24
Fünfzig Jahre Psychopharmaka Seite 110 Antipsychotika bei aggressivem Verhalten von Patienten mit geistiger Behinderung Seite 112 Die Behandlung der idiopathischen Fazialisparese – heute Seite 113 Differenzierte Behandlung des chronischen Juckreizes Seite 115 Vermeidet Metformin eine Gewichtszunahme unter atypischen Antipsychotika? Seite 117 Die Behandlung des Croup Seite 118 Neue Therapiemöglichkeiten für das metastasierende Nierenzellkarzinom Seite 119 Der Nutzen der Cholesterinsenkung beim Diabetes Seite 120 Behandlung von Kopfläusen und Krätzemilben Seite 121 Antiangiogenetische Therapie zur Behandlung der neovaskulären (,feuchten’) altersabhängigen Makuladegeneration Seite 123 Rituximab beim Pemphigus Seite 126 Der NuvaRing ® , eine Verhütungsmethode Seite 128 Quo vadis, Acomplia ® (Rimonabant)? Seite 129 Aut-idem oder auch: Chaos perfekt Seite 131 Terminankündigung Seite 132 Das aktuelle Thema Therapie aktuell Arzneiverordnung in der Praxis Impressum Herausgeber: Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Prof. Dr. med. W.-D. Ludwig (Vorsitzender) Wissenschaftlicher Beirat: Dr. med. J. Bausch, Dr. med. K. Ehrenthal, Frau Prof. Dr. med. U. Gundert-Remy, Prof. Dr. med. R. Lasek, Prof. Dr. med. B. Müller-Oerlinghausen, Prof. Dr. med. U. Schwabe, M. Voss, Arzt, Vorstand der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Chefredakteur: Prof. Dr. med. D. Höffler Stellvertretender Chefredakteur: Dr. med. M. Zieschang Anschrift der Redaktion: Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Postfach 12 08 64 10598 Berlin Telefon: 0 30 / 40 04 56-5 00 Telefax: 0 30 / 40 04 56-5 55 E-Mail: [email protected] www.akdae.de ISSN 0939-2017 Realisation und Vertrieb: Triple MPR Group GmbH, Postfach 19 01 30, D-53037 Bonn, Telefon: 02 28/2 42 35 45, Telefax: 02 28 /22 45 11 Druck: Franz Paffenholz GmbH, Bornheim Abonnement: Die Schutzgebühr des Jahresabonnements für 4–6 x AVP einschl. Sonderhefte Therapieemp- fehlungen beträgt EUR 39,– (für Studenten: EUR 19,–; Nachweis erforderlich). Ihre Abo-Anfor- derung richten Sie bitte an die Arzneimittel- kommission [email protected]. Bezug im Jahres- abonnement, Kündigung zum Jahresende. Wir möchten darauf hinweisen, dass die in „Arzneiver- ordnung in der Praxis“ erscheinenden Publikationen prinzipiell den Charakter von Autorenartikeln – wie in jeder anderen Zeitschrift – haben. Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben zur Dosierung und auch zu den Preisen kann keine Gewähr übernommen werden. Trotz sorgfältiger Recherche bitten wir Sie dringend, die aktuellen Angaben des jeweiligen Her- stellers zu beachten. Die gemäß Arzneimittel-Richt- linien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu ver- öffentlichenden Therapieempfehlungen in ihrer aktu- ellen Fassung werden als solche gekennzeichnet. © Alle Rechte vorbehalten. AkdÄ, Berlin 2008 Herausgegeben von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008 Arzneimittel – kritisch betrachtet Aus der Praxis – Für die Praxis In eigener Sache Alle Artikel werden von der Redaktion dahinge- hend überprüft, ob ein Interessenkonflikt vorlie- gen könnte. Darüber hinaus werden alle Autoren routinemäßig nach evtl. vorhandenen Interessen- konflikten befragt. Sollte sich ein solcher erge- ben, würde dies am Ende der entsprechenden Arbeit vermerkt. Arzneiverordnung in der Praxis ist Mitglied der International Society of Drug Bulletins (www.isdbweb.org)

Arzneiverordnung in der Praxis, Ausgabe 6/2008 · Neben Intelligenzminderung und Re - duktionsozialerFähigkeitentretenbei Patienten mit geistiger Behinderung auch zum Teil schwere

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Page 1: Arzneiverordnung in der Praxis, Ausgabe 6/2008 · Neben Intelligenzminderung und Re - duktionsozialerFähigkeitentretenbei Patienten mit geistiger Behinderung auch zum Teil schwere

Fünfzig JahrePsychopharmaka Seite 110

Antipsychotika bei aggressivem Verhalten von Patienten mit geistiger Behinderung Seite 112

Die Behandlung der idiopathischen Fazialisparese – heute Seite 113

Differenzierte Behandlung des chronischen Juckreizes Seite 115

Vermeidet Metformin eine Gewichtszunahme unter atypischen Antipsychotika? Seite 117

Die Behandlung des Croup Seite 118

Neue Therapiemöglichkeiten für das metastasierende Nierenzellkarzinom Seite 119

Der Nutzen der Cholesterinsenkung beim Diabetes Seite 120

Behandlung von Kopfläusen und Krätzemilben Seite 121

Antiangiogenetische Therapie zur Behandlung der neovaskulären (,feuchten’)altersabhängigen Makuladegeneration Seite 123

Rituximab beim Pemphigus Seite 126

Der NuvaRing®, eine Verhütungsmethode Seite 128

Quo vadis, Acomplia® (Rimonabant)? Seite 129

Aut-idem oder auch: Chaos perfekt Seite 131

Terminankündigung Seite 132

Das aktuelle Thema

Therapie aktuell

Arzneiverordnungin der Praxis

ImpressumHerausgeber:Arzneimittelkommission derdeutschen ÄrzteschaftProf. Dr. med. W.-D. Ludwig (Vorsitzender)Wissenschaftlicher Beirat:Dr. med. J. Bausch,Dr. med. K. Ehrenthal,Frau Prof. Dr. med. U. Gundert-Remy,Prof. Dr. med. R. Lasek,Prof. Dr. med. B. Müller-Oerlinghausen,Prof. Dr. med. U. Schwabe,M. Voss, Arzt,Vorstand der Arzneimittelkommission derdeutschen ÄrzteschaftChefredakteur:Prof. Dr. med. D. HöfflerStellvertretender Chefredakteur:Dr. med. M. ZieschangAnschrift der Redaktion:Arzneimittelkommission der deutschenÄrzteschaftPostfach 12 08 6410598 BerlinTelefon: 0 30 / 40 04 56-5 00Telefax: 0 30 / 40 04 56-5 55E-Mail: [email protected] 0939-2017Realisation und Vertrieb:TripleMPRGroup GmbH, Postfach 19 01 30,D-53037 Bonn, Telefon: 0228/2423545,Telefax: 0228/224511Druck: Franz Paffenholz GmbH, BornheimAbonnement:Die Schutzgebühr des Jahresabonnements für4–6 x AVP einschl. Sonderhefte Therapieemp-fehlungen beträgt EUR 39,– (für Studenten: EUR19,–; Nachweis erforderlich). Ihre Abo-Anfor-derung richten Sie bitte an die Arzneimittel-kommission [email protected]. Bezug im Jahres-abonnement, Kündigung zum Jahresende.Wirmöchtendarauf hinweisen, dassdie in „Arzneiver-ordnung in der Praxis“ erscheinenden Publikationenprinzipiell den Charakter von Autorenartikeln – wie injeder anderen Zeitschrift – haben. Für die Richtigkeitund Vollständigkeit der Angaben zur Dosierung undauch zu den Preisen kann keine Gewähr übernommenwerden. Trotz sorgfältiger Recherche bitten wir Siedringend, die aktuellen Angaben des jeweiligen Her-stellers zu beachten. Die gemäß Arzneimittel-Richt-linien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu ver-öffentlichenden Therapieempfehlungen in ihrer aktu-ellen Fassung werden als solche gekennzeichnet.© Alle Rechte vorbehalten. AkdÄ, Berlin 2008

Herausgegeben von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Arzneimittel – kritisch betrachtet

Aus der Praxis – Für die Praxis

In eigener Sache

Alle Artikel werden von der Redaktion dahinge-hend überprüft, ob ein Interessenkonflikt vorlie-gen könnte. Darüber hinaus werden alle Autorenroutinemäßignachevtl. vorhandenen Interessen-konflikten befragt. Sollte sich ein solcher erge-ben, würde dies am Ende der entsprechendenArbeit vermerkt.

