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architheseFadenkonstruktionen: armes Material, starkes Medium
Do Ho Suhs genähte Räume
Von ant farm bis Hüpfburg
Textile Schalungen
Heinz Islers Eis-Versuche
Die Hauträume von Heidi Bucher
Zur Bedeutung von Bewehrungsplänen
ProtoRobotic FOAMing
The (risky) craft of digital making
Material: Oberfläche oder strukturbestimmender «Stoff»
Über Putz
Bautraditionen in Himachal Pradesh, Indien
Digitales Prototyping: Leadenhall Building von RSHP
Digitale Fabrikation und Denkmalpflege
Sandstein-3-D-Druck von Michael Hansmeyer
Renzo Piano Building Workshop: The Shard, London
Caruso St John Architects: Erweiterung des Sir John Soane’s
Museum, London
3.2013
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Weak materiality – Eine Schwäche für Materialität
www.ProCasa.ch
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E D I T O R I A L
Weak Materiality – Eine Schwäche für Materialität
Als im Spätsommer vergangenen Jahres der Titel für das vorliegende Heft festge-
legt wurde, war der Redaktion bereits bewusst, dass mit dem deutsch-englischen
Wortspiel, der Verschiebung von der sinngemässen Übersetzung «a soft spot for
architecture» hin zu «weak materiality», ein Titel gewählt worden war, dem ein
Heft allein über Materialität nicht gerecht werden konnte. Dies half einer Wieder-
holung des «klassischen» Diskurses über Materialität vorzubeugen, wie er sich
zum Beispiel in der Ausgabe der Zeitschrift Daidalos unter dem Titel «Magie der
Werkstoffe» (Juni 1995) abbildete und wie er in den vergangenen drei Jahrzehnten
besonders die Deutschschweizer Architektur auszeichnete.
Während die Schweiz das Material und seine Beschaffenheit erkundete, wandte
sich der weltweite Diskurs dem Immateriellen zu. Es war die Entdeckung des
Cyberspace als virtuellen Raum aus Bits, welche die Fantasien beflügelte. Den-
noch blieb die Sehnsucht des Architekten nach Greifbarem auch in Zeiten der di-
gitalen Körper- und Schwerelosigkeit bestehen. Der Wille, die virtuellen Visionen
zu realisieren, trieb die Entwicklungen voran. So verschob sich über die Jahre der
Schwerpunkt vom Raum (space) zum Material: Seither wandelt das neue Feld der
digitalen Fabrikation die schwache, unbestimmte Materialität des Digitalen zu
einer neuartigen, starken und physischen Materialität um.
Auf der Suche nach Referenzen für die neuen Produktionsmethoden beginnt
auch bei der Einschätzung realer Phänomene das vermeintlich Schwache seine
Stärken auszuspielen. So zum Beispiel, wenn die Falte eines Tuchs durch seine
Härtung, sei es durch Gefrieren oder Betonieren, zu einer Optimierung des Trag-
systems führt. War das Schwache früher nur durch Experimente zu erkunden –
hier wäre Heinz Isler als einer der Protagonisten zu erwähnen –, so erlauben die
digitalen Werkzeuge für Analyse und Herstellung dem Ingenieur und Architekten
unerwartete Stärken zu entdecken, welche unser ästhetisches Empfinden für rich-
tig und falsch zu verändern beginnen.
Dennoch bleibt der technische Fortschritt im vorliegenden Heft nicht unhinter-
fragt, wird dem digital manufacturing das Handwerk gegenübergestellt. Dabei
geht es weniger um ein Für oder Wider als um eine gegenseitige Befruchtung. Die
Sandstein-3-D-Drucke von Michael Hansmeyer, welche unter Anleitung eines Kir-
chenrestaurators behandelt werden, zeigen, wie sich in einer post-digitalen Ära
Disziplinen und Strömungen neu zusammenfügen. Dass dies gelingen kann, be-
dingt den Schutz und Erhalt des überlieferten Wissens, bedingt die Pflege der
zumeist oral oder durch direkte Beobachtung tradierten Fertigkeiten der Mate-
rialbearbeitung. Dies hat in den aufstrebenden Länder Asiens besondere Bedeu-
tung, denn die Geschwindigkeit der Industrialisierung treibt einen Kulturwandel
an, der das schwache Wissen unter Druck setzt.
Wie im Leben, so hat es auch im Editorial das wahrlich Schwache schwer und
kommt entsprechend zum Schluss. Doch inwieweit muss das Schwache zwingen-
derweise erstarken, um Eingang in die Architektur zu finden? Eine sehr persönli-
che Antwort mögen die Hauträume der Künstlerin Heidi Bucher geben, eine ver-
gnügliche Antwort die Integration der Hüpfburg in den Kanon der Architektur.
Die Redaktion
4 archithese 3.2013
Zum Thema: archithese ist Partner der internationalen Kon-
ferenz Fabricate, welche vom 14. bis 15. Februar 2014 an der
ETH Zürich stattfindet. Der Call for Work ist noch bis zum
30. Juni 2013 offen. www.fabricate 2014.org
10 archithese 3.2013
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Vertical Sublime oder Festung der Einsamkeit
Zur offiziellen Eröffnung von The Shard im Mai 2012
war auch der Duke of York, Prinz Andrew, zugegen.
