wegen seiner  Größe und Stärke das  meiste  Gepäck getragen hatte,rollte   Decken   aus   und   organisierte   zusammen   mit   Anca   das   Abendessen.Harpo, dem die Umgebung nicht ganz geheuer vorkam – was wohl daran lag,daß er es nicht liebte, in der Dunkelheit ohne die schützenden Wände einesWigwams zu schlafen – lief eine Weile ziellos hin und her. Bereits beim Betre­ten von Deck 28 hatten sie alle laut nach versteckten Kindern gerufen, aberniemand hatte geantwortet.

Das   war   mehr   als   seltsam,  denn   so   groß   waren   die   Decks   auch   wiedernicht. Wahrscheinlicher wäre gewesen, daß eines der Kinder dieser anderenGruppe den Ruf gehört hätte. Soweit Harpo wußte, betrug die größte Längevon Deck 27 etwa zehn Kilometer, während die schmalste Stelle zwei Kilome­ter breit war. Da es relativ wenig Geräusche gab, die eine Stimme verschlu­cken konnten,  und die niedrigen Decken und die seitlichen Begrenzungenden Schall weiterleiteten, waren Rufe kilometerweit hörbar.

Nach dem Essen legten sie sich hin und schliefen. Karlie,  der unbedingtWache   halten   wollte,   weil   er   befürchtete,   in   der   Dunkelheit   könne   sichvielleicht jemand an ihnen vorbeischleichen und auf rätselhafte Weise denLift außer Betrieb setzen, nickte nach einer Weile ebenfalls ein und begannwie ein Sägewerk zu schnarchen. Was wiederum Harpo aus den schönstenTräumen riß. Er fuhr auf und musterte verstört die dunkle Umgebung.

Unter freiem Himmel war es finster wie in dem schwarzen Loch. Aber – waswar das? Ein Schatten in der Finsternis? Bog dort nicht jemand ganz in derNähe   die   dünnen   Zweige   eines   Plastikstrauchs   auseinander?   Betrachtetennicht bohrende Augen die Schläfer und den einen, der nicht mehr schlief?

Harpo schüttelte den Kopf, als könne er die unheimliche Vision vertreiben.Er  war   ein Narr.  Wer sollte  zu dieser  Stunde  um ihr  Lager   schleichen?  Esmußte pure Einbildung sein. Und dennoch ...

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Waren   nicht   Schritte   zu   hören?   Und   dieses   schleifende   Geräusch?   DasKnacken zerbrechender Zweige?

Harpo   wußte,   daß   Plastikzweige   niemals   knackten.   Einen   echten   Zweighatte er in seinem Leben noch nicht gesehen, geschweige denn, ihn knackengehört. Wie kam er nur darauf, daß Zweige knackten, wenn man auf sie trat!Er  erinnerte  sich,   daß er  vor   langer  Zeit  auf  der  Erde  einen Film  gesehenhatte. Ja natürlich, das war’s. Dort hatten Zweige geknackt, als sich Feindedes Helden aus dem dunklen Wald heranschlichen ...

Mitten in diesen Überlegungen fielen ihm die Augen zu, und der Kopf sanknach hinten. Er träumte von Robin Hood, der die Armen beschützte und diefeisten Edelleute auf den Burgen bekämpfte.  Als er am Morgen aufwachte,fand   er   sich   eng   gegen   die   Körper   der   Freunde   geschmiegt,   Ancas   kleineHand fest umklammernd. Behutsam löste er seine Hand aus Ancas Hand. Sieschien noch zu schlafen. Aber zog nicht ein sanftes Lächeln über ihr Gesicht?Und sah sie ihn nicht mit besonders blanken,  fröhlichen Augen an, als sieerwachte? Auf jeden Fall hatte ihm die Nähe Ancas und der Freunde sehr ge­holfen, mit der Dunkelheit fertig zu werden.

„Sapperlot!“ schrie Karlie und sprang auf.Verschlafen wischte sich Anca die Augen.„Uuuuuaah!“ machte Brim Boriam wie ein Grizzlybär und gähnte.Anca fragte: „Ist was?“ Harpo schüttelte seine langen Haare und setzte sich

auf.„Man hat uns beklaut“, stieß Karlie empört hervor. „Seht ihr? Ein ganzes

Brot ist weg, und auch eine von unseren Teeflaschen!“Erschreckt rief Harpo: „Bist du sicher, daß die Sachen fehlen?“„Aber Harpo!“ Karlie war entrüstet und stampfte mit dem Fuß auf. „Ich als

unser bester Koch hüte den Proviant wie meinen Augapfel!“Brim und Anca lachten. „Na, das mit dem besten Koch wollen wir mal links

liegen   lassen“,   grinste   Harpo.   „Aber   wer   sollte   uns   schon   beklauen?   Undwarum?“

„Vielleicht ist es ein hungriges Tier gewesen?“ warf Anca ein.„Oder ein Grüner?“ meinte Harpo augenzwinkernd.„Künstliche Tiere mögen kein Brot“,  widersprach Karlie energisch.  „Und

Tee trinken sie schon gar nicht! Grüne sind mit Batterien zufrieden – glaubeich.“

„Aber echte?“ Anca sah ihn zweifelnd an. Da es auf der Erde kaum nochechte Tiere gab, war sie sich nicht sicher, ob richtige Tiere Tee mochten. Oderzogen sie Nahrungstabletten vor? Irgend etwas mußten sie ja essen.

Harpo   fiel   plötzlich   ein,   was   er   am   Abend   zuvor   beobachtet   zu   habenglaubte. Nachträglich konnte er aber nicht mehr genau auseinanderhalten,ob er wirklich etwas gesehen und gehört hatte, oder ob er nur geträumt hatte.Er erzählte den anderen, was er wußte. Die staunten nicht schlecht.

„Warum hast du uns nicht geweckt?“ fragte Karlie verdrießlich, der Harponicht   abkaufen   wollte,   daß   er   als   Wachmann   eingeschlafen   war   undobendrein noch einen halben Wald Holz abgesägt hatte. Aber damit kam er

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bei Brim und Anca nicht durch: Daß er schnarchte wie ein Weltmeister, daswußten sie alle nur zu gut.

„Ich war mir nicht sicher“, sagte Harpo und wurde sogar ein bißchen rotdabei. „Ich wollte mich nicht lächerlich machen und euch mit irgendwelchenEinbildungen den Schlaf rauben.“

„Ach, ist doch auch egal“, lenkte Karlie wieder ein. „Ich schlage vor, daß wirjetzt einmal zünftig baden gehen, im Bach dort drüben. Mensch, Leute: Wißtihr überhaupt, daß dies unser erstes Bad im wilden Pionierland ist ...“

Jubelnd liefen die anderen ihm nach, hatten gegen seine langen Beine aberkeine Chance.

Doch der Bach war trocken.Entsetzt standen die vier Freunde vor dem leeren Bachbett. Am Abend zu­

vor hatte es dort noch so lustig geplätschert. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß esihnen   vorhin   schon   ungewöhnlich   still   vorgekommen   war.   Natürlich,   dasMurmeln des Baches hatte gefehlt.

„Das ist doch ...“ sagte Anca verblüfft. „Ich glaub’, mein Schwein pfeift!“„Wwww­wasser ist weg!“ Brim rieb sich die Augen, als dürfe er ihnen nicht

mehr trauen. Aber davon kehrte das Wasser auch nicht zurück.Harpo biß sich nervös auf die Unterlippe. Es wurde ja wirklich immer ver­

zwickter! Kam es am Ende doch so, wie Thunderclap es mit düsteren Farbengeschildert  hatte?  Stellten die  untergeordneten Maschinen nach und nachdie Arbeit ein? Das Wasser war versickert, weil die Pumpen nicht mehr liefen.Und die Pumpen liefen nicht mehr, weil die Energie ausblieb, mit denen sieangetrieben wurden.

„Es ist kalt hier“, sagte Anca plötzlich und rieb sich fröstelnd die Arme. „Ichglaube, die Gruppe, die hier wohnt, ist schon lange weg. Vielleicht sind sie aufunser Deck hinabgestiegen?“

Auch die anderen meinten nun, daß es lange nicht mehr so warm wie amVortag war. Die Sonne strahlte zwar noch immer, aber es kam ihnen so vor,als  hätten die Strahlen an Intensität  verloren.  Und zog sie nicht ein wenigdunkler als gewöhnlich ihre Bahn am Himmel des Decks? Und sah sie nichtsogar kleiner aus als sonst?

Schnell  packten Harpo,  Anca, Karlie und Brim die  Sachen und machtensich auf den Rückweg zum Antigrav. Sie zweifelten nun nicht mehr daran,daß auf Deck 28 bald eine Katastrophe ausbrechen würde.

Der Weg führte sie diesmal am Ufer des ausgetrockneten Baches entlang.Hier   konnten  sie  am ehesten damit  rechnen,  auf   Angehörige   der  anderenGruppe zu stoßen. Sie fanden mehr als hundert leblose Plastikfische, die ander   trockenen  Landluft   bereits   steif  geworden  waren  und   sich   wie  poröseGummiklumpen anfühlten. Harpo steckte einen davon in seinen Rucksack,um ihn Thunderclap zu zeigen.

An der Basis hatte sich nichts verändert. Ein Eichhörnchen lief zutraulichauf die Kinder zu und sprang auf Ancas Hand, als das Mädchen sich hinab­beugte. Das kleine Robotwesen wirkte verstört,  als könne es die veränderteWelt nicht mehr begreifen.

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„Armes kleines Maschinchen“, meinte Anca. Als sie in dem dunklen Lochverschwanden, um nach einem anderen Deck zu schweben, glaubte Harpozwischen den Gebüschen in der Nähe der Basis eine schattenhafte Gestalt zusehen, die sich eilig wegduckte.

Aber sicherlich war es nur eine Einbildung.Deck   00029000:   Hier   war   es   duster   wie   in   Harpos   Hosentasche.   Die

Freunde steckten die Nasen durch die Schachttür und gingen einige Meterweit.   Harpos   Taschenlampe   blitzte   auf.   Karlie   fluchte   und   fiel   hin.   Als   erwieder aufstand, hielt er einen Rucksack in der Hand.

„Mann!“ schimpfte er. „Kannst du denn nicht besser aufpassen, Harpo?“„Ich?“ machte Harpo erschreckt. „Ich habe doch gar nichts ...“„He, Moment!“ rief Karlie plötzlich. „Ist das etwa gar nicht dein Rucksack,

über den ich gerade gestolpert bin?“Harpos Lampe warf einen Lichtkegel auf einen grünen Beutel. Ein Namens­

schild baumelte  daran. Derjenige,  der  ihn verloren hatte,  trug den NamenLori Powitz. Aber Lori Powitz konnte natürlich auch ein Mädchenname sein.

„Hier ist niemand mehr. Wahrscheinlich ist der Beutel auf der Flucht verlo­ren worden. Wir nehmen ihn mit“, entschied Karlie.

Deck 00030000: Dieses Deck war, wie die Kinder auf den ersten Blick fest­stellten, noch nicht einmal voll ausgebaut. Ein riesiger schwarzer Raum, derkein Ende zu haben schien, erstreckte sich vor ihnen. Neben dem Eingangstanden mehrere Baumaschinen und einige hundert Kisten und Materialsta­pel.

Das Deck wirkte  wie  eine riesige,   leere Blechkiste,  war   farblos  und rochnach rostigem Stahl.

Angewidert rümpfte Brim die Nase. „Baust­stelle“, meinte er geringschät­zig. „Nn­noch nn­nicht fertig!“

„Wollen wir noch weitergehen?“ fragte Anca. Sie begann allmählich unru­hig zu werden. Was würde sein, wenn sie den Rückweg nicht mehr fanden?Wenn der Antigrav aussetzte, wie die Pumpen unter dem Bächlein ausgesetzthatten? Es war nicht auszudenken!

Was sie am meisten  beschäftigte,  war die Frage,  wo die  anderen Kindersteckten. Zumindest auf den Decks 28 und 29 hatten welche gelebt, das standfest,   denn   Micel   konnte   gelegentlich   die   Gedanken   anderer   empfangen.Waren sie noch weiter nach oben gefahren? Oder hatten sie den Weg abwärtsgenommen und befanden sich schon längst in sicherer Obhut bei Thunder­clap und den anderen?

Das bekannte Unbekannte

„Ein Deck durchsuchen wir noch“, hatte Harpo vorgeschlagen. Die Überra­schung   der   Kinder   war   groß,   als   sie   feststellten,   daß   sich   dieses   Deck

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00031000 von allen, die sie bisher besucht hatten, unterschied. Zunächst ein­mal  gab es hier kein  freies Land. Sie passierten das Tor der Einstiegsröhreund   stießen   auf   eine   weitere   Tür.   Im   Gegensatz   zu   denen,   die   sie   bisherkennengelernt   hatten,   schien   sie   aus   Holz   oder   Plastik   zu   sein.  Sie   besaßkeine Klinke, sondern nur eine kreisrunde, einen Zentimeter versetzte Vertie­fung, über der ein kleines Schild angebracht war.

DRÜCKEN stand darauf.Karlie faßte sich ein Herz und preßte seinen Daumen gegen die Scheibe.

Sie gab nach. Sanft schwang die Tür auf. Dahinter lag ein enger Korridor imHalbdunkel. Vereinzelte Notlichter brannten. Mehr als zwei Dutzend Türenzweigten von dem Korridor ab, und auf jeder befand sich ein Schild. Aufge­regt liefen die Freunde den Gang entlang und lasen:

METEORITENKONTROLLEASTROGATIONSZENTRALE III

NACHSCHUBDEPOT EINHEIT B­VIIIDas   waren   mehr   als   seltsame   Wortkombinationen.   Keines   der   Kinder

verstand so recht, was die Namen zu bedeuten hatten, aber ein jedes vermu­tete, daß sich Bedeutsames dahinter verbarg.

„Ob das die Zentrale der Alten ist? „ fragte Anca schüchtern. Ihr kam dieTotenstille unheimlich vor.

Karlie   zeigte   auf   eine   elektrische   Uhr   am  Ende   des   Ganges.   Ihre   Zeigerstanden auf zwanzig nach vier, wie die Uhr auf ihrem Deck.

„Hier ist bestimmt niemand mehr“, vermutete Harpo. Er legte beide Händetrichterförmig an den Mund und schrie: „Hallo? Ist da jemand? Hallo!“

Keine Antwort. Nun versuchten sie es gemeinsam. Mehrere Minuten langbemühten sich die Kinder, eventuelle Bewohner des Decks auf sich aufmerk­sam zu machen, aber ohne Erfolg. Erschöpft hielten sie inne.

Sie berieten eine Weile, was sie tun sollten. Karlie machte den Vorschlag,die einzelnen Türen zu öffnen und nachzusehen, was sich in den dahinter­liegenden Räumen verbarg. Sie hatten ein bißchen Angst vor dem Unbekann­ten.   Oder   auch   nur   vor   einer   strengen   Stimme,   die   rufen   mochte:„Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!“

Aber schließlich zögerten sie nicht länger – und hatten Glück. Bereits dieerste Tür war unverschlossen. Neugierig steckten sie ihre Köpfe durch denTürspalt. Die Wände wurden von Regalen verdeckt, auf denen unzählig vieleMetallkisten lagerten. Es war ungemütlich kalt in dem Raum, und er besaßkeinerlei Bullaugen, durch die man in den Weltraum schauen konnte.

In der Mitte stand ein hufeisenförmiger Metalltisch, davor ein gepolsterterSchwenksessel. Auf der Tischplatte lagen allerlei Papiere verstreut.

„Pschscht!“   machte   Brim   plötzlich   und   legte   einen   Finger   quer   vor   dieLippen. „Hört ihr?“

Die Gruppe erstarrte augenblicklich und horchte. Waren das nicht ...? Na­türlich, vom Gang her näherten sich Schritte. Atemlos starrten die Kinder zurTür, die einen Spalt offen stand. Ein Schatten fiel durch den Türspalt in den

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Raum. Langsam wurde die Tür aufgezogen.  Eine kleine Gestalt  erschien inder Türfüllung.

„Ollie!“ stieß Anca überrascht und erlöst hervor und eilte auf den Jungenzu.

„Wie kommst du denn hierher?“ fragte Harpo verdutzt.„War mir zu langweilig“, meinte der kleine Oliver, nachdem er sich aus An­

cas Armen befreit hatte. „Da hab’ ich mir gesagt, guckste mal, was die Kum­pels so treiben.“

„Mann, du hast ‘ne Art, zu antworten“, schimpfte Karlie.Nach einigem Hin und Her gelang es Harpo und Anca, aus dem kleinen

Oliver herauszulocken, daß er allein zum Antigrav gegangen war und zufälligZeuge wurde, wie sie von Deck 30 auf 31 überwechselten. Da er wie ein Fuchsaufgepaßt  hatte,  wie die  Grünen  den Lift  bedienten,  machte  er  sich keinegroßen   Gedanken   über   die   Gefahren   eines   Antigravlifts   und   war   denFreunden gefolgt.

Nachdem sich die Aufregung über den Neuankömmling gelegt hatte, stu­dierten sie  gemeinsam den Raum. Mißtrauisch näherte  sich  Ollie  den Pa­pieren, in denen er Rechenaufgaben vermutete. Überrascht erkannte er, daßes sich um Listen handelte, auf denen jemand etwas mit einer schwer leserli­chen Handschrift eingetragen hatte.

„Milchpulver­Bestand“, las er mühsam buchstabierend. „He, was soll dassein?“

„Milchpulver braucht man für Kakao“, erwiderte Anca und hob eine weite­re Liste auf, während die anderen sich neugierig mit den Regalen beschäftig­ten. An den Kisten waren Etiketten angebracht.

„Mann, ein Vorratsbunker!“ freute sich Karlie. „Und was es hier alles für le­ckere Sachen gibt.“

Mit der Zunge über die Lippen fahrend raste er an den Regalen entlang.„Salami, Eier, Mehl – Kartoffelpuffer!!“

Harpo stöhnte.„Das erinnert mich daran, daß ich einen ungeheuren Hunger habe“, fuhr

Karlie seufzend fort. „Könnten wir nicht ...“Er  sah sich suchend um,  konnte aber  keine Kochgelegenheit  entdecken.

Einstweilen schob er deshalb ein paar kalte Kartoffelpuffer in den Mund undkaute begeistert darauf herum.

Harpo, der eine Weile vor dem Tisch­Visiophon gestanden hatte und sichnachdenklich das Kinn rieb, sagte plötzlich: „Mhmm, sagt mal – kommt euchdas hier nicht irgendwie bekannt vor?“

Die anderen schüttelten die Köpfe. „Wie meinst du das?“ fragten sie.„Ich weiß nicht“,  meinte Harpo achselzuckend. „Aber mir kommt dieser

Raum merkwürdig vertraut vor. Als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte.Dabei war ich sicher noch niemals hier. Vielleicht gab es mal einen ähnlichenRaum in einem Film – halt! Jetzt fällt es mir ein!“

Er   klatschte   in   die   Hände   und   stellte   sich   hinter   das   Visiophon.   „DieseWand, diese Regale! Das war der gleiche Hintergrund, vor dem der schwarze

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Mann stand, den wir auf dem Bildschirm in der Basis der Grünen gesehenhaben.“

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ja, so war’s. Ich erinnere mich jetztgenau. Von hier aus hat der Mann versucht uns anzurufen!“

„Klar!“ rief der kleine Oliver. Auch er glaubte, den Raum wiederzuerkennen.Nur Anca war sich nicht so sicher. Sie meinte, daß es auf dem Schiff sicher­lich  Dutzende von Räumen gab,  die  diesem  hier  ähnelten  wie ein Ei  demanderen.

Der kleine Oliver unterbrach den sich anbahnenden Streit, indem er plötz­lich einen Zettel schwenkte und krähte: „Ich glaub’, hier hat jemand ‘n Briefgeschrieben!“

„Was?“ Schnell  versammelten sich Harpo, Karlie Brim und Anca um denKleinen. Tatsächlich! Das Blatt war im Gegensatz zu den anderen nicht mitZahlen und einzelnen Worten bedeckt. „Gib her!“ Harpo riß dem Kleinen denBrief aus dem Hand und las mit gefurchter Stirn vor: „Es hat alles keinen Sinnmehr.   Das   Schiff   wurde   aus   seiner   Bahn   gerissen,   und   niemand   kannverhindern, daß es an den Planeten vorbei in die Unendlichkeit rast. Bis Hilfevon der Erde eintrifft, ist es längst zu spät. Habe versucht, mit der ZentraleVerbindung aufzunehmen. Aber sie können mich nicht verstehen, weil meinVisiophon defekt ist.“

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Harpo seine Freunde an. Karlie hattevor Aufregung die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben,  währendAnca rote Flecken auf den Wangen bekam. Nur der kleine Oliver sah zutrau­lich zu den Großen auf, als erwarte er, daß sie ihm schon alles in einfacherenWorten erklären würden.