Arzneiverordnung in der Praxisist Mitglied der InternationalSociety of Drug Bulletins(www.isdbweb.org)

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110 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Fünfzig JahrePsychopharmakaAngesichts zunehmender Häufigkeit psy-chischer Störungen gehören Psycho-pharmaka heute in Deutschland wie auchweltweit zu den meistverordneten Medi-kamenten. Sie nehmen bei uns mit einemJahresumsatz von über 2 Mrd. Euro undetwa 70 Millionen Verordnungen Platzzwei unter den meistverordneten Arz-neimittelgruppen mit einem Umsatzan-teil von knapp 8 % ein (1). Die jährlichePrävalenz des Konsums psychotroperArzneimittel in Deutschland liegt bei ca.6 % der Bevölkerung (zum VergleichItalien 14 %, Frankreich 21 %).

Die Einteilung der Psychopharmaka er-folgt heute zumeist in folgende Gruppen:

• Antidepressiva

• Stimmungsstabilisierer (Moodstabilizer,Phasenprophylaktika)

• Neuroleptika/Antipsychotika

• Tranquilizer (Anxiolytika)

• Hypnotika

• Antidementiva/Nootropika

• Psychostimulanzien

• Entzugs- und Entwöhnungsmittel.D.h. Substanzen zur Behebung vonEntzugssymptomen und zur Erleich-terung der Entwöhnung von Sucht-stoffen wie Alkohol, Nikotin, Heroin.

Im weiteren Sinne können auch Parkin-sonmittel, Antiepileptika, Sexualthera-peutika undMittel zur Gewichtsreduktionzu den Psychopharmaka gezählt werden.

In den letzten Jahren erfolgte eine über-proportionale Zunahme der Verordnungvon Psychopharmaka, hauptsächlich vonAntidepressiva (in den letzten 15 Jahrenvervierfacht!) und dem zur Therapie desADHS eingesetzten Psychostimulanz Me-

thylphenidat (Ritalin®, Generika). Trotzder Überalterung der Bevölkerung bliebdie Verordnung von Antidementiva aufniedrigem Niveau konstant, während dieVerordnung von Benzodiazepin-Tran-quilizern und Hypnotika deutlich zurück-ging (siehe Abbildung).

Historischer Abriss

Schon in der Antike wurden psychotropeSubstanzen in der Therapie psychischerErkrankungen eingesetzt. Aus medizin-historischer Sicht liegt der Beginn der na-turwissenschaftlich fundierten, „moder-nen“ Psychopharmakologie etwa um1850, als das erste synthetische SedativumChloralhydrat zur Anwendung in Klinikund Praxis kam. Um 1900 begann die Ärader Barbitursäuren, der Barbiturat-Dau-erschlaf nach Klaesi etablierte sich seit den20er Jahren als Behandlungsmethode. Deraustralische Psychiater Cade nahm an,dass endogene Psychosen (Manien) durcheine Selbstvergiftung mit Harnstoff oderHarnsäure verursacht sind und setzte Li-thiumsalze 1949 zur Sedierung bei Manieund bei Anfallskranken ein, unter der Vor-stellung, dass es zu einer verstärkten Aus-scheidung der toxischen Harnsäure käme.

Die meisten Psychiater hielten es aller-dings noch bis 1950 kaum für möglich,komplexe psychische Störungen erfolg-reich medikamentös zu behandeln. DieEntdeckung und Entwicklung der Psy-chopharmaka basiert im wesentlichenauf „glücklichen Zufällen“ (engl. seren-dipity), positiver formuliert auf genialerIntuition durch Einzelfallbeobachtung:1952 stellten Delay und Deniker in Parisfest, dass das als Antihistaminikum kon-zipierte Phenothiazin Chlorpromazin(Megaphen®) antipsychotischeWirkungenentfaltete. Bei der Behandlung von Tu-berkulose-Patienten mit dem Monoami-noxidasehemmer Iproniazid wurde einedeutliche Stimmungsaufhellung beob-achtet. Der Schweizer Psychiater R. Kuhnbeschrieb 1957 durch kasuistische Be-obachtungen die antidepressive Wirkungvon Imipramin (Tofranil®), das im Rahmeneiner klinischen Prüfung als Neurolepti-kummangels antipsychotischer Wirkungbereits abgeschrieben worden war.

P. Janssen entdeckte 1958 Haloperidol, die„Muttersubstanz“ der Butyrophenone alsneue Klasse der Neuroleptika. In den Fol-gejahren bewirkte die Einführung der Psy-chopharmakotherapie vor allem in den

Abbildung 1.: Verordnungen nach Psychopharmaka-Gruppen von 1996 bis 2006[mod. nach Schwabe und Paffrath (1)]

Dasaktuelle Thema

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111Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Kliniken eine „Revolution“: Die nunmögliche erfolgreiche Behandlung schi-zophrener und affektiver Psychosen schufdie Voraussetzung für soziotherapeutischeMaßnahmen und sozialpsychiatrischeFortschritte. Binnen zehn Jahren kam eszu einer völligen Veränderung der Psy-chiatrie. Die Zahl der Betten in den Lan-desnervenkliniken konnte drastisch re-duziert werden, zum Beispiel reduziertesich die Zahl psychiatrischer Kranken-hausbetten zwischen 1970 und 2003 umca. 67 %.

Ebenfalls 1958 meldete L. Sternbachnach erfolgter Synthese das Patent fürBenzodiazepine an, 1960 wurde als erstesDerivat Chlordiazepoxid (Librium®) ein-geführt, drei Jahre später folgte Diazepam(Valium®), das in den 70er Jahren zum amhäufigsten verschriebenen Medikamentwurde. In den Folgejahren gab es eineVielzahl von Neueinführungen durchMolekülvariationen mit zum Teil nurmarginalen Verbesserungen (oder auchnur „Prodrugs“), nach Entdeckung desBenzodiazepin-Rezeptors wurde ein spe-zifischer Benzodiazepinrezeptor-Antago-nist (Flumazenil) entwickelt.

In den darauffolgenden Jahren fand in derPsychopharmakologie eine „stürmische“Entwicklung und die Einführung sub-stantieller Arzneimittelinnovationen statt.Eingeführt wurden unter anderem Clo-methiazol, Lithium, das erste atypischeNeuroleptikum Clozapin, in den 80erJahren die ersten Serotonin-selektivenAntidepressiva (SSRIs). In Anbetrachtdes Abususrisikos von Benzodiazepinenwurden Anfang der 90er Jahre die Non-Benzodiazepinhypnotika Zopiclon undZolpidem eingeführt. Zu den neueren psy-chopharmakologischen Therapieansät-zen zählten Antidementiva vom Typ derAcetylcholinesterasehemmer und NMDA-Rezeptorantagonisten sowie die Anticra-ving-Substanz Acamprosat. Kontrollier-te klinische Studien mit Phytopharmakabelegten, dass Hypericum-Extrakt (Jo-hanniskraut) hoch dosiert antidepressiveWirkeigenschaften und Ginkgo-Bilobabei Hirnleistungsstörungen/Demenzengewisse Wirkeffekte aufweisen (2;3) (Über-sicht siehe Tabelle), ohne dass jedoch ihreWirksamkeit in diesen Indikationen hin-reichend belegt ist.

Entwicklung im 21. Jahrhundert

Etwa seit dem Jahr 2000 mit Etablierungund Propagierung der Diagnose ADHS(Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung) bei Kindern und Erwachsenenvervielfachte sich die Verordnung desPsychostimulans Methylphenidat. Jo-hanniskraut wurde zeitweilig zummeist-verordneten Antidepressivum. Abgese-hen von der Entwicklung selektiv nor-adrenerger und/oder serotonerger Anti-depressiva und weiterer atypischer Anti-psychotika wie Olanzapin, Quetiapin,Amisulprid und Aripiprazol standen jetztnicht echte Innovationen sondern neueIndikationen etablierter Substanzen imZentrum des Interesses: Für nicht-se-lektive und selektive Antidepressiva konn-tenWirksamkeitsnachweise bei Angst-, Pa-nik- und Zwangsstörungen sowie beichronischen Schmerzsyndromen erbrachtwerden, Antiepileptika wie Carbama-zepin, Pregabalin und Valproat etablier-ten sich in der Therapie der akuten Ma-nie und als Stimmungsstabilisierer (Mood-stabilizer) in der Rückfallverhütung bi-polarer affektiver Erkrankungen. Fürletztere kommen neuerdings auch atypi-

sche Antipsychotika wie Olanzapin undQuetiapin zum Einsatz.