Bis 2011 pflegte er als Abgesandter der englischen
Handelskammer enge Kontakte zu den Arabischen
Staaten, sah sich dann jedoch durch Freundschaf-
ten zu zweifelhaften Figuren wie Jeffrey Epstein ge-
zwungen, sein Mandat niederzulegen. Während
Andrew bei den Feierlichkeiten für das neue Wahr-
zeichen Londons begeistert schwärmte, war sein
Bruder Charles über den neuen Wolkenkratzer we-
nig erfreut. Seit den Achtzigerjahren führt er als ers-
ter Kritiker des Commonwealth einen medialen Feld-
zug gegen die Bauten der Nachkriegsmoderne und
die Hochhausbauten in der City of London; er sieht
sich als Verfechter von «Merry Old England». Im Fall
von The Shard war er allerdings machtlos; an ande-
rem Ort jedoch konnte seine polemische Kritik an
der zeitgenössischen Architektur kombiniert mit kö-
niglichen Kontakten ein weiteres Prestigeprojekt von
Qatari Diar massgeblich beeinflussen: Für die Chel-
sea Barracks überzeugte Charles 2009 den königli-
chen Immobilienentwickler, sich vom verantwortli-
chen Architekten Richard Rogers loszusagen und
stattdessen ein Projekt zu verfolgen, das an die
RENZO PIANO BUILDING WORKSHOP:
THE SHARD, LONDON, 2013
In London wurde das höchste Gebäude in
Europa fertiggestellt und bringt den fernen
Glanz und die abstrakte Dimension der
Türme aus den Vereinigten Arabischen Emi-
raten in die Realität der englischen Metro-
pole. Wie einst Seiferts Centre Point oder
später Fosters Gherkin definiert das Bau-
werk das visuelle Zentrum der Stadt neu und
verlagert es in einem historischen Akt auf
die Südseite der Themse.
Autor: Florian Dreher
Rechtzeitig zu Beginn der Olympischen Spiele in
London im Sommer 2012 wurde das Prestigeprojekt
The Shard (deutsch «die Scherbe») des italienischen
Architekten Renzo Piano in Zusammenarbeit mit
Broadway Malyan Architects, der Investorengruppe
Sellar Property Group sowie dem Haupteigentümer
Qatari Diar fertiggestellt. So konnte es während des
spektakulären Eröffnungszeremoniells mit einer
nächtlichen Speedbootfahrt von David Beckham
auf der Themse prachtvoll in Szene gesetzt werden.
traditionellen Vorstellungen des Prinzen angeglichen
wurde (siehe archithese 5’2009). Wie hätte wohl die
Vision von Prinz Charles für The Shard ausgesehen?
Ritter mit Glaslanze
Das Hochhausprojekt Shard ist Bestandteil jener
Hochhausdiskussion, die in London seit der Nach-
kriegszeit bis heute geführt wird. Waren es in den
Fünfziger- und Sechzigerjahren noch die Tower
Blocks, an denen sich die Gemüter erhitzten, galt
es sich in den Achtzigerjahren zwischen den hori-
zontal ausgerichteten Superblocks der «Ground-
scraper» und den vertikalen Landmarks der
Skyscraper zu entscheiden. Mit dem London Plan
von 2002 zur Festlegung potenzieller Hochhauss-
tandorte wurden Leitlinien formuliert, die neben der
Einhaltung wichtiger Sichtbezüge (sogenannte
conservation areas und strategic corridors) zu his-
torischen Monumenten wie St Paul’s Cathedral
auch sogenannte Abwägungszonen für Einzelob-
jekte oder Cluster wie Canary Wharf vorsahen
(consultation areas). Vehementer Befürworter und
federführend in der politischen Diskussion für
die Errichtung zahlreicher Hochhäuser war Ken
1
11
der neuen Schienenhochtrasse des Thameslink-
Projektes, das den Ausbau der London Bridge
Station miteinschliesst, weichen. Für den 2012 be-
gonnenen Umbau des Bahnhofs selbst wurde das
Büro von Nicholas Grimshaw beauftragt, welches
bereits 1993 das durch den Umzug nach King’s
Cross vakante International Terminal der Waterloo
Station für den Eurostar als einen der Höhepunkte
englischer Hightech-Architektur realisiert hatte.
Der aktuelle Entwurf für die London Bridge Sta-
tion mit voraussichtlicher Fertigstellung im Jahr
2018 sieht eine Vielzahl wellenförmiger Gleisüber-
dachungen vor, die im Gesamtbild eine topogra-
fisch gestaltete Dachlandschaft ergeben und sich
formal stärker an Grimshaws Entwurf für den Bahn-
hof Amsterdam Bijlmer (2007) als am Waterloo Ter-
minal orientieren. Dabei positioniert sich Renzo
Pianos angrenzendes Hochhaus The Shard als
vertikaler Wellenbrecher und lässt einige Wellenfor-
mationen zur Herausbildung des zukünftigen
Haupteingangs der London Bridge Station hervor-
wogen.
Bevor jedoch die Vision des 1,5 Milliarden Pfund
schweren vibrant London Bridge Quarter Realität
werden konnte, musste der von TP Bennet Ar-
chitects errichtete Southwark Tower – zur Zeit sei-
ner Fertigstellung 1970 ein technisch Massstäbe
setzendes Gebäude – sowie das fünf Jahre ältere
New London Bridge House mit seinem elegant
skulpturalen Eingangsgeschoss von Richard Seifert
weichen. Dies sind weitere Beispiele für das frag-
würdige Schicksal, welches seit geraumer Zeit den
Bauten der Nachkriegsarchitektur widerfährt. Der
dritte Turm des ursprünglichen London-Bridge-Tri-
os – der Guy’s Tower, einst mit 143 Meter und einem
markanten Betonauditorium als Bekrönung des Be-
tonkerns die dominierende Figur des Boroughs –
blieb aufgrund seiner Nutzung als Krankenhaus
einzig vom Abriss verschont und wird derzeit von
Penoyre & Prasad umgebaut wie auch seiner bruta-
listischen Ursprungsästhetik entkleidet.
