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Arild Aambø Oslo, Norwegen Halte es klar und einfach! Als ich Insoo zum ersten Mal fragte, ob sie Interesse habe, nach Norwegen zu kommen, um Lösungsorientierte Therapie zu unterrichten, antwortete sie brüsk: „Norwegen? Nein! Nie wieder!“ Erst später erfuhr ich die Gründe für diese doch eher überraschende Reaktion. Sie war bis dahin zweimal in Nor- wegen gewesen. Das erste Mal mit ihrem ersten Ehemann, der norwegischer Herkunft war. Das Paar hatte seine Familie besuchen wollen, die in einem klei- nen Haus in einer sehr entlegenen Gegend an der Westküste wohnte – in ei- nem Haus, das an einer öden Straße lag. Die Straße schlängelte sich an einem dunklen schmalen Fjord entlang. Auf der einen Seite ragten die steilen Felsen empor, auf der anderen sah man auf das tiefe Wasser hinab. Ein Fjord kann auf Postkarten sehr malerisch aussehen – Insoo empfand den Ort gleichwohl wie ein Gefängnis. Alle Bewegungsmöglichkeiten außerhalb des Hauses waren zwangsläufig beschränkt auf diese eine Straße, und nach einigen Tagen konnte sie es dort kaum mehr aushalten. Den restlichen Aufenthalt brachte sie irgend- wie hinter sich, doch sie litt. Das zweite Mal war sie gemeinsam mit Steve eingeladen worden, um in einem Krankenhaus in Oslo ein Seminar über Lösungsorientierte Therapie zu geben. Dies war kurz, nachdem diese Therapieform einem breiteren Publikum vor- gestellt worden war. Da der Ansatz so vielversprechend war, nutzten manche Mitarbeiter des Krankenhauses gleich die Gelegenheit, um die traditionelleren Therapieformen, die an der Klinik angewendet wurden, infrage zu stellen. Das Ergebnis war, dass Steve und Insoo sich schnell in einer grauenvollen Diskus- sion gefangen sahen, die in einem am Krankenhaus schwelenden Konflikt be- gründet lag. Das war das Letzte, was sie wollten, und als das Seminar endlich vorbei war, schworen sie sich: „Nie wieder Norwegen!“ Doch als Insoo von unserem neuen Projekt hörte, konnte sie nicht widerste- hen. Wir hatten vor, eine multidisziplinäre Gruppe von Helfern – Menschen, die in der ambulanten Pflege arbeiteten, Krankenpfleger, Hausärzte, Psycholo- gen und Psychiater – in lösungsorientierter Arbeit zu schulen. Wir wollten die Methode als eine Art gemeinsame Sprache einführen und dadurch erreichen, dass alle Beteiligten effektiv und sensibel mit Alkohol- und Drogenabhängigen arbeiten könnten. So begann ein langfristiges Projekt, in dessen Verlauf Insoo immer wieder nach Oslo kam. Und auch nach Abschluss des Projekts besuchte sie Oslo und Norwegen oft und arbeitete hier mit immer mehr Teams und Gruppen. So geschickt und agil wie sie war, mochte es Insoo sehr, sich körperlich zu bewegen. Sie liebte Tai Chi und hatte auch nichts gegen das Stemmen von Gewichten einzuwenden. Wir erfuhren, dass sie zu Hause im Winter die An- gewohnheit hatte, sehr früh aufzustehen und im größten Park von Milwaukee Arild Aambø Halte es klar und einfach! 11

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Arild Aambø Oslo, Norwegen

Halte es klar und einfach!

Als ich Insoo zum ersten Mal fragte, ob sie Interesse habe, nach Norwegen zu kommen, um Lösungsorientierte Therapie zu unterrichten, antwortete sie brüsk: „Norwegen? Nein! Nie wieder!“ Erst später erfuhr ich die Gründe für diese doch eher überraschende Reaktion. Sie war bis dahin zweimal in Nor-wegen gewesen. Das erste Mal mit ihrem ersten Ehemann, der norwegischer Herkunft war. Das Paar hatte seine Familie besuchen wollen, die in einem klei-nen Haus in einer sehr entlegenen Gegend an der Westküste wohnte – in ei-nem Haus, das an einer öden Straße lag. Die Straße schlängelte sich an einem dunklen schmalen Fjord entlang. Auf der einen Seite ragten die steilen Felsen empor, auf der anderen sah man auf das tiefe Wasser hinab. Ein Fjord kann auf Postkarten sehr malerisch aussehen – Insoo empfand den Ort gleichwohl wie ein Gefängnis. Alle Bewegungsmöglichkeiten außerhalb des Hauses waren zwangsläufig beschränkt auf diese eine Straße, und nach einigen Tagen konnte sie es dort kaum mehr aushalten. Den restlichen Aufenthalt brachte sie irgend-wie hinter sich, doch sie litt.Das zweite Mal war sie gemeinsam mit Steve eingeladen worden, um in einem Krankenhaus in Oslo ein Seminar über Lösungsorientierte Therapie zu geben. Dies war kurz, nachdem diese Therapieform einem breiteren Publikum vor-gestellt worden war. Da der Ansatz so vielversprechend war, nutzten manche Mitarbeiter des Krankenhauses gleich die Gelegenheit, um die traditionelleren Therapieformen, die an der Klinik angewendet wurden, infrage zu stellen. Das Ergebnis war, dass Steve und Insoo sich schnell in einer grauenvollen Diskus-sion gefangen sahen, die in einem am Krankenhaus schwelenden Konflikt be-gründet lag. Das war das Letzte, was sie wollten, und als das Seminar endlich vorbei war, schworen sie sich: „Nie wieder Norwegen!“Doch als Insoo von unserem neuen Projekt hörte, konnte sie nicht widerste-hen. Wir hatten vor, eine multidisziplinäre Gruppe von Helfern – Menschen, die in der ambulanten Pflege arbeiteten, Krankenpfleger, Hausärzte, Psycholo-gen und Psychiater – in lösungsorientierter Arbeit zu schulen. Wir wollten die Methode als eine Art gemeinsame Sprache einführen und dadurch erreichen, dass alle Beteiligten effektiv und sensibel mit Alkohol- und Drogenabhängigen arbeiten könnten. So begann ein langfristiges Projekt, in dessen Verlauf Insoo immer wieder nach Oslo kam. Und auch nach Abschluss des Projekts besuchte sie Oslo und Norwegen oft und arbeitete hier mit immer mehr Teams und Gruppen.So geschickt und agil wie sie war, mochte es Insoo sehr, sich körperlich zu bewegen. Sie liebte Tai Chi und hatte auch nichts gegen das Stemmen von Gewichten einzuwenden. Wir erfuhren, dass sie zu Hause im Winter die An-gewohnheit hatte, sehr früh aufzustehen und im größten Park von Milwaukee