„Aus   den   Lautsprechern   kommen   laufend   Alarmmeldungen“,   las   Harpoweiter.   „Versuche,   mit   einer   anderen   Station   Verbindung   zu   bekommen,blieben ohne Erfolg.  Niemand meldete sich.  Mein Gott,  die armen Kinder!Man kann sie nicht mehr retten! Soeben kam der Befehl zum Verlassen desSchiffes.   Alle   Männer   sammeln   sich   am   Schleusenausgang   B­XII.   DieRettungsboote sind startklar.  Ich kann sie nicht erreichen, weil  ich zu weitdavon entfernt bin. Mir bleibt nur eine Lösung: Ich nehme meinen Raum­anzug und gehe durch eine Nebenschleuse  in den Weltraum  hinaus.  Dortwarte ich auf Hilfe, bis sich Rettungseinheiten von der Erde nähern. Gott stehmir bei, ich weiß: Was ich vorhabe, ist der reine Selbstmord!“

Harpo fror plötzlich. Hier stand es schwarz auf weiß. Ihre Vermutung warbestätigt  worden.  Die  Alten hatten das  Schiff  verlassen,  ohne  sich  um dieKinder   zu   kümmern.   Wenn   Fidel  davon  erfuhr,   war   das  Wasser   auf   seineMühlen.

Mit   blassem   Gesicht   fragte   Anca:   „Wir   –   wir   sind   wirklich   allein?   Ganzallein?“ Sie schien es immer noch nicht glauben zu wollen.

Behutsam legte Ollie einen Arm um die Hüfte des viel größeren Mädchens.„Ich beschütze dich, Pummelchen“, meinte er tröstend. „Du weißt ja, daß ichdich später mal heiraten will.“

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Die Worte des Kleinen hätten Harpo und die beiden anderen Jungen nor­malerweise zum Lachen gebracht, aber im Moment war ihnen nicht danachzumute.

„Halten wir dieses eine mal fest“, sagte Harpo, während er sich ermattet inden Schwenksessel   fallen   ließ  und den Kopf  in  beide  Hände stützte:  „DasSchiff stürzt nicht ab!“

„Genau“, meinte Karlie erleichtert. „Aber was bedeutet das für uns?“„Daß wir eben nicht mit abstürzen“, versetzte Harpo, jetzt wieder ein leich­

tes Lächeln hervorbringend. Er musterte seine Freunde der Reihe nach. „Wirsind gekommen, um in Erfahrung zu bringen, was wirklich geschehen ist undwie wir uns helfen können. Die erste Frage ist geklärt.  Das zweite Problemsteht noch vor uns. Wollen wir weitergehen?“

Sie entschlossen sich nach einer kurzen Diskussion zur vorläufigen Rück­kehr auf Deck 27. Thunderclap und die anderen warteten sicher schon aufsie.  Genauere Nachforschungen  konnte man auf  später  verschieben:  etwa,wohin das losgerissene Schiff trieb ...

Außerdem war eine Rückkehr schon aus dem Grund dringend notwendig,weil sie nicht wußten, wie es mittlerweile auf Deck 27 aussah. Ollie war zwarnoch kürzlich dort gewesen, aber auch er war seit vielen Stunden auf Entde­ckungsreise. Die Situation konnte sich schnell verändern. Im Grunde war dieLage hier oben ziemlich besorgniserregend. Vielleicht stand es auch im Talder Wigwams nicht zum besten. Und es war kaum vorstellbar, daß die Zu­rückgebliebenen sich helfen konnten, wenn die stärksten Kinder nicht bei ih­nen waren.

Langsam   schwebten  sie   im   Antigravschacht  abwärts,   ihrer   alten  Heimatentgegen.

Eine böse Überraschung

Das unsichtbare Feld der Antischwerkraftlinien umfing die Gruppe wie einsanftes   Netz   und   trug   sie   programmgemäß   nach   Deck   27   zurück.   Dortverharrte   es   regungslos.   Die   Sicherheitsschaltung   verhinderte   die   Ent­stabilisierung auch dann noch, als mit dem kleinen Oliver längst der letzteder Freunde zum Einstiegstunnel hinübergerudert war.

Irgendwie war es doch ein schönes Gefühl, wieder die altvertraute Umge­bung zu erblicken, selbst wenn sie zunächst nur aus einigen Hütten, einemalten Ziehbrunnen und zwei   leblosen,   im Staub liegenden Roboterkörpernbestand.

Ohne sich weiter bei der stillgelegten Basis der Grünen aufzuhalten, mar­schierte die Fünfergruppe zügig dem Tal der Wigwams zu. Karlie spielte denAnführer.  Da er  die  längsten Beine  hatte,  machte er  naturgemäß auch die

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längsten Schritte. Die anderen hatten Mühe, ihm zu folgen und forderten ihnschließlich mehrmals auf, das Tempo zu drosseln.

„Pah!“ machte Karlie verächtlich und sah auf seine Gefährten herab. Fürihn waren das nur Knirpse. Aber er sah ein, daß es ihnen schwerfiel, Schrittzu   halten.   „Dabei   schreite   ich   doch   wirklich   nur   ganz   gemächlich   aus“,murmelte er. Immerhin wurde er für eine Weile langsamer.

Als er sich einmal zu den anderen umwandte, verhielt er allerdings so ab­rupt mitten im Schritt,  daß Brim gegen seinen Bauch prallte und Ollie mitdem Kopf an Brims Rücken stieß.

„Bist   du   jeck?“   beschwerte  sich  Ollie   und  rieb   sich   die   Stirn.   „Ich  habemeine   letzte   Versicherungsprämie  noch   nicht   bezahlt!“   Er  verstummte   je­doch genau wie die anderen, als er Karlies verdutztes Gesicht bemerkte.

„Ich sehe was, was ihr nicht seht“, erklärte Karlie väterlich. „Und das ist –rot!“ Er starrte grinsend über die Köpfe der „Knirpse“ hinweg nach hinten.Alle sperrten die Augen auf.

Harpo entdeckte als erster, was Karlie gesehen hatte. Fünfzig Meter hinterihnen stand ein Mädchen zwischen den bunten Plastiksträuchern und sah zuihnen herüber. Es trug eine rote Bluse und Jeans von der gleichen Farbe. Mit­tellanges, hellblondes Haar umrahmte ihr Gesicht.

„Zwick mich“, flüsterte der kleine Oliver.Als hätte das Mädchen diese beiden leise hervorgestoßenen Worte gehört,

machte es eine unerwartete Wendung und sprang seitlich in die Büsche. Sietauchte im Blättergewirr unter.

„He, warte doch!“ rief Harpo.„Ich hole sie“, meinte Karlie und wetzte mit seinen langen Beinen den Weg

zurück. Er verschwand genau an der Stelle im Dickicht, wo sie das unbekann­te Mädchen gesichtet hatten. Es dauerte eine Weile. Die Gruppe verharrte inatemloser Spannung.

Dann tauchte er zwischen den Sträuchern wieder auf wie der Turm einesUnterseeboots. Aber er war allein. Ratlos zuckte er die Schultern.

„Ich habe sie noch aus  der  Nähe  gesehen“,  gab er  bedauernd zu,  „aberdann war sie wie vom Erdboden verschwunden.“

„Schon gut“, beruhigte ihn Harpo. „Sicherlich gehört sie zu einer Gruppevon Kindern, die von einem anderen Deck hierher ins Tal gekommen sind.Paßt mal auf – wir sehen sie dort gewiß wieder.“

„Warum ist sie denn abgehauen?“ fragte Anca.„Du   irrst  dich   bestimmt“,   antwortete  Karlie   mit  der   überlegenen   Miene

eines Eingeweihten, der Unwissenden ein Geheimnis erläutern will. „Das warnämlich gar kein Mädchen. Das war eine Alte!“

„Waaas?“ kam es wie aus einem Munde.„Na ja“, schränkte Karlie verlegen ein, „vielleicht keine ganz alte Alte. Aber

ich habe ihr Gesicht deutlich gesehen. Die war erwachsen! Mindestens neun­zehn Jahre alt,  vielleicht sogar zwanzig!“ Er  sagte das in einem Tonfall,  alsspreche er von einer Zweihundertfünfzigjährigen.

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Kopfschüttelnd   meinte   Harpo:   „Wirklich?“   Aber   er   war   mit   seinen   Ge­danken nicht ganz bei der Sache. Irgend etwas an diesem seltsamen Mäd­chen   kam   ihm   bekannt   vor.   Waren   es   ihre   Augen   gewesen?   Mein   Gott,vielleicht spielte ihm seine Phantasie nur einen Streich, aber auf rätselhafteWeise fühlte er sich jetzt an die brennenden Augen erinnert, die ihn in derletzten Nacht auf Deck 28 aus dem Dunkel heraus beobachtet hatten. Undaußerdem ...

„Wir gehen jetzt  erst mal weiter“,  schlug er vor. „Später  können wir unsimmer noch um – um das Mädchen kümmern.“

Irgendwie paßte es Harpo nicht, den Ausdruck „Alte“ für die Erwachsenenzu verwenden. Er war jetzt sechzehn. Schon heute fühlte er sich selbst nichtmehr  sicher,  ob er  noch zu den Kindern  oder schon zu den Erwachsenenzählte. Auf jeden Fall würde er eines Tages ein Erwachsener sein. Jeder wurdeerwachsen,  und meist   ging  das  so schnell,  daß  man  gar  nichts  davon be­merkte.

Aber deshalb mußte man doch nicht automatisch ein ganz anderer Menschwerden? Warum sollte er dann zu seinen Freunden nicht genauso stehen wiejetzt?

Wenn der kleine Oliver  in Harpos Alter  kam, würde er  selbst  schon ein­undzwanzig sein – und damit nach ihrer heutigen Auffassung unvorstellbaralt. Irgend etwas stimmte nicht an solchen pauschalen Einordnungen, fandHarpo. Und je mehr er darüber nachdachte während des Weitergehens, destokomischer kamen ihm die Wörter „alt“, „jung“, „Kinder“ und „Erwachsene“vor. Wie kam es überhaupt, daß einige Leute solche Einteilungen für wichtighielten? Wer hatte ein Interesse daran? Wollte man mit diesem Blödsinn vonanderen Einteilungen ablenken, die entscheidender waren? Harpo erinnertesich daran, was sein Vater ihm einst erzählt hatte: Für ihn hatte es nur zweiSorten von Menschen auf der Welt gegeben, nämlich eine kleine Gruppe mitviel Geld und viel Macht und eine riesengroße andere Gruppe mit wenig Geldund ohne Macht. Und das hatte ihm eingeleuchtet.

„Es   ist  wirklich  eigenartig“,  murmelte  Karlie  während des  angestrengtenMarschierens durch den Plastikwald, „... diese Alte, dieses erwachsene Mäd­chen   ...   sie   hatte,   glaube   ich,   richtige   Angst   vor   mir.   Unheimliche   Angst.Wenn ich ehrlich bin, tat sie mir sogar ein bißchen leid – obwohl sie zu denAlten gehört.“

Angst? Jetzt rastete etwas in Harpos Gehirn ein. „Ich hab’s“, rief er. „DiesesMädchen   hat   Anca   und   mich   in   den   geheimnisvollen   Räumen  hinter   derWandung von Deck 27 überrascht, und ich bin sicher, daß sie es auch war,die mich aus der Dunkelheit angestarrt hat. Sie muß uns gefolgt sein. Aberwarum nur?“

Nachdem sich die Aufregung über diese Entdeckung gelegt hatte, stapftenwieder alle schweigend hinter dem Riesenjungen her.

Also   haben   doch  nicht   alle   Erwachsenen   das   Schiff  verlassen,  überlegteHarpo. Aber warum nicht? Hatte man das seltsame Mädchen vergessen? Oder

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hatte auch sie es nicht bis zu den Rettungsbooten geschafft, wie der Schwarzeam Visiophon?

Irgendwie war ihm das alles nicht recht klar. Und schon gar nicht konnteHarpo verstehen, weshalb sich das Mädchen vor ihnen versteckte.

Sie erreichten das Tal der Wigwams. Aber war das überhaupt noch ihr Tal?„Das ... das kann ich gar nicht fassen“, stöhnte Karlie entsetzt. Er bekam

den Mund vor Überraschung gar nicht mehr zu.„Ich schnalle ab!“ schrie der kleine Oliver wie verrückt.„Was ist denn hier passiert?“ rief Harpo mit zitternder Stimme. Er wollte

nicht glauben, was er sah. „Micel! Thunderclap! Lucky!“ schrie er aufgeregt.„Lonzo! Fantasia! Trompo! Fidel!“ ergänzte seine Schwester mit ängstlicher

Stimme. Ihre linke Hand krallte sich in Harpos Arm.Niemand antwortete.Niemand eilte ihnen entgegen.Die Gruppe schlich  in  das Tal.  Nicht  wie ein  fröhlicher  Haufen,  der  mit

einem   Sack   voll   aufregender   Geschichten   von   einer   spannenden   Entde­ckungsreise zurückkehrte, sondern wie ein Rudel geprügelter Hunde.

Je näher sie den Wigwams kamen, desto offensichtlicher wurde, daß sie ausder Ferne keinem Trugbild aufgesessen waren.

Die Wigwams lagen zerstört am Boden, die Tür zum Vorratsbunker standsperrangelweit   offen.   Wer   immer   dies   getan   hatte:   Es   sah   aus,   als   seienVandalen durch das Lager gezogen, die alles dem Erdboden gleichgemachthatten.

Auf der Erde hätte man einen Orkan für die angerichteten Schäden verant­wortlich machen können, aber an Bord des Schiffes gab es nichts weiter alseinen sanften Luftzug aus den Ventilatorschächten der Klimaanlage.

„Das ... ist gemein!“ heulte Anca und suchte in den Trümmern. Es gab nichteine Zeltstange, die nicht mehrfach gebrochen war, und keinen Fetzen Lein­wand, der größer war als ein Handtuch. Der Lagerplatz glich einem Trüm­merfeld, über und über besät mit zerschlitzten Zelt­ und Kleidungsstücken.

Über diese Trümmer einst nützlicher Gegenstände hatte man alle Kistenund Kartons aus dem Vorratsbunker entleert: Mehl, zerbrochene Hartwürste,zerteilte  Kartoffelpuffer,  Erbsen,   Bohnen,  Eipulver,  Vitaminpillen,  Synthos­teaks und anderes mehr. Das Mehl hielt die Abdrücke etlicher Füße fest, dieoffenbar in das Chaos hineingestampft hatten, um unbrauchbar zu machen,was noch nicht zerstört worden war.

„Wo sind unsere Freunde?“ Harpo stellte die wichtige Frage. Doch so sehrsie die nähere Umgebung des Lagers auch absuchten: Sie fanden nicht diegeringste Spur von ihnen. Nicht einmal einen Hinweis oder eine zurückge­lassene Nachricht.

Harpo überlegte angestrengt. Er fühlte sich überfordert. Dennoch mußtensie sich rasch etwas einfallen lassen.

„Ich beantrage, daß wir auf der Stelle eine außerordentliche Ratsversamm­lung  einberufen“,   sagte   er   schließlich  zögernd.  Die  Freunde  stimmten   zu.

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Jetzt mußten sie überlegen, wie man aus dieser verfahrenen Lage herauskam.Einige Meter abseits vom Ort der Zerstörung setzten sie sich ins Gras.

„Wir stehen einem neuen Rätsel gegenüber“, begann Harpo. „Zum erstenMal wird unsere Gruppe offen bedroht. Wenn ich das richtig sehe, sind unse­re Freunde von Unbekannten überfallen und verschleppt worden. Alles   istzerstört. Wenn wir nicht andere Vorräte entdeckt hätten, müßten wir jetzt so­gar verhungern.“

„Wir müssen Thunderclap und die anderen befreien!“ forderte Karlie undschlug mit seinen Riesenfäusten in das künstliche Gras.

„Dazu müssen wir überhaupt erst einmal rauskriegen, wo sie gefangenge­halten werden“, warf Brim fließend ein.

„Richtig!“ bekräftigte Anca, und der kleine Oliver nickte eifrig.„In Ordnung“, stimmte Harpo zu. „Wir suchen das ganze Deck ab. Aber wir

müssen dabei vorsichtig sein! Ab sofort darf keiner von uns allein durch dieGegend strolchen.“ Seine Stimme wurde zu einem Flüstern, als er sich zu sei­nen Freunden vorbeugte:  „Unsere Feinde können überall   lauern.  Bewegenwir uns schlau, wachsam und geräuschlos wie die Indianer auf dem Kriegs­pfad!“

„Au ja!“ brüllte der kleine Oliver und stieß ein mordsmäßiges Indianerge­heul aus. Anca warf sich erschrocken auf ihn und wollte ihm den Mund zu­halten,   aber   Karlies   Riesenhände   hatten   den   Kleinen   schon   erwischt   undbedeckten fast den gesamten Kopf. Ollie gurgelte nur noch.

Harpo seufzte. Das waren ja wirklich nette Indianer! Wie sollte er ihnen nurklarmachen, daß es diesmal nicht um ein Spiel ging?

Karlie  wurde als  erster  wieder  vernünftig.  Er  zischte  heftig:  „Ruhe!“  undzerrte   die   beiden   auseinander.   Kurz   darauf   hielt   er   je   einen   zerzaustenGegner am Schlafittchen und hielt die Arme weit auseinander.

„Laß mich los, du langer Lulatsch“, zeterte der kleine Oliver und zielte mitseinen winzigen Fäusten nach Karlies Nase, die allerdings fast einen halbenMeter von ihm entfernt war. Anca machte eine Miene wie ein Kätzchen, dasam Nackenfell hochgehalten wird, und es war für Brim und Harpo nicht ganzklar, ob sie im nächsten Moment lachen oder weinen wollte.  Sie entschiedsich fürs Lachen.  Dafür  heulte der kleine Oliver auf,  als Karlie dessen Auf­forderung wörtlich nahm und ihn ins Gras plumpsen ließ.

„Ja, ist denn bei euch der Teufel los“, explodierte Harpo. „Ollie, hör sofortauf zu weinen. Und du auch, Pummelch...“ Er verstummte im letzten Augen­blick, aber dieser Ausspruch hatte auch so seine Wirkung nicht verfehlt.

„Du   sollst   das   Pummelchen   nicht   immer   Pummelchen   nennen“,   japsteOllie. „Wo sie mich doch heiraten will!“ Er schniefte gewaltig durch die Nase,während Anca ihrem Bruder einen giftigen Blick zuwarf.

„Nun hört mal gut zu“, sagte Harpo entschlossen. „Die Leute, die unsereWigwams in Fetzen gerissen haben, verstehen absolut keinen Spaß. Wenn dienoch hier in der Gegend sind und uns hören, dann wette ich, daß sie uns ver­prügeln.   Vielleicht   stellen   sie   sogar   noch   Schlimmeres   mit   uns   an.   Wir

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müssen den Unfug jetzt für ‘ne Weile sein lassen, weil uns das alle in Gefahrbringt. Klar?“

„Wer hat uns das bloß angetan?“ fragte Brim erneut. Er kam immer nochnicht darüber hinweg, daß man die Wigwams in Grund und Boden gestampfthatte und die Freunde verschwunden waren.