Nach Fertigstellung des neuen Quartiers ist der
einstige Riese zum kleinen Mann verkommen, und
The Shard zieht als weit sichtbares Zeichen nun die
grösste Aufmerksamkeit auf sich. Zur Rettung der
1 Luftansicht über die Themse mit Simulation der London Bridge Station und neuem Quartier (Fotos 1+6: © Sellar Group)
2 Ensemble des London Bridge Quarter: The Shard und The Place mit dem benachbarten Guy’s Tower Hospital (Foto: © Lumberjack)
Ehre könnte allein das Bild des stumpigen Ritters
mit der glänzenden Lanze für den Guy’s Tower her-
beigezogen werden. Teil der neuen Anlage ist auch
noch ein eher beschauliches Bürohaus mit der ein-
fachen Titulierung The Place, das den Seifert-Bau
ersetzt. The Place stammt ebenfalls aus der Feder
von Piano und gehört mit The Shard zu den ersten
beiden Projekten seines Büros Renzo Piano Buil-
ding Workshop (RPBW) für London; sie wurden
jedoch erst nach dem Folgeauftrag des Bürokom-
Livingstone, der langjährige ehemalige Labour-
Bürgermeister und Erzfeind von Margaret Thatcher.
Im entscheidenden Jahr 2000 – mit Olympiabe-
werbung und Vorstellung des damals noch «Lon-
don Bridge Tower» genannten Projektes – nahm
Livingstone nach einer kleinen Unterbrechung als
Kapitän der Greater London Authority die Ruder
und damit die Geschicke der Stadt wieder in die
Hand und setzte seine Politik zum Umbau der
Metropole an der Themse fort. Für ihn waren die
Hochhäuser eine wirtschaftliche Notwendigkeit für
den Finanzstandort London, um ausreichend
Büroflächen zu bieten. Das erhoffte Resultat sin-
kender Mieten erwies sich im Nachhinein jedoch
als Trugschluss. Die ikonenhaften Grossprojekte
waren gleichsam Ausdruck eines neuen Selbst-
bewusstseins, das – einhergehend mit der New-
Labour-Politik Tony Blairs – seine Formulierung in
«Cool Britannia» fand und für eine mit New York um
die Krone der Weltstadt konkurrierende Metropole
notwendig erschien. Dieser Aufschwung und die
dafür benötigten Investitionen in die Infrastruktur
schienen nur möglich, indem die Finanzierung von
der öffentlichen Hand auf die Privatwirtschaft um-
gelegt wurde. Public Private Partnerships und das
Anlocken von Investoren wurden zum Signal der
Akzeptanz des Marktes und kennzeichneten die
«neue» Auffassung in der Labour-Partei. So kann
auch das Projekt The Shard nicht alleinstehend be-
trachtet werden, sondern muss im Kontext der
Strategie für die Modernisierung der London Bridge
Station und die städtebauliche Neuarrondierung
des südlich der Themse gelegenen Areals im
Borough of Southwark gelesen werden. Das Areal
liegt in einem recht zentrumsnahen Teil der Stadt,
der seit dem Anschluss an die Jubilee Line 1999
sowohl kulturell wie wirtschaftlich verstärkt in den
Fokus geriet. Ein Wandel, der sich in der Entwick-
lung des Borough Market auf der gegenüberlie-
genden Seite der London Bridge Station zum
hochpreisigen Delikatessenmarkt abbildet. Dieser
Aufstieg bewahrte den Marktplatz, der einer der
ältesten Londons ist, allerdings nicht vor einer
grossräumigen Amputation. Zahlreiche rahmende,
mitunter denkmalgeschützte Gebäude mussten
2
26 archithese 3.2013
FADENKONSTRUKTIONENVom armen Material zum starken Medium Weben, knüpfen, stricken, häkeln – was aus Fäden gewonnen wird, trägt
zumeist die Signatur des Kunsthandwerklichen oder des Designs. Doch gibt es auch die arachnischen Künstler, die einzelne
Fäden ziehen oder flächige Muster aufhängen, die dreidimensionale Raumnetze aufspannen und kokonartige Innenaus
kleidungen erstellen. Die Moderne hat eine Ästhetik des Fadens hervorgebracht, die raffinierte Wechselspiele zwischen Bild,
Objekt, Installation und Architektur inszeniert.
1 2
Autor: Gunnar Schmidt
Trickle up
Seit Mitte der 2000erJahre hat sich eine neue Form der
Street Art etabliert, die nicht mehr mit Farbe die Flächen der
Stadt gestaltend oder verunstaltend annektiert, sondern mit
Strickfäden einzelne Stadtobjekte verkleidet und auf neue
Weise sichtbar macht. Die Einstrickungen von Skulpturen,
Bäumen oder Verkehrzeichen sowie das Aufspannen von
Fadenarrangements durch die Strickguerilla folgen der in
den Fünfzigerjahren von den Situationisten propagierten
Strategie des Détournement: In der Öffentlichkeit vorfind
bare Machtsymbole oder (un)ästhetische Behauptungen
werden durch Überformung, Umgestaltung oder Verfrem
dung parodistisch angegriffen.1 Da Wolle und Stricken das
Signum des Gemütlichen und Hausbackenen anhaftet, wird
das Pathos monumentalisierter Semantiken durch Vernied
lichung erniedrigt und zuweilen entwürdigt. Unabhängig
vom jeweiligen Motiv zur Intervention, illustriert der haus
fraulichhandwerkliche Umgang mit dem Wollfaden einen
generellen Kulturwandel, den Peter Sloterdijk als «Vermas
sung der vormaligen Avantgardequalitäten und die Überset
zung von einst pathetischer Kreativität in alltägliche Mani
pulation von Materialien und Zeichen durch die Angehörigen
einer weltumspannenden DesignZivilisation» bezeichnet.2
Die naive Freude an der Pulloverisierung der Stadtdinge ist
jedoch nur die eine Seite einer Kultur, die auf der Suche nach
materialer Expressivität ist. Entgegen der Sloterdijk’schen
trickle-downDiagnose haben Künstler das Fadenmaterial
sublimiert und variationsreich für künstlerische Praktiken
benutzt. Die enorme Plastizität von Fadenmaterialien
zwischen reduktiver Linearität und chaotischer Überfülle,
zwischen angestrengter Aufgespanntheit und schlaffer An
tiform, zwischen verschwindender Beiläufigkeit und farben
prächtigem Expressionismus birgt das Reservoir für Raum
verfügungen, welche die Disziplingrenzen zwischen Kunst,
Design und Architektur durchlässig machen. Das kulturelle
Trickleup transformiert das schwache Material in ein star
kes Ausdrucksmedium.