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Ski zu fahren. Daraufhin luden ein gemeinsamer Freund und ich sie in seine Hütte in den norwegischen Bergen ein und gingen Skifahren. Es war ein kalter, windiger Wintertag, und die Landschaft eine Herausforderung – etwas ganz anderes als die Parks in Milwaukee. Es ist nicht unfair, wenn ich sage, dass In-soo sich große Mühe gab und versuchte, das Beste aus den geliehenen Skiern und der nicht ganz passenden Ausrüstung zu machen. Doch war dieser Ausflug eine von vielen Gelegenheiten, bei denen Insoo mich wirklich beeindruckte: nicht wegen ihrer Geschicklichkeit beim Skifahren, sondern wegen ihrer au-ßerordentlichen Ausdauer. Sie hielt durch, kämpfte, doch sie beschwerte sich nie, setzte geduldig einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, bis wir die Hütte wieder erreicht hatten. Sicher in diesem warmen Berggasthof angelangt, schlief sie erschöpft ein, während mein Freund und ich uns fragten, wo sie ihre Ausdauer und ihr Durchhaltevermögen wohl her hatte. Und nun konnten wir dieselbe Beharrlichkeit auch in ihrer Arbeit erkennen, insbesondere in ihren Gesprächen, in denen sie oft dieselbe Frage wieder und wieder stellte. Nie als Routine, immer voller Verwunderung.Wir freundeten uns besser an, und ich wurde nach Milwaukee eingeladen, um bei Insoo und Steve zu übernachten und am Zentrum mitzuarbeiten. Die ame-rikanische Sprache war damals sehr schwer für mich zu verstehen, besonders wenn ein Klient mit Akzent sprach, was häufig vorkam – wahrscheinlich, weil das Zentrum an der Grenze zu einem der ärmsten Stadtteile von Milwaukee lag und die meisten KlientInnen kaum Gelegenheit hatten, sich durch eine umfassende schulische Förderung sprachlich zu bilden. Trotzdem wurde ich sofort in den Therapieraum geschickt, Insoo selbst saß hinter dem Spiegel. „Du musst einfach direkt anfangen! Das ist die einzige Art, es zu lernen!“ sagte sie. Und natürlich hatte sie recht. Nach manchen intensiven Sitzungen lud sie alle zum Mittagessen im Büro ein.Sie breitete einfach ein Tischtuch auf dem Boden aus, stellte das Essen in die Mitte, und jeder musste sich selbst bedienen, so gut es ging. „So ist es einfacher, sich zu unterhalten“, meinte Insoo, „die Atmosphäre ist entspannter, und das Erzählen fällt leichter“. Und wieder hatte sie recht: Schon damals gab es die Bewegung von Ko-Evolution oder Ko-Konstruktion, hin zu Ko-Agieren und sensomotorischer Einstimmung auf einander als eine gute Grundlage, um eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Doch war es die vielleicht großartigste Erfahrung in Milwaukee, als Steve mich einlud, zusammen das Abendessen vorzubereiten.Er wusste von meinen laufenden Projekten zur Gesundheitsförderung bei Immigranten in Oslo – wir boten für die Angestellten im Gesundheitswesen Kochkurse in traditioneller Indischer und Pakistanischer Küche an – und si-cherlich gefiel es ihm auch, mich herauszufordern.

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Während wir alles zum Anbraten vorbereiteten, gab er mir den Auftrag, mich um die rohen Zutaten zu kümmern. Und ich erhielt jede Menge Anweisun-gen: Um die Hähnchenbrust vorzubereiten, musste ich alles entfernen, was auch nur im Entferntesten an eine Sehne erinnerte. Und beim Brokkoli muss-te ich jeden auch noch so kleinen Strunk entfernen. Ich wusste, dass er ein Feinschmecker war – nicht nur, wenn es um Jazz und klassische Musik ging, sondern auch in Bezug auf japanische Holzschnitte, Bier und Essen. Ich teilte seine Interessen, doch ich hatte noch nie all die Besonderheiten beachtet, die er nun von mir forderte.

Ich war beeindruckt von seiner Ernsthaftigkeit. „Wir müssen sie entfernen, sonst bleiben sie zwischen unseren Zähnen hängen!“, wiederholte er immer wieder. Ich tat, wie mir geheißen, und langsam begriff ich, dass dies vielleicht seine ganz persönliche Art war, mir die Bedeutung von Ochhams Rasiermesser beizubringen, einem Prinzip, das ihm offensichtlich sehr wichtig war.

Es gibt natürlich sehr viele Begebenheiten, die mir einfallen, während ich die-sen Text schreibe. Zum Beispiel eine Reise durch die Rocky Mountains, wo ich aus purer Zerstreutheit mein Flugticket im Hotelzimmer vergaß und Insoo das Problem auf die ihr eigene praktische Art löste, indem sie organisierte, dass das Ticket per Kurier zu unserem nächsten Reiseziel geschickt wurde. Dort traf es sogar noch vor uns ein. Ich erinnere mich auch an gemeinsam abgehaltene Seminare oder wertvolle Hilfe bei der Vorbereitung von Konferenzen und wis-senschaftlichen Beiträgen. Diese Erlebnisse haben meine Art zu denken wirk-lich verändert, sowohl im Hinblick auf das Leben im Allgemeinen wie auch über das, was im Therapieraum geschieht.