„Ob ... sie es war?“ schnüffelte Anca und deutete über die Schulter auf denTaleingang, wo gerade der Schopf des rotgekleideten Mädchens verschwand.„Warum verfolgt sie uns denn nur?“

„Sie allein?“ zweifelte Harpo. Das konnte er sich beim besten Willen nichtvorstellen. Sicher wären Fidel und Fantasia mit ihr fertig geworden, wenn siedas Lager alleine überfallen hätte. „Nein, nein, das glaube ich nicht.“

„Aber es könnten mehrere Alte gewesen sein, nicht?“ beharrte Karlie stur.„Ich meine, vielleicht sind noch andere Erwachsene an Bord geblieben? Oderverrückt gewordene Grüne, die Amok laufen?“

„Mal bloß nicht den Teufel an die Wand“, meinte Anca erschreckt.  „Laßuns lieber überlegen, was wir jetzt tun. Ich schlage vor, daß wir erst mal allesuntersuchen, was hier rumliegt. Vielleicht können wir doch noch was davongebrauchen. Und wenn es nur für ein Mittagessen reicht. Ich habe nämlicheinen unheimlichen Hunger!“

„Bravo!“ rief Karlie.„E­e­endlich ein vernünftiger V­vorschlag“, fand Brim.„Und anschließend suchen wir gemeinsam die anderen“, stimmte Harpo

zu. „Und wenn wir jeden Stein einzeln umdrehen müßten: Wir werden siefinden!“

Die Kinder beendeten die Konferenz, weil keine anderen Wortmeldungenmehr kamen. Sie machten sich daran, den Trümmerhaufen nach brauchba­ren Überresten zu durchwühlen.

Trauriger Abschied und fröhliches Wiedersehen

Als sie von der Suche in das Tal der Wigwams – das sie jetzt schon als das„Tal der Trümmer“ bezeichneten – zurückkehrten, hoffte Harpo insgeheim,daß sich alles als böser Spuk erweisen würde. Daß im Lager wieder Lebenherrschte, daß die Wigwams wieder aufgebaut wären und Thunderclap undFidel fröhlich winkten.

Aber die Wirklichkeit   sah  leider  anders  aus.  Die  traurigen Überreste  derZerstörung lagen noch immer so da, wie sie sie vor Stunden verlassen hatten.

Sie hatten Deck 27 von Norden nach Süden und von Westen nach Ostendurchkämmt. Und doch hatten sie keine Spur von den Verschwundenen ent­decken können. Der Plastikwald schien sie und die geheimnisvollen Feindeverschluckt zu haben.

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Wahrscheinlicher war allerdings, daß sie der Antigravlift verschlungen undin unbekannten Decks wieder ausgespuckt hatte. Abgesehen von einigen Ro­bottierchen hatten sie nur ein einziges Lebewesen hin und wieder in der Fer­ne entdeckt:  jenes erwachsene Mädchen, das ihnen wie ein Schatten folgteund   immer  vorsichtig   an   ihren   Fersen  klebte,  gelegentlich  durch  das  auf­blitzende Rot ihrer Kleidung signalisierend, daß es noch in der Nähe war.

Die Einsamkeit und das Trümmerfeld bedrückte die Gruppe. Hier konntensie nicht bleiben. Außerdem mußten sie sich Lebensmittel besorgen. Und aufgar keinen Fall  wollten sie ihre Freunde für immer abschreiben. Sie faßtenden Entschluß, Deck 27 zu verlassen.

„Haben wir alles?“ fragte Karlie. Die Frage war eigentlich überflüssig, denner hatte selbst am schärfsten darüber gewacht, daß sie jeden noch verwertba­ren Krümel von einem Kartoffelpuffer einpackten.

Schweigend nahmen die Kinder ihre Rucksäcke und machten sich auf denWeg. Alle hatten ein komisches Gefühl dabei, als sie zum letzten Mal durchden Plastikdschungel  gingen. Dieses  Deck war für  sie alle  eine Art zweiterHeimat geworden, in der sie jeden Strauch und jeden einzelnen Felsen kann­ten. Und jetzt mußten sie sie unter sehr traurigen Bedingungen aufgeben.

„Fräulein Unbekannt folgt uns immer noch“, meldete Karlie, der zurückge­schaut hatte.

„Sie wird sich nun bald entscheiden müssen, ob sie mit uns kommen oderganz allein hier bleiben will“, meinte Harpo. Er konnte das seltsame Verhal­ten der Verfolgerin nicht verstehen. Ob sie vielleicht krank war, so wie Lucky?

„Wir hätten eine Nachricht hinterlassen sollen“, meinte Anca.Und   Brim   fügte   hinzu:   „F­für   den   F­fall,   daß   sich   die   anderen   al­leine

befreien und zurück­k­kommen.“„Keine schlechte Idee“, sagte Harpo. „Laßt uns ...“Aber dann fiel ihm ein, daß sie ja selber noch nicht wußten, wohin sie ge­

hen wollten. Was sollten sie ihren Freunden also mitteilen? Er äußerte seineBedenken laut.

„Und außerdem“, schloß sich Karlie an, „können auch die Leute zurück­kommen,   die   alles   kaputtgeschlagen   haben.   Denen   würden   wir   mit   einerNachricht verraten, wo wir uns aufhalten.“

„Ich weiß was Besseres“, meldete sich nun Anca. Sobald wir ein neues Zu­hause gefunden haben, bringen wir einen Hinweis auf der Basis der Grünenan.   Irgendwas,   das   unsere   Freunde   verstehen.   Uns   wird   schon   etwaseinfallen. Thunderclap ist im Entschlüsseln von Geheimschriften ganz großeKlasse!“

Harpo dachte daran, daß die Anzeige des Antigravlifts auch jedem Verfolgeranzeigen konnte, wohin sie unterwegs waren. Aber nein, das stimmte nicht.Fremde   konnten  nur   mit  dem   Lift   auf   Deck   27   gelangen  –   und   mit   ihrerAnkunft löschten sie die letzte Anzeige des Antigravs.

„Also eines wundert mich“, grübelte der kleine Oliver halblaut.„Und?“ fragte Anca nach.

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„Der Rollstuhl! Thunderclaps Elektroauto! Wo ist das Ding geblieben, he?Ich meine, es is’ doch ungeheuer schwierig, das Fahrzeug mittenmang durchdas Gestrüpp zu kutschieren.“

„Mensch, Ollie“, lobte Harpo, „du bist ja heute richtig clever!“Daß sie im unverwüstlichen Plastikgrün keine Spuren gefunden hatten, war

nicht   weiter   verwunderlich.   Aber   daß   der   Rollstuhl   ebenso   fehlte   wie   dieFreunde,   gab   ihnen   wirklich   zu   denken.   Denn   es   existierte   nämlich   keindurchgehend befestigter  Weg vom Tal  der  Trümmer zur Basis der  Grünenund zum Lift! Schwammiger Kunstsand machte weite Wegpassagen für einenRollstuhlfahrer nahezu unpassierbar. Darüber hatte sich Thunderclap mehrals einmal lautstark beklagt. Gewiß, man konnte den Jungen tragen, er wog janicht sehr viel. Aber warum sollte man sich die Mühe gemacht haben, auchden schweren Rollstuhl mitzuschleppen? Das war doch nicht eben typischfür Leute, die sonst alles kaputtmachten.

An der Basis der Grünen machten sie halt. Bislang hatten sie nur den Ge­danken, das Deck verlassen zu müssen, auf der Suche nach ihren Freundenund nach Nahrung. Doch langsam wurde es Zeit, einen Plan zu erstellen, wiedie Suche organisiert werden konnte.

Das zweite Problem war insofern gelöst, da sie ja bereits ein Vorratslagergefunden hatten, auf das sie nach Belieben zurückgreifen konnten. Wenn esnicht in der Zwischenzeit ebenfalls verwüstet worden war. Aber wo sollten siemit der Suche nach den Verschwundenen ansetzen? Sie waren nur zu fünft.Gewiß: Harpo, Karlie und Brim konnten nicht eben als schmächtig bezeich­net werden – und es fehlte ihnen auch nicht an Mut. Das Dumme war nur,daß   sie   eigentlich   gar   keine   Vorstellungen   von   ihren   Gegnern   hatten.Vielleicht   waren   drei   kräftige   Jungs   nicht   genug,   um   die   Gefangenen   zubefreien. Was dann?

Unschlüssig hatten sie ihre Lasten neben den leblosen Grünen niedergelegtund warteten  darauf,  daß einem  von ihnen ein genialer  Einfall  kam. Aberwenn   man   auf   so   etwas   angewiesen   ist,   kann   man   meistens   sehr   langewarten ...

„Das führt doch alles zu nichts, wenn wir uns hier die Beine in den Bauchstehen und Löcher in die Luft stieren“, sagte Harpo schließlich. Er hatte einbißchen Angst davor, daß der anfangs vorhandene Schwung, der heilige Zornüber die zerstörten Wigwams und die verstreuten Speisen und die entführtenFreunde   bei   dem   untätigen   Herumsitzen   schnell   wieder   verpuffte.   „Wirmüssen ganz fest dran glauben, daß Manitu uns beisteht!“

„Uff!“   bestätigte   Karlie.   „Der   schickt   uns   jede   Menge   Krieger   aus   denEwigen Jagdgründen, wenn’s brenzlig wird. Aber die brauchen wir gar nicht.– Sollst mal sehen, wie ich unter den Brüdern aufräume, wenn ich sie erwi­sche.“

Harpo sah etwas zweifelnd auf den dürren Riesen, aber Karlies Einstellunggefiel ihm.

„Wenn man mich reizt“, knirschte der kleine Oliver, „kann ich ein Schweinsein!“ Er trommelte mit seinen winzigen Fäusten auf seine Hühnerbrust und

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demonstrierte mit gefletschten Zähnen, tänzelnden Schritten und schnellenHaken einem Schattengegner, wie ernst er es meinte.

Alle lachten. Der kleine Mann in der Lederhose als Cassius Clay des ein­undzwanzigsten Jahrhunderts – das war denn nun doch zu lustig.

„Na gut“, sagte Harpo lachend. „Brechen wir also auf. Da wir die Decks 28bis 31 schon kennen, sollten wir uns vielleicht mal um die darüber kümmern.Was meint ihr?“

Alle   waren   Harpos   Meinung   und   griffen   nach   ihrem   Gepäck.   Einkratzendes Geräusch ließ sie mitten in der Bewegung verharren.

Was war das? Mit gefurchter Stirn ließ Harpo seinen Rucksack wieder sin­ken und blickte zu der Hütte hinüber, in der bis vor wenigen Tagen noch dieRobottierchen gehaust hatten.

„Habt ihr das auch gehört?“ flüsterte Karlie.„Vielleicht ist eins von den Tieren zurückgeblieben“, vermutete Anca und

wandte sich dem Einstieg der Röhre zu.„Nehmt mich mit“, piepste eine dünne Stimme aus der Hütte.Mit  einem kleinen Überraschungsschrei warf Anca  ihr Gepäck zu Boden

und rannte zu der Hütte. Ollie folgte ihr wie ein Sprinter bei einer Olympiadeund hätte sie vielleicht noch eingeholt, wenn er nicht über einen Stein gestol­pert wäre. So bohrte er seine Nase in die Erde und schimpfte wie ein Rohr­spatz.

„Trompo!“ riefen die Kinder wie aus einem Munde.Anca flitzte in die Hütte und kam Sekunden später mit dem winzigen Spiel­

kameraden auf dem Arm zurück. Sie drückte ihn fest an sich, was dem Minia­tur­Elefanten sichtlich gefiel. Er schnurrte wie ein Kätzchen und kitzelte mitseinem kleinen Rüssel vor Begeisterung Ancas Näschen.

„Wo hast du bloß gesteckt?“ tadelte Anca Trompo. Nachdem sie ausgiebigmit ihm geschmust hatte, entließ sie ihn aus ihren Armen. „Du humpelst ja!“stellte sie dann erschrocken fest. Trompo zog ein Bein leicht nach. „Wie istdenn das passiert?“

„Sie   haben Steine   nach  mir   geworfen“,   klagte   das  kleine  Wesen  traurig.„Deshalb habe ich mich auch versteckt.“

„Wer   hat   das   getan?“   fragte   Karlie   und   begann   drohend   die   Fäuste   zuschwenken.

„Die Fremden“, trompetete Trompo schüchtern.Alle redeten jetzt durcheinander, wollten weitere Einzelheiten wissen.„Dann weißt du also, was geschehen ist, während wir weg waren, Trompo?“

setzte sich Harpo schließlich mit lauter Stimme durch. Trompo deutete einNicken an. „Seid jetzt mal alle ruhig! Trompo soll berichten!“

Und dies war Trompos Geschichte:Sie waren am Eingang des Tals aufgetaucht, am frühen Morgen nach dem

Aufbruch der Expedition. Entweder waren sie im Dunkeln aus dem Antigrav­lift geklettert – oder sie hatten bereits die Nacht im Plastikwald verbracht. Aufjeden Fall überraschten sie die zurückgebliebenen Talbewohner.

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Ungefähr zwanzig Jungen und Mädchen im gleichen Alter wie die Kinderaus dem Wigwamtal standen plötzlich vor den Schläfern, als diese die Augenaufschlugen.

Im ersten Moment kam es noch nicht zu offenen Feindseligkeiten, obwohlsich vor allem Thunderclap maßlos über den Anführer der Fremden ärgerte,der arrogant seine eigenen Leute wie auch die Talbewohner herumzukom­mandieren begann.

Er  befahl,  daß ein gutes  Essen für  ihn und seine Leute gemacht  werdensolle und gab Fidel einen heftigen Knuff, als es seiner Meinung nach nichtschnell genug ging. Fidel wollte sich zunächst auf den Fremden stürzen, denseine Kameraden Big Tom nannten, aber Fantasia hielt ihn zurück.

Big Tom grinste nur. Im Gegensatz zu seinem großartigen Namen war erkleingewachsen, aber dabei untersetzt. Er war vierzehn oder fünfzehn Jahrealt und hatte ein puppenhaftes, weißes Gesicht, das einen deutlichen Gegen­satz zu seinem muskulösen Körper bildete. Er schien so nervös zu sein, daß erbei   jeder   Gelegenheit   an   seinen   Fingernägeln   kaute.   Eine   Weile   späterschimpfte er, weil kein Feuer vorhanden war, nannte die Talbewohner eine„faule Bande“ und machte sich abwechselnd über Micels kurze Ärmchen undThunderclaps Rollstuhl lustig. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits offene Feind­schaft zwischen den Talbewohnern und den Neuankömmlingen in der Luft.Aber Thunderclap und die anderen wußten, daß sie gegen die plötzlich auf­getauchte Obermacht keine Chance hatten. Also beherrschten sie sich so gutsie eben konnten und hofften darauf, daß die Fremden von selbst bald wiederabziehen würden.

Die   schienen   aber   mit   keinem   Gedanken   diese   Absicht   zu   haben.   Zu­mindest Big Tom nicht. Die anderen Jungen und Mädchen aus seiner Gruppekuschten vor ihm oder schienen keine eigene Meinung zu haben.

Trompo hatte sich – bereits von Anfang an nichts Gutes ahnend – beim Er­scheinen der Fremden versteckt.  Dennoch entdeckte  ihn einer der Jungenzwischen den Plastikgräsern.

„Vertreibt das Mistvieh“, ordnete Big Tom an, worauf seine beiden eifrigs­ten Gefolgsleute damit begannen, Steine nach Trompo zu werfen. Es gelangdem  kleinen  Wesen zu  entfliehen,  aber   es   wurde  am  Bein  verletzt.  Wahr­scheinlich  wäre  es  ihm noch schlechter  ergangen,  hätten sich nicht  Fidel,Fantasia und Micel zwischen die Steinwerfer gestürzt. Die Folge war eine aus­gewachsene Keilerei.

Und   gerade   in   diesem   Augenblick   kehrten   Lonzo   und   Lucky   von   ihrerSchatzsuche zurück.

„Ein   Grüner!“   schrie   Big   Tom   über   das   Getümmel   hinweg.   „Los,   Jungs,greift ihn euch und zerlegt ihn!“ Seine treuesten Anhänger ließen sofort dasPrügeln sein und rannten Lonzo entgegen. Sie trugen große Eisenstangen inden Händen – die hatten sie schon mit ins Lager gebracht. Ihre Absicht warunverkennbar. Der blanke Haß stand in ihren Augen, der durch die anfeuern­den Rufe Big Toms noch geschürt wurde.

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Lucky wurde roh zur Seite gestoßen, ebenso Micel, der sich den Jungen inden Weg stellte.

„Es ist kein Grüner, sondern unser Freund Lonzo!“ protestierte Micel em­pört, als er sich vom Boden aufgerappelt hatte und sah, welche Gefahr Lonzodrohte.

„Um so schlimmer für   ihn – und für  euch“,  drohte Big  Tom zähneknir­schend. „Wir dulden keine Spione! Das Schiff gehört jetzt  mir und meinenLeuten. Na los, worauf wartet ihr noch?“

„Nicht so hastig, Seeleute“, begrüßte Lonzo die Angreifer. „Wir fanden Ju­welen und kostbares Geschmeide. Der Piratenschatz ist für alle da!“

Der erste Junge holte mit der Eisenstange zum Schlage aus.Lucky war bei der Rempelei ins Gras gefallen. Für einen kleinen Moment

sah er so aus, als wolle er in Tränen ausbrechen.Dann geschah etwas Seltsames mit ihm.Trompo war sich seiner Sache so sicher, weil er zu diesem Zeitpunkt genau

in Luckys Augen geblickt hatte.Und die wurden jetzt so geistesabwesend wie die von Micel, wenn er ver­

suchte, Gedanken zu lesen. Luckys Pupillen nahmen einen goldenen Farb­schimmer an.

Das war das letzte, was Trompo von Lucky, Lonzo Fantasia, Thunderclap,Micel und Fidel sah.

Im nächsten Moment waren sie alle wie vom Erdboden verschluckt.Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.Trompo sah noch, daß die Fremden erschreckt und ratlos zurückblieben.

Sie  waren so verwirrt,  daß sie  ihn gar  nicht  weiter  verfolgten.  Und so warTrompo durch den Wald geirrt, hatte die Steppe durchquert und hatte sich inder stillgelegten Basis verkrochen wo die Tür der Hütte hinter ihm zugefallenwar.

Die gläserne Sternenkuppel

Atemlos hatten die Kinder den Bericht ihres kleinen Gefährten angehört.Kaum   einmal   unterbrachen   sie   ihn   durch   Zwischenfragen.   Als   Tromposchließlich endete, dauerte es eine ganze Weile, ehe sie die Sprache wieder­fanden.

„Dann hat man unsere Freunde ja gar nicht gefangengenommen“, stellteHarpo erleichtert fest. Im Grunde fühlte er sich recht erleichtert, gleichzeitigaber   auch   wieder   beunruhigt   durch   das   rätselhafte   Verschwinden   derGruppe. Ob Trompo am Ende geflunkert hatte, wie er es sonst so gern tat?Nein,  eigentlich klang alles  echt.  Und die  Angelegenheit  war so ernst,  daßsich auch Trompo keinen Spaß erlauben würde. Aber trotzdem: Hatte man jedavon gehört, daß sich Menschen einfach in Luft auflösten?

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„Sicher stecken die Alten dahinter“, vermutete Karlie mit gerunzelter Stirn.„Quatsch“, meinte Anca. „Wenn irgend etwas nicht zu erklären ist, müssen

bei dir immer die Alten dahinterstecken, Karlie. Die können auch nicht zau­bern.“

„Hast du vielleicht eine bessere Erklärung?“ fragte Karlie mit zusammenge­kniffenen Augen.

„Pah“, machte Anca verächtlich. „Muß ich gar nicht haben. Ich finde es nurblöd, daß du dir die Sache so einfach machst.“

„Karlies   Vermutung   ist   immerhin   nur   eine   von   vielen   möglichen   Erklä­rungen“,   mischte   sich   Harpo   ein.   „Aber   ich   finde   auch,   daß   wir   dieErwachsenen nicht überschätzen sollten. Und außerdem sind sie ja gar nichtmehr an Bord, das weißt du doch, Karlie.“

„Das ist nur eine Vermutung“, verteidigte sich der Riesenjunge. „Oder hastdu schon vergessen, daß uns eine von ihnen verfolgt, seitdem wir Deck 27 be­treten haben? Und vielleicht sogar schon länger?“

Was   sollte   man   darauf   sagen?   Karlie   hatte   recht.   Es   gab   keinenstichhaltigen   Beweis   dafür,   daß   wirklich   alle   Erwachsenen   das   Schiffverlassen hatten. Der gefundene Brief mußte nicht in allen Punkten stimmen.Schließlich   hatte   der   schwarze   Mann   zuletzt   keinen   Kontakt   mehr   zurZentrale gehabt.