Ästhetik des Leichten: Linien im Raum
Albrecht Dürers Holzstich Der Zeichner der Laute, der als
letzte Illustration in seinem Lehrbuch Underweysung der
Messung, mit dem Zirckel und Richtscheyt, in Linien, Ebenen
unnd gantzen corporen (1525) publiziert wurde, zeigt eine
Methode zur perspektivischen Darstellung. Dieses Bild kann
1 Paule Vézelay, Lines in Space No. 34, Draht und Garn auf Karton in Holzrahmen, 1954 (© Tate, London 2013)
2 Fred Sandback, Untitled (Trape- zoid), rotbrauner Acrylgarn, 2002 (© Akira Ikeda Gallery/Berlin)
27
3
als Urszene der späteren Fadenkünste betrachtet werden:
Zwar wird der Faden ausschliesslich zweckhaft als prakti
sches Werkzeug dargestellt, doch gewinnt er seine Dignität
nicht nur durch den Kontext der Kunstproduktion, er wird in
der Repräsentation mittels des gestalterischen Grund
elements Linie dargestellt. Linie, Faden, Fläche – das sind
die grundlegenden Parameter, die vierhundert Jahre später
die englische Künstlerin Paule Vézelay (Pseudonym von Mar
jorie WatsonWilliams) dazu brachten, das zweidimensio
nale Bild aufzubrechen und die Räumlichkeit zu erschlies
sen. Vézelay kann als Pionierin im Bereich ästhetischer
Fadenexperimente betrachtet werden, denn bereits 1935
beginnt sie mit ihrer Serie der Lines in Space, die sie bis in
die Sechzigerjahre fortsetzt. 1964 schreibt sie über die An
fänge ihrer Werkgruppe: «I knew that any untrained hand
guided by borrowed knowledge could, with a minimum of
practice, make lines upon a twodimensional surface in such
a way that they create an illusion of threedimensional space,
but was there any reason why artists should continue to con
fine Living Lines to a twodimensional surface while ordi
nary lines outside the Realm of Art enjoyed freedom in
Space?»3 Anstatt Linien mit dem Stift zu ziehen, montiert
Vézelay schwarze und weisse Baumwollfäden an den Innen
seiten des Bilderrahmens und spannt diese über den weis
sen Leinwandgrund. Die materiellen Vektoren erzeugen
durch ihre Überkreuzungen einerseits einen Eindruck von
Dynamik, andererseits wird die Spatialität durch die auf die
Leinwand projizierten Schatten forciert. Der spatiogeomet
rische Konkretismus der «lebenden Linien» verabschiedete
den illusionistischen Perspektivismus lebensweltlicher
Räumlichkeit zugunsten einer ästhetischen Eigenwelt, die
zum Träger eines utopischen Hoffnungskerns werden und
eine «neue Realität» zur Ahnung bringen sollte. Vézelay
gehörte in den Dreissigerjahren zur Gruppe der Abstraction
Création, die das avantgardistische Ansinnen einer ästheti
schen Weltveränderung verfolgte. Im Kontext der Faden
künste ist jedoch vor allem der neue formale Ansatz der Lines
in Space herauszustellen, denn mit ihm werden Erfindungen
vorbereitet, die bereits im DürerHolzschnitt angelegt sind
und in der Folge von einer Reihe Künstlern realisiert werden.
Innerhalb des Vézelay’schen Tableaus ist die scheinbar mar
ginale Funk tionsänderung des Bilderrahmens von zentraler
Bedeutung für die Bilderfindung. Georg Simmel hat in einem
kurzen Essay die konventionelle Funktion des Bilderrah
mens dahingehend bestimmt, das Bild als eigensinnige äs
thetische Entität von der Umwelt abzugrenzen. Die Bildwelt
fällt gleichsam nach innen zu, der Rahmen macht aus ihr eine
«Insel».4 Indem Vézelay ihre Fäden am Rahmen fixiert, be
zieht sie diesen in die Bildwelt mit ein und unterminiert sub
til die Geschlossenheit. Die Grenze wird zum Teil des Bildes.
Wie schon bei Dürer der Faden durch den Bilderrahmen läuft
und auf dramatische Weise die zweite Dimension durch
stösst, so drängen auch die Fäden bei Vézelay virtuell nach
aussen. Es ist nur ein kleiner Schritt, die Rahmengrenzen
durch Wände, Decken oder Böden zu ersetzen, um vom For
mat «Bild» zum Format «Raum» zu wechseln. Mit der Ver
grösserung in das anthropomorphe Mass erfolgt gleichwohl
ein entscheidender ästhetischer Wandel: Aus der ikonogra
fisch fundierten Visualität erwächst ein Milieu, in dem der
Betrachter sich in einen bewegenden, körperlichen Vektor
(griech. Fahrer) verwandelt; er wird zu jemandem, der etwas
er-fährt.