Hier möchte ich nur einige Beispiele nennen: Steve weigerte sich, Seminare vorzubereiten. „Wir müssen improvisieren. Das ist die einzige Möglichkeit, mit dem Publikum in Kontakt zu kommen. Sprich, worüber du willst, aber über-lass mir die Wunderfrage!“, sagte er. Noch ein Beispiel: Als ich einen meiner Artikel „Erreichen eines gemeinsamen Verständnisses“ nennen wollte, schlug Insoo sofort eine Alternative vor. „Wäre es nicht besser, den Text ‚Kreativer Umgang mit Missverständnissen’ zu nennen?“ Das kam fast auf das Selbe hi-naus, und doch bekam ich ein vollkommen neues Verständnis von dem, was ich geschrieben hatte. Eine völlig neue Welt eröffnete sich mir.

Ich liebte ihre taktvollen Bemerkungen. Irgendwann war ich so beeinflusst durch Insoos Art zu denken, dass ich mich bei einem Problem fragte: „Wenn Insoo jetzt hier wäre, was würde sie tun?“ Dann war es, als ob ein Wunder geschähe: Die Lösung erschien, scheinbar aus dem Nichts, nahm Form an und wurde Wirklichkeit in Raum und Zeit. Mystizismus? Nein. Heutzutage gibt es

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wohlbegründete wissenschaftliche Arbeiten, die vollkommen adäquate Erklä-rungen für dieses Phänomen liefern, doch das ist eine andere Geschichte.

Die relevante Frage hier lautet: „Welchen Bezug haben diese Episoden zu mei-nem Verständnis der Lösungsorientierten Kurzzeittherapie?“ Ich werde nur einige Dinge nennen, die mir wichtig geworden sind, wohl wissend, dass Insoo und Steve beide großartige Persönlichkeiten waren, deren persönliches Enga-gement in jeder Anwendung der Methode durchschimmert und das jede Be-ziehung bereicherte, die sie eingingen.

Im Folgenden nehmen die Erkenntnisse des Paares die Form von Ratschlägen an:

Stell dich auf andere Menschen ein.yyHalte es klar und einfach.yyEntferne alles, was die geschmackvolle, fließende, schmelzende, unmittel-yybare Erfahrung stören könnte.Sei praktisch und hilfreich.yyGib nicht schnell auf.yyErfreue dich an Exzellenz.yy

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Corina Ahlers Wien, Österreich

Erinnerungen an Steve und Insoo

Mein Einstieg in die lösungsorientierte Szene

1985 war ich das fünfte Jahr als Psychologin im städtischen psychiatrischen Spital angestellt. Zwei Jahre vorher hatte ich die familientherapeutische Aus-bildung beendet, welche in dieser Zeit im Zeichen Virginia Satirs humanisti-schem Ressourcenmodell stand. Persönliches Wachstum und Verbesserung des Selbstwertes waren hoch im Kurs. Daneben blühte der Mailänder Ansatz mit Konzepten von Zirkularität und Rekursion und Keeneys Ideen vom ästheti-schen Umgang mit therapeutischen Landkarten. Delegationen der Herkunfts-familie an Familien oder Paare, die Methode der Familienskulptur und der therapeutische Umgang mit vorwurfsvollen, rationalisierenden, irrelevanten oder beschwichtigenden Kommunikationsstilen prägten mein therapeutisches Denken. Die Zielidee der primär humanistischen, systemischen Denkrichtung war es, eine kongruente Kommunikation in einer selbstwertfördernden fami-liären Umwelt für die KlientInnen herzustellen, damit ihr persönliches Wachs-tum gefördert werde.

1986 wechselte ich von der Psychiatrie an das renommierte Institut für Fami-lientherapie der Stadt Wien und konnte hier systemisch Gelerntes in einem neuen Umfeld anwenden. Das Institut auf der belebten Praterstraße entfernte mich von den Mauern des stationären psychiatrischen Settings. Das Stigmati-sierte wich dem Alltäglichen, kein Geruch mehr von Desinfektionsmitteln und keine Sicht auf kalte Tagräume mit weißen Kitteln, sondern eine Einkaufsstras-se mit einem Mc Donalds und einem Eisgeschäft im Erdgeschoss. Als Professi-onelle, die aus der stationären, chronischen Psychiatrie kam, lieferte mir diese neue Welt ein Meer an Eindrücken, die im Gegensatz zum Stationsalltag nun endlich nach therapeutischer Machbarkeit dufteten. Am Institut selbst kam ich mir hinter dem Einwegspiegel vor wie auf einem Safariabenteuer: Familien auf freier Wildbahn, ich im kugelsicheren Jeep. Ich beobachtete das System Familie, betrieb im Satirschen Sinne „Systemerkennung“ (eine diagnostische Zuordnung der Familie nach Kommunikationsstil und Selbstwertpunkten) und vergrößerte mein Expertentum, um am Institut mit gutem Gewissen nicht nur hinter, sondern auch vor dem Einwegspiegel arbeiten zu können. Ich war stolz, zu den Gründern der österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien (ÖAS) dazuzugehören. Wir verstanden uns als interdisziplinäre wissenschaftliche Diskussionsplattform, in der sich spezifisch systemische Unterscheidungen quer durch Biologie, Ethno-logie, Philosophie und Therapie berührten. Wir sahen uns Filme eines Konrad