„Aber was haben Luckys Augen mit diesem rätselhaften Verschwinden un­serer Freunde zu tun?“ fragte Harpo das elefantenähnliche Zwergwesen. Ihmwar aufgefallen, daß Trompo diese doch eigentlich belanglose Einzelheit fürbedeutungsvoll hielt.

„Ich weiß nicht“, quietschte Trompo. Um ihn besser verstehen zu können,hatten sich die Kinder lang auf den Boden gelegt. „Aber mir ist niemals etwasÄhnliches an Lucky aufgefallen. Und da es das letzte war, was ich von denVerschwundenen sehen konnte, mochte ich es nicht verschweigen.“

War irgend etwas Besonderes mit Lucky? Keinem aus der Gruppe war bis­her die Idee gekommen, daß ihr Lucky vielleicht ähnliche Talente besaß wieder Gedankenleser Micel.  Für sie war er bisher ein Spielkamerad gewesen,den man mit ganz einfachen Dingen glücklich machen konnte. Sie wußtenalle, daß Lucky geistig behindert war.

Aber selbst wenn er wie Micel die Gedanken anderer Leute lesen konnte, soerklärte das nicht   im geringsten,  weshalb  die Freunde sich vor  den AugenTrompos in Luft aufgelöst hatten.

„Wo sollen wir denn nun suchen?“ fragte Anca kläglich. Die anderen fühl­ten genauso. Die Erwachsenen, die Grünen oder andere Kindergruppen alsGegner, die einen Überfall unternommen und Gefangene gemacht hatten –das wäre schlimm gewesen. Aber zumindest hätte man gewußt, daß alles mitrechten Dingen  zuging.  Man hätte  etwas unternehmen können.  Aber   jetztwar alles noch geheimnisvoller als vorher.

„He, Trompo“, flachste Anca, „jetzt verdrehst du aber die Augen wie Micel!“Trompo schrak auf,  als sein Name genannt wurde.  Verwirrt  schüttelte er

den Rüssel, als wolle er einen Traum verscheuchen.

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„Deck   Nummer   null“,   flüsterte   Trompo   plötzlich   mit   völlig   veränderterStimme.

„Klar,   Kumpel“,   beeilte   sich   der   kleine   Oliver   zu   versichern,   obwohl   erkeine Ahnung hatte, was jetzt wieder los war.

„Bitte?“ fragte Harpo.„Keine Fragen stellen“, sagte Trompo in dem gleichen seltsamen Tonfall. Er

stellte sich auf die Hinterbeine. „Deck Nummer null. Da müssen wir hin!“„Z­zum D­deck n­null?“ Brim machte runde Augen. Und Harpo, der zum

ersten   Mal   hörte,   daß   es   ein   solches   Deck   überhaupt   gab,   fragte:   „Aberwarum denn, beim Jupiter?“

„Deck null“, wiederholte Trompo und begann, sich langsam in Bewegungzu setzen. „Keine Zeit verlieren. Schnell!“

„Na  schön“,  meinte   Harpo   achselzuckend  und  hob   sein  Gepäck  auf.   Erwinkte den anderen, ihm zu folgen. „Er wird schon seine Gründe haben.“

„Is’  doch sowieso schnuppe und schnurzpiepe, wo wir anfangen“, krähteder kleine Oliver.

Sie folgten Trompo auf dem Fuße, der die Richtung zum Antigravschachteinschlug, ohne sich dabei umzudrehen.

Mit der Bedienung kamen sie inzwischen so gut zurecht, daß es keine über­flüssigen Fragen mehr gab. Harpo stellte im Vorwahlfeld Deck 0000000 ein,fragte sich aber insgeheim, ob das überhaupt einen Sinn haben konnte. Si­cherlich würde es ein Deck mit der Nummer 1 geben. Aber „null“ hieß doch„nichts“. Wie konnte man ein „Etwas“ mit einer Null bezeichnen? Dann kamihm ein Gedanke. Es hieß ja „Deck null“. Was immer sich auch dort befindenmochte – es war ein Deck!

„Nun bleibt Fräulein Unbekannt doch allein zurück“, stellte Karlie schau­dernd fest. Sie schauten durch die Einstiegsröhre in die Plastiklandschaft ih­res Heimatdecks.  Adieu,  Deck 27, dachten sie,  du siehst  uns wohl  niemalswieder. Das erwachsene Mädchen war nirgendwo zu entdecken.

„Die Anzeige wird ihr verraten, wohin wir gefahren sind“, erklärte Harpo.Er hatte ein ungutes Gefühl, wenn er daran dachte, daß das Mädchen nunganz allein hier unten war. „Wenn sie will, kann sie uns folgen.“

Brim, der sich wie meistens bei Gesprächen im Hintergrund hielt, war dererste, der seinen Fuß über den Abgrund setzte. Vorsichtig probierte er aus, obdas Kraftfeld noch vorhanden war. Er spürte den Widerstand und trat in denvon rotem Licht erhellten Schacht hinein. Winkend segelte er nach oben.

Ollie folgte ihm so ungestüm, daß er im Kraftfeld einen Purzelbaum schlugund den ganzen Weg in einer sanft ansteigenden Spirale zurücklegen mußte.Da mochte Trompo auf seinem Arm noch so lautstark quietschen. Es half ihmnichts,  er  mußte  die  Drehungen  mitmachen.  Hoffentlich  besitzt  er  keinenempfindlichen Magen, dachte Harpo.

Harpo, Anca und Karlie folgten dicht an dicht und waren dazu verurteilt,die ganze Zeit über des kleinen Olivers Klagelieder mitanzuhören.

„Mensch, ist mir schlecht!“„Bin doch kein Kunstflieger!“

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„Das is’ aber gar nicht gut für meine Organe! Eiwei!“„Wo   ich   sowieso   der   kränkste  Passaschier   von   diesem   ollen   Raumschiff

bin!“„Ich protestiere! Das rollt einem ja sämtliche Fußnägel auf!“„Mein Jott, Justav!“Lachend   hielten   sich  die  anderen  die  Ohren  zu.   Es  war  eine sehr   lange

Fahrt bis zum Deck null. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stiller wurde ihrtrudelnder  Mitreisender.  Und als  sie Deck null  endlich erreichten und zurPlattform hinüberruderten war er ganz verstummt – dafür aber ganz grün imGesicht.

Mitleidig halfen Harpo und Karlie dem Kleinen auf die Plattform. Tromposprang  seinem  lebenden   Karussell  aus  den  Armen,  drehte  sich  dann  abernoch mehrmals benommen um seine eigene Achse, ehe er stillstand.

„Kommt“, trompetete er schließlich, als er sich gefangen hatte. Er sprachimmer noch mit  dieser völlig veränderten Stimme, die außer Harpo bisherniemandem aufgefallen zu sein schien. Er eilte die glatte Metallröhre entlang,die auch hier oben die Verbindung zwischen dem Schacht und dem eigentli­chen Deck herstellte.

Der   Tunnel   wurde   von   Lampen   grellweiß   erleuchtet.   Nach   einigenSchritten fiel den Kindern noch etwas auf, das anders war als auf den bisherbesuchten Decks. Der Tunnel führte nicht ins Freie, sondern endete in einerSackgasse. Eine glatte Metallwand verhinderte jedes weitere Vordringen insUnbekannte.

„Was nun?“ fragte Karlie ratlos.„An der Seitenwand muß sich eine schwarze Platte befinden“,  erläuterte

Trompo. „Man kann sie mit bloßem Auge nicht sehen. Aber fühlen kann mansie.“

Die Kinder musterten die fragliche Wand, die jedoch trotz der hellen Be­leuchtung   glatt   und   fugenlos   wirkte.   Schwarze   Platte   war   gut.   Der   ganzeTunnel bestand aus schwarzem Metall.

„Karlie“, meldete sich nun wieder Trompo. „Du bist der Größte. Du mußtin Kopfhöhe die Wand abtasten, verstehst du?“

„Hier ist was!“ rief Karlie freudig.„Du mußt den Daumen deiner rechten Hand auf die Platte legen“, piepste

Trompo. Er sprach auf einmal wieder mit seiner alten Stimme, und das ließHarpo aufhorchen. Was hatte diese Veränderung zu bedeuten? Aber jetzt warkeine Zeit für neugierige Fragen. Etwas hatte ihn mit aller Kraft gepackt. Eswar wie Jagdfieber, als sei hinter diesem Gang etwas verborgen, das für siealle sehr wichtig war.

Karlie  wich  zurück.  Mitten  in  der   fugenlosen  Stirnwand bildete  sich  einschnell wachsender Spalt.

„Hiiiinein!“ jubelte Harpo.Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen. Hinter ihnen schloß sich

der   Spalt   so   geräuschlos   wie   er   sich   geöffnet   hatte.   Für   einen   Momentstanden sie wie gelähmt in der neuen Umgebung. Damit hatten sie nicht ge­

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rechnet!  Nein, dies war kein gewöhnliches Deck mit Plastikpflanzen, Sand,Felsen und einer Kunstsonne ...

Eine sanfte, indirekte Beleuchtung tauchte den riesigen Raum in ein mattesblaues   Licht.   Vor   ihnen   ragten   Säulen   aus   dem   Boden,   die   aussahen   wieBaumstümpfe, nur natürlich ganz glatt, eben und rund. Sie endeten in Hüft­höhe und ließen dort Hebel, Schalter, Knöpfe und blinkende Lichtaugen her­vortreten.   Auch   seitlich   waren   in   den  Säulen   Instrumente   verborgen,  unddavor sah man Sessel aus schwarzem Kunstleder, deren blinkende Metallfüßemit dem bunten Glasmosaik des Bodens eine Einheit bildeten. Diese Einzel­heiten bemerkten Harpo und seine Freunde aber erst auf den dritten odervierten Blick.

Was sie in stiller Bewunderung und mit offenen Mündern verharren ließ,war die Decke des großen Raumes. Sie bestand aus einer gewaltigen gläser­nen Kuppel, die wie die Hälfte einer Kugel den Raum abdeckte. Wären nichtdie winzigen roten Lichtfäden gewesen, die diese Rundung in Zonen unter­teilte wie die Meridiane auf Landkarten und Globen von der Erde, hätte manmeinen können, daß der Raum überhaupt keine Decke besaß und direkt inden Sternenhimmel hineinragte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben sahen die Kinder den funkelnden Glanzder Sterne ohne den Filter  einer Dunstglocke aus Staub und Abgasen. DieRaumfähre,   die  sie  von  der  Erde  einst   abgeholt   hatte,  hatte   keine Fensterbesessen, und seither war ihnen nichts anderes unter die Augen geraten alsdas unnatürliche Innenleben von Deck 27.

„Die Hauptzentrale!“ hauchte Harpo ergriffen. Er mochte sich überhauptnicht losreißen von dem Anblick der zahllosen Lichtpünktchen in der weitenSchwärze über ihnen. Diese winzigen weißen Lichter waren Sonnen, die nurdeshalb so klein aussahen weil  sie  sich in unvorstellbarer  Ferne befanden.Dabei mochten die meisten so groß wie die Sonne sein, deren Licht die Erdeerreichte, manche sogar viel, viel größer.

Und ihr Raumschiff trieb als eine Miniaturwelt in diesem Sternenraum, los­gerissen von der heimatlichen Sonne. Ein Erwachsener, der für diese Arbeitgeschult worden war, hätte ihnen jetzt  vielleicht anhand der roten Leucht­fäden auf der gläsernen Kuppel sagen können, welchen Kurs ihr Schiff nahm.Aber die Kinder hatte niemand gelehrt, wie der Astrogator eines RaumschiffesPosition und Kurs bestimmte.

Auf Trompo hatte keiner mehr geachtet. Jetzt machte er mit einem trompe­tenhaften Laut auf sich aufmerksam.

„Dort!“ piepste er und deutete mit dem Rüssel auf einen Fleck am Sternen­himmel. „Seht doch nur! Dort hinten!“

Sie   hätten   lange   suchen   können,   wenn   nicht   der   Fleck   durch   seinAnwachsen auf sich aufmerksam gemacht hätte.

Einer der Sterne am Glashimmel wurde immer größer. Dabei stellte sichheraus, daß er gar kein Stern war. Er leuchtete, aber sein Licht entsprach beiweitem nicht der gleißenden Helligkeit einer Sonne.

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Dann konnten die Kinder mit bloßem Auge erkennen, daß sich ihnen einfremdes Raumschiff näherte. Es sah ungewohnt aus. Soweit sie darüber in­formiert   waren,   bestand   ihr   eigenes   Schiff   aus   einem   langgestreckten   Zy­linder, der an beiden Enden kugelähnliche Fortsätze hatte. Harpo konnte sichnoch   erinnern,   daß   sein   Onkel   einmal   scherzhaft   von   einen   „fliegendenKnochen“ gesprochen hatte.  Das   fremde  Schiff  bestand hingegen  aus  dreidiskusförmigen   Scheiben,   die   durch   ein   Geflecht   von   Versorgungstunnelnmiteinander verbunden waren. Diese Scheiben lagen übereinander, und diemittlere hatte einen erheblich größeren Durchmesser als die Außenscheiben.

Trompo   geriet   beim   Anblick   des   fremden   Raumschiffes   schier   aus   demHäuschen. Er machte die irrsinnigsten Verrenkungen, sprang durch die Luft,machte einen doppelten Salto und stieß fremdartige Laute hervor. Die Kinderwußten gar nicht,  was sie von dem sonderbaren Verhalten ihres Freundeshalten sollten.

Mehrere Minuten lang, während sie schweigend unter der Kuppel standen,verharrte   das   andere   Schiff   regungslos   über   ihnen,   greifbar   nahe.   Dannflammten auf der einen Seite mehrere Blitze auf, und es wurde mit atembe­raubender Schnelligkeit kleiner.

Trompo quiekte protestierend und hielt in seinen Luftsprüngen inne. Dannschrumpfte das Schiff wieder zur Größe eines kleinen Lichtpünktchens zu­sammen und wurde vom Weltraum verschluckt.

Wieder beisammen

„Was ... war ... das?“ fragte Anca ungläubig.„Haste doch geseh’n – ein Raumschiff“, sagte der kleine Oliver atemlos.„Mann,   das   weiß   ich   selbst“,   empörte   sich   das   Mädchen.   „Aber   woher

kommt es? Was sind das für Leute, die es gebaut haben? Wieso begegnet esuns mitten im All? Es ist doch wohl ein irrer Zufall, daß sich zwei Raumschiffeim Weltraum begegnen, wenn man bedenkt, wie groß das All und wie kleinRaumschiffe sind!“

„Hallo!“„Viel   interessanter   finde   ich   die  Frage,  warum  es   wieder  abgedreht   hat,

ohne Kontaktaufnahme“, schaltete sich Harpo ein. „Ob das Schiff nun zufäl­lig  auf uns gestoßen ist  oder nicht:  Normal wäre  doch wohl  gewesen,  daßman sich verständigt.“

„Hallooo!“„W­wie stellst du dir das denn v­vor?“ fragte Brim. „Sollten die F­fremden

uns z­zuw­winken? V­vielleicht haben d­die nicht m­mal richtige Hände.“„Hallooooo!“

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„Papperlapapp,   winken“,   meinte   Karlie.   „Die   hätten   in   Raumanzügesteigen und uns besuchen können. Oder Lichtzeichen geben. Oder sonst et­was machen.“

„Haaalllooooooooooo!“„Und wenn sie es getan haben?“ entgegnete Brim. „Das weißt du doch n­

nicht. Vielleicht haben sie pau­pausenlos versucht, uns m­mit Funksprüchenoder Bildsendungen zu erreichen. U­und da niemand antwortete, ha­habensie   es   aufgegeben.   Die   halten   u­unser   Sch­schiff   wahrscheinlich   für   einWrack!“

„Haaallllooooooooooooooooooooooooo!“„Was ja irgendwie auch stimmt“, meinte Harpo schulterzuckend. „Nur, daß

eben auf diesem Wrack noch Menschen leben ... Aber sagt mal, habt ihr nichtauch eben was rufen gehört?“

„Silizium“, flüsterte der kleine Oliver und legte eine Hand hinter sein linkesOhr.

Augenblicklich  wurde es so still,  daß man das Geräusch einer  zu Bodenfallenden Stecknadel wahrgenommen hätte. Unwillkürlich hielten die Kinderden Atem an. Der kleine Oliver übertrieb dermaßen, daß er im Gesicht rot wieeine Tomate wurde.

„Haaalllooooooooooooooooooooooo!“„Da war es wieder!“ rief Harpo aufgeregt.„Es kommt von der gegenüberliegenden Wand“, behauptete Anca und deu­

tete mit der Hand darauf.„Ja“, gab Karlie ihr recht. „Ich meine auch, daß es von daher kommt!“Aufgeregt liefen sie zu der Wand hin. Dort, wo die gläserne Kuppel mit der

Bodenfläche   der   Hauptzentrale   zusammentraf,   gab   es   einen   Streifen   me­tallischer  Wand, der  aus der Nähe gar nicht  so niedrig  war, wie sie zuerstvermutet  hatten.  Die  Wand,  die  sonst  überall  nur  etwa  zweieinhalb  Meterhoch war, erreichte an dieser Stelle mindestens die doppelte Höhe.

Harpo preßte den Kopf dagegen. Da war es wieder ein Ruf, der kaum mehrals ein Flüstern war, so weit schien er von ihnen entfernt: „Haaallloooo!“

„Wir rufen zurück“, sagte Harpo schnell.  „Und alle zusammen, wenn ichdrei sage. – Eins, zwei, drei!“

„Haaalllooooooo!“   riefen   Brim,   Anca,   Karlie,   Ollie   und   Harpo   ausLeibeskräften.

„Huhuuuuu!“   zuckelte   der   kleine   Oliver   noch   einmal   hinterher   und   er­reichte dabei fast die Lautstärke der gesamten Gruppe. Seine Stimme kiekstedabei ein bißchen im oberen Bereich.

„Haalloooo“, kam es zurück. „...iiir...ind...hie...speeerrtt!“„Hast du das verstanden?“ fragte Harpo Anca.„Das klang wie: Wir sind hier eingesperrt. Oder so ähnlich.“„Es gibt hier sicher noch eine Tür“, überlegte Harpo laut. „Wahrscheinlich

mit einem ähnlichen Mechanismus wie die Tür zum Tunnel. Karlie, kannstdu nicht mal ...“

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Er brauchte gar nicht weiterzureden, weil Karlie schon in Augenhöhe dieWand abtastete.

„Ob das nicht gefährlich ist, was wir jetzt tun?“ fragte Anca unsicher. „Wirwissen doch gar nicht, wem wir da helfen wollen. Vielleicht sind es Big Tomund seine Leute?“

„O­oder Erwachsene?“ Brim rieb nachdenklich sein Kinn.„Ich beschütze euch“, knurrte der kleine Oliver und stellte sich auf die Ze­

henspitzen. „Ich mach’ Frikadellen aus denen!“„Wir   dürfen   nicht   überall   gleich   Gespenster   sehen“,   mahnte   Harpo.

„Immerhin sind dort Menschen, die Hilfe brauchen.“„Hier   ist   noch so  ‘ne  schwarze  Platte“,   rief  Karlie   triumphierend dazwi­

schen und legte  seinen Daumen darauf.  Sekundenbruchteile  später  wurdeein Spalt  in der Wand sichtbar, der sich rasend schnell  vergrößerte und zueinem Eingang wurde.

Neugierig reckten die Kinder die Köpfe vor. Enttäuscht sahen sie sich an,als sie entdeckten, daß die Öffnung nichts weiter freigab als eine enge, nackteMetallkammer.

Allein   Karlie,   der  Superkoch,   ließ  sich  nicht   aufhalten.  Sein  mittlerweileplattensuchgeübtes Auge hatte an der Wand der Kammer einen weiteren Öff­nungsmechanismus entdeckt.

„Hinein“, sagte er und betrat die Kammer als erster. „Dies ist eine Art Flur –nein, das könnte auch eine Luftschleuse sein.“ Ohne lange zu überlegen, leg­te er erneut den Daumen auf die neu entdeckte Platte. Eigentlich hatte er da­mit gerechnet,  daß sich zunächst die hinter ihnen liegende Türe schließenwürde.   Normalerweise   war   dies   auch   so,   wenn   zwischen   dem   dahinter­liegenden Raum und der Zentrale ein unterschiedlicher Luftdruck bestand.Das fanden sie später heraus. Da der automatische Türschließer jedoch regis­trierte, daß auf  beiden Seiten die gleichen Druck­ und Atmosphäreverhält­nisse herrschten, gab er unmittelbar den Öffnungsimpuls für die zweite Türfrei.