Der amerikanische Minimalist Fred Sandback ist nicht
der einzige, doch konsequenteste Künstler, der in der zwei
ten Hälfte der Sechzigerjahre den Impuls aus den Dreissi
gern aufnimmt und ein Œuvre aus räumlichen Bildwerken
mittels farbiger Acrylfäden erarbeitet.5 So setzt er vertikale,
horizontale und diagonale Linien in den Raum, meist aber
Konturen, die imaginäre Flächen oder Volumina andeuten.
Die Strenge der Setzungen folgt nicht dem Dynamismus der
Vorgängerin, Sandbacks Objekte sind Statements der Entlee
rung, Skulpturen, die auf ein Mindestmass an Visualität re
duziert sind. Sandback hat mehrfach die Hinwendung zum
Faden als künstlerisches Material damit begründet, dass
ihm die Oberfläche und das Dekorative in der Skulptur ein
Ärgernis war, weil er darin ein Verschliessen wahrnahm.
Weder das Illustrative, noch der Illusionismus oder der Sinn
sollten Vorrang vor der Form haben; wichtiger war die Situa
tivität, aus der eine Erfahrung folgen sollte. Zwar verweigern
sich die Fadenkonfigurationen nicht der meditativen Be
trachtung, doch befreit von jedwedem Sockel bieten sie sich
vor allem für eine Durchquerung an: «Ich wollte etwas ma
chen, was keine abgegrenzte ästhetische Situation war, son
dern etwas, das fest im alltäglichen, fußgängerischen Raum
blieb.»6 Die Skulpturen beinhalten die Aufforderung, nicht
3 Tomás Saraceno, Galaxies Forming along Filaments, like Droplets along the Strands of a Spider’s Web, 2009 (© Studio Tomás Saraceno, Foto: Alessandro Coco)
44 archithese 3.2013
GANZHEITLICHKEIT DES SEINSDie Eis-Versuche von Heinz Isler Der Schweizer Bauingenieur Heinz Isler (1926–2009) gehört mit
seinen über 1400 geplanten und realisierten Bauwerken zusammen mit Robert Maillart, Othmar
Ammann und Christian Menn zu den wichtigsten Schweizer Bauingenieuren des 20. Jahrhunderts.
International bekannt wurde er durch seine in dünnwandigem Beton ausgeführten expressiven
Schalentragwerke wie der Raststätte Deitingen Süd oder dem Gartencenter Wyss in Zuchwil. Diese
resultierten aus seinen experimentellen, physischen Formfindungsmethoden, wovon seine Eis-
Versuche einen weniger bekannten, jedoch für das Verständnis von Isler umso bedeutenderen Teil
darstellen.
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3 4
Autor: Toni Kotnik
Mit wenigen Ausnahmen basieren Islers Schalenbauten auf
der präzisen experimentellen Umsetzung von drei zwischen
1954 und 1958 beobachteten natürlichen Prozessen der
Formbildung: die eingespannte Membran unter Luftdruck,
entstanden aus der Betrachtung eines Kopfkissens, die
Hängeform, resultierend aus durchnässtem Jutegewebe,
welches über einem Armierungsgitter hing, und die Fliess-
methode, inspiriert durch herausquellenden Polyurethan-
schaum aus einem Quadratrohr.1 Aufbauend auf diesen Be-
obachtungen formulierte Isler seine grundlegende These,
dass effiziente Schalenformen sich nicht aus der damals im
Ingenieurwesen üblichen Anwendung von mathematischen
Formeln ergeben, sondern sich direkt aus den Erscheinungs-
formen der Naturgesetze entwickeln lassen.
Es waren dieses Verständnis von der Natur als wohlwol-
lende Lehrmeisterin und der spielerische Trieb zum Experi-
mentieren und Beobachten, welche den Ausgangspunkt
bildeten für Islers jahrzehntelange Beschäftigung mit Eis
während der Wintermonate im Garten seines Privathauses
in Zuzwil bei Bern. Erste Versuche führte er 1955 im Rahmen
der Validierung seiner Entdeckung der Hängeformen durch.
Hierzu besprühte er mit einer Rebenspritze ein grosses, aus
Gärtnergaze erzeugtes Hängemodell und liess es gefrieren.
Nach Umdrehen der gefrorenen Gaze zeigte sich, dass durch
die Hängeformen dünnwandige Schalen mit effizienter Trag-
wirkung erzeugt werden können.
Wie Isler richtig folgerte, ist die Effizienz der so erzeugten
Schalen in der Form begründet: «Es ist ausserordentlich in-
struktiv zu sehen, wie aus der schwingenden, beweglichen
Perlenwand plötzlich ein hartes tragfähiges Gebilde wird, im
Moment da die einzelnen Eisperlen mit ihren Nachbarn
schubfest zusammenwachsen. Voraussetzung ist natürlich,
dass die nur wenige Millimeter dünne Eisschale an jeder
Stelle hinreichende – wenn möglich doppelte – Krümmung
aufweist. Wo sie eben ist, besitzt sie nur kleine Biegesteifig-
keit und bricht sofort.»2 Für Isler stellten die in den folgenden
Jahren durchgeführten Eisversuche ein technisches Expe-
rimentierfeld dar, aus dem er Rückschlüsse auf das Verhalten
von Baumaterialien wie Beton ziehen konnte. Mit beson-
derem Interesse beobachtete er insbesondere den Schmelz-
vorgang, weil dabei sowohl die Eisschichten in minimaler
Dicke als auch Kriechvorgänge im Zeitraffertempo sichtbar
wurden.3
Isler dokumentierte seine Experimente in zahlreichen Fo-
tografien und in stichwortartigen Notizen, häufig auf losen
Blattsammlungen oder Karteikarten. Vereinzelt hat er bei
Experimenten über Wetterdaten akribisch Buch geführt, den
Versuchsaufbau skizziert und die verwendeten Materialien
und Werkzeuge aufgelistet. Eine systematische Zusammen-
stellung der gewonnenen Erkenntnisse, oder eine Veröffent-
lichung im Rahmen seiner zahlreichen Vorträge oder Publi-
kationen hat Isler jedoch stets vermieden. Seine Experimente
in Eis hatten so von Anbeginn den Charakter einer privaten
Konversation mit der Natur.