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Lorenz-Schülers (Professor Schleidt) über den Kampf der Truthähne an und versuchten Bateson-getreu die interaktiven Zeichen derartiger Rekursion auf eine therapeutische Stunde zu übersetzen. Obwohl das bei den Truthähnen fast unmöglich war, teilten alle die Euphorie der Systemtheorie von Berta Lanffy, bis die konstruktivistische Wende uns übertölpelte. Mit dem Eingang der Ky-bernetik zweiter Ordnung lernten wir, das Auge des Beobachters ins Visier zu nehmen und mehr auf die internen Konstrukte als auf externe Abbildungen der Realität zu horchen. Soeben frisch gebackene Lehrtherapeutin der ÖAS geworden, lernte ich Steve de Shazer und Insoo Kim Berg kennen. Mein erster Eindruck von den beiden war – trotz der schönen Umgebung ihres Workshops – nicht sehr ermutigend: Zum Schloss Neuwaldegg passteSteve de Shazer nicht gut dazu: ein grantiger Grummelbart, sein vernuschel-tes Amerikanisch, fast nicht zu verstehen. Das uns TeilnehmerInnen gezeigte Video mit dem schwarzen Einzelklienten – ausßer dem „Hm“ und dem „Ye-ah“ nach jeder zweiten Frage von Insoo komplett unverständlich. Dazwischen antwortete er mit „I don‘t know“. Die Meister beteuerten, dass dieser Klient, ein sogenannter „Besucher“, nach der Stunde lockerer von dannen gezogen sei und – stellt euch das mal vor! – nochmal gekommen sei. Ich konnte mir keinen Reim drauf machen, was das Außergewöhnliche an dieser Einzelstunde gewesen sein mochte.In Insoo sah ich das Fremdländische, das interessierte mich schon, es machte mich neugierig und ich entschied für mich, dass sie didaktisch besser sei als Steve, allerdings blieb sie in seinem Windschatten. Darüber hinaus fand ich die beiden als Paar seltsam distanziert miteinander, jeder für sich und trotzdem zusammen.Ich war nicht überzeugt von diesen sogenannten Meistern einer neuen syste-mischen Schule und ich blieb nach dem ersten Kennenlernen skeptisch – neu-gierig.

Aber als ich 1988 meine USA-Reise plante, war mir klar, dass die beiden fix auf meinem Programm sein mussten. Ich hatte inzwischen von KollegInnen aufgeschnappt, dass man viel von ihnen halte, dass die Methode genial sei, dass die beiden einfach sehr hilfreiche Anregungen für die systemische Arbeit brin-gen würden. Und so schrieb ich ihnen genauso wie meinem adorierten Harry Goolishian einen langen Brief, in denen ich über meine Absichten, Amerika systemisch zu bereisen, berichtete. Und siehe da:

Sowohl Harry Goolishian wie auch Steve de Shazer und Insoo Kim Berg luden mich zu sich ein. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Bei beiden habe ich gewohnt und sie über zehn Tage lang bei der Arbeit beobachtet. Die enorme Differenz zwischen Harry in Texas und Steve und Insoo in Milwaukee kann ich mir heute noch vergegenwärtigen. Ich war zuerst bei Harry Goolishian in

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Galveston und dann in Milwaukee. Das Team um Harry wusste damals von meinem Besuch bei Steve und Insoo und verabschiedete mich mit den Worten: „When you arrive, give them a tin of baked beans.“ Diesen Satz habe ich bis heute nicht dechiffrieren können. Leicht abfällig, ironisch, humorvoll gibt er wohl atmosphärisch die leichte Konkurrenz der zwei Institute wieder, die sich nie verstanden und eher gemieden haben.Ich persönlich habe allerdings gerade von der Differenz der Konzepte extrem profitiert: Die Uneindeutigkeit des extrem gastfreundlichen Teams in Houston prallte gegen den pragmatischen, logischen Aufbau des kurztherapeutischen Konzepts. Die Meister in Milwaukee waren tüchtiger, effektiver, sichtbarer, nordischer. Da ich selbst in Spanien aufgewachsen bin und in Österreich lebe, kann ich mit diesen Unterschieden gut leben und profitiere davon.

Von Galveston nach Milwaukee

Ich steige in Houston in den Flieger und erreiche Milwaukee erst spät am yyAbend. Steve holt mich ab, grummelt in seinen Bart ein dumpfes „wel-come“ und bringt mich nach Hause. Insoo empfängt mich freundlicher, zeigt mir das Zimmer, dann wird noch ein Bierchen getrunken. Sie reden gerne von Europa, dort verstehe man sie besser als im eigenen Land, sagen sie. Die Europäer seien das „Denken“ eben gewöhnt. Was für ein herrliches Lob für jemand, der gerade von der alten Welt in die USA kommt.Die beiden seien oft an verschiedenen Orten unterwegs, Einladungen fol-yygend, und dann sehe man sich hier in Milwaukee, so wie jetzt, im Sommer. Und diese gemeinsame Zeit sei wichtig, um neue Ideen zu bekommen. Es sei auch die Zeit, wo viele Besucher kämen. Von diesen könne man pro-fitieren, so viele Menschen mit so vielen unterschiedlichen Denkweisen, aber auch ein bisschen Erholung zwischen den vielen Reisen, so die bei-den Meister. Meine Reisemüdigkeit paart sich mit der Erschöpftheit der Meister, wir verabschieden uns schnell, die beiden mit dem kurzen Satz: „Morgen kommst du einfach mit.“

Mein erster Tag am BFTC in Milwaukee

Ein knappes Frühstück, kurze Lagebesprechung des Tages zwischen den yybeiden und wir fahren ins Office. Dort werde ich mir selbst überlassen, al-lerdings ist alles offen und zugänglich, es laufen viele Leute herum, die man alles fragen kann, sie sind sehr freundlich, und man findet rasch die Kam-mer hinter dem Einwegspiegel. Eine wohltuende Reminiszenz für mich: Der kugelsichere Jeep!