Wertung

Die Wirksamkeit von Psychopharmaka istunbestritten, sie spielen in der Behand-lung psychischer Erkrankungen einezentrale Rolle. Je nach Standpunkt wirdihreWirkstärke allerdings unterschiedlicheingeschätzt – mit einer NNT von ca. 10ist sie im Vergleichmit vielen anderenMe-dikamenten als adäquat einzuschätzen. Siesind psychotherapeutischen Interventio-nen mindestens gleichwertig. Die Wirk-samkeit ist allerdings diagnose- undschweregradabhängig, in Anbetracht ho-her Plazeboeffekte sind zum BeispielAntidepressiva bei leichtgradigen De-pressionen kaum wirksamer.

Ausblick

Die Mehrzahl der Psychopharmaka-Ver-ordnungen erfolgt heute nicht durchPsychiater/Nervenärzte. Mehr denn je istdie Indikationsstellung und die Verord-nungsdauer zentrales Thema der Psy-chopharmakotherapie. Die Forschung

Tabelle: Meilensteine in der Geschichte der Psychopharmaka

1952 Bericht über die antipsychotischeWirkung von Chlorpromazin (Megaphen®)1957 Beschreibung der antidepressiven Wirksamkeit von Imipramin (Tofranil®)1958 Entdeckung von Haloperidol (Haldol®)

Erster Monoaminoxidasehemmer Marsilid1960 Einführung von Chlordiazepoxid (Librium®) als erstes Benzodiazepin1962 Einführung des Monoaminoxidasehemmers Tranylcypromin (Jatrosom®)

und des Standard-Antidepressivums Amitriptylin (Saroten®)1963 Einführung von Diazepam (Valium®)1965 Clomethiazol (Distraneurin®) zur Alkoholentzugstherapie (Delir)1967 Klinische Einführung von Lithium (Quilonum®)1968 Fluphenazin – erstes Depot-Neuroleptikum1972 erstes atypisches Neuroleptikum/Antipsychotikum ohne extrapyramidal-

motorische Symptome (EPMS) : Clozapin (Leponex®)Einführung von Lorazepam (Tavor®)

1982 erster Selektiver Serotonin-Rückaufnahme-Hemmer (SSRI; Zimelidin)1984 Einführung des SSRI Fluvoxamin (Fevarin®)1988/ Einführung von Fluoxetin („Happy Pill Prozac“) und Risperidon als atypisches1990 Neuroleptikum1991 Einführung der Hypnotika Zopiclon und Zolpidem (Ximovan®, Stilnox®)1993 erster Acetylcholinesterasehemmer zur Demenztherapie: Tacrin (Cognex®)1996 Einführung selektiver serotonerger und noradrenerger („dualer“) Anti-

depressiva: Venlafaxin (Trevilor®) und Mirtazapin (Remergil®)Alkoholentwöhnungsmittel Acamprosat (Campral®)

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Neben Intelligenzminderung und Re-duktion sozialer Fähigkeiten treten beiPatienten mit geistiger Behinderungauch zum Teil schwere Verhaltens-störungen auf. In der Therapie dieserVerhaltensstörungen, insbesondere beiaggressivem oder autoaggressivem Ver-halten, werden in der klinischen Praxishäufig Antipsychotika (Neuroleptika)eingesetzt. Dies erfolgt bei etwa 22–45%der stationär und 20 % der ambulant be-handelten Patienten mit geistiger Be-hinderung. Trotz des breiten Einsatzes

von Antipsychotika existieren nur unzu-reichende Daten bzgl. der Wirksamkeitund Sicherheit in dieser Indikation. Einesystematisch durchgeführte Übersicht(1) kam anhand acht randomisiert-kon-trollierter Studien, in denen Antipsycho-tika gegen Plazebo getestet wurden, zudem Ergebnis, dass bei der bestehendenDatenlage keine klare Aussage darübergetroffen werden kann, ob Antipsychoti-ka mental retardierten Patientenmit ag-gressiver Verhaltensstörung eher scha-den oder nützen.

In einer randomisierten kontrolliertenStudie (2) wurden erneut Antipsychotikagegen Plazebo bezüglich dieser Indika-tion getestet. Eingeschlossen wurden86 geistig behinderte, nicht-psychoti-sche Patienten mit aggressiver Verhal-tensstörung. Die gegen Plazebo (n = 29)getesteten Antipsychotika waren Ha-loperidol (n = 28) und Risperidon (n =29). Obwohl in allen drei Gruppen eineVerbesserung des aggressiven Verhal-tens festgestellt werden konnte, wardiese in der Plazebogruppe am größten.

112 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Antipsychotika bei aggressivemVerhalten vonPatientenmit geistigerBehinderung

nisch-praktische Nutzung hängt nicht zu-letzt von den Rahmenbedingungen desGesundheitssystems ab.

Literatur

1. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): Arz-neiverordnungs-Report 2006. Heidelberg:Springer Medizin Verlag, 2007.

2. Ayd FJ, Jr.: Invited ACNP Lecture. Theearly history of modern psychopharma-cology. Neuropsychopharmacology 1991;5: 71–84.

3. Schott H, Tölle R: Historischer Abriss:Geschichte der Psychopharmaka. In: Rie-derer P, Laux G(Hrsg.): Grundlagen derNeuro-Psychopharmakologie. 2. Aufl.,Wien, New York: Springer-Verlag, 2008.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd LauxWasserburg/Mü[email protected] [email protected]

konzentriert sich auf die Entwicklung spe-zifischerer Therapeutika basierend auf Mo-lekulardiagnostik u. a. mittels Genotypi-sierung. Beispiele sind Corticotropin-Releasing Hormonrezeptor-Antagonistenin der Antidepressivaforschung. Indivi-duelle Genvariationen könnten mittelsGenexpressionsprofilen als Biomarkerfungieren und so das Ansprechen auf einAntidepressivum anhand des Genotyps er-möglichen.

Als Gefahr am Horizont verdient daspsychopharmakologische Enhancement(Neuroenhancement) Beachtung: Im Sin-ne der Lifestyle-Bewegung werden Psy-chopharmaka zunehmend insbesonderein den USA zur „künstlichen Verbesserungder menschlichen Natur“ außermedizi-nisch eingesetzt zum Beispiel zur Ver-besserung kognitiver Leistungen oderzur allgemeinen Stimmungsaufhellung.Dies impliziert eine Aufweichung derGrenzen zwischen medizinischer Thera-pie und individuellem Lifestyle, letzt-endlich Eingriffe in die personale Identität.

Analog zu Psychotherapie-Verfahren be-findet sich die Psychopharmakotherapieim ständigen Wandel, Weiterentwick-lungen sind heute hauptsächlich hypo-thesengeleitet unter dem Primat vonKosten-Nutzen-Bewertungen. Die kli-

FAZIT

Die Entwicklungsgeschichte der Psy-chopharmaka ist geprägt durch „zufälli-ge Entdeckungen“ und akribische Ein-zelfallbeobachtungen. Grundpfeiler bisheute sind die vor 50 Jahren eingeführtenAntidepressiva und Neuroleptika wieAmitriptylin und Haloperidol und Benzo-diazepin-Rezeptoragonisten. Neue inno-vative Substanzklassen sind Stimmungs-stabilisierer, Antidementiva, Entwöh-nungsmittel und Psychostimulanzien. DieWeiterentwicklung von AntidepressivaundNeuroleptika/Antipsychotika ist durch

die hypothesengeleitete Entwicklung se-lektiv wirksamer Substanzen gekenn-zeichnet und das Bemühen um Neben-wirkungsminimierung. Immer aufwändi-gere Entwicklungs- und Zulassungspro-zesse haben Innovationen verlangsamt,Profit- und Marketingaspekte zur Ein-führung zahlreicher Scheininnovationen(Me-too-Präparate) geführt. Angesichtsder großen Bedeutung psychischer Er-krankungen ist die Weiterentwicklungwirksamer Psychopharmaka von im-menser gesellschaftlicher Relevanz.