Phänomenologie des Eises
Mit dem Erfolg von Islers ersten gebauten Schalen und dem
gesteigerten Auftragsvolumen in seinem Ingenieurbüro ka-
men die Eisversuche ab Ende der Fünfzigerjahre zum Erlie-
gen und wurden erst ab Mitte der Siebziger wiederaufge-
nommen. In dieser Phase löste sich Isler von den Hängeformen
und erprobte neue Formvarianten basierend auf eingespann-
ten Membranen, pneumatischen Formen, Faltungsstruktu-
ren und räumlichen Netzen, bis hin zu skulpturalen Objekten
wie Eisblumen. Häufig durch Beleuchtung in Szene gesetzt,
entwickelten sich die winterlichen Bauten zu lokalen Attrak-
tionen, die Besucher anlockten und über welche in Zeitun-
gen und Rundfunk berichtet wurde. Keine dieser Methoden
der Formgenerierung war jedoch von grösserer Bedeutung
1 Heinz Isler beim Aufbau eines Versuchsbaus (1977) (Fotos: Heinz Isler Archiv, gta Archiv, ETH Zürich)
2 Eingespannte Membran (1978), gefaltete Zeltstruktur (1980), Raumfachwerk (1985) «die Nonnen» (1979), «Eisblume» (1985), «Weihnachtsdorf» (1980)
3 Eisbildung an besprühtem Baum (1979)
4 Transparenz, Verdichtung und Akkumulation von Eis (1980)
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WEICHEN DER ARCHITEKTURDie Raumhäutungen von Heidi Bucher In den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde die Künstlerin Heidi Bucher
(1926–1993) durch ihre raumumfassenden Latexhäutungen von Innenräumen bekannt. Dabei begriff sie Räume als Träger
von Erinnerungsspuren und Emotionen – die es abzuziehen und zu befreien galt: ein Transformationsprozess der
stabilen Innenräume zu fragilen Raumhäuten. Welche Fragen wirft die Arbeit von Heidi Bucher für die Architektur auf?
Autoren: Julia Höck und Hannes Mayer
Heidi Bucher wurde 1926 im schweizerischen Winterthur
geboren und wuchs dort in einem gutbürgerlichen Eltern-
haus auf. Nach der Schule in Teufen besuchte sie in den Vier-
zigerjahren die Modefachklasse an der Züricher Kunstgewer-
beschule und war unter anderem Schülerin bei Johannes
Itten und Max Bill. Mit abstrakten Collagen und Illustratio-
nen startete Heidi Bucher nach dem Krieg ihre künstlerische
Laufbahn. Ende der Sechzigerjahre zog sie mit ihrem dama-
ligen Ehemann, dem Bildhauer Carl Bucher, und den gemein-
samen Kindern Indigo und Mayo zuerst nach Kanada und
schliesslich nach Kalifornien. Dort entstanden ihre ersten
dreidimensionalen Arbeiten, darunter die Bodyshells (1972)
– tragbare, grossformatige Schaumstoffobjekte. Der dazuge-
hörige Film zeigt, wie die ganze Familie einen eigentümli-
chen Tanz der skulpturalen Hüllen am Strand von Venice
Beach aufführt. Diese elastischen Schaumstoffumhüllungen
waren erste Recherchen Heidi Buchers zur Grenze zwischen
Körpern und deren Umgebung und spiegelten damit einen
Trend der damaligen Avantgarde-Kunstszene wider, die sich
verstärkt Installationen, Happenings und Performances zu-
wandte.1
1
49
Vergangenhäute
Nach der Rückkehr in die Schweiz bezog Heidi Bucher eine
alte Metzgerei mit Ladenräumen an der Weinbergstrasse in
Zürich. Den Kühlraum im Untergeschoss nutzte sie als Ate-
lier und nannte ihn «Borg», eine eigene Wortkreation, die
dessen Gefühl der Geborgenheit ausdrücken sollte.2 Im Borg
begann sie neue Werkstoffe zu erkunden und entdeckte Na-
turlatex für ihre Arbeiten. Sie fing an, verschiedenste private
Alltagsgegenstände, Decken, Kissen, Kleidung bis hin zu
Möbeln einzubalsamieren und sicherte so die Spuren indivi-
dueller Gegenstandsgeschichten. Später fanden im Borg
Buchers erste Latexhäutungen statt – der Hautabzug ganzer
Innenräume stellt für sie ihren persönlichen künstlerischen
Durchbruch dar. Fortan «schälte sich [die Künstlerin] durch
die Häuser ihrer Vergangenheit»3. Es folgten die Häutungen
Herrenzimmer ihres Elternhauses (1977–1979) und Ahnen-
haus (1980–1982) – die Obermühle in Winterthur als ehema-
liges Haus ihrer Grosseltern väterlicherseits –, welche sich
an der eigenen Biografie abarbeiteten. Andere historisch
aufgeladene Gebäude wurden ebenfalls gehäutet, wie das
Hotel Grande Albergo in Brissago (1987), das Bellevue (1988),
eine psychiatrische Heilanstalt in Kreuzlingen am Bodensee,
oder die Villa Bleuler in Zürich (1991), in der sich heute das
Schweizerische Institut für Kunstgeschichte befindet.