In dem Lichtspalt  erschien  ein  Gesicht,   das  im ersten  Moment  genausofassungslos und verdutzt  aussah wie die Gesichter  von Harpo, Anca, Ollie,Brim und Karlie.

„Micel!“ jaulte der kleine Oliver als erster wie eine Sirene los.„Ihhhrrr?“ staunte Micel. „Bei allen Planeten! Ich glaub’, mich trifft der Psy­

choschlag!“„Thunderclap! Fidel!“ jauchzte Ollie.„Fantasia!“ kam das Echo von allen Seiten.„Pummelchen!“ krächzte Lonzo. „Mein kleiner Sonnenschein!“Für einige Minuten brach ein mittelschweres Chaos aus. Die Kinder fielen

sich gegenseitig um den Hals und klopften sich begeistert auf die Schultern.Lucky gluckste vor lauter Glück still  vor sich hin. Lonzo schlug einen Saltonach dem anderen und wedelte mit seinen Tentakeln. Nur mühsam konntensie sich wieder beruhigen.

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Jetzt   waren   alle   wieder   beieinander.   Micel   und   Thunderclap,   Fidel   undFantasia,  Lucky, Karlie,  Harpo,  Anca, Brim und der kleine Oliver.  Nicht  zuvergessen Lonzo.

„Jetzt fehlt nur noch Trompo“, sagte Micel. „Wir haben ihn zuletzt auf Deck27 gesehen. Wißt ihr, daß man uns überfallen hat und daß uns Lucky hierhertransportiert hat und ...“

„Langsam, langsam“, bremste Harpo Micels  Redestrom. „Eins  nach demanderen. Wir haben Trompo gefunden und wissen von dem Überfall. Wo ister denn? Er war doch eben noch bei uns ... Was hast du da eben von Lucky er­zählt?“

„Trompo! Trompoooo!“ riefen die Kinder. Die Türen hatten sich noch nichtwieder   geschlossen   und   so   rannten   einige   von   ihnen   wieder   in   dieHauptzentrale des Raumschiffs zurück.  Während Micel  und Fidel  zunächsteinmal  andächtig  verharrten,  als  sie  die  Sternenkuppel  sahen,  suchten  dieanderen alles ab und ließen keine Ecke aus. Allerdings umsonst,  denn daskleine Wesen Trompo war verschwunden!

„Lucky hat euch hierhergebracht?“ fragte Harpo inzwischen Thunderclap.„Wie das? Ich verstehe das nicht.“

„Wir haben es zuerst auch nicht begriffen“, erläuterte Thunderclap Geniuslächelnd. „Aber Micel hat seine Gedanken gelesen und herausgefunden, wiedas kam. Lucky ist ein Mutant wie Micel. Aber er kann keine Gedanken lesen,sondern  hat  ein  anderes  Talent.  Er  kann sich selbst  und andere Personenoder Dinge mit seinem Gehirn an einen anderen Ort versetzen! Wir wissennoch nicht, wie er das macht, und Lucky weiß es selbst am wenigsten, aber eshat funktioniert. Das können wir beschwören.“

„Das ist ... phantastisch!“ hauchte Harpo und klatschte in die Hände. „Un­glaublich!“

„Das meint Micel auch“, erwiderte Thunderclap. „Und Lucky scheint dererste Mutant zu sein, der so etwas kann. Nur schade, daß er  dieses Talentnicht einsetzen kann, wann er will. Er hat rein instinktiv reagiert. Er sah, daßwir alle in Gefahr waren ... da versetzte er uns an einen sicheren Ort. Einfachso.“

„Woher wußte er denn, daß dieser Raum sicher ist?“ fragte Harpo und sahsich zum ersten Mal bewußt um.

„Keine Ahnung.“  Thunderclaps  Augen  hefteten sich  auf  Harpos  Gesicht.„Wir wissen auch nicht mehr, als ich dir eben erzählt habe. Aber abgesehendavon, daß wir hier  eingesperrt  waren, haben wir eigentlich alles:  Vorräte,eine Kochgelegenheit, ein Schwimmbecken ...“

Der Raum war etwas kleiner als die Hauptzentrale, aber immer noch riesig.Am äußeren Rand befanden sich zehn oder mehr türlose, vom Hauptraumabgetrennte Kabinen, in denen Sessel, Schreibtische und Betten standen oderrätselhafte Instrumente aufgebaut waren. Die zum Wohnen und Schlafen ge­dachten Räume wirkten elegant und gleichzeitig urgemütlich.

Der große Raum, in dem sich nun außer Harpo und Thunderclap niemandmehr befand, hatte wie ihr Deck 27 eine künstliche Sonne und auch sonst

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Ähnlichkeit  mit  den Landschaften der anderen Decks.  In der  Mitte befandsich ein kleiner See und darum herum wuchsen allerlei Pflanzen und kleinereBäume. Der See lag tiefer, terrassenförmig angelegte Stufen führten nach un­ten.

„Wie habt ihr die Türe gefunden?“ fragte Thunderclap. „Wir haben selbstalles Mögliche und Unmögliche ausprobiert ...“

„Es gibt  da eine beinahe unsichtbare Platte  ...“ murmelte Harpo geistes­abwesend.   „Sag   mal,   das   sieht   ja   alles   so   echt   aus   ...“   Er   deutete   auf   diePflanzen in der Umgebung.

„Es ist auch echt“,  erklärte Fantasia,  die gerade aus der Zentrale zurück­kam. „Dies sind richtige Pflanzen, richtige Blumen – kein Ersatzzeug aus Plas­tik.“

„Dann gibt es hier auch richtige Tiere?“ fragte Harpo. Mittlerweile kamenauch die anderen aus der Zentrale zurück. Trompo war und blieb fürs ersteverschwunden.

„Richtige Tiere haben wir noch nicht gefunden“, sagte Fantasia. „Aber wirhaben noch lange nicht alles  erforscht.  Es gibt  hier so viele Türen. Mit Si­cherheit können wir davon ausgehen, daß irgendwo an Bord auch echte Tiereleben. Micels Frosch und Ancas Schlange sind sicherlich ausgerissen ...“

„Macht euch lieber Gedanken darüber, wo Trompo geblieben ist“, fordertenun Anca. Nicht daß sie Angst um ihren kleinen Spielgefährten gehabt hätte:dafür war der kleine Elefant zu listig. Aber etwas komisch war es ihr doch, daßer so sang­ und klanglos untergetaucht war.

„Findet   ihr   nicht   auch“,   meinte   Harpo,   „daß   er   sich   reichlich   komischbenommen hat?“ Er erzählte, wie Trompo ihnen den Weg nach Deck null ge­wiesen hatte. Als ob er genau gewußt hätte, daß sich die Vermißten hier obenbefanden ...

„Und seine Stimme war so eigenartig“, fügte Karlie nachdenklich hinzu.„Ja“, stimmte Harpo zu. „Schon beim Anblick des fremden Raumschiffes

hat er sich seltsam aufgeführt.“„Was für ein Raumschiff?“ echoten Thunderclap und Micel wie aus einem

Munde.„Erzählen wir euch noch“, gab Karlie  großspurig zurück.  „Was denkt ihr

wohl, was wir alles in der Zwischenzeit erlebt haben ...“„Langsam, langsam“, stöhnte Harpo wieder. Seine Gedanken weilten noch

immer bei Trompo. Er hatte sich wirklich sehr ungewöhnlich benommen ...Wußte er mehr, als er ihnen gesagt hatte? Deck null, die Hauptzentrale, das

Plättchen des Türschließers,  das  fremde Raumschiff  – all  das konnte dochkein Zufall sein?

„Aber zuerst müssen wir euch unsere Entdeckung zeigen“, forderte Micel.Da er längst die Gedanken der Freunde gelesen hatte, war er nicht mehr soscharf auf ihre Erklärungen.

Weil er sonst schwerlich Ruhe geben würde, folgte ihm die ganze Gruppe ineinen der kleineren Nebenräume. Stolz zeigte Micel auf einen langgestreck­

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ten Behälter, dessen obere Hälfte aus einem durchsichtigen Material bestand.Die untere Hälfte war mit rätselhaften Armaturen bedeckt.

Die Kinder erstarrten. In dem Behälter lag ein nackter, erwachsener Mannmit langem rotem Haar.

„Ist er ... tot?“ brachte Harpo heiser hervor.„Nein.“ Micel schüttelte den Kopf. „Ich spüre seine Gedanken. Er träumt

von   Dingen,   die   ich   nicht   verstehen   kann.   Er   schläft   seit   mehr   als   dreiJahren!“

Fremde an Bord

Der unbekannte schlafende Mann – an dessen Behälter  ein Metallschildmit dem Namen Daniel Locke angebracht war – hatte die Kinder so verwirrt,daß sie zwei Tage damit verbrachten, über ihn zu diskutieren.

Thunderclap schlug vor,   ihn aufzuwecken.  Fidel  war dagegen,  aber manüberstimmte   ihn.  Das Unterfangen  erwies  sich als  sinnlos,  weil  der  Mannsich nicht aufwecken ließ. Er war wie tot. Und doch atmete er, was man deut­lich sehen konnte. Er schien die lautesten Geräusche nicht wahrzunehmenund zuckte mit keiner Wimper; selbst dann nicht,  wenn Ollie sein marker­schütterndstes IndianergeheuI anstimmte.

Schließlich gab man es auf und konzentrierte sich auf die anderen Bereichevon Deck null. Die Kinder hofften doch noch irgendwo den verschwundenenTrompo   aufzustöbern,   aber   auch   diese   Vermutung   erwies   sich   als   Trug­schluß.

Brim, Harpo und einige andere verbrachten eine Menge Zeit unter der Ster­nenkuppel, wo sie in den Ledersesseln Platz nahmen und ihre Blicke über dieewige Weltraumnacht schweifen ließen. Die kleinen Lichter auf den Arma­turen und Konsolen flackerten periodisch auf, andere brannten ununterbro­chen.   Manchmal   fingen   die   Ohren   der   Kinder   das   feine   Klicken   voneingebauten Relais auf und dann begann eine Computerstimme monotoneZahlenkolonnen aufzusagen, mit denen niemand etwas anfangen konnte.

Es war gespenstisch und herrlich zugleich im ständigen Dämmerlicht derHauptzentrale.  Das fand auch Harpo, der lange Zeit  damit  verbrachte, mitThunderclap Genius vor den geheimnisvollen Schalttafeln zu sitzen, wobei erdarüber Spekulationen anstellte,  ob man es wagen könne,  den einen oderanderen Schaltknopf zu drücken.

Thunderclap war von dieser Idee allerdings weniger angetan, denn er wuß­te   genau,   daß   zur   Bedienung   eines   Raumschiffes   eine   Hundertschaft   vonWissenschaftlern und Ingenieuren nötig ist.

„Würde das Große Gehirn noch funktionieren“, gab er zu bedenken, „sähedie Sache anders aus.“ Dann könnte das Schiff  von einem halben DutzendLeuten bedient werden. Aber so ...“

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Harpo   war   begeistert   von   den   Kenntnissen   des   Freundes.   Thunderclapkonnte ihm leicht erklären, woher er dies alles wußte: Erstens hatte er vielüber Raumschiffe gelesen, und zweitens war einer seiner Vettern Ingenieurauf   einem zwischen  der   Erde  und  den Jupitermonden  verkehrenden  Lini­enraumschiff.   Dieser   Vetter   hatte   Thunderclap  viel  beigebracht,  wenn   ihnsein Urlaub mal nach Hamburg führte, wo Thunderclap gewohnt hatte.

„Daß du aus Hamburg kommst, wußte ich gar nicht“, sagte Harpo über­rascht. „Du hast doch einen englischen Vornamen ...“

Thunderclap wischte die Anspielung auf seinen Namen sichtlich verlegenbeiseite. „Das ist nur ein Spitzname“, meinte er so nebenbei.

Aus der Wohneinheit kamen die Geräusche sich eilig nähernder Schritte.Mit den Armen rudernd tauchte Karlie Müllerchen in der Zentrale auf, stießsich den Kopf an der Türfüllung, fluchte erbärmlich und fragte: „He, seid ihrda irgendwo?“

„Hier, Karlie“, gab Thunderclap zurück. Er brachte seinen Rollstuhl in einePosition, in der Karlie ihn und Harpo sehen konnte. „Was ist denn los?“

Karlie kam hastig näher. „Irgend jemand schleicht da rum“, flüsterte er ge­heimnisvoll.  „Ollie  und Fidel  haben was gesehen. Drüben am See.  Kommtihr?“

„Trompo?“ fragte Harpo zaghaft.„Nicht Trompo.“ Karlie schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Ahnung, wer

das ist. Vielleicht ein Spion von Big Tom oder so was.“Thunderclaps   Rollstuhl   setzte   sich   mit   mahlenden   Reifen   in   Bewegung.

Eigentlich war es recht unwahrscheinlich, daß sich Big Toms Leute nach hieroben   verirrt   hatten.   Die   letzten   Nachforschungen   mit   den   teilweise   nochfunktionierenden   Visiophonen   der   Hauptzentrale   hatten   ergeben,   daß   dieandere Gruppe sich vor zwei Tagen im erst halb ausgebauten Deck 84 aufge­halten hatte, wo es auch ein Vorratslager gab.

Der  Wechsel  vom Dämmer  der  Zentrale   in  die  strahlende  Helligkeit  derWohneinheit von Deck null blendete die Jungen zunächst. Aber ihre Augengewöhnten sich rasch an die Umgebung. Die anderen hatten sich in der Näheder Büros und Schlafräume versammelt und deuteten zum See hin. In demGebüsch kroch etwas herum. Aber was?

Harpo fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Das Mädchen! Eiligerklärte er Thunderclap um wen es sich handelte.  Offenbar war ihnen dasrotgekleidete   Mädchen   von   Deck   27   gefolgt   und   hatte   sich   während   derNacht durch die leere Zentrale in den großen Raum vor den Wohnkabinengeschlichen.

„Ist sie gefährlich?“ fragte Thunderclap.Harpo verneinte. „Wir hatten bisher keinen Grund, das anzunehmen. Ganz

im Gegenteil. Sie hat eher Angst vor uns, meint Karlie. Übrigens: Sie ist eineErwachsene.“

„Eine Erwachsene?“ zischte Fidel entgeistert. Er biß sich auf die Unterlippeund kniff die Augen zusammen.

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„Mach keinen Unsinn, Fidel“, warnte Thunderclap freundlich. „Sonst fahreich mit meinem Feuerstuhl dazwischen!“

Ollie sagte laut: „Das Fräulein ist krank, nicht, Harpo?“ Er hatte auch er­kannt, was Harpo vermutet hatte.

„Vielleicht. Wir wollten sie jedenfalls in Ruhe lassen. Dann kommt sie einesTages ganz von selbst zu uns.“

Thunderclap  winkte  die  anderen zurück.  Lonzo  murmelte:  „Sie  hat  einerote Jacke an. Oh! Lonzo liebt rote Jacken!“

„Hauptsächlich aber rote Krawatten und Sockenhalter.“ Micel lachte.Sie  kehrten  in die Zentrale zurück.  Natürlich war es hauptsächlich  reine

Neugier, die sie dazu getrieben hatte, hinter der Unbekannten herzuspähen.Immerhin war es für alle sehr sonderbar, daß ein so großes Mädchen sich vorihnen verbarg.  In der heimeligen Atmosphäre  der Zentrale wollten sie dasneue   Problem   eingehender   beraten.   Aber   dort   wartete   bereits   eine   neueÜberraschung auf die Gruppe. Fantasia deutete plötzlich aufgeregt auf einenBildschirm, den bis jetzt niemand hatte in Betrieb nehmen können.

„Was ist das?“ fragte Harpo.Das   Visiophon   war   aufgeflackert,   zeigte   anstelle   eines   Bildes   aber   eine

Leuchtschrift.MANNSCHLEUSE SÜDWEST III STOP

ÖFFNUNGSVERSUCH VON AUSSEN STOP„Nanu?“ fragte der kleine Oliver. „Was is’ denn ‘ne Mannsch­Schleuse?“Die Augen der Kinder saugten sich an den Buchstaben fest. Sie flackerten

mehrmals auf.Dann erschien eine neue Schrift:ÖFFNUNGSVERSUCH WIEDERHOLUNG STOP SICHERHEITSSYSTEM AN

KOMMANDANT   STOP   NACH   EINGEHENDER   ÜBERPRÜFUNG   DERCHECKLISTEN WURDE KEIN DEFEKT GEMELDET DER EINE AUSSENRE­PARATUR ERFORDERT STOP LOGISCHE SCHLUSSFOLGERUNG STOP ALLEMANN AN BORD STOP WEITERE SCHLUSSFOLGERUNG STOP UNBEFUG­TER VERSUCH DAS SCHIFF VON AUSSEN ZU BETRETEN STOP.

„Wißt ihr, was das zu bedeuten hat?“ fragte Micel nervös. Ollie fragte: „Wasist das denn, ‘ne Tschäcklist? Ich kenn’ nur Tschaschlick.“

Niemand antwortete. Alle hielten den Atem an, denn die Schrift verändertesich erneut.

ÖFFNUNGSVERSUCH   GELUNGEN   STOP   REGISTRATION   STOP   QOCDSTOP  QOCD  STOP ERWARTE ANWEISUNGEN  ERWARTE ANWEISUNGENERWARTE ANWEISUNGEN ...

„Jemand  hat  das  Schiff   betreten“,   brummte  Thunderclap.  „Das   ist   dochklar! Das Sicherheitssystem scheint also noch zu funktionieren, obwohl seineInformationen lückenhaft sind. Wäre es das nicht, hätte es zumindest wissenmüssen, daß die ursprüngliche Besatzung sich längst in alle Winde zerstreuthat.“

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„Es teilt uns mit, daß jemand unbefugt eingedrungen ist“, wiederholte Har­po. Und dann:  „Kann es sich nicht  irren? Ich meine, wenn es schon nichtweiß, daß wir allein hier sind ...“

„Was is’ ‘ne Mannsch­Schleuse denn?“ krähte der kleine Oliver ruhelos da­zwischen. „Nu erklär’ mir doch mal einer ...“

„Eine  Nebenschleuse“,  gab  Karlie   von  oben  herab   zurück.  „Für   Männerund Frauen. Nicht für Beiboote. Kapiert, Kleiner?“

„Wenn sie auch für Frauen ist“, bohrte der Kleine weiter, „warum heißt siedann nich’ Frau­Schleuse?“

Karlie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, obwohl ihm das Wortauch komisch vorkam.

Atemlose Spannung und Nervosität machte sich jetzt breit. Wer waren diegeheimnisvollen   Eindringlinge?   Ein   Rettungstrupp   von   der   Erde?   War   einBergungsschiff in der Nähe? Wollte man sie retten?

„Die Fremden ...“ flüsterte Brim Boriam plötzlich. Und dann schrie er laut:„Ja, klar! Die Fremden, die wir vor ein paar Tagen hinter der Kuppel gesehenhaben. Sie sind zurückgekommen und ...“

„Und?“ echote Micel heiser. „Was führen sie im Schilde? Wollen sie unserSchiff kapern? Oder uns helfen? Sie kennen uns doch gar nicht ...“

Diese Worte deprimierten die Gruppe ein wenig. Wer sollte ihnen helfenwollen,   wo   sie   sich   in   einem   völlig   unbekannten   Sektor   der   Milchstraßebefanden?  Wie mochten die Eindringlinge aussehen,  die  jetzt   irgendwo daunten   in   den   Korridoren   herumkrochen?   Welche   Absichten   mochten   siehaben?

Harpo   erinnerte   sich   an   die   haarsträubenden   Geschichten   von   blut­dürstigen Piraten und Freibeutern, die in der Vergangenheit die sieben Welt­meere der Erde unsicher gemacht, jedes vorbeiziehende Schiff ausgeplündertund seine Besatzung als Sklaven nach Afrika und Amerika verkauft hatten.

„Du bist verrückt“, lachte Thunderclap, als Harpo den anderen seine Ge­danken   vortrug,   aber   es   klang   nicht   fröhlich,   eher   ein   wenig   ängstlich.Schweigend nahmen die Kinder auf den Ledersesseln Platz. Unentschlossenstarrten sie auf die verschiedenfarbigen Blinklichter.