Therapie aktuell

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Auch bezüglich anderer Verhaltensauf-fälligkeiten, Veränderungen der Lebens-qualität, globale Veränderungen desBefundes oder Nebenwirkungen gab eszwischen den einzelnen Gruppen keinesignifikanten Unterschiede. Die in derStudie verwendeten Dosierungen warenrelativ niedrig, da man beim Designder klinischen Erfahrung folgte, geistigbehinderte Patienten könnten bei üb-lichen, höheren Dosierungen eher Ne-benwirkungen entwickeln als Patientenmit anderen psychiatrischen Erkran-kungen.

Die Autoren der Studie weisen daraufhin, dass die Ergebnisse den Einsatz vonAntipsychotika bei Verhaltensstörungenbei mental Retardierten nicht prinzipiellin Frage stellen, aber den breiten Einsatzdieser Substanzen, vor allem auch mitniedrigen Dosierungen, nicht rechtferti-gen.

Eineweitere, weitaus größere Patienten-gruppe, bei der Verhaltensstörungen,auch aggressiver Art, regelmäßig auf-treten, ist die Gruppe der Demenzpati-enten. Auch hier werden klassische undneuere Antipsychotika verordnet, teil-weise in höheren Dosierungen, auchhoch- und niedrigpotente Neuroleptikagemischt.. Es konnte gezeigt werden (3),dass bei Patienten mit M. Alzheimerdie Nebenwirkungen von Antipsychotikaden möglichen Nutzen aufheben, dasNutzen-Risiko-Verhältnis war in derPlazebogruppe am besten. Die gegenPlazebo verwendeten Antipsychotika indieser Gruppe waren Olanzapin, Quetia-

pin undRisperidon, eingeschlossenwur-den 421 Patienten mit M. Alzheimer, diean psychotischen Symptomen, aggres-sivem Verhalten oder Agitation litten.Schon 2005 warnte die FDA (4) vor demEinsatz von sogenannten atypischen An-tipsychotika bei Demenzpatienten mitVerhaltensstörungen. In mehreren pla-zebokontrollierten Studien stieg dasSterblichkeitsrisiko bei den sogenann-ten Atypika auf 4,5 % gegenüber 2,6 %unter Plazebo (NNH=number needed toharm: 53). Die FDA ging davon aus, dassdiese Ergebnisse auf alle Atypika über-tragbar seien. Eine jüngst im August2008 veröffentlichte Arbeit (5) zeigteschließlich für den Einsatz bei Demen-zerkrankten ein für alle Antipsychotika,ob klassisch oder atypisch, ähnlichhohes Risiko cerebrovaskulärere Ereig-nisse.

Literatur

1. Brylewski J, Duggan L: Antipsychoticmedication for challenging behaviourin people with learning disability. Coch-rane Database Syst Rev 2004; Issue 3:CD000377.

2. Tyrer P, Oliver-Africano PC, Ahmed Zet al.: Risperidone, haloperidol, and pla-cebo in the treatment of aggressive chal-lenging behaviour in patients with in-tellectual disability: a randomised con-trolled trial. Lancet 2008; 371: 57–63.

3. Schneider LS, Tariot PN, DagermanKS et al.: Effectiveness of atypical antip-sychotic drugs in patients with Alzhei-

mer's disease. N Engl J Med 2006; 355:1525–1538.

4. FDA: FDA Public Health Advisory: De-aths with antipsychotics in elderly pati-ents with behavioral disturbances:http://www.fda.gov/cder/drug/advisory/antipsychotics.htm. Date created: April11, 2005. Zuletzt geprüft: 19. September2008.

5. Ian J Douglas and Liam Smeeth; Ex-posure to antipsychotics and risk of stro-ke: self controlled case series study; BMJ.2008 Aug 28;337:a1227. doi: 10.1136/bmj.a1227

Dr. med. M. Wittmann und Prof. Dr.med. Dr. rer. nat. E. Haen, [email protected]

113Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

FAZIT

Aufgrund der aktuellen Datenlage istder generelle Nutzen vonAntipsychoti-ka bei geistig Behinderten und De-menzpatienten mit Verhaltensstörun-gen sehr in Frage zu stellen. Da die hierzitierten Studien bezüglich desNutzen-Risiko-Verhältnisses ähnliche Ergeb-nisse zeigten, sollte der Einsatz vonAn-tipsychotika bei diesen Erkrankungenund vermutlich auch bei allen primärals auch sekundär hirnorganisch Er-krankten erst nach individueller Prü-fung der Indikation erfolgen und dertherapeutische Nutzen wie auch dieVerträglichkeit im Verlauf regelmäßigüberprüft werden.

DieBehandlung der idiopathischen Fazialisparese – heuteDie periphere Fazialisparese ist eine derhäufigsten Einzel-Nervenerkrankungen.In der Regel kommt es innerhalb vonStunden oder auch wenigen Tagen zueiner partiellen oder auch komplettenLähmung der Gesichtsmuskeln einerSeite unter Einschluss der Stirnmusku-latur. Häufig beklagen die Patienten zu-vor einen retroaurikulären Schmerz. We-gen eines Mitbefalls der Fasern zum M.stapedius können die Patienten über eine

Veränderung des Hörens (Klirren, Hy-perakusis) klagen. Wegen Mitbefall dersensorischen Fasern, die aus dem so ge-nannten N. intermedius in die Chordatympani einstrahlen, kommt es in der Re-gel auch zu einer Geschmacksstörung inden vorderen zwei Dritteln der Zunge(wird von den Patienten nicht immer sub-jektiv wahrgenommen). Die Abgrenzunggegenüber einer Gesichtslähmung vomzentralen Typ (so genannte zentrale Fa-

zialisparese) ist in der Regel einfach, dadie oberen Anteile des Fazialiskerngebietesim Hirnstamm nicht allein mit der kon-tralateralen, sondern auch mit der ipsi-lateralen Großhirnhälfte Verbindungenhaben (Pyramidenbahn bzw. genauerTractus cortico-pontinus). Bei der peri-pheren idiopathischen Fazialisparese istalso das Stirnrunzeln nicht möglich,wohl aber meist bei der zentralen. Mittelsexakter klinisch neurologischer Unter-

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suchung, evtl. unter Zuhilfenahme vonneurophysiologischen Verfahren (ma-gnetisch evozierte Potentiale, Elektro-neurographie) ist die Diagnose einer pe-ripheren Fazialisparese in der Regel leichtzu stellen (1).

Die Ursachen einer peripheren Fazia-lisparese können vielfältig sein. Am häu-figsten handelt es sich aber um die idio-pathische Fazialisparese, deren Ursacheletztlich unklar ist. Ein Zusammenhangmit der Reaktivierung einer Herpes-sim-plex-Infektion ist wiederholt unterstelltworden (2). Wenn es im Rahmen der Er-krankung zu einer Schwellung des Ner-ven kommt, so kann diese auf Grund derEnge in dem langen knöchernen Kanal zueiner Selbststrangulierung des Nervenführen. Diese Überlegung ist die Be-gründung für eine antiödematöse The-rapie mit Glukokortikoiden.

Andere, insbesondere kausaler behan-delbare Ursachen müssen differential-diagnostisch ausgeschlossen werden, wo-bei das Ausmaß der Diagnostik ent-scheidend auch von der Vorgeschichte undden Begleiterkrankungen des Patientenabhängt. Eine kraniale Bildgebung (CCTmit Knochenfenster oder MRT) wird üb-licherweise durchgeführt (AusschlussKleinhirnbrückenwinkel-Tumor, Verän-derung im Felsenbein). Ohrenärztli-cherseits ist ein Lokalprozess im Felsen-bein, insbesondere chronisch entzündli-cher Art, auszuschließen. Auch sollteder Ohrenarzt nach herpetiformen Ver-änderungen in der Tiefe des äußerenGehörganges suchen (Zoster oticus).Wichtigste Differentialdiagnose, insbe-sondere im Spätsommer, ist die Neuro-borreliose im zweiten Stadium (Menin-goradikuloneuritis, Morbus Bannwarth),da hier eine antibiotische Therapie (Doxy-cyclin oder Cephalosporine) indiziert ist.