«Ich sehe die Villa zum ersten Mal von der Terrasse aus.
Nun gehe ich in das Haus hinein. Ich schaue die Wände an,
die Türen, die Fenster, die Decken und die Böden. Ich berühre
sie. Ich betrachte sie lange. Ich muss allem näherkommen. Ich
komme, wir kommen noch zur rechten Zeit, mit Gaze. Wir
bekleben die Räume und lauschen. Wir betrachten die Ober-
fläche und beschichten sie. Wir hüllen und enthüllen.»4
Mit feinen Gazestoff und dickflüssigem, milchigem Natur-
latex arbeiteten die Künstlerin und ihre Helfer sorgfältig den
Räumlichkeiten und all ihren Struktur- und Materialunter-
schieden entlang.
Nach Verfestigung des Materials folgte die Häutung, wel-
che die technische Sorgfalt des Auftrags aufkündigt. Bucher
zerrte unter erheblichem körperlichen Einsatz die Häute von
ihrem Untergrund, denn es galt, die eigenen Spannungen zu
überwinden: «Das Abreissen der Häute ist Ablösung von der
Vergangenheit, von geprägter Materie, von Konventionen
und anderen Zwängen», schrieb Bucher über diesen Akt der
Materialbefreiung, und Armin Wildermuth verweist im Hin-
blick auf das Werk auf das bereits im Jugendstil beliebte
Symbol der Libelle, jenes schillernde hautartige Wesen, das
seine alte Hülle in Metamorphosen abwirft.5 «Der gehäutete
Raum ist transparent. Die Häute sind weich, dünn und
leicht.»6 Um diese Erscheinung zu verstärken, rieb Bucher
die Latexhäute mit Perlmuttpigment ein, um ihnen eine
irisierende und schwer zu fassende Licht- und Material-
wirkung zu verleihen.7 Aufgestellt und alleingestellt in der
Natur oder vom Kran hängend, frei in der Luft schwebend
zeigte sich die Empfindlichkeit dieser Oberflächen, die sich
vom Untergrund und im Denken Buchers von der Geschichte
emanzipiert haben – auf sich allein gestellt sind sie schwach
und fragil.
Festung und Schwächung
1990 goss die britische Künstlerin Rachel Whiteread das
Zimmer eines Londoner Terrace House in Beton ab (Ghost),
1993 wurde sie mit dem Abguss eines ganzen Haus weltbe-
kannt (House). Whiteread reduzierte die baufälligen «Scha-
lungen» bewusst um Details und strebte nach einem festen,
formalen Ausdruck. Die im Vergleich zu Bucher gegenläufige
Metamorphose hin zur Festigkeit erfreute sich in den vergan-
genen Jahren auch in der Architektur grosser Beliebtheit
und schien eine ideale Strategie, um mediale Aufmerksam-
1 Hautraum (Ahnenhaus), installiert im Garten, ca. 1982, Verbleib unbekannt (© The Estate of Heidi Bucher 2013)
2 Innenansicht Ahnenhaus (Boden), Arbeitsprozess, ca. 1980–1982 (Foto: Vladimir Spacek © The Estate of Heidi Bucher 2013)
2
68 archithese 3.2013
PUTZEine vielfältige Gebäudehülle Putz als alltäglicher und einer der wohl am häufigsten angewendeten Baustoffe ist ein
Material des Hintergrundes. Ganze Städte, Dörfer und Vorstadtsiedlungen sind verputzt. Putz hat sich bewährt, ist praktisch
und kostengünstig. Die verputzte Aussenwärmedämmung gehört heute längst zum Standard des alltäglichen Bauens und
ist aus der Baupraxis nicht mehr wegzudenken. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch schnell grosse Unterschiede in
der Oberflächenbearbeitung einzelner Putze feststellen: Putze sind vielfältiger, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen.
Zwar sind sie ein alltäglicher, doch aber auch ganz besonderer Baustoff.
1
Autoren: Hartmut Göhler und Pinar Gönül
Zusammensetzung von Putzen
Putz ist kein natürlich vorkommendes Material. Ein Putzmör-
tel entsteht erst durch die Mischung von Zuschlagstoffen,
Bindemitteln, Wasser und weiteren Zuschlägen.
Den Hauptbestandteil bilden Zuschlagstoffe wie Sande
und Kiese, die neben den Bindemitteln die besonderen Ei-
genschaften von Putzen wie Dichte, Porosität, Druckfestig-
keit sowie Witterungs- und Frostbeständigkeit bestimmen.
Zudem beeinflussen sie die Oberflächenstruktur, Farbe und
Haptik eines Putzes: Zuschlagstoffe wie beispielsweise
Trass und Puzzolanerde sind hydraulisch wirksam, schwar-
zer Basalt, Schiefer oder farbiger Quarzsand sind farbge-
bend.
Die Zuschlagstoffe wurden früher aus den lokalen Sand-
und Kiesgruben oder am nächstgelegenen Flussufer, See
oder Gebirge gewonnen. Rein äusserlich unterscheiden sich
die Sande zunächst kaum, erst beim Zerreiben zwischen den
Fingern zeigen sich im noch ungewaschenen Zustand grosse
Unterschiede in Textur und Beschaffenheit. Konsistenz,
Kornoberflächen, Korngrössen, Dichte und die Farbgebung
der verschiedenen Sande erzeugen später unterschiedliche
Oberflächenstrukturen.