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Im Brief Therapy Center ist die Besucherkammer hinter zwei Einwegspie-yygeln, man kann in zwei verschiedene Therapiezimmer hineinschauen, die Tonübertragung funktioniert nur im großen Therapieraum. Man sitzt also, beobachtet parallel zwei Therapien, hört aber nur bei einer zu, bis man abgelenkt wird von jemandem, der Fertighendl vom Chinesen ne-benan bingt. Man isst hinter dem Spiegel, denn es gibt Hunger und es ist nie Zeit zum Essen. Jeder möchte die Zeit maximal für sich nutzen: Ein Klima der Effektivität hält uns alle zusammen. Es ist ein buntes Treiben von Leuten, die sich nicht kennen. Sie kommen vorbei, wenn sie gerade in der Stadt sind, manche bleiben ein oder zwei Stunden hinter dem Spiegel, gehen dann wieder. Darüber, wer da kommt und wer da geht, hat niemand einen Überblick. Das Klima der Beobachter hinter dem Einwegspiegel ist von Respekt und Wertschätzung untereinander und den KlientInnen ge-genüber getragen. Manche suchen das Gespräch mit den Meistern, andere nicht. Steve schwärmt von einem Elektroingenieur, der genau die richtigen Fragen stelle, weil er intellektuell nicht therapeutisch vorbelastet sei. Dessen Anregungen würden ihm beim Erstellen seiner Zentralkarte zur Führung einer therapeutischen Sitzung, dem „Central Map“ 1, am meisten helfen!Ich bin verdutzt über diese Aussage. Wie kann Steve einem Techniker ver-yytrauen, wo doch diese Menschen mit „Psycho“ meistens nichts am Hut haben? Indem ich mir die Frage stelle, werde ich mir gleichzeitig meiner professionellen Vorurteile bewusst. Ich bin ja schon ein bisschen auf der konstruktivistischen Welle gelandet und weiß, dass es eine Sichtweise in meinem Kopf ist und keine Realität. Und dass ich eigentlich keine Ahnung habe, was ein Elektroingenieur für eine Sicht auf Dinge hat, weil ich mich damit noch nie befasst habe. Also sollte ich mir vielleicht ein bisschen mehr Neugierde abverlangen, so denke ich nach gelungener Selbstreflexion. Mir wird bewusst, dass es Steves Gabe ist, Menschen in ein extremes Erstau-nen zu versetzen, welches erst durch massives Nachdenken wieder beruhigt werden kann.Ich lerne auch, wie der amerikanische Lebensstil mit der lösungsorientier-yyten Therapie harmoniert. Man geht eine Runde um den Häuserblock („to go for a walk“) oder man tut etwas ganz anderes („to do something dif-ferent“). Das sind die einfachen Hausaufgaben dieser Therapieform, die für den Europäer banal klingen mögen, hierorts jedoch eine habitualisierte Lebenspraktik darstellen und insofern bedeutungsvoll sind. Es geht um Handlungen und nicht um Interpretationen. Die geniale Strategie der bei-den Meister kombiniert das Denken mit dem Tun derart, dass jene Essenz an Bedeutung entstehen kann, die Veränderung zum Ziel führt. Menschen verändern sich, ohne es zu merken, indem sie merken, was sie tun und es

1 de Shazer, S. (1988). Clues. Investigating solutions in brief therapy. New York: Norton.

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anders interpretieren als vorher. Erst als ich nach Wien zurückkomme und in den Büchern de Shazers schmökere, kann ich die kurzen Stimmungsbil-der am BFTC mit den Konzepten der „Willkür“ bzw. „Unwillkür“ verqui-cken und auskosten.2

Ich denke plötzlich anders über Bedeutung nach: Worte spielen mit uns und yywir spielen mit Worten. Es ist ein Tanz, der sich auf die Lösung ausrichtet. Wir TherapeutInnen wollen dieses Spiel gewinnen, aber die KlientInnen auch. Wir müssen es schaffen, sie für ein gemeinsames Arbeitsprojekt (joint work project) zu gewinnen. Steve und Insoo schlagen ihren KlientInnen in gewisser Weise ein solches Spiel vor, dessen Titel lauten könnte: „Lass uns miteinander die Lösung einladen“. Hier gibt es keine Verlierer, nur Gewin-ner oder Unbeteiligte. Unbeteiligte entdecken für sich noch keine Vorteile, aber sie schauen zu und sehen, dass andere davon profitieren. Möglicher-weise werden sie später von der Lösungsidee angesteckt. Das Spiel wie-derholt sich ständig, und es hat wortspielerisch ähnliche Muster. Hundert Formulierungen für dasselbe, eine Jazzmelodie mit vielen Variationen. Es wird irgendwann gehört werden! Niemand kann aussteigen aus dem Spiel. Der therapeutische Habitus mit der Divise: „Es gibt nichts außerhalb der Lösung“ dominiert den therapeutischen Prozess ununterbrochen.Jahre später wählt Steve eine dieser hundert Formulierungen zur Lösung, yyindem er Hedwig Wagner und mir die speziell für ihn aufbewahrte Frage zu unserer Therapie mit dem schwer Depressiven beantwortet. Unser Kli-ent antwortete auf die Wunderfrage mit: „Das Wunder wäre, dass ich nicht mehr aufwache …“. Seine dazu passende Nachfolgefrage an den Klienten lautet: „Was ist dann anders?“ Wir sind verdutzt, dass es so einfach sein kann und so radikal. Der Meister geht einen Schritt weiter in der Vision des Wunders: „Und wenn Sie (dieser Klient) gestorben sind, was ist dann anders? Wen möchten Sie bei ihrem Begräbnis dabeihaben, wen nicht, wie soll die Zeremonie sein, usw.?“ Wir hören ihm neugierig zu, lächelnd und nachdenklich. Werden wir uns das nächste Mal trauen, so konfrontativ lö-sungsorientiert zu sein? Diese Erfahrung mit Steve erzähle ich oft meinen StudentInnen in der Ausbildung der ÖAS, um ihnen die beiden Meister ein bisschen näherzubringen.Zurück zu meinem ersten Tag am BFTC. Das Videogerät funktioniert yyplötzlich nicht, es werden Therapiesitzungen umgeplant, damit Steve so-fort zur Reparatur fahren kann, denn das Funktionieren der Anlage hat vor allem anderen Priorität. In einem der ersten Artikel der BFTC-Gruppe3

2 de Shazer, S. (1985). Keys to solution in brief therapy. New York: Norton. 3 de Shazer, S., Berg, I. K., Lipchik, E., Munally, E., Molnar, A., Wallace, G., & Weiner-Davis,