Studienmit unterschiedlichem Ergebnis.Die Studie von Hato et al. (2) unter Ein-satz von Valacyclovir ergab einen positi-ven Effekt der zusätzlichen virustati-schen Behandlung.

Zusammenfassend wird der Routine-Ein-satz von Virustatika zum jetzigen Zeit-punkt nicht empfohlen.

Zur Prophylaxe gegen sekundäre Schädenan der Hornhaut durch den inkomplettenLidschluss sind folgende Maßnahmenmöglich:

• Uhrglasverband, bevorzugt nachts oder

• Seitenschutzbrille, bevorzugt tagsüberin Verbindung mit

• Augensalbe (z. B. Bepanthen®) nachtsoder

• künstlicher Tränenflüssigkeit am Tage.

Botulinuminjektionen in den Levatorpalpebrae sollten wegen hoher Kostenund negativer Wirkung auf die Tränen-sekretion nicht primär eingesetzt werden.

Als Maßnahme zur Verbesserung der Re-generation/Reinnervation werden aktiveBewegungsübungen vor dem Spiegelempfohlen. Eine Elektrotherapie der Ge-sichtsmuskeln ist wegen nicht erwiesenerWirksamkeit nicht zu empfehlen (5).

Literatur:

1. MRC guidelines for good clinical prac-tice in clinical trials. London: Medical Re-search Council, 1998.

2. Hato N, Yamada H, KohnoH et al.: Vala-cyclovir and prednisolone treatment forBell’s palsy: a multicenter, randomized,

114 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Zum sicheren Ausschluss einer Neuro-borreliose ist die Lumbalpunktion not-wendig, da in diesem Stadium der sero-logische Befund nicht in allen Fällenbereits positiv ist. Durch eine Lumbal-punktion erhält man zusätzlich auchHinweise auf eine möglicherweise beste-hende Meningeosis neoplastica, eine Sar-koidose oder auch eine beginnende basaleMeningitis durch atypische Erreger. Hin-zuweisen ist noch auf den Diabetes mel-litus, der zu einer Mononeuropathie desN. Fazialis führen kann.

Therapie

Wenn nach Ausschluss anderer Ursa-chen von einer idiopathischen Fazia-lisparese auszugehen ist, so stellt sich dieFrage nach einer Kortikoidmedikation un-ter der Vorstellung einer abschwellendenWirkung auf den sich strangulierendenNerven. Die Anwendung von Prednisolonbeginnend mit einer Dosis von 80 oder100mg pro Tagmit langsamer Reduktionüber 10 Tage wird allgemein empfohlen.Da die idiopathische Fazialisparese auchohne Therapie eine gute Prognose hat, istdie Beurteilung des Therapieeffektes nurdurch große Studien zu sichern. EineCochrane-Analyse aus dem Jahre 2004 (3)kommt zu dem Schluss, dass nach ran-domisierten kontrollierten Studien einsignifikanter Effekt der Kortikoidmedi-kation nicht nachweisbar ist. Dennochwird die Gabe in den Leitlinien der Deut-schen Gesellschaft für Neurologie seit lan-gem empfohlen. Zwei neuere Studien (2;4)belegen in der Tat einen signifikanten Ef-fekt dieser Maßnahme. Zu einer Steroid-hochdosis-Therapie (z. B. 1000 mg Me-thylprednisolon über wenige Tage) exis-tieren keine Studien.

Strittig ist der Einsatz von Virustatika (ins-besondere Aciclovir). Hier existieren zwei

FAZIT

Unter den peripheren Fazialisparesen istdie idiopathische Form die häufigste. An-dere Ursachen ( insbesondere Raumfor-derungen im Kleinhirnbrückenwinkel,chronisch- entzündliche Veränderungenim Felsenbein, Borreliose) müssen aus-

geschlossen werden. Bei der idiopathi-schen Form gibt es Hinweise auf einevirale Genese, dennoch kann z. Z. beikontroverser Datenlage nur die kurzfris-tige Prednisolon-Medikation empfohlenwerden, nicht hingegen die zusätzliche

virustatische Therapie. SymptomatischeTherapien ( Schutz des Auges vor Aus-trocknung, mimische Übungen) sind alsergänzende Maßnahmen wichtig.

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placebo-controlled study. Otol Neurotol2007; 28: 408–413.

3. Salinas RA, Alvarez G, Ferreira J: Cor-ticosteroids for Bell’s palsy (idiopathic fa-cial paralysis). Cochrane Database Syst Rev2004; Issue 4: CD001942.

4. Sullivan FM, Swan IR, Donnan PT et al.:Early treatment with prednisolone oracyclovir in Bell’s palsy. N Engl J Med2007; 357: 1598–1607.

5. Ohtake PJ, ZafronML, Poranki LG, FishDR: Does electrical stimulation improve

motor recovery in patients with idio-pathic facial (Bell) palsy? Phys Ther 2006;86: 1558–1564.

Prof. Dr. med. Hans-Peter Vogel, [email protected]

115Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

DifferenzierteBehandlung des chronischen JuckreizesJuckreiz (Pruritus) ist das häufigste Sym-ptom in der Dermatologie. Juckreiz kanngeneralisiert oder lokalisiert (z. B. geni-taler Juckreiz) auftreten. ChronischerJuckreiz ist als Juckreiz mit einer Be-standsdauer von über sechs Wochen de-finiert (1). Das Vorkommen in der Allge-meinbevölkerung wird auf ca. 8–10 % ge-schätzt, wobei hier genaue Studien be-züglich Inzidenz und Prävalenz fehlen.Juckreiz führt zu Kratzen, Scheuern,Reiben, Drücken und kann hierdurch ne-ben den im Rahmen einer Dermatose be-stehenden Effloreszenzen auch zu kratz-bedingten Hauterscheinungen wie Ex-koriationen, Erosionen, Krusten, Ver-dickung und Vergröberung der Hautführen. Juckreiz stellt als interdiszi-plinäres Symptom eine Herausforderungin der täglichen Praxis für Ärzte in vielenFachrichtungen dar.

Die Erfassung der Juckreizstärke istschwierig. Das Juckempfinden ist sub-jektiv und zeigt neben interindividuellenUnterschieden auch intraindividuelleSchwankungen z. B. infolge Müdigkeit,Angst, Stress, Depressionen. Die Erfassungder Juckreizstärke z. B. durch Befra-gung per Fragebogen kann hilfreich seinund dem Arzt die Zuordnung und Inter-pretation des Beschwerdebildes erleich-tern.

Die gründliche Anamnese, dermatologi-sche und allgemeine körperliche Unter-suchung (Leber, Nieren, Milz, Lymph-knotenstatus) und sorgfältige Diagno-stik des Patienten haben einen hohen Stel-lenwert. Der Beginn, der zeitliche Verlauf,die Qualität, die Schwere, die Lokalisati-on, Provokationsfaktoren (z. B. körperli-che Aktivität, Wasserkontakt) des Juckrei-zes und die eigene Theorie der Patientensollten abgefragt werden, da sich hier-

durch bereits wichtige Differentialdia-gnosen ergeben können. Es gibt keine La-boruntersuchungen, die als allgemeingültiges Screening für das Leitsymptom„Pruritus“ eingesetzt werden könnten.Blutuntersuchungen, bakteriologischeund mykologische Abstriche, Hautbiop-sie, weitere Untersuchungen (z. B. Rönt-gen, Sonographie) sind in Abhängigkeitvon der Anamnese, der körperlichen Un-tersuchungsbefunde und der Verdachts-diagnose durchzuführen (2). Der behan-delnde Arzt sollte die psychischen Aspek-te des Pruritus nicht unterschätzen, die-se in der Anamnese gezielt abfragen undauf die individuellen Bedürfnisse des Pa-tienten eingehen. Bei Verdacht auf einepsychiatrische Erkrankung oder wenn kei-ne somatische Ursache des Pruritus zu fin-den ist, sollte nur durch eine entspre-chende, fachärztlich-psychiatrische Un-tersuchung die Diagnose „somatoformerPruritus“ oder „psychogener Pruritus“ ge-stellt und dann ggf. fachärztlich therapiertwerden. Die Leitlinien zumVorgehen, Dia-gnostik und Therapie bei unklaremPruritus wurden jüngst publiziert undwerden derzeit aktualisiert (2).