Der Bildschirm hatte mittlerweile die Schrift gelöscht. Nun prangte auf ihmein roter Blitz, und darunter stand in großen Buchstaben nur ein Wort:

A L A R M !„Wir können nichts tun“, murmelte Karlie in die Stille hinein. „Oder doch?“„Und   ob   wir   was   tun   können!“   erwiderte   Harpo   entschlossen.   Federnd

sprang er auf. „Zumindest können wir herausfinden, was sie vorhaben undwieviele es sind! Wenn sie böse Absichten haben, müßte es möglich sein, sieper Fernsteuerung irgendwo einzuschließen.“

Rasch  bildeten   sie   einen   Stoßtrupp,  der  aus   Micel,  Harpo  und   Fantasiabestand. Thunderclap und die anderen blieben in der Zentrale zurück undaktivierten alle Bildschirme, von denen sie mittlerweile wußten, daß sie dazudienten, Einblicke in die verschiedenen Decks zu gewähren.

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Fantasia, die ein Sprechfunkgerät gefunden hatte, blieb mit der Zentrale inständiger Verbindung. Fidel  hatte hinter der Kontrollarmatur Platz genom­men, von der aus man einzelne Decks abriegeln konnte.

„Fertig?“ fragte Fantasia über Funk.Thunderclap   sagte:   „Ja“   und   setzte   einen   Funkhelm   auf.   Da   er   von

Elektronik einiges verstand, hatte er schnell herausgefunden, daß man sichmit Hilfe dieser Helme drahtlos verständigen konnte. Er schob das winzigeMikrofon,  das an einer  beweglichen Klammer am Helmrand befestigt  war,vor den Mund. „Fertig!“

Harpo, Micel und Fantasia verließen die Sternenkuppel und eilten zum An­tigravschacht.   Aus   Fantasias   Handfunkgerät   drang   die   aufgeregte   StimmeThunderclaps, der ihnen jede Änderung übermittelte, die auf den von Fidelgesteuerten Visiophonen stattfand.

„Bisher  niemand im Bild  ...  Umschalten ...  Deck 38 ...   leer  ...  Deck 39 ...leer ... jetzt Deck 42 ... leer ... Deck 42 ... Dunkelheit ... kann nix erkennen ...Umschalten ...“

Harpo und seine Begleiter sahen in die Tiefe. Wenn die Eindringlinge durcheine Nebenschleuse an Bord gekommen waren, mußten sie diesen Schachtbenutzen.   Aber   der  Antigrav   war   tief,   sehr   tief.  Die   rote   Beleuchtung,   dieverhinderte, daß einem schlecht wurde, wenn die Wände neben einem da­hinflogen, trug nicht dazu bei, besonders viel zu erkennen.

„Nichts  zu   sehen“,  meldete  Fantasia   flüsternd.  Micel   konzentrierte  sich.Zweifellos versuchte er die Gedanken der Fremden aufzufangen.

„Na?“ fragte Harpo ihn ungeduldig.„Nichts“, gab Micel enttäuscht bekannt. „Sie sind noch zu weit weg. Der

Schacht ist ja kilometertief.“Ein leises, kaum hörbares Summen ertönte. Ein warmer Luftzug strich über

die Gesichter der Beobachter.„Achtung!“ zischte Micel.„Der Antigrav ist jetzt in Betrieb“, gab Harpo schaudernd weiter. „Gib das

weiter, Fantasia!“Thunderclap   erwiderte:   „Verstanden!“   und   gab   Fidel   die   Anweisung,

besonders aufmerksam zu sein. Sie mußten unbedingt wissen, auf welchesDeck die Fremden sich zuerst begaben.

Auch die Kinder – einschließlich Lonzo – saßen fiebernd hinter den Gerä­ten. Mehr als zwei Dutzend Visiophone waren in Betrieb und übertrugen dieunterschiedlichsten Bilder von den einzelnen Decks und den verwaisten Ab­teilungen.

„Kannst du den Antigravschacht nicht rein kriegen?“ forschte Anca nervös.„Nix zu machen“, tönte es aus Fidels Ecke. „Da ist keine Kamera!“Ganz unten im Schacht schien sich nun etwas zu bewegen. Harpo, Fantasia

und   Micel   hielten   den   Atem   an.   Es   sah   so   aus,   als   beabsichtigten   dieEindringlinge   nicht,   Deck   für   Deck   abzuklappern.   Sie   schienen   direkt   zurHauptzentrale zu wollen!

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„Ja, wie kommt das bloß?“ fragte der kleine Oliver. „Woher wissen die, daßwir hier oben sind?“

„Potz  Galaxis!“  knarrte  Lonzo,  der  die  Meldung  ebenfalls  mitbekommenhatte. „Dann gehen ja unsere ganzen feinen Pläne den Bach runter!“

„Pschschttttt!“ machte Anca beschwichtigend.Harpo und die anderen starrten angespannt in die Röhre. Langsam wurde

ein Schatten sichtbar. Dann noch einer. Und ein winziger Punkt.„Zurück“, ordnete Thunderclap an. „Es hat keinen Zweck. Die können wir

nicht reinlegen. Wir können uns nur noch in der Zentrale verrammeln unddarauf hoffen, daß sie den Türschließer nicht finden.“

Rasch zogen sich Harpo und seine Begleiter zurück. Lautlos schloß sich dasSchott der Hauptzentrale hinter ihnen. Mit klopfenden Herzen warteten siein der Zentrale auf das, was nun geschah. Es dauerte nur fünf Minuten, dannmerkten sie, daß von dem geschlossenen Schott ein warmer Luftstrom auf sieeindrang.

Die Tür war offen!Und zwei dunkle Schatten kamen langsam auf sie zu ...

Die Weltraumärzte

„T­t­trrrompppooo!“ schrie Brim auf. Etwas Kleines wetzte über den Bodender Zentrale und sprang auf den Schoß des Jungen.

Die beiden Schatten verharrten. Sie standen immer noch in einem Bereich,der ein genaues Betrachten unmöglich machte.  Aber ihre Umrisse wirktenmenschlich.

„Keine Angst“, piepste Trompo fröhlich. „Rettung naht! Ich bin zurückge­kommen und habe Leute mitgebracht, die uns helfen werden!“

Die vertraute Stimme des kleinen Wesens brachte es fertig, daß die Kinderihre wie hypnotisiert auf die Neuankömmlinge gerichteten Blicke abwandtenund wild durcheinanderredeten.

„Wer sind die Leute, Trompo?“„Woher kommen sie?“„Von der Erde?“„Oder von dem anderen Raumschiff etwa?“„Was ... wie ... warum ... weshalb?“ So ging es eine halbe Minute lang, in der

sich die Fremden nicht bewegten.Thunderclap setzte seinen Rollstuhl in Bewegung und fuhr auf die Männer

zu. Erfreut streckte er ihnen eine Hand entgegen. Mit klopfendem Herzen be­gann er: „Ich freue mich, daß Sie gekommen sind – Sir! Und Sie auch, Sir! Wirhatten Sie in unserer Angst schon für Raumpiraten gehalten.“

Die beiden Fremden lachten leise, wirkten dadurch aber keineswegs un­sympathisch. Es war ein freundliches,  offenes Lachen. Langsam kamen sie

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aus der Dunkelheit und drangen in die Zone ein, die dem Sternenlicht un­mittelbar ausgesetzt war.

„Erschreckt nicht“, lachte Trompo. „Aber es sind keine Menschen von derErde.“

Tatsächlich! Vor ihnen standen in silbernen, enganliegenden Anzügen zweischlanke Gestalten, die kaum größer waren als Harpo. Sie besaßen zwei Armeund zwei Beine, zwei Augen, eine Nase, einen Mund und zwei Ohren – unddoch waren sie irgendwie anders! Das Licht der Sterne ließ ihre Gesichtsfarbebläulich erscheinen. Ihre Köpfe waren klein und hatten lediglich durch diehochaufragenden Stehkragen im Halbdunkel so groß gewirkt. Die Fremdenwaren völlig kahlköpfig; ihre Schädel glichen in der Form großen Birnen, de­ren schlanke Seite nach unten gerichtet war. Sie hatten winzigkleine, spitzeOhren und kugelrunde Augen. Als sie lächelten, konnten die Kinder ihr Gebißsehen:   Es   erschien   ihnen   wie   ein   einziger   fugenloser   Zahn,   der   sich   voneinem Mundwinkel zum anderen zog.

„Mannomann!“ keuchte Karlie verblüfft.„Iss ja ‘n dolles Ding!“ stieß Harpo hervor.„Ich schnapp’ sofort über!“ verkündete Ollie schniefend, aber mit großer

Überzeugungskraft.   Er   stiefelte   langsam   an   die   abwartend   verharrendenFremden heran, begaffte sie von allen Seiten und meinte dann: „Könnt ihrmich verstehen, Leute? Ich bin der Ollie – der Bräutigam vom Pummelchen!“

Alles begann wie auf Kommando zu lachen. Das Eis war gebrochen, dennselbst   die   beiden   blauhäutigen   Fremden,   die   kaum   ein   Wort   von   demverstanden haben konnten, was der Kleine ihnen erklärt hatte, begannen sichamüsiert auf die Schenkel zu klopfen. Dann gingen sie reihum, drückten dieheißen und teilweise auch schwitzenden Hände der Kinder und nahmen zwi­schen ihnen Platz, wobei Trompo von Brims Schoß zum Arm des ersten An­kömmlings   wechselte   und   mit   einer   Erklärung   begann,   die   manchesverständlicher machte.

Wie alle Kinder wußten, war Trompo weder ein Tier der Erde, noch ein Ro­boter.  Er  war  überhaupt  kein  Tier,  sondern eine richtige  Person.  Sein Ge­burtsort lag auf einem Planeten mit so einem unaussprechlichen Namen, daßdie Kinder ihn beim besten Willen nicht wiederholen konnten, ohne sich dieZunge abzubrechen. Trompo war dort aufgewachsen. Eines Tages landete einfremdes   Raumschiff.  Die   Wesen   an   Bord   des   Schiffes   erschienen   ihm   zu­nächst rätselhaft und seltsam. Sie gehörten zu einem Volk, das in der ganzenGalaxis für seine medizinischen Wundertaten berühmt war. Man nannte siedie Weltraumärzte.

Die Mediziner wollten auf Trompos Welt nach Kräutern und Heilpflanzensuchen, aus denen man Medizin mixen konnte, denn sie vertrauten den na­türlich   gewachsenen   Abwehrstoffen   mehr   als   den   synthetischen.   Aber   siehatten   wenig   Glück,   weil   der   Planet   nur   über   ein   karges   Pflanzenlebenverfügte.   Dennoch   gelang   den   Medizinern   eine   wichtige   Entdeckung:   Siefanden heraus, daß Trompos Artgenossen die Fähigkeit besaßen, mit ihneneine geistige Verbindung herzustellen, die man dazu verwenden konnte, eine

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neuartige Diagnose und Therapie zu entwickeln. Die Trompos fungierten inVerbindung mit den Weltraumärzten als Gesundheitsspione, die Krankheitenbereits   im   Frühstadium   aufspürten   und   an   die   Ärzte   meldeten.   VieleTrompos   wechselten   daraufhin   von   ihrer   Welt   auf   die   Medizinschiffe   derWeltraumärzte über, um dort als Helfer zu arbeiten.

Trompo   selbst   hatte   lange   Jahre   mit   einem   Arzt   ein   Team   gebildet.   Bisdieser Arzt starb – mitten im Raum. Da sie allein auf einem kleinen Schiff leb­ten, ließ Trompo sich wochenlang dahintreiben und wartete darauf, daß ihmder lebensnotwendige Sauerstoff ausging.

Schließlich   kam   doch   noch   Rettung.   Ein   irdischer   Kurierflieger,   der   indiesem Sektor des Weltraums zu tun hatte, spürte das treibende Arztschiffauf. Er nahm Trompo mit zur Erde. Später gelangte Trompo bei einem Ku­rierflug an Bord des Raumschiffes der Kinder und verpaßte den Abflug seinesBeschützers.   Nach   einigem   Überlegen   entschied   er   sich   dafür,   bei   denKindern zu bleiben und nicht zur Erde zurückzukehren.

„Und weil wir uns gegenseitig auf einigen tausend Kilometern Entfernungaufspüren können“, sagte Trompo und deutete auf seine still zuhörenden Be­gleiter, „wußte ich plötzlich, daß sie in der Nähe waren und daß ich von derZentrale aus eine Verbindung zu ihnen herstellen konnte.“

„Deshalb also hast du uns hier hinaufgescheucht“, sagte Harpo und nickte.„Wir dachten schon, du hättest Thunderclap und die anderen ausfindig ge­macht.“

„Davon wußte ich nichts“,  piepste Trompo entschuldigend. „Ich sah nurdas   sich   entfernende   Schiff   der   Ärzte   und   bin   bald   übergeschnappt.   Ichwollte etwas tun. Nur, was? Zum Glück hatte das Schiff zwei Ärzte mit einemkleinen Beiboot ausgesetzt, die sich sofort an die Außenhaut unseres Raum­schiffes hefteten und eine Einstiegsschleuse suchten.“

„Die   sie   dann   auch   gefunden   haben“,   beendete   Thunderclap.   Ihm   undallen anderen fielen Steine vom Herzen,  die einige Zentner wogen.  Immerdeutlicher   wurde   ihnen   bewußt,   welches   Glück   sie   hatten.   Wäre   der   Ku­rierflieger nicht gewesen, hätte Trompo niemals an Bord gelangen können.Und ohne Trompo ...

„Wie heißen unsere Herren Doktoren denn eigentlich?“ wollte nun Ancawissen,  als die beiden Fremden ein geflüstertes Gespräch miteinander be­gannen.

„Oh,   der   große   heißt   Rcxyklj,   der   kleine   Fghrstl“,   erläuterte   Trompo   la­chend. „Da ihr das aber kaum behalten könnt, schlage ich vor, sie Robbie undFreddie zu taufen. Einverstanden?“

Robbie und Freddie, die offensichtlich verstanden hatten, nickten freund­lich.

Micel sagte: „Ich kann ihre Gedanken lesen. Sie sprechen über Thunder­clap und Lucky und ob sie ihnen helfen können.“

Thunderclap   horchte   auf.   Er   hatte   eigentlich   längst   alle   Hoffnung   be­graben, als die Ärzte auf der Erde sagten, daß er niemals wieder würde laufenkönnen. Micels Worte wirkten auf ihn wie ein Bombeneinschlag.

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„Meinst du ...“, begann er aufgeregt.Aber Micel hatte schon wieder den Gesichtsausdruck angenommen, den er

immer   hatte,   wenn   er   las.   Lucky,   der   nichts   so   richtig   verstanden   hatte,quetschte sich zwischen die beiden Fremden und bot ihnen Kaugummi an.

Die   Weltraumärzte  bedankten   sich,   was   Lucky   noch   mehr   freute.   Dannmeinte Trompo: „Sie wissen noch nicht, ob sie da was machen können, abersie schließen es nicht aus. Sie werden sich erst mal die defekten Geräte aufdem Schiff ansehen, um herauszufinden, was das Große Gehirn mattgesetzthat. Wenn das Medizinerschiff wiederkommt – etwa in einer Woche, da es zueinem Noteinsatz gerufen wurde – können sie mit der Reparatur anfangen.“

Damit war die inoffizielle Versammlung beendet. Unter der Anleitung vonThunderclap, Micel und Trompo nahmen die Weltraumärzte ihre Arbeit auf.Diejenigen,   die   im   Moment   nichts   zu   tun   hatten,   verschwanden   in   ihrenWohneinheiten. Karlie stürzte sich zusammen mit Anca auf die Kochgeräte,um ein schmackhaftes Essen zuzubereiten.

„Ob die Doktoren auch Kartoffelpuffer mögen?“ fragte er grinsend.Harpo war einem Schlaganfall nahe, hielt sich die Nase zu und rannte zum

See  hinunter.   Hier  hatten   sich   bereits  der   kleine   Oliver,   Fidel,   Lonzo  undBrim Boriam versammelt.

Unwillkürlich fiel Harpo das fremde Mädchen wieder ein. Wo steckte es?Hielt es sich immer noch zwischen den Sträuchern am Seeufer verborgen? Zuentdecken war allerdings nichts. Die Hände in den Hosentaschen versteckt,rannte er glücklich pfeifend durch die Gegend. Dann fiel ihm ein, daß es ander Zeit war, die Abenteuer ihrer Gruppe niederzuschreiben. Wenn sie einesTages zur Erde zurückkehrten, würde es allerhand Wirbel  geben. Vielleichtwar es ganz wichtig, daß man sich die möglichen Fragen der Zeitungs­ undFernsehreporter schon mal vorher überlegte und einige dazu passende Ant­worten niederschrieb.

Noch immer fröhlich vor sich hin pfeifend suchte Harpo seine Unterkunftauf,  eine kleine Kabine, in der es neben einem Bücherregal einen Schreib­tisch   mit   einem   Drehstuhl,   einen   Wandschrank,   eine   bequeme  Liege   undeinige Fotos an den Wänden gab. Auf den Bildern waren Landschaften zu se­hen, die es auf der heutigen Erde gar nicht mehr gab: grüne Wiesen, schwarz­weißgefleckte Kühe, die verschlafen in das Objektiv des Fotografen glotzten,darüber ein strahlend blauer Himmel mit milchigweißen Kumuluswölkchen.

Harpo setzte sich und zog Papier und Bleistift aus einer Schublade. Eineganze Weile kaute er an dem Bleistiftende herum, weil  ihm nichts Rechteseinfallen  wollte.   Ein  Blick   zur   Seite   zeigte   ihm,   daß   die   Kleiderschranktürnicht richtig geschlossen war. Ein Hemdsärmel lugte durch den Türspalt.

Da Harpo keine Unordnung leiden konnte, stand er auf und öffnete denSchrank, um das Hemd richtig aufzuhängen.

Er blieb wie vom Blitz getroffen stehen.Vor   ihm   –   im  Schrank  –  stand  das   rotgekleidete  Mädchen.  Große  blaue

Augen sahen Harpo ängstlich an. Sie hatte beide Hände abwehrend erhoben,als erwarte sie, daß er auf sie einschlagen würde.

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„Nein“, sagte sie. „Nicht.“Harpo machte einen Schritt zurück, ließ fahrig seine Arme baumeln. Was

hatte sie denn? Warum hatte sie Angst?„Ich tu’ dir doch nichts“, sagte er beschwichtigend. Er mußte seine eigene

Nervosität   verstecken.   „Komm   doch   raus.   Ich   heiße   Harpo   Trumpff.   Unddu?“

Er machte eine einladende Bewegung und ging rückwärts zur Liege zurück,auf deren Fußende er Platz nahm.

Das Mädchen sah ihn wohl eine Minute lang schweigend an, ohne sich zubewegen. Ihm wurde ganz heiß. Wie sollte er sich verhalten? Er klopfte einigeMale sanft mit der rechten Hand auf die Liege und sagte: „Setz dich doch. Dubrauchst   nicht   im   Schrank   zu   bleiben.“   Innerlich   dachte   er:   Mein   Gott,warum kommt denn niemand und hilft mir?

Das Mädchen  machte  einen zögernden  Schritt  aus dem Schrank herausund sagte: „Ich ... habe ... Hunger.“

„Du kannst was von mir haben“, sagte Harpo schnell und wollte zum in dieWand   eingebauten   Vorratsfach   gehen.   Sofort   machte   das   Mädchen   einenRückzieher.

Ich darf mich nicht so schnell bewegen, dachte Harpo. Sonst hat sie Angst.Langsam legte er ein Stück Brot und etwas Käse auf die Schreibtischplatte.

Das   Mädchen   näherte   sich   zögernd   und   setzte   sich   vorsichtig   auf   denDrehstuhl.  Hungrig  begann sie zu essen.  Als  sie   fertig  war,  drehte sie  sichwieder um und sah Harpo dankbar an.

„Ich heiße Babs“, sagte sie schüchtern – und brachte sogar ein kleines Lä­cheln zustande.

Harpo musterte sie ungeniert. Sie hatte ein hübsches Gesicht, stellte er fest.Und sie war wirklich mindestens achtzehn Jahre alt.  Karlie hatte also dochrecht behalten.