M. (1986). Kurztherapie – Zielgerichtete Entwicklung von Lösungen. Familiendynamik, 11, 182–205.

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wird die Videoaufnahme als ein Kernstück lösungsorientierten Arbeitens ausgewiesen. Von Eve Lipchik, die ja damals Teil dieser Gruppe war, weiß ich, wie lange das Team in der Pionierphase des BFTC an so einer Therapie-analyse verbracht hat. Jeder Schritt wurde besprochen und jeder weitere im Sinne der maximalen Effizienz geplant und die folgende Intervention in der nächsten Videoaufnahme überprüft. So entstand langsam das Netzwerk an Interventionen, die viel später in der Central Map zusammenfließen.Plötzlich erscheint der Meister wieder vor dem Spiegel, während Insoo yydurchgehend ohne Pause Therapien macht. Insoo ist sehr belastbar und zäh, sie diskutiert weniger gern als Steve und macht lieber Therapien. Sie schreibt ungern. Damals erzählt sie mir, dass sie jetzt ihr erstes Buch mit einem Ghostwriter plane, weil das Schreiben für sie eine Tortur sei, schließ-lich sei sie ja auch zweisprachig. Sie wolle sich interviewen lassen und den Ghostwriter dann das Buch schreiben lassen.4 Wir wissen, dass sie später mit anderen zusammen geschrieben hat.5

Dagegen schwärmt Steve davon, in seiner Pension einen Krimi zu schrei-yyben. Er freut sich darauf, einmal in seinem Leben etwas wirklich Spannen-des schreiben zu können. Leider ist er unvorhergesehen gestorben und hat dieses Ziel nicht erreicht.

Was habe ich nach dem ersten Tag am BFTC gelernt?

Dass lösungsorientierte Kurztherapie nichts Mystisches an sich hat; dass es yykurz und bündig vor sich geht; dass die Wirkung auf KlientInnen ständig im Auge behalten wird; dass viel versucht wird und manches gelingt; und wenn es nicht gelingt, dann probiert man es nochmal auf eine andere Weise und mit anderen Worten nach dem Motto: Mit Geduld und Spucke fangt man eine Mucke. Wichtig ist, dass man nie aufhört, Veränderungsmöglich-keiten zu erwägen.Ich lerne, dass Praxis gleichzeitig auch Forschung zum Konzept der lö-yysungsorientierten Kurztherapie ist, die Haltung zur therapeutischen Stunde ist eine von Forschungsgeist getragene; ich lerne, dass diese Therapieform schnell passiert; dass Handlung vor Interpretation im Vordergrund steht: Es muss getan werden, damit Veränderung bemerkt und verankert wird.

4 Berg, I. K. (1994). Family based services: A solution-focused approach. New York: Norton.5 Berg, I. K., & Miller, S. D. (1992). Working with the problem drinker: A solution-focused

approach. New York: Norton. de Jong, P., & Berg, I. K. (1998). Lösungen (er-)finden. Das Werkstattbuch der lösungsorien-tierten Kurztherapie. Dortmund: Borgmann.

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Ich verstehe, dass Bedeutung insofern relevant ist, als sie zur Lösung hilft. yyAnsonstem ist sie Geräusch, welches die positive Melodie auf dem Weg zum Ziel stört. Geräusche werden ignoriert, die Melodie hervorgehoben.

Ein Sonntag in Milwaukee mit Steve und Insoo

Am Sonntag wird von Insoo ein Grillfest für alle derzeit anwesenden Stu-yydentInnen geplant. Die meisten sind Asiaten und sprechen Insoos Sprache. Steve soll inzwischen mit mir einkaufen gehen, damit wir nachmittags gril-len können. Er wirkt dabei leicht überfordert, aber willig. Die klassische Rollenaufteilung der Geschlechter, nur andersrum: Steve geht einkaufen, Insoo zeigt das BFTC einer Gruppe asiatischer StudentInnen. Steve und ich gehen zu einem polnischen Fleischhauer in Milawaukee. Dort stellt er mir verklärt die unterschiedlichen Wurstarten vor, sie stellen für ihn eine verlorene Heimat dar: seine geliebten polnisch-jüdischen Wurst-Wurzeln. Steve fragt mich ratlos, wie viele Würstchen wir denn kaufen sollen? Ich weiß aber genauso wenig wie er, wie viele Leute sich angesagt haben. Wir kaufen in Mengen ein, dann warten wir im Garten auf die asiatischen Stu-dentInnen, die mit Insoo „kurz“ ins BFTC gefahren sind. Wir gehen davon aus, dass es nicht lange dauern kann, es ist ja Sonntag, also kann es keine Therapien geben. Steve fragt mich, wann wir mit dem Grillen anfangen sol-len, und selbstverständlich kann ich diese Frage ebenso wenig beantworten wie die vorige. Derzeit sind wir zu dritt, Steve, ein weiterer nordeuropäi-scher Gast und ich. Als Gastgeber ist Steve unsicher, linkisch, es fehlt die Frau im Haus.Wir fangen irgendwann an zu kochen, in der Erwartung, dass die „anderen“ dazukommen. Es kommt aber niemand, und Insoo ist telefo-nisch nicht erreichbar. Wir essen gemütlich und still vor uns hin, wir sind nicht genug Personen, um ins Diskutieren zu kommen. Außerdem sind wir höflich in der Erwartung gefangen, auf die anderen zu warten bzw. nicht gewartet zu haben. Der Rest des Fleisches verkohlt traurig dahin.Um halb zehn am Abend kommt Insoo mit den StudentInnen: Es sei so viel yyzu tun gewesen. Es gibt keine schlechte Laune, obwohl es eigentlich nichts mehr zu essen gibt, denn das Fleisch und die Würstchen sind ja verkohlt! Aber Kimchi (eingelegter koreanischer Kohl) und Brot gibt es immer, ent-weder im eigenen Kühlschrank oder bei Insoos Schwester, die gleich ne-benan wohnt. Der knoblauchige Kohlgeruch weht kräftig durch Haus und Garten, die Asiaten sind damit zufrieden und man diskutiert nun endlich eifrig – und das freut unseren Meister, zwar spät, aber doch:

„Wenn StudentInnen mich fragen, ob ich systemisch arbeite, dann antworte ich zuerst mit Nein“, berichtet Steve und erörtert dann, dass auf diese ers-