Generalisierter Pruritus kann bei einergroßen Palette von vorbestehenden Der-matosen wie z. B. Atopischer Dermatitis(AD), Psoriasis vulgaris, kutanen Lym-phomen oder bei neu erworbenen Der-matosen wie Scabies, Urtikaria auftreten(2). Auch bei internistischen Erkran-kungen kann Jucken ein wichtiges Sym-ptom sein (3). Nieren- und Lebererkan-kungen können ebenso wie hämatologi-sche Erkrankungen mit Juckreiz ein-hergehen. Auch neurologische und en-dokrinologische Erkrankungen können zuJuckreiz führen. Eisenmangel wird immerwieder als Triggerfaktor bei Juckreiz be-obachtet. Dieser kann bei Älteren mit ge-

neralisiertem Juckreiz Folge einer mali-gnen Erkrankung oder einer fortge-schrittenen Lebererkrankung sein.

11,5 % der über 65-Jährigen und 19,5 %der über 85-Jährigen leiden an Juckreizim Rahmen dermatologischer und/oderinternistischer Erkrankungen. Geradein dieser Altersgruppe hat der chronischePruritus häufig mehrere Ursachen z. B.Xerosis cutis, Mangelerscheinungen, en-dokrinologische Erkrankungen. Medika-mente können in Form von kutanenArzneimittelreaktionen zu erheblichemJuckreiz führen (z. B. urtikarielle Arz-neimittelexantheme), führen aber auch bei5 % der medikamenteninduzierten ku-tanen Nebenwirkungen zu Juckreiz ohneHauterscheinungen. Dabei ist der Hy-droxyethylstärke (HES)-induzierte Prur-itus zu beachten, der bei bis zu 50 % dermit HES Behandelten (z. B. wegen Tin-nitus, Hörsturz) auftreten kann.

Bei etwa 8 % der Prurituspatienten bleibtdie Ursache des Juckreizes trotz intensi-ver Diagnostik ungeklärt.

Topische Therapien

Zu den allgemeinen symptomatischenMaßnahmen der Juckreiztherapie zählenhautpflegende topische Maßnahmen undeine spezifische Lokaltherapie in Abhän-gigkeit des individuellen Hautbefundes.Die pflegend-hydratisierende Rückfet-tung der Haut hat einen hohen Stellen-wert, insbesondere in der Therapie vonmit Trockenheit der Haut einhergehen-dem Juckreiz. Eine zusätzliche Aus-trocknung der Haut durch Waschen, Ba-den und Duschen kann durch die Ver-wendung von milden, nicht-alkalischenSeifen, rückfettenden Waschsyndets (sei-fenfreie Waschmittel), Dusch- und Ba-

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deölen und kurzem Duschen vermiedenwerden. Anschließend sollte die Hautmit Rücksichtnahme auf den individuel-len Hautzustand sofort eingecremt wer-den. Insbesondere harnstoffhaltige Ex-terna in einer Konzentration von 5% oder10 % sind gut einsetzbar und haben an-tipruritogene Effekte, sollten aber wegenmöglichen Brennens nicht auf offeneHautstellen aufgetragen werden.

Weitere symptomatische antipruriginöseTherapien sind Menthol (z. B. 2,0 %ig inSebexol® Cremelotio), Kampfer, Polido-canol (z. B. Optiderm® als Lotion, Creme,Fettcreme) und Gerbstoffe (z. B. Tanno-synth® als Creme oder Lotion, Tannolact®

als Creme, Fettcreme, Lotion). In Ab-hängigkeit von dem vorliegenden klini-schen Bild und der Diagnose müssen an-timikrobielle Substanzen, Antimykoti-ka, antiparasitäre Externa eingesetzt wer-den. Topische Antihistaminika sind zu-nehmend häufig Cremes und Salben zurJuckreizlinderung zugesetzt, allerdings istihreWirksamkeit nicht nachgewiesen. Bu-fexamac ist ein nichtsteroidales Anti-phlogistikum, das zur Therapie von Ek-zemen und Dermatitiden verschiedenerGenese eingesetzt werden kann, auf-grund der hohen allergenen Potenz abernicht empfohlen wird. Leichte bis mit-telstarke Glukokortikosteroide wie z. B.Hydrocortison, Hydrocortisonbutyrat,Prednicarbat, Mometasonfuroat, Methyl-prednisolon können bei entzündlichenDermatosen eingesetzt werden, starkwirksame Glukokortikosteroide wie z. B.Clobestasolproprionat, Triamcinolo-nacetonid, Betamethasonvalerat solltennur mit Zurückhaltung und nicht inArealen wie Gesicht und Genitalbereicheingesetzt werden. Topische Immunmo-dulatoren wie Tacrolimus 0,03 % oder0,1 % Salbe und Pimecrolimus 1 % Cre-me sind für die Therapie der AtopischenDermatitis zugelassen und werden zu-nehmend auch bei anderen Juckreizfor-men wie z. B. dem genitalen Juckreiz ein-gesetzt. Teerhaltige Externa wie z. B. Li-quor carbonis detergens 5 % oder 10 %wirken bei Ekzemerkrankungen und Pso-riasis antipruritogen. Capsaicin hat z. B.bei Prurigo nodularis, Lichen simplex,HES-induziertem Juckreiz, Notalgia pa-raesthetica gute juckreizstillende Wir-kung. Diese Therapie sollte nur nach sorg-

fältiger Aufklärung erfolgen, denn die to-pische Capsaicintherapie muss 5 x täglichangewendet werden und kann in den er-sten Behandlungstagenmit Brennen ein-her gehen. Außerdem wird das als Re-zeptur verordnete Capsaicin in steigenderKonzentration von 0,025 % bis 0,5 % an-gewandt.

Systemische Therapien

H1-Antihistaminika werden bei juckendenErkrankungen wie z. B. der Urtikaria undbestimmten allergischen Erkrankungen,die über Histaminfreisetzung vermitteltwerden, eingesetzt. Antihistaminika wiez. B. Desloratadin 5–10 mg täglich,Fexofenadin 180–360 mg täglich, Hy-droxycin 25–75 mg täglich, Azelastin2–4mg täglich, Ebastin 10–20mg täglichhaben jedoch bei Juckreiz, der nichthauptsächlich über Histamin vermitteltist, meist nur eingeschränkte Wirksam-keit. Zudem ist nur eine geringe Auswahlerstattungsfähig. Der kurzfristige Einsatzsystemischer Glukokortikosteroide kannzur Behandlung schwerer oder exazer-bierter juckender Erkrankungen wie z. B.Atopischer Dermatitis und BullösemPemphigoid notwendig sein. Hier sollteauf „nicht-methylierte“ Glukokortiko-steroide wie z. B. Prednisolon in einer An-fangsdosis von 0,5–2mg/kgKG/Tag und alsErhaltungsdosis 0,1–0,5 mg/kgKG/Tagzurückgegriffen werden.

Die UV-Phototherapie (z. B. UV-B-Be-strahlung) hat in der Behandlung vonjuckenden Dermatosen, urämischemPruritus, Polycythaemia vera, M. Hodgkin,HIV-assoziiertem Pruritus einen hohenStellenwert (2). Diese sollte nur nach sorg-fältiger Aufklärung der Patienten durch-geführt werden (phototoxische Wirkung,UV-Langzeitschäden).

Opioidrezeptorantagonisten wie Nalt-rexon können oral in einer Dosierung von50–150mg täglich bei asteatotischem Ek-zem (Austrocknungsekzem), Prurigonodularis, Lichen simplex, cholestati-schem Pruritus oder Pruritus unklarerÄtiologie eingesetzt werden, bei urämi-schem Juckreiz ist die Datenlage wider-sprüchlich (3). Gabapentin ist ein Anti-konvulsivum, das bei urämischemJuckreiz in einer Dosierung von 3 x 100

116 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

mg pro Woche und bei neuropathischemJuckreiz, HES-induziertem Pruritus in ei-ner Dosierung von 3 x 300 mg bis 3 x 600mg täglich eingesetzt werden kann. Auchbei Pruritus unklarer Ätiologie kann einTherapieversuch erfolgen. Serotonin-Wiederaufnahmehmmer (SSRI) wie Pa-roxetin 10–40mg täglich können bei Po-lycythaemia vera, somatoformen, para-neoplastischem und unklarem Prurituseingesetzt werden.