Er beschloß, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Schließlich mußte er sie nä­her   kennenlernen.   „Wo   kommst   du   her,   Babs?   Warum   hast   du   Angst   voruns?“

Sie lächelte freundlich, antwortete aber nicht. Vielleicht hatte sie ihn nichtverstanden?   Babs   stand   auf,   betrachtete   die   Fotos   an   den   Wänden,   fuhrspielerisch mit dem Zeigefinger über die Glasscheiben und sagte: „Schön.“

Harpo   begriff.   Babs  verstand   ihn  wirklich   nicht.  Sie   war  so  ähnlich   wieLucky. Sie konnte ihn nicht verstehen, weil mit ihrem Gehirn etwas nicht inOrdnung war. Ob die Weltraumärzte ihr helfen konnten?

Zunächst mußte er ihr die Scheu vor der Gruppe nehmen. Und die anderendavon in Kenntnis setzen, daß ihnen von Babs keine Gefahr drohte.

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Die Erde sieht uns nicht wieder

Vier   Tage   später.   Die   Weltraumärzte   Robbie   und   Freddie   hatten   nachharter Arbeit die Hauptfehlerquellen des Großen Gehirns gefunden und be­seitigt.   Als   erfahrene   Raumfahrer   besaßen   sie   neben   ihren   medizinischenKenntnissen ein umfangreiches technisches Wissen. Denn nicht zum erstenMal machten sie die Erfahrung, daß manche ihrer Patienten nicht allein mitgesundheitlichen Problemen zu ihnen kamen. Wie sie herausfanden, war derGrund für das Versagen des Gehirns eine durchgeschmorte Leitung, die vonder ursprünglichen Besatzung leicht hätte repariert  werden können. Wiesodie Besatzung derart in Panik geraten war und das Schiff aufgegeben hatte,blieb weiterhin ein Rätsel.

Auf   den   einzelnen   Decks   begannen   die   Sonnen   wieder   aufzuleuchten.Knarrend setzten sich die Pumpsysteme in Bewegung und beförderten dasWasser in die dafür vorgesehenen Bachbette. Gurgelnd schossen die Flutenaus den Rohrleitungen. Auf den Decks mit ausgefallener Heizung wurde esendlich wieder warm.

Thunderclap saß in der Hauptzentrale. Er hatte den Rollstuhl mit dem Ses­sel des Kommandanten vertauscht. Der halbkugelförmige Funkhelm gab ihmim Zwielicht des Raumes das Aussehen eines erwachsenen Mannes. An denübrigen Kontrollen: Micel vor den Beobachtungsgeräten, Brim an der Meteo­ritenkontrolle und Karlie an der Funkleitstelle, wo er dafür sorgte, daß alleHelmträger miteinander sprechen konnten, wo sie sich auch befanden.

Fantasia hatte mit Freddie und Robbie einen Posten als Astrogator über­nommen und bestimmte mit den komplizierten Geräten die genaue Positiondes Schiffes. Trompo fungierte wieder als Dolmetscher.

Thunderclap, der die Baupläne des Schiffes auf den Knien liegen hatte, gabMicel   seine   Anweisungen.   Es   galt   nun,   die   noch   an   Bord   befindlichenanderen Kinder aufzuspüren und mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

„Deck 12!“Nacheinander flammten die Bildschirme auf. Tiere hoppelten über Kunst­

landschaften. Sanfte Winde wehten. Die Klimaanlagen funktionierten eben­falls wieder. Auf diesem Deck lief alles zur besten Zufriedenheit.

„Deck 13!“Micel bediente seine Kontrollen wie ein erfahrener Ingenieur. Robbie und

Freddie hatten allen in einem Hypnoselehrgang beigebracht, was man wissenmußte, um ein Schiff von dieser Größe wenigstens einigermaßen in den Griffzu   bekommen.   Automatisch   spulte   sich   dieses   Wissen   jetzt   ab,   als   es   er­forderlich  wurde.  Gemeinsam  inspizierten die  Kinder  über die  Visiophonedie einzelnen Decks.

Erst   als   die   Kameras   die   Basis   der   Grünen   auf   Deck   46   zeigten,   sahThunderclap zwei Mädchen und drei Jungen, die dort in Decken gehüllt aufdem   Boden   saßen.   Sie   machten   einen   müden,   hungrigen   Eindruck.   KeinWunder.  Auch auf Deck 46 war die  Heizung ausgefallen.  Wenn die  Kinder

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sich nicht getraut hatten, den Antigravlift zu benutzen, war ihnen keine ande­re Wahl geblieben, als dort zurückzubleiben.

Thunderclap   bediente   einige   Knöpfe.   Seine   Stimme   dröhnte   verstärktdurch   die   verborgenen   Lautsprecher.   Die   eingemummten   Kinder   hobenerstaunt die Köpfe.

„Hier spricht  Thunderclap Genius von Deck 27“ sagte Thunderclap.  „Ihrbraucht keine Angst zu haben. Wir sind in der Zentrale und bringen das Schiffwieder in Gang. Habt ihr noch etwas zu essen?“

Eines der Mädchen schüttelte den Kopf. Die anderen schienen Thunder­claps Worte gar nicht  verstanden zu haben.  Sie waren bereits so schwach,daß sie nicht mehr aufnahmefähig für Botschaften schienen.

„Bleibt wo ihr seid“, sagte Thunderclap. „Wir schicken ein Rettungskom­mando.“

„Ich gehe schon“, rief Brim. „Anca, kommst du mit?“ Sie nickte. Gemein­sam eilten sie zum Lift.

Die nächsten Kinder entdeckten sie auf Deck 112. Es war eine Gruppe vonzwölf Personen, unter denen sich auch Big Tom befand. Offensichtlich warenbereits   einige   seiner   Leute   abgesprungen   und   hatten   sich   selbständig   ge­macht.   Thunderclap   konnte   sich   einen   kleinen   Triumph  nicht   verkneifen,wenngleich er auch mittlerweile zu der Ansicht gelangt war, daß der Anführerdieser Gruppe für sein aggressives Verhalten wohl nichts konnte.

„He, Tom!“ rief er laut.Big Toms Kopf fuhr herum. Auch seine Leute spähten angestrengt um sich,

ohne jedoch den unbekannten Sprecher zu entdecken.Thunderclap lachte. „Du kannst mich nicht sehen Tom. Erinnerst du dich

an mich? Ich bin Thunderclap Genius, der Junge mit dem Rollstuhl von Deck27.“

Big Tom zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Stoß in den Rückenversetzt.

„Wo bist du?“ fragte er dann mit unsicher flackerndem Blick, wobei er sichlangsam im Kreise drehte. „Wo hast du dich versteckt?“

„Wir sind in der Zentrale“, informierte ihn Thunderclap kurz. „Deck null.Ganz oben. Wie geht es euch? Habt ihr genug zu futtern?“

„Allemal“,  erwiderte Tom. Irgendwie kam ihm die ganze Sache nicht  ge­heuer vor, das merkte man. Aber vor seinen Leuten wollte er sich natürlichkeine Blöße geben. „Willst du was?“

Thunderclap verneinte. Wenn es Big Tom gut ging, konnten sie sich ersteinmal um hilfsbedürftigere Kinder kümmern. Sie fanden noch sieben Kinderin Deck 129, die offensichtlich erst jetzt festgestellt hatten, daß die dortigenGrünen   ausgefallen   waren   und   sich   kopfschüttelnd   über   deren   lebloseGestalten beugten. Auch sie wurden in aller Schnelle darüber informiert, wasin den letzten Tagen geschehen war.

Auf Deck 137 schließlich stießen die Kameras auf die restlichen acht Leuteaus Toms Gruppe, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ihr Deck un­terschied sich stark von allen anderen, die sie von der Zentrale aus gesehen

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hatten: Es war voller gläserner Behälter, in denen Fische schwammen, Terra­rien,   in denen Spinnen wimmelten und Schlangen umherkrochen.  Und esgab eine Menge von kleinen Käfigen und Zwingern,  in denen sich Hunde,Katzen und Mäuse tummelten.

„Aha!“ sagte Thunderclap. „Da haben wir den Platz, von dem die richtigenTiere abgehauen sind.“

Die Kamera zeigte mehrere zerbrochene Glasbehälter, in denen sich keinLeben   regte.   Aber  die   Temperaturanzeige  gab   an,   daß   es   hier   unten   sehrwarm war. Wahrscheinlich waren die acht Kinder deshalb nach hier geflüch­tet. Und sie versorgten die Tiere mit Futter wie man später herausfand.

Robbie, der Weltraumarzt, näherte sich Thunderclap und reichte ihm seineBerechnungen. Micel, der sich von seinem Sessel erhob, machte ein betrof­fenes Gesicht, als wisse er schon, was Robbie Thunderclap und den anderenmitteilen wollte.

Trompo hüpfte mit einem Satz auf Thunderclaps Schoß und machte es sichinmitten  der  Schiffspläne  gemütlich.  Harpo,  der   in der  Mitte   der  Zentralegestanden und fasziniert die leuchtenden Sterne bewundert hatte, bemühtesich, über Robbies Schulter zu spähen.

Robbie sagte etwas, und Trompo übersetzte.„Das Große Gehirn funktioniert   in fast allen Einheiten“,  erklärte Robbie.

„Bis  jetzt  sind noch außer Betrieb: die  Grünen,  die Abteilung der automa­tischen Baumaschinen – ihr wißt schon, in den Decks, die noch nicht ganzfertiggestellt sind – und der Schiffsantrieb.“

„Und was bedeutet das?“ fragte Harpo atemlos.Thunderclap klopfte auf die Lehne seines Sessels. „Kruzifix! Ich hab’ doch

so was geahnt.“ Er sah sich in der Runde um und erklärte dann: „Ohne An­trieb keine Kurskorrektur, ohne Kurskorrektur keine Drehung, ohne Drehungkein Rückflug, ohne Rückflug keine Erde!“

Peng! Das saß.Allen wurde nun schlagartig klar, daß sie die Erde so schnell nicht wieder­

sehen würden. Sie würden immer weiter ins All hinaustreiben, immer weiter,Jahre und Jahrzehnte, bis in die Unendlichkeit – oder ...

„Oder?“ fragte Karlie.„...  oder  bis  wir   in  das Schwerefeld einer  Sonne geraten und in  sie hin­

einfallen“, ergänzte Micel, der bereits Thunderclaps Antwort kannte.Harpo beschwichtigte: „Nun mal langsam, Leute. Genausogut können wir

in das Schwerefeld eines Planeten gezogen werden. Und dann können wir ineine Kreisbahn gehen und landen ...“

„Landen? Mit diesem Kasten? Du spinnst wohl!“ rief Karlie.„Aber mit einem Rettungsboot!“„Und wenn der Planet unbewohnbar ist?“ forschte Thunderclap.„Und wenn, und wenn ... Das wird er schon nicht sein“,  versetzte Harpo

und gab sich optimistischer, als er eigentlich war. Bittend fragte er Robbie:„Könnt ihr gar nichts machen? Ich meine, den Antrieb reparieren?“

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Trompo   dolmetschte:   „Leider   nicht.   Die   verschmorte   Leitung   hat   einenBrand   entfacht,   der   wichtige   Teile   zerstörte,   auch   jene   Zellen   desElektronengehirns, mit denen die Antriebselemente kontrolliert wurden. Dawir selbst einen ganz anderen Antrieb verwenden, verfügen wir auch nichtüber passende Ersatzteile. Das Schiff wird weiter und weiter fliegen, bis es ir­gendwo abgestoppt werden kann. Aber – das Weltall ist riesig und das Schiffverhältnismäßig   klein.  Die  Möglichkeit,  daß es  auf   eine Sonne  oder  einenPlaneten trifft, ist eine Milliarde zu eins.“

Harpo stellte gar nicht erst die Frage, ob die Ärzte nicht Hilfe von der Erdeherbeiholen konnten. Kein Mensch von der Erde war bisher so weit ins Allvorgedrungen   wie   dieses   Raumschiff   mit   den   Kindern   an   Bord.   Niemandwürde ihnen helfen können.

„Können wir nicht mit euch kommen?“ fragte Micel.„Könnt   ihr   keine   Arztlehrlinge   gebrauchen?“   meinte   der   kleine   Oliver.

„Dann könnte  ich mir  meine Allergien vom Halse schaffen.  Das  wäre  un­heimlich günstig für die Krankenkassen.“

Robbie schüttelte traurig den Kopf. „Wir würden euch wirklich gern mit­nehmen“,   ließ  er  Trompo  übersetzen.  „Aber   ihr   könnt   auf  unserem  Schiffnicht   leben. Wir  haben eine  andere Atemluft  als   ihr.  Ihr  würdet  ersticken.Oder wollt ihr euer ganzes Leben in einem Raumanzug verbringen, mit einerSauerstoffflasche auf dem Rücken?“

„Und wieso könnt ihr dann in unserer Luft leben?“ bohrte Harpo weiter.Das war ihm nun doch zu kompliziert.

„Wir müssen auf vielen verschiedenen Welten arbeiten“, erwiderte Robbie.„Unsere Lungen sind durch operative Eingriffe in den unterschiedlichsten At­mosphären funktionsfähig. Diese Operationen werden im Kindesalter vorge­nommen. Ihr seid dafür bereits zu alt, fürchte ich.“

Es dauerte weitere drei Tage, ehe die Kinder sich wieder mit dem Themaihrer Zukunft auseinandersetzten. Inzwischen waren sie in ihrer Wohneinheitauf Deck null nicht mehr allein: Bis auf die Mannschaft von Big Tom warenalle oben, und so wimmelte es in der Zentrale und den umliegenden Räumenvon Kindern. Auch Lori Powitz war dabei, ein kleines Mädchen, das auf Deck29   seinen   Rucksack   verloren  hatte.   Die   Kleine   war   nett,   nur   hatte   sie   diekomische   Angewohnheit,   sich   jedesmal   dann   mit   dem   Rücken   zu   denanderen zu setzen, wenn sie sich länger als drei Minuten nicht ausreichendbeachtet fühlte. Harpo und die anderen konnten das nicht verstehen, dennLori war ihnen allen sehr sympathisch.

Dann tauchte das Schiff  der  Weltraumärzte  wieder aus dem Dunkel  derkosmischen Nacht auf. Es blinkte mehrmals. Der Kommandant nahm Funk­verbindung mit dem Raumschiff der Kinder und Freddie und Robbie auf.

Thunderclap hielt dies für den geeigneten Augenblick, eine Entscheidungherbeizuführen. Zwei Kuriere wurden zu Big Tom hinuntergeschickt, damitauch diese Gruppe informiert wurde.

Big Tom kam. Ehrfürchtig betrat er an der Spitze seiner Freunde die Ster­nenkuppel. Er hatte überhaupt kein großes Mundwerk mehr, sondern erschi­

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en beinahe schüchtern und ängstlich. Die Anwesenden setzten sich auf denBoden, weil es nicht genug Sitzgelegenheiten für alle gab.

„Ich eröffne die  Konferenz“,  quäkte  Lonzo,  der sich  diesmal  unbehelligtden Weg durch die Schar der einstigen Widersacher bahnte. Er war immernoch der einzige Roboter, der funktionierte.

„Hauptverhandlungspunkt ist: Was bei allen Planeten der Milchstraße tunwir jetzt?“

Seine lustige Formulierung löste die Stimmung etwas. Hier und da brach­ten Vereinzelte  ein  Lachen  zustande.  Man hatte   jeden darüber   informiert,daß eine Rückkehr zur Erde gänzlich außerhalb der Möglichkeiten lag. Lonzoverknotete   seine   Tentakel   vor   der   Kugelbrust   und   schmetterte:   „Verhand­lungsleiter: Pitter Sausewind ... äh ... ich meine, Thunderclap Genius!“

Thunderclap   wurde   rot   und   fauchte:   „Lonzo!   Wie   konntest   du   dasverraten?“

Alles   lachte,   denn   nun   wußten   die   Kinder   endlich,   wie   Thunderclapwirklich hieß. Aber er erholte sich rasch und wandte sich grinsend wieder derVersammlung zu.

„Ich hoffe, ihr habt nichts von dem gehört, was dieser gemeine Ölschluckerbehauptet hat. Falls doch, so glaubt ihm nicht! Nun, Schwamm drüber! Wirwollen jetzt beraten, wie wir weiter vorgehen.“

Thunderclap Genius führte mit Harpos Unterstützung in aller nötigen Brei­te aus, was die Weltraumärzte, die von Tom und seinen Leuten gebührendbestaunt wurden, herausgefunden hatten: daß es keine Möglichkeit gab, denAntrieb anzuwerfen und daß Menschen an Bord des Arztschiffes nicht atmenkonnten.

Im Gegensatz zu Harpos und Thunderclaps  Erwartungen schien das diemeisten der Anwesenden nicht sonderlich zu stören.

„Na und?“ hieß es. Oder: „Dann steuern wir das Schiff eben selbst!“ Oder:„Döskopp, das können wir doch gar nicht.“ Oder: „Dann lernen wir es eben!“

Harpo staunte wortlos, er hatte damit gerechnet, daß einige in Tränen aus­brechen, verzweifelt  sein würden. Und nun das? Beschämt gestand er sichein, daß manche Kinder mehr Mut hatten als er selbst mit seinen sechzehnJahren.

Nachdem Robbie dargelegt hatte, daß es seinen Leuten möglich war, mitvom   Arztschiff   stammenden   Ersatzteilen   zumindest   einige   der   Grünenwieder flottzumachen, stieg die Stimmung sogar noch an. Ein Junge aus BigToms Gruppe erzählte, daß er mit einer Krankenschwester des Raumschiffsverwandt sei, die ihm berichtet hätte, daß die Grünen, wenn man sie mit derSteuerungsautomatik koppelte, in der Lage waren, das Schiff jahrelang alleinzu steuern. Diese Nachricht brachte das Faß zum Überlaufen.

Die   Abstimmung  ergab,  daß   alle   dafür   waren,   weiter   auf  dem   Schiff   zubleiben, und zwar so lange, bis sich die Kinder selbst gut genug mit den Ma­schinen auskannten, um den Antrieb unter die Lupe zu nehmen. Und wennbis dahin zwanzig Jahre vergehen sollten!

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Aufbruch zu neuen Planeten

So etwa mochte es in der Hauptzentrale ausgesehen haben, als Harpo undseine Freunde noch im Tal der Wigwams spielten und die Erwachsenen dasZepter fest in der Hand hielten. Das vermutete Harpo jedenfalls mit einigemStolz, als er sich umsah. Wirklich gesehen hatte er die Zentrale ja erst, als dieErwachsenen das Schiff bereits verlassen und die Kinder den Gewalten desKosmos überlassen hatten.

Harpo stand neben Thunderclap in der Mitte der Sternenkuppel und ließwie der Junge im Rollstuhl seine blanken Augen über die pulsierenden Licht­ketten huschen, die nun wieder über fast alle Instrumententafeln flitzten. DieSignallampen   gaben   derart   viel   Helligkeit   ab,   daß   man   sich   beinahe   ge­blendet fühlte. Das frühere Halbdunkel des riesigen Raumes war durch dasFunkeln taghell erleuchtet.

Über ihnen – oder unter ihnen: denn im Weltraum gab es ja eigentlich keinOben und kein Unten – breitete sich das glitzernde Sternenband der Milch­straße aus. Dieser Blick in die kosmische Unendlichkeit hinaus hatte nichtsan  magischer  Anziehungskraft  verloren.  Oftmals  erwischte  man den einenoder anderen,  wie er gedankenverloren zu den Sternen hinausstarrte.  Manmußte sich nur einmal vorstellen, daß dieses Licht seit Millionen von Jahrenim Universum unterwegs gewesen war, bis es die Augen des Betrachters er­reichte. Schließlich konnte es sich nur mit 300 000 Kilometern pro Sekundebewegen, während die Sterne selbst mitunter so weit entfernt waren, daß einLichtstrahl Millionen von Jahren brauchte, um diese Entfernung zu durchei­len.  Einige   der   ganz   fernen  Sterne   gab   es   inzwischen   vielleicht   schon  garnicht   mehr:   Sie   waren   erloschen   oder   hatten   ihre   Energien   im   Zeitraumweniger Jahre als grell aufflammende Nova vergeudet. Aber ihr Licht würdenoch  eine halbe  Ewigkeit   lang   im  Kosmos  scheinen.  Harpo  seufzte,  als  erdiese weißen, grünen, blauen und roten Lichtpunkte sah. Jeder einzelne da­von war eine Sonne, mal ferner,  mal näher.  Und viele davon mochten einPlanetensystem   besitzen   wie   die   Sonne   der   Erde.   Eines   Tages   würde   auseinem dieser Punkte ein feuriger Sonnenball werden. Und vielleicht würdensie dann ...