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te Überraschung zunächst eine interessante Diskussion folge, die dann sys-temisch werde. So ähnlich wie der sich entspinnende Dialog, wenn man bei einem Kellner acht Reiskörner bestelle, da folge tatsächlich eine geniale Kom-munikation. Er rät jedem in der Runde, das einmal auszuprobieren. Es geht hier um die Konfusion zwischen dem Ganzen und seiner Teile, er selbst erklärt es mit Wittgenstein, aber da komme ich nicht mehr mit. Ich selbst stelle mir vor, wie verwirrt ein Kellner sein kann, wenn man acht Reiskörner bestellt, dass es vermutlich einen Unterschied macht, ob es ein asiatischer oder kein asiatischer Kellner ist; dass sich derjenige auch verarscht fühlen könnte; dass es allerdings eine zwar seltsame, aber kreative Frage sein könne, die mit Parado-xien – Prunkstück systemischer Methodik – arbeitet. Der Kellner könnte sich fragen: Warum acht und nicht sieben Reiskörner? Und warum wäre es anders, wenn ich stattdessen acht Würstchen bestellt hätte. Dann hätte er wahrschein-lich rückgefragt: Mit Senf, Ketchup, mit oder ohne Pommes? Und ist dies eine andere Frage als diejenige heute Morgen nach der Anzahl der Würstchen für unseren Grillnachmittag? Haben praktische Lebensnähe und Wortspiele mit-einander zu tun? Geht es hier um Praktisches oder um Gedanken? Und wieder schimmert mir die Idee: Es geht um die geniale Kombination von Praktischem mit dem Intellektuellen. Ich rekapituliere: Lösungsorientierte Kurztherapie ist überhaupt nicht einfach! Die Teile und das Ganze im Vorverständnis von Spra-che, das Spiel mit den Worten, eingebettet in merkbares Tun, der Aspekt der Evaluierung, immer mitlaufend, und ein bisschen „american way of life“.

Steve erzählt nun seine Pointe zu Gregory Bateson: Wenn StudentInnen jenem signalisierten, sie hätten ihn endlich verstanden, dann habe er sich gefragt, was er denn nun falsch gemacht habe …, ha, ha, ha. Ich selbst erlebe Steve de Shazer sehr ähnlich zu seiner Beschreibung des Meisters Gregory Bateson: Er verwirrt aktiv mit seinen Bemerkungen, und so strengen wir uns an, etwas zu verstehen. Wir versuchen aktiv, das Dahinter zu entziffern, d. h., wir denken! Die Gesprä-che sind leicht paradox, uneindeutig, witzig und teilweise schräg anschlussfä-hig …, das macht wohl die Nähe zum Jazz aus, die Steve auch immer wieder betont. Und wir wissen ja: Steve war selbst Jazzmusiker.

Seine Nähe zu paradoxen Interventionen erklärt mir die späte Anbahnung yyzwischen Steve de Shazer und Insoo Kim Berg und der Aufstellungsarbeit von Matthias Varga von Kibed und Insa Sparrer im SYST, also die Synergie zwischen Steve und Insoo und den Meistern der Paradoxie im deutschspra-chigen Raum.In den zwei Wochen Milwaukee am BFTC bekomme ich jene Prise von Ide-yyenreichtum und Kreativität mit, die es mir später ermöglicht, seine Bücher anders zu lesen und den Hauch an Ironie, Witz und paradoxem Humor zu verstehen, und die das lösungsorientierte Konzept spielerisch und logisch zugleich erscheinen lässt: Ich kann Genius spüren. Im Gegensatz zu Insoo,

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die praktisch und pragmatisch ihre Techniken erklärt und ausführt, di-daktisch verständlich, wundervoll zum Zuschauen, ist Steve der Künstler, der sich Kniffe und logische Schleifen überlegt, der die Produktion eines „Werkes“ intellektuell verfolgt. Insoo arbeitet stetig, empathisch, bedächtig, auf die Menschen zugehend. Ihre Therapiegespräche sind elegant, ästhe-tisch und spannend zugleich, während man bei Steve oft den Eindruck hat, seine Worte verschwinden im Nichts. Trotzdem lachen seine KlientInnen oft – mit ihm. Möglicherweise ist der Humor einfach zu fremd für mich Europäerin. In Wien lese ich dann seine ersten Bücher auf Englisch: Keys to Solution und später Clues. Ich hätte vieles ganz anders oder gar nicht ver-standen, wäre ich nicht vorher dort gewesen. Der lösungsorientierte Virus hat mich infiziert! Und ich freue mich extrem, denn es macht vor allem sehr viel Spaß, so zu denken und zu arbeiten. Es ist so frisch, unbelastet, vorwärtsdrängend.Als Ausbildende merke ich später immer wieder, dass Studierende das lö-yysungsorientierte Vorgehen gerne als Summe von Kochrezepten mit in die Arbeit nehmen möchten. Schnell gelernt, möchte man es erfolgreich an-wenden. Kompliziertere Teile wie Paradoxien, ständige Reformulierungen und gezieltes an der Lösungsidee Festhalten ist schwierig und erfordert viel Geduld. Auch die Meister wollten es in ihren Büchern „simpel für die Lernenden“ halten, allerdings haben sie damit auch Missverständnisse er-möglicht, die der kurztherapeutischen Arbeit nicht gut tun. Es klingt alles so leicht, so durchführbar. Ich erkläre unseren studierenden KollegInnen, dass der lösungsorientierte Ansatz das Ergebnis einer genialen Zusammen-arbeit zwischen KlientInnen und TherapeutInnen ist, dass jeder Satz genau durchdacht ist und Formulierungen immer neu gesucht und ausprobiert werden müssen. Jede Intervention muss genau sitzen und der Zeitpunkt sollte auch gut gewählt sein. Der Erfolg entsteht aus der Wiederholung und aus der kreativen Leistung jener TherapeutInnen, die mit den Worten spie-len können. Es ist eigentlich keine Technik, es ist Kunst, es ist Musizieren.Manche StudentInnen kommen in Schwung und fangen an, der Meister Bücher zu lesen, andere klammern sich weiter an die Kochrezepte. Die Ent-scheidung zu Letzerem führt oft zu Missverständnissen über das lösungs-orientierte Modell.