Literatur

1. Stander S, Weisshaar E, Mettang T etal.: [Clinical classification of chronic pru-ritus. Interdisciplinary consensus proposalfor a diagnostic algorithm]. Hautarzt2006; 57: 390–394.

2. Stander S, Streit M, Darsow U et al.: [Di-agnostic and therapeutic procedures inchronic pruritis]. J Dtsch Dermatol Ges2006; 4: 350–370.

3. Mettang T, Streit M, Weisshaar E:[Pruritus with systemic diseases]. Haut-arzt 2006; 57: 395–402.

Frau PD Dr. med. Elke Weisshaar,Heidelberg undProf. Dr. med. Thomas Mettang,[email protected]

FAZIT

Chronischer Juckreiz sollte immer aus-reichende ärztliche Aufmerksamkeiterhalten, dadies nicht nur einSymptomeiner Dermatose, sondern auch einerschweren systemischen Erkrankungsein kann. Somit erfordert Juckreiznebender sorgfältigenAbklärung, The-rapie der zugrunde liegenden Erkran-kung und symptomatischer antipruriti-scher Therapie zumeist eine interdiszi-plinäre Betreuung. Es stehen lokalesymptomatische Antipruriginosa undsystemische Medikamente zur Verfü-gung.Bei Letztgenannten ist zuberück-sichtigen, dass diese dann oft außer-halb der zugelassenen Indikationeneingesetzt werden müssen (sog. Off-Labe-Use).

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Atypische Antipsychotika werden heute alsMittel in der Behandlung schizophrenerErkrankungen breit eingesetzt. Ein Nach-teil ist, dass Patienten mit einer z. T. star-ken Gewichtszunahme und den damit ver-bundenen Folgeerkrankungen rechnenmüssen. Diese unerwünschteWirkung be-lastet die Patienten demnach nicht nurpsychologisch und beeinflusst die The-rapietreue negativ, sie ist auch ein Risi-kofaktor für kardiovaskuläre Erkran-kungen und Typ2-Diabetes. Die einzelnenNeuroleptika unterscheiden sich bezüg-lich dieses Risikos erheblich. Das Ausmaßist bei Clozapin und Olanzapin am stärk-sten, von denen mehrere generischePräparate zugelassen sind. PräventiveMaßnahmen zur Gewichtskontrolle sindalso bei dieser Arzneistoffklasse wichtig.Dass die Mühe nicht vergebens ist, zeigendie Ergebnisse eines Cochrane-Reviews:Ein moderater Gewichtsverlust bei Pati-enten mit Schizophrenie ist kurzfristigdurch Beeinflussung der Lebensge-wohnheiten (Lifestyle-Intervention) odertherapeutische Maßnahmenmöglich (1).Ob und welche Medikamente eingesetztund wann sie in die Therapie integriertwerden sollen, d. h. prophylaktisch odertherapeutisch, ist jedoch unklar.

Ein Arzneistoff, der eingesetzt werdenkönnte, ist Metformin. Eine Arbeits-gruppe um Wu et al. hat eine randomi-sierte klinische Studie an chinesischen Pa-tienten zu diesem Thema durchgeführt(2). Sie untersuchte, ob eine Lifestyle-In-tervention (Psychoedukation, Diät und Be-wegung) und/oder Metformin (750 mg/Tag) bei einer Antipsychotika-induziertenGewichtszunahme effektiver sind. DieStudienteilnehmer waren zwischen18 und 45 Jahre alt mit schizophrenerErstmanifestation. Ihre Therapie bestandaus Clozapin, Olanzapin, Risperidon oderSulpirid, und sie hatten innerhalb des er-sten Therapiejahres mehr als 10 % an Ge-wicht zugenommen. Die primären End-punkte waren die Veränderungen vonGewicht, Body-Maß-Index (BMI), Bauch-umfang, Nüchternglukose, Nüchternin-sulinspiegel und Insulinresistenz nach ei-

ner 12-wöchigen Therapie. Diabetes mel-litus war ein Ausschlusskriterium.

Insgesamt wurden 128 Patienten einge-schlossen, 50 % davon waren Männer. ImDurchschnitt waren die Patienten vor Be-ginn der Studie 64,6 kg schwer, hatteneinen BMI von 24,5 kg/m² und einenBauchumfang von 83,7 cm. Die Stu-dienergebnisse stellen sich wie folgt dar:Patienten mit Lifestyle-Intervention undMetformin verloren am stärksten an Ge-wicht (Abnahme um 4,7 kg, Endwert59,8 kg), der BMI (Abnahme um 1,8 kg/m², Endwert 22,8 kg/m²) sowie der Bauch-umfang (Abnahme um 2,0 cm, Endwert81,9 cm) nahmen im Vergleich zu Met-formin allein, Lifestyle-Intervention alleinoder Plazebo deutlich stärker ab. Nüch-ternglukose, Insulinspiegel und Insulin-resistenz waren unter jeder Interventiongegenüber Plazebo verringert. Hinsicht-lich der primären Endpunkte zeigte sichfolgende Effektivitätsreihung: Lifestyle-Intervention + Metformin > Metformin >Lifestyle-Intervention > Plazebo. Uner-wünschte Wirkungen unterschieden sichzwischen den vier Studiengruppen nicht,rein zahlenmäßig traten unter Metforminhäufiger Übelkeit, Kopfschmerzen undtrockener Mund auf. Allerdings waren dieGruppengrößen so klein, dass keine sta-tistische Signifikanz festgestellt werdenkonnte.

Welche Schlussfolgerungen lassen dieErgebnisse zu? Nach Meinung von Wu etal. können entweder Lifestyle-Interven-tion, Metformin oder die Kombination bei-der in die Therapie eingebunden werden,um einer Antipsychotika-induzierten Ge-wichtszunahme bei Patienten mit Schi-zophrenie entgegenzuwirken. Im Beson-deren empfehlen sie die Kombination fürPatienten, die bereits unter Therapie zu-genommen haben. Falls Patienten nichtin der Lage sind, den Lifestyle-Empfeh-lungen zu folgen, sollte Metformin er-wogen werden.

Bislang belegt nur eine einzige rando-misierte, kontrollierte klinische Studie die

117Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

VermeidetMetformin eineGewichtszunahmeunter atypischenAntipsychotika?

positiven Ergebnisse von Metformin beiKindern und Jugendlichen mit Schizo-phrenie (3). Im Gegensatz dazu konntenzwei weitere Studien, die bei erwachsenenPatienten durchgeführt wurden, keinenVorteil zeigen. Der Erfolg der Interventionwar entweder von Plazebo nicht unter-scheidbar (4), oder die Patienten nahmenunter Metformin sogar zu (5). Die Über-tragbarkeit der Ergebnisse von Wu et al.auf die europäische Population ist zudemerschwert, da die eingesetzten Antipsy-chotika-Tagesdosierungen niedrig waren(6). Außerdem zeigen Chinesen einenhöheren Anteil an viszeralem, adipösenFettgewebe, das einen wichtigen Effekt aufdie Entwicklung der Insulinresistenz undsomit auf die Effektivität von Metforminhat (7, 8, 9).

Trotz der fraglichen Relevanz der Studiefür uns Europäer haben Wu et al. auf einwichtiges, zudem wachsendes medizini-sches und gesellschaftliches Problemhingewiesen: der Gewichtszunahme undder damit verbundenen Begleiterkran-kungen durch atypische Antipsychotika.Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie,Psychotherapie und Nervenheilkunde(DGPPN) empfiehlt bei Einnahme von aty-pischen Antipsychotika ein regelmäßigesDiabetes-Screening in Abständen vonmaximal einem Jahr, insbesondere jedochwährend des ersten halben Jahres der The-rapie (6). Obwohl Blutdruck und Über-gewicht relativ einfach zu messen sind,sind die Screening-Raten im Alltag nochzu gering (10). Welche Möglichkeiten be-stehen aber, wenn der Patient unter einerantipsychotischen Therapie zugenom-men hat? Die DGPPN empfiehlt dieDurchführung einer Psychoedukationmit Hinweisen zur gesunden Lebens-führung und den Wechsel auf ein risi-koärmeres Antipsychotikum, solang es kli-nisch vertretbar ist. Clozapin bzw. Olan-zapin haben nämlich ein höheres meta-bolisches Risiko als Aripiprazol, Ziprasi-don und Amisulprid (11). Falls eine Ge-wichtsabnahme und die Umstellung aufein anderes Antipsychotikum nicht mög-lich sind, wäre ein pharmakotherapeuti-

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scher Versuch einer Gewichtsreduktiongerechtfertigt (6). Zudem sollte der Patientaktiv zur eigenständigen Gewichtskon-trolle ermutigt und geschult werden, er-ste Zeichen eines Diabetes mellitus früh-zeitig zu erkennen (6).