Aber bis  dahin  konnte  noch viel   Zeit  vergehen.  Die  Kinder  an Bord desRaumschiffes würden langsam erwachsen werden. Die hypnotische Lehrbe­handlung durch die Weltraumärzte war eine gute Grundlage zum Studiumder Fachliteratur an Bord. Sie würden wachsen und lernen. Sie würden mitder Zeit all das begreifen lernen, was ihnen jetzt noch verschlossen blieb. Ir­gendwann würden sie das Schiff von seinem Geradeaus­Kurs abbringen undes steuern lernen. Sie würden den Antrieb zünden und ihren eigenen Wegwählen.

O ja, sie würden es schaffen. Vielleicht würden sie eines Tages sogar ver­stehen, weshalb man eine Handvoll Kinder in einem Riesenraumschiff sich

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selbst   überlassen   hatte.   Weshalb   die   Erwachsenen   das   Schiff   verlassenhatten ... Vielleicht würden sie den Erwachsenen sogar verzeihen.

Langsam schweifte Harpos Blick über die Anwesenden. Die Weltraumärztehatten gute Arbeit geleistet: Elf Grüne waren repariert und zur Steuerung desSchiffes umprogrammiert worden. Sie saßen vor den Kontrollen und über­wachten die Schiffsfunktionen. Und wenn die Zeit für den Unterricht kam,dann lauschten die älteren Kinder – unter ihnen auch Harpo, Thunderclap,Karlie,   Fantasia,   Micel   und   Fidel   –   begierig   den   Erklärungen   ihrer   ma­schinellen Lehrer. Sie erklärten ihnen jedes Detail, das mit dem Schiff zu tunhatte und webten ein Gewebe aus theoretischen Grundlagen darüber.

Schon   jetzt   kristallisierte   sich   heraus,   daß   bei   einigen   Kindern   dastechnische   Verständnis   überdurchschnittlich   ausgeprägt   war:   Daran,   daßFantasia   einmal   eine   Spitzeningenieurin   würde,   zweifelte   niemand   mehr.Und Karlie hatte intensives Interesse an der Astrogation. Er würde einmal dasSchiff lenken, kein Zweifel.

Was   Harpo   betraf,   so   wurde   er   von   der   Versammlung   für   das   Amt   desChronisten   und   Logbuchführers   bestimmt.   Man   wußte,   daß   seine   ganzeLiebe den Büchern gehörte. Inzwischen schrieb er auch schon an der kurzenund turbulenten Geschichte des „Raumschiffs der Kinder“ – das jetzt einenNamen hatte.

„Ich finde es blöde, daß wir immer nur von dem Raumschiff sprechen“, be­klagte  sich Anca eines Tages auf  einer  Versammlung.  „Laßt  uns diesem ...diesem ... Eukalyptus­Bonbon endlich einen Namen geben!“

Natürlich sah das Raumschiff nicht wie ein Eukalyptus­Bonbon aus, aberandererseits:  Ein  bißchen  Ähnlichkeit  hatte  es  vielleicht  doch damit.  Ancawußte selbst nicht so genau, warum ihr gerade dieser Vergleich eingefallenwar. Möglicherweise hatte sie auch ein wenig an Weltraumärzte und Medizingedacht?

Auf  jeden Fall  wurde der Name mit  großem Hallo begrüßt.  Und obwohlnoch   ein   paar   andere   Vorschläge   gemacht   wurden   –   Harpo   notierte   ge­wissenhaft in seinem Protokoll:  GALAKTIKUS, STELLARIS, MÜLLERCHENSBLECHDOSE und PARANOIA­EXPRESS –, war von Anfang an klar, daß Ancaunfreiwillig den Taufnamen schon genannt hatte. Mit übergroßer Mehrheitentschieden sich die Kinder dafür,  „ihrem“ Raumschiff den Namen EUKA­LYPTUS zu geben. In einem feierlichen Taufakt wurde eine Flasche Champa­gner   aus   den   Vorräten   der   Erwachsenen   an   der   Säule   des   Steuerpultszerschlagen, und Harpo malte den Namen mit dicken, fetten Buchstaben indie Schiffspapiere: RAUMSCHIFF EUKALYPTUS.

Die Weltraumärzte hatten sich, nachdem sie ihre Mission erfolgreich be­endeten, wieder verabschiedet. Sie flogen einen Einsatz nach dem anderenund verfügten kaum über Freizeit. Sie waren froh, den Kindern geholfen zuhaben.   Nun   konnten   sie   aus   eigenen   Kräften   ihre   Lage   meistern.   DieAnwesenheit   der   Ärzte   war   nicht   mehr   erforderlich.   Andere   Patienten   anallen Ecken und Enden der Galaxis warteten auf ihre Hilfe.

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Bevor die Ärzte abflogen, untersuchten sie alle Kinder noch einmal gründ­lich auf Herz und Nieren. Brim Boriam wurde von ihnen für einen Schnell­kursus   ausgesucht.   Er   lernte   hypnotisiert   einige   Geheimnisse   derWeltraumärzte und konnte künftig in Zusammenarbeit mit Lonzo und denanderen Grünen ärztliche Hilfe leisten.

Besonders gründlich wurden Thunderclap, Lucky und Babs von den Welt­raumärzten untersucht. Aber es stellte sich heraus, daß die Medikamente hierim Weltraum für eine Behandlung nicht ausreichten. Vielleicht konnte manihnen   in   der   Zentralklinik   auf   dem   Heimatplaneten   der   Ärzte   helfen.   DieWeltraumärzte verschwanden mit dem Versprechen,  eine Botschaft  an alleanderen Patrouillenschiffe zu schicken.

In dem voraussichtlichen Zielgebiet der EUKALYPTUS sollten die Ärzte ineinigen  Monaten  oder  Jahren  nach den  Kindern  Ausschau  halten.   Irgend­wann   würde   man   sich   wiedersehen.   Und   dann   sollte   den   Dreien   auf   derHeimatwelt der Weltraumärzte geholfen werden.

Thunderclap fieberte schon jetzt diesem Moment entgegen, so fern er auchnoch sein mochte. Er war felsenfest davon überzeugt, daß die Ärzte Wort hal­ten würden.

Trompo   war   entgegen   den   Befürchtungen   aller   nicht   mit   den   Welt­raumärzten abgeflogen. Er hing inzwischen so sehr an den Kindern, daß ersich nicht von ihnen trennen mochte.

Der Mann im Tiefschlaf, der auf den Namen Daniel Locke hörte, lag nochimmer in seinem Behälter  und regte sich nicht.  Die Weltraumärzte hattenauch ihn untersucht und festgestellt,  daß er an einer Krankheit  litt,  die sienicht   heilen   konnten.   Es   war   besser,   wenn   man   ihn   schlafen   ließ.   Wahr­scheinlich war Daniel  Locke gerade deshalb eingefroren worden, weil  manihm nicht helfen konnte und auf die medizinischen Fortschritte der Zukunfthoffte.

Babs,   das   geheimnisumwitterte   Mädchen   aus   Harpos   Kleiderschrank,sprach so gut wie nie, war aber stets zur Stelle,  wenn man Hilfe benötigte.Harpo  hatte   nachgeforscht:   Ihr   Name   stand  nirgendwo  auf   der   Passagier­oder Mannschaftsliste der EUKALYPTUS.

„Vielleicht ist sie ein blinder Passagier“, vermutete Thunderclap.„Mag sein“, antwortete Harpo und zuckte mit den Schultern. „Oder sie hat

uns einen falschen Namen genannt. Na, irgendwann werden wir das schonnoch herausfinden.“

Big Tom hatte seine ruppige Art noch immer nicht ganz abgelegt, aber erbemühte sich, den anderen Kindern ein echter Partner zu sein. Fidel nahmsich seiner besonders an, vielleicht deshalb, weil er eine ähnliche Entwick­lung durchgemacht hatte und ihn deshalb gut verstehen konnte.

Während Fantasia, Karlie, Harpo und Brim schon ziemlich deutlich sahen,welche Funktionen sie auf der EUKALYPTUS zu erfüllen hatten – was Karlienicht davon abhalten konnte, so oft wie möglich seiner Kochleidenschaft zufrönen und immer wieder neue Kartoffelpuffer­Rezepte auszuprobieren – ,versuchten   die   anderen,   möglichst   viel   Wissen   zu   speichern.   Das   war   ein

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ganz  anderes   Lernen,  als  sie  es  von  früher  her  kannten.   Sie   lernten  nichtdeshalb, weil ein Lehrer, ein Erwachsener oder ein Grüner sie zwang, sonderndeshalb,   weil   sie   wußten,   daß   dieses   Wissen   der   Gemeinschaft   an   Borddiente.  Es machte einfach auch Spaß,  Grundgesetze  der  Elektrotechnik  zulernen und anschließend selbst eine Schaltung zu bauen. Wenn man dann inder Zentrale die Lichterketten über die  Schalttafeln  huschen sah,  verstandman plötzlich, wie alles funktionierte und was die Signalleuchten meldeten.

Anca und der kleine Ollie hielten sich meistens bei den echten Tieren auf.Sie brachten ihnen Futter, säuberten die Käfige und studierten die Lebensge­wohnheiten   ihrer   neuen   Freunde.   Anca   bezwang   sogar   ihre   Angst   vorSchlangen   und   lernte   dabei   zum   Beispiel,   daß   einige   Tiere   gar   keineSchlangen waren, obwohl sie so aussahen. Eine Blindschleiche etwa konnteman unbedenklich anfassen. Sie fühlte sich weich und glatt an und konntegar nicht  beißen. Ein kleiner  Dackel  namens Moritz durfte bald die  Käfigeverlassen. Er tollte mit Trompo durch das Schiff und neckte ihn. Trompo ließes sich gern gefallen und mimte Angst vor dem kleinen Kläffer.

Seit  der erfolglosen Schatzsuche waren aus Lucky und Lonzo die bestenFreunde geworden. Sie stöberten auch weiterhin nach verborgenen Schätzen,und niemals zuvor hatte man Lucky derart viel lachen gehört wie jetzt. Seinrätselhaftes Talent, andere Leute und sich selbst von einem Ort zum anderenzu versetzen, schlummerte unter der Oberfläche seines freundlichen Gemüts.Brim, der nur noch selten stotterte,  plante  bereits  eine Testreihe,  um her­auszufinden, wie man Luckys Begabung bewußt einsetzen konnte.

Micel   Fopp,   der  Telepath,  wollte  Brim   bei   diesen Versuchen   so gut  wiemöglich helfen. Einstweilen wurde er nicht müde, die vielen neuen Freundeausgiebig kennenzulernen. Für einen Menschen, der Gedanken lesen konnte,war das sicherlich ein noch größeres Abenteuer als für alle anderen Leute.

So   haben wir  unsere   Freunde   noch   einmal  Revue  passieren   lassen.  Derletzte Blick aber, den wir in das immer noch führerlose Raumschiff EUKA­LYPTUS werfen, gilt Thunderclap Genius, dem Jungen im Rollstuhl, von demwir inzwischen wissen, daß er eigentlich Pitter Sausewind heißt. Wir sehenihn   vor   einem  Bildschirm   sitzen   und  auf  einen  blaugrünen  Stern   starren.Täuschen wir  uns,  oder  ist  dieser  Stern in den  letzten Wochen tatsächlichgrößer geworden? Wir blicken auf Thunderclaps Gesicht. Seine Augen habensich verengt, und mitten auf der Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Er hates also auch gemerkt.

Ja, kein Zweifel. Das Raumschiff EUKALYPTUS nähert sich einer fremdenSonne.

Ende

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Die Besatzung der EUKALYPTUS

Harpo Trumpff:Sechzehn. Blondes,  schulterlanges Haar.  Hat gelegentlich Angst vor dem

Alleinsein in der Dunkelheit. Grund seines Aufenthalts auf dem Sanatoriums­schiff:   Schwindelanfälle,   Gedächtnisstörungen   nach  Stürzen.  Chronist  undLogbuchführer der EUKALYPTUS.

Anca Trumpff:Harpos Schwester. Zwölf. Langes schwarzes Haar. Klein. Etwas pummelig.

Regt sich auf, wenn man sie „Pummelchen“ nennt. Liebt Tiere. Mit Ollie sehreng befreundet. Übertreibt gern. Wurde auf das Schiff geschickt, damit Harposich nicht allein fühlt.

Brim Boriam:Vierzehnjähriger Negerjunge. Krauses Haar. War anfangs sehr schüchtern.

Litt unter starken Sprachstörungen. Stottert jetzt nur noch, wenn er sehr auf­geregt   ist.   Hat   medizinisches   Talent.   Wurde   von   den   Galaktischen   Medi­zinern in einem Schnellhypnose Verfahren zum Arzt ausgebildet.

Thunderclap Genius:Deckname eines gelähmten fünfzehnjährigen Jungen. Hütet seinen echten

Namen sorgsam. Hochintelligenter Tüftler. Technisch begabt. AlleswissendeLeseratte mit eidetischem Gedächtnis (vergißt kaum etwas, was er einmal ge­hört oder gelesen hat). Hobby: Entschlüsseln von Geheimschriften.

Lucky Cicero:Zehn.   Kann   nur   wenige   Worte   sprechen.   Mongoloide.   Sehr   verspielt.

Freundlich.   Verfügt   über   geheimnisvolle   parapsychologische   Geisteskräfte.Ist   sich   ihrer   nicht   bewußt.   Kann   sie   nicht   steuern.   „Telekinet“   und„Teleporter“   (Kann Gegenstände  mit   reiner  Geisteskraft  bewegen).  Verfügtüber die Gabe, seinen Körper aufzulösen und an anderer Stelle wieder kom­plett   zusammenzufügen.   Verbringt   seine   Zeit   hauptsächlich   damit,   zu­sammen   mit   Lonzo   nach   nicht   existierenden   Schätzen   zu   suchen.   BesteFreundin: Fantasia Einstein.  Kümmert  sich um ihn,  als wäre er  ihr  kleinerBruder.

Lonzo:Roboter. Im Gegensatz zu seinen maschinellen Kollegen, die wegen ihrer

teddybärartigen Aufmachung die „Grünen“ genannt werden, ohne Verklei­dung. Behauptet von sich, überhaupt keine Maschine, sondern ein ehema­liger   Seeräuber   zu   sein.   Ist   zweifellos   defekt.   Steht   voll   auf   der   Seite   derKinder. Akzeptieren ihn, so wie er ist. Klopft gern Sprüche. Hat so ziemlich je­des Buch über  Piraten gelesen.   Ist   in  der  Lage,  kleinere  Verletzungen und

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Krankheiten   mit   einem  eingebauten   medizinischen  System  zu   behandeln.Besitzt   aus   Metallringen   zusammengesetzte  Beine   und  einen   kugelrundenKopf.

Fantasia Einstein:Fünfzehn.   Rothaarig.   Sensibel.   Blaß.   Wirkt   nervös.   Sehr   still.   Lerneifrig.

Kümmert sich rührend um Lucky Cicero.  Möchte eines Tages Raumschiff­bauingenieurin werden.

Fidel Flottbek:Dunkelblond. Hat Pickel. Neben Harpo und Thunderclap der älteste Junge

an Bord der EUKALYPTUS. Hatte eine schlimme Jugend. Wuchs in Waisen­häusern auf. Ist daher den Erwachsenen gegenüber nicht besonders positiveingestellt. Hält sie alle für schlecht. Kann aggressiv sein. Ist aber nicht ver­stockt, sondern kann einsichtig sein, wenn man ihm eine andere Meinung inden richtigen Worten nahebringt.

Micel Fopp:Vierzehn.   Schwarzhaarig.   Dunkle   Augen.   Wurde   durch   falsche   Medi­

kamente, die seine Mutter während ihrer Schwangerschaft einnahm, mit ver­kürzten Armen geboren. Hände klein wie die eines Fünfjährigen und direktan seinen Schultern angewachsen. Ansonsten körperlich unversehrt.  „Tele­path“ (ist in der Lage Gedanken zu lesen).

Karlie Müllerchen:Fünfzehn.   2,20   Meter   groß.   Niemand   weiß,   wann   er   aufhören   wird   zu

wachsen. Bürstenhaarschnitt. Liebt nichts mehr als Kartoffelpuffer. Tischt siejedesmal, wenn er mit Küchendienst an der Reihe ist, den anderen in hundertVariationen auf. Hat Humor und starkes Interesse an Funktechnik und Astro­navigation.

Tom Schlitz:Genannt   „Big   Tom“.   Fünfzehn.   Kaut   ständig   an   den   Fingernägeln.   Hat

puppenhaftes, weißes Gesicht und einen muskulösen Körper für seine Größe.Anfangs ein ziemlich ruppiger Bursche. Wird später den anderen mehr undmehr zum Partner. Freundet sich mit Fidel Flottbek an, der in seiner Kindheiteine ähnliche Entwicklung durchmachte.

Ollie:Elf. Strubbelkopf. Fransenbesetzte Lederhose. Ziemlich frech. Sogenannter

„Hypochonder“ (eingebildeter Kranker). Kerngesund, redet sich aber ständigein, gegen alles und jeden allergisch zu sein. Schreit nach Medizin, sobald ereinen einsamen Pickel auf seiner Haut entdeckt. Sein Ziel: rasch erwachsenzu werden, weil er Anca Trumpff heiraten will.

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Moritz:Dackel. Ollies Liebling. Darf eigentlich nicht in die Zentrale. Wird von Ollie

immer wieder eingeschmuggelt.  Hat es auf Lonzos Metallbeine abgesehen.Und auf Trompo, den er für eine Art Hund hält.

Trompo:Außerirdisches Wesen von Katzengröße. Sieht wie ein rosafarbener Elefant

aus. Schlappohren. Haut ist von einem Fell bedeckt. Ist kein Tier, sondern einintelligentes Lebewesen von einem Planeten mit unaussprechlichem Namen.Lebte als  eine Art  „Krankheitsaufspürer“ bei  den Galaktischen Medizinern,bevor er auf das „Raumschiff der Kinder“ kam.

Babs Monroe:Geheimnisvolles, achtzehnjähriges Mädchen. Anwesenheit auf der EUKA­

LYPTUS bislang unerklärlich. Große blaue Augen. Mittellanges, hellblondesHaar.

Daniel Locke:Mehr ein Mythos als eine Person. Ein Mann in einem gläsernen Sarg. Die

Kinder können mit ihm keine Verbindung aufnehmen, weil er im Tiefschlafliegt.

EUKALYPTUS:Den Namen erhielt das Schiff erst durch die Kinder. Obwohl es ja eigentlich

eher   wie   eine  riesige   Hantel   aussieht.  Zwei   Kugeln,   ein   zylindrisches   Ver­bindungsstück.  Besteht  aus  einer  Vielzahl  von Decks,   jedes kilometergroß,viele davon als künstliche Wüsten und Dschungel ausgestattet.

Ob das Raumfahrzeug ursprünglich als eine Art Auswanderungsschiff  fürinterstellare Reisen vorgesehen war, weiß man nicht so genau. Sicher ist nur,daß es einen neuartigen, vorher nicht getesteten Antrieb besitzt, der mehrfa­che Lichtgeschwindigkeit  zuläßt.  Es umkreiste als Hospitalschiff  für krankeund umweltgestörte Kinder die Erde – bis es sich aus noch ungeklärter Ursa­che aus seiner Umlaufbahn riß. Die ursprüngliche Besatzung ließ das Schiffund die Kinder im Stich. Diese mußten selbst lernen, das Schiff zu steuern.Daß sich die EUKALYPTUS überhaupt wieder manövrieren läßt, verdankendie  Kinder   vor  allem  den hilfreichen „Weltraumärzten“,  einer  extraterrest­rischen Rasse. Die EUKALYPTUS hat mehrere Beiboote, Fabrikationsstättenfür alles, was an Bord benötigt wird, Wartungsroboter – und natürlich einesehr tüchtige, aber auch fröhliche Besatzung.

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