Für den Erhärtungsprozess des Putzes sind Bindemittel
wie Kalkhydrat, hydraulische oder hochhydraulische Kalke
und Zemente oder Kalkzemente verantwortlich, die je nach
Einsatz verschiedene Festigkeiten des Putzes erzeugen
können.
Eine Besonderheit ist noch immer die Verwendung von
Kalk als Bindemittel: Lokale Kalksteingruben liefern unter-
schiedliche Kalksteinsorten wie Dolomit- oder Jurakalk,
Marmorkalk, Muschelkalk und Kreide. Jede dieser Kalkstein-
arten besitzt eine besondere Materialeigenschaft und Farb-
gebung und beeinflusst damit unmittelbar die Anwen-
dungsmöglichkeiten und die Farbgestaltung eines Putzes.
Die dritte Stoffgruppe bilden die Zuschläge, durch deren
Zugabe die Putzmischung vor allem farblich beeinflusst wer-
den kann: natürliche oder künstliche Pigmente, Steinsplitter
aus Marmor, Ziegelsplitter und farbiger Kies sorgen für eine
spezielle Farbgebung; Glas, Muschel- und Perlmuttanteile
sowie Glimmer geben der Putzoberfläche durch Lichtreflexi-
onen Glanz. Je nach Anwendung kann das «einfache Mate-
rial» Putz somit nobilitiert werden. Besonders bei Wasch-
und Kratzputzen, deren «Putzinneres» durch subtraktive
Bearbeitung sichtbar gemacht wird, können Zuschläge die
Oberfläche beleben. Zuschläge können zudem auch Kunst-
stoff- oder Pflanzenfasern sein, die den Putzen als «Beweh-
rung» und Rissverhinderer beigegeben werden.
Jede Putzrezeptur ist eine eigene Kombination aus Zu-
schlagstoffen, Bindemitteln und weiteren Zuschlägen und
erzeugt einen anderen Putz. Die Besonderheit des Putzes,
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2–6
den Mörtel mit verschiedenen natürlichen Rohstoffen «anzu-
machen» und ihn handwerklich zu bearbeiten, hat daher zu
einer einzigartigen Vielfalt an Putzen und Putzoberflächen
geführt.
Regionaler Baustoff
In Abhängigkeit von natürlichen Kalk- und Sandvorkommen
waren Putze traditionell regionale Baustoffe. Sie entstanden
durch das Zusammenspiel von lokalen Rohstoffen und Witte-
rungsverhältnissen sowie das Wissen über Techniken wie
der des Kalkbrennens. Durch die industrielle Herstellung von
hydraulischen Bindemitteln wie Zement und Kalkzement-
putzen sowie den durch die Bahntechnik möglichen Trans-
port von Baustoffen über lange Distanzen fand eine «Entre-
gionalisierung» der Putze statt. Die industriell hergestellten
Putze egalisieren heute alle Eigenschaften eines ehemals
regionalen Putzmörtels: Zuschlagstoffe werden in Sieblini-
enkurven standardisiert, künstliche Pigmente und Zusatz-
stoffe homogenisieren die Materialeigenschaften. Putze
werden heute mehrheitlich als fertige Sackware geliefert und
ihre Zusammensetzung ist, von Regionen unabhängig, stan-
dardisiert. Neben mineralischen Putzen kommen organische
Putze heute vor allem in Form von verputzten Aussenwärme-
dämmungen zur Anwendung.
Verarbeitung von Putzen am Beispiel der Kalkputze
Durch die Zugabe von Wasser werden die Bestandteile des
Putzes zu einem verarbeitungsfähigen Putzmörtel «ange-
macht». Das Wasser setzt im Bindemittel Kalk einen Hydra-
tationsprozess in Gang, der auch als «Kreislauf des Kalks»
bekannt ist. Natürlicher Kalkstein wird in einem Brandofen
gebrannt, CO2 und Wasser werden dabei ausgetrieben. Das
Produkt ist Branntkalk, welcher durch Zugabe von Wasser
und unter Freisetzung von Wärme zu Löschkalk aufbereitet
wird. Es entsteht eine pastöse Löschkalkmasse, die mit der
Zugabe von Sand, weiteren Zuschlagstoffen und Wasser zu
einem verarbeitungsfähigen Putzmörtel wird. Beim Aushär-
ten des Putzmörtels (Hydratation) und der erneuten Auf-
nahme von CO2 (Karbonatisierung) entsteht wieder ein Kalk-
steinkonglomerat. Damit ist am Ende dieses Prozesses
chemisch wieder Kalkstein entstanden – Kalkputzfassaden
können somit als hauchdünne Steinfassaden verstanden
werden.
So wie das Löschen des Kalkes früher durch den Hand-
werker auf der Baustelle geschah, lag auch die Verarbeitung
des Putzes damals in der Hand des örtlichen Handwerkers.
Er bestimmte neben der Zusammensetzung des Putzes auch
die richtige Menge «Anmachwasser». Das «Anmachen» des
Putzes geschieht üblicherweise auf der Baustelle. In hand-
werklicher Manier werden dort die Bestandteile Kalk und
Sand im Verhältnis 1:3 unter Hinzufügen von Anmachwasser
zu Kalkmörtel vermengt.
Industriell hergestellte Fertigmörtel werden ebenfalls mit
Wasser angemacht und anschliessend, oftmals maschinell,
aufgetragen. Die Mischung erfolgt nach den Angaben der
Putzhersteller und lässt daher kaum Raum für Variationen.
1 Baustelleneinrichtung Kalkputz (Foto: Hans-Jörg Walter)
2 Lehmsand (Fotos 2–6: Ursula Ochsenbein)
3 Sand
4 Sand
5 Perlmut
6 Glimmer