Literatur

Das umfangreiche Literaturverzeichniskann bei der Autorin nachgefragt werden.

Winnie Vogt, cand. rer. nat., MSc ClinPharm undProf. Dr. med. Stephanie Lä[email protected]

118 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

FAZIT

Gewichtszunahme ist ein häufiges Pro-blem bei Patienten mit Schizophrenie,besonders bei der Therapie mit atypi-schen Antipsychotika. Da Übergewichtmit Diabetes mellitus und kardiovas-kulären Erkrankungen assoziiert ist, soll-te eine Gewichtszunahme des Patientenbekämpftwerden. Deshalbmüssen Pati-enten, Familienmitglieder und Betreuerüber diätetische und Bewegungsmaß-nahmen frühzeitig beraten und bei ihrerEinbindung in denAlltag unterstütztwer-den. Der Wert einer medikamentösen

Behandlung zur Gewichtskontrolle mitMetformin ist bislang nicht überzeugendbelegt. Auchmuss an die in AVPwieder-holt ausgesprochenen Warnungen voreiner Laktatazidose unter Metformin er-innert werden, wenn dessen Kontraindi-kationen nicht beachtet werden. Fallseine Gewichtsabnahme nicht allein miteiner Änderung der Lebensgewohnhei-ten des Patienten erzielt werden kann,wird zunächst die Umstellung auf ein an-deres Antipsychotikum empfohlen.

DieBehandlung desCroup

Einführung

Als Croup, Pseudokrupp oder Krupp-Syndrom wird eine entzündliche steno-sierende Laryngitis mit vorwiegend sub-glottischer Weichteilschwellung be-zeichnet (Laryngitis subglottica) (1). Siegehört zu den häufigsten akuten respi-ratorischen Erkrankungen im Kindesal-ter und wird meist durch Parainfluenza-, seltener durch Respiratory-syncytial- undInfluenzaviren verursacht. Diphtherie-bakterien und Masernviren spielen ineiner Population mit Impfschutz keineRolle mehr. Das Haupterkrankungsalterliegt zwischen dem 6. Lebensmonat unddem 3. Lebensjahr.

Klinik

Die Erkrankung beginnt mit einer Rhi-nopharyngitis. Leitsymptome sind Hei-serkeit, bellender Husten, später inspi-ratorischer Stridor und Einziehungenim Jugulum und Epigastrium. Im weite-ren Verlauf kann zunehmend eine Atem-insuffizienz auftreten. Die Diagnose wirddurch die typische klinische Sympto-matik gestellt. Weniger als 5 % der er-krankten Kinder bedürfen einer Kran-kenhausbehandlung und eines kardiore-spiratorischen Monitoring. Weniger als3 % von den stationären Patienten müs-sen intubiert und beatmet werden. Die Le-

talität wird mit 1 auf 30.000 Fälle ange-geben.

Differenzialdiagnosen

Zusätzliche diagnostische Maßnahmen(Röntgen, Labor) sind nur bei Verdacht aufbakterielle Infektion erforderlich:

• bakterielle Laryngotracheitis infolgeStaphylococcus aureus, A-Strepto-kokken, Moraxella catarrhalis, Pneu-mokokken oder Anaerobier (< 1 auf1000 Croup-Fälle),

• Fremdkörperaspiration (keine fieber-hafte Vorkrankheit),

• Retropharyngeal- oder Peritonsillar-Abszess (mit Nackensteife und Schluck-störungen),

• Allergische Reaktion mit angioneuro-tischem Ödem (allergische Anamnese,oft urtikarielle Hauterscheinungen),

• Epiglottitis (supraglottische Laryngitis)infolgeHaemophilus influenzae Typ b(spielt infolge Hib-Impfschutz keineRolle mehr)

Behandlung

Die üblichen Behandlungsmethoden wer-den in (1) nach einer gründlichen Lite-

raturrecherche (138 Publikationen) einerEvaluation unterzogen. Hieraus ergebensich einige Empfehlungen für die Praxis,die für den erfahrenen Pädiater wenigNeues vermitteln, aber Bewährtes be-stätigen.

Stets sind Patient und Eltern zu beruhi-gen. Angefeuchtete Luft bringt keinentherapeutischen Effekt. Eine Nebelkam-mer bietet überwiegend Nachteile (Pilz-verunreinigung, feuchte Kälte, Eltern-trennung).Dampfinhalation ist wegen derVerbrühungsgefahr risikobelastet. EineAtemerleichterung durch Epinephrin-Aerosol (5 ml Epinephrin 1:1000 nach Re-zeptur) – alternativ InfectoKrupp® Inhal1 bis 2 Hübe – ist belegt. Als Neuigkeit miteiner mit Epinephrin vergleichbarengünstigen Wirkung wird ein Helium-Sauerstoff-Gemisch (Heliox®) beschrieben.Kortikosteroide verkürzen die Krank-heitsdauer und reduzieren die Hospitali-sierungsrate. Schwerkranke Patientenbenötigen unter Kortikosteroidtherapienur zu einem Fünftel eine Intubation bzw.Intubierte eine um 30 % kürzere Beat-mungsdauer. Leicht bis mittelschwer er-krankte Kinder haben unter Kortikos-teroidtherapie 50 % weniger Rezidiveund 30 % weniger Schlafprobleme. Un-erwünschte Arzneimittelwirkungen sindbei einer solchen Kurzzeit-Kortikostero-id-Anwendung nicht berichtet; allerdings

Page 11: Arzneiverordnung in der Praxis, Ausgabe 6/2008 · Neben Intelligenzminderung und Re - duktionsozialerFähigkeitentretenbei Patienten mit geistiger Behinderung auch zum Teil schwere

119Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

wird vor ihrer Anwendung bei Wind-pocken-inkubierten Patienten sowie beiVerdacht auf bakterielle Tracheitis, Pneu-monie oder gastrointestinalen Blutungengewarnt. Verschiedene Applikationsar-ten (oral, parenteral, inhalativ) machenkeine signifikanten Unterschiede. Siehängen vom klinischen Zustand des Pa-tienten ab (Erbrechen?). Dosisfindungs-Studien sind nicht bekannt. Allgemein lie-gen die empfohlenen Dosierungen vonKortikosteroiden zwischen (häufiger) 0,6und (seltener) 0,15 mg/kg Körperge-wicht. Die Indikation von Antipyretika be-schränkt sich auf die Reduktion von Fie-

ber, die von Antibiotika auf die Bekämp-fung einer bakteriellen Infektion. Eine vor-sorgliche Antibiotikatherapie bei Virus-infektionen wird abgelehnt. Für den Ein-satz von Antitussiva und Beta-2-Agonis-ten besteht bei Croup keine Indikation.

Literatur

1. Bjornson CL, Johnson DW: Croup.Lancet 2008; 371: 329-339.

Prof. Dr. med. Burkhard Schneeweiß,[email protected]

FAZIT

Abgesehen von Heliox® (ein Helium-Sauerstoff-Gemisch) sind in der ein-schlägigen Literatur keinenneuenThe-rapie-Optionen bei Croup zu erkennen.Epinephrin und Kortikosteroide wirkennachweislich günstig; sie reduzierendie Krankheitsdauer und verbesserndie Prognose der Kinder mit Croup.

NeueTherapiemöglichkeiten für dasmetastasierendeNierenzellkarzinomIn einer randomisierten, doppelblindenMulticenterstudie (1) wurde Interferon al-pha 2a mit und ohne den Angiogenese-hemmer Bevacizumab beim vorher un-behandelten metastasierendem Nieren-zellkarzinom an 