Der Besuch von Insoo und Steve in Wien

Als ich die beiden in Wien zum ersten Mal empfange, möchte ich ihnen als Führer für die Sehenswürdigkeiten unser Stadt zur Seite stehen. Aber die bei-den haben anderes vor, denn in jeder neuen Stadt machen sie es gleich: Sie werfen für die Orientierung ihrer Stadtrunde eine Münze auf, Kopf oder Adler

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stehen für links oder rechts. Sie lassen die Münze an jeder Ecke entscheiden, in welche Richtung sie gehen. So kommen sie ohne Vorannahmen an Orte, die rein zufällig entstehen. Sie lernen die Stadt auf ihre Weise kennen. Wenn sie müde sind, dann nehmen sie einfach ein Taxi zurück ins Hotel. Ich bleibe frustriert zurück und erfahre am nächsten Tag, wo sie überall waren. Ich kann es nicht verhindern, die Orte, die sie beschreiben, für mich als uninteressant und belanglos zu empfinden. Fast bin ich gekränkt, dass sie meine Stadt nicht so wahrnehmen, wie ich es mir für mich als Gastgeberin wünsche. Warum wa-ren sie nicht am Stephansdom, am Karlsplatz und in der Wiener Innenstadt? Ich wollte doch, dass sie von Wien begeistert sind, dass sie das Flair dieser Stadt mitnehmen können. Gott sei Dank fällt mir dann die gemeinsam verbrachte Zeit in Milwaukee ein: Steve und Insoo sind eben anders. Sie leben ihr Leben unter ständiger Einführung von Zufällen. Das Umgehen mit Zufälligkeit treibt die Erwartung an willkürliche Entscheidungen erst hoch und verbessert damit die Möglichkeit zur Veränderung. Der Wechsel zwischen Zufall und Willkür ist ein essentieller Teil des lösungsorientierten Ansatzes und dessen Erfinder leben es. Ich lerne als Gastgeberin plötzlich, was es heißt, sich dem Zufall hin-zugeben, was man dabei aufgibt und gewinnt. Am nächsten Tag höre ich ihren Beschreibungen über Plätze und Gebäude in Wien, die mir bis jetzt unbekannt waren, aufmerksam zu. Da ich meine Meister inzwischen liebe und anerkenne, kann ich ihren Zugang auf die Art, Therapie zu machen, ummünzen: Es ist das Umdenken die Voraussetzung für gute Einfälle, keine schnellen Einfälle oder wohlklingende Worte. Und nur so kann das gemeinsame Werk zwischen KlientIn und TherapeutIn entstehen.

Die Auseinandersetzung des ersten Wiener lösungsorientierten Teams mit seinen Meistern

Nach einem Jahr Therapien mit einem Team, welches am Institut für Ehe- yyund Familientherapie puristisch nach dem lösungsorientierten Modell arbeitet, verabschieden sich manche KlientInnen folgendermaßen: „Gut war’s bei euch, aber ihr habt da so eine Methode, gell, da wird viel gelobt, so wollt ihr uns ködern …, dass wir uns anstrengen, etwas zu tun!“ Manche Wiener KlientInnen haben unseren puristischen Interventionsstil locker überlebt. Die paradigmatische Klientin der Praterstraße war jene, die bei Eve Lipchiks Livesupervision das schnelle Ende witterte und dafür jahre-lang Klientin des Instituts blieb! Wir diskutieren beim nächsten Workshop mit Steve: Wien sei schließlich die Geburtsstätte der Psychoanalyse und das habe Bedeutung, denn in Wien wollen die Leute jammern, sudern, me-ckern, raunzen …, so ist das goldene Wiener Herz …, und diesen Raum müssten wir unseren KlientInnen hierorts lassen. In fünf Minuten schaffen

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wir es, zwanzig Wiener Dialektworte für „complainen“ zu nennen. Steve ist beeindruckt und beugt sich der kulturellen Relevanz unserer Aufzählung. Trotzdem sieht er nicht ein, warum Therapie deshalb länger dauern sollte. Wir kontern: Wenn wir zu früh loben, dann fühlen unsere KlientInnen sich nicht ernst genommen.Ich selbst bin diesem Verständnis lösungorientierter Therapie treu geblie-yyben, die nicht in der Kürze die Würze sucht, sondern dem Tempo und Be-ziehungsstand der Therapie individuell angepasste Lösungen anbietet. Ich mache immer wieder gute Erfahrungen damit, mich auf das Jammern von KlientInnen einzulassen, wenn ich mich davon nicht hypnotisieren lasse und zum richtigen Zeitpunkt zur Lösung umschwenke. Ich bin der Mei-nung, dass die zu schnelle Lösungsorientierung zumindest in manchen Tei-len Europas durchgehend befremdlich wirkt, dass diese kulturelle Nuance allerdings keinen wesentlichen Einfluss auf die Handhabe des Instruments an sich hat. Eve Lipchik hat mehrere Artikel und ein ganzes Buch zum Thema Tempo und Lösung geschrieben.6

Heute habe ich persönlich keine Zweifel mehr, auch dann lösungsorien-yytierte Therapie zu betreiben, wenn sie nicht an der Anzahl der Sitzungen erkennbar ist. Letzlich spielt für mich auch keine Rolle, ob ich Vergangenes in der Biografie meiner KlientInnen einbeziehe, wenn ich die Geschichte für zukunftsträchtige Lösungen gut verwenden kann. Aus der Sicht einer erwünschten Zukunft kann ich mit meinen KlientInnen Vergangenheit dementsprechend als Ressource, als Ausnahme oder als Widerspruch for-men. Die salopp-radikalen Wortgefechte unserer Meister zu Themen wie Auftrag, Ziel und Lösung sind dem therapeutischen Alltag gewichen. Durch die aktive Benutzung des Modells bei Wind und Wetter therapeutischer Zu-stände wird die universelle Brauchbarkeit des Ansatzes noch einmal über-prüft und bleibt sich so selbst treu.

6 Lipchik, E. (2011). Von der Notwendigkeit zwei Hüte zu tragen. Heidelberg: Carl Auer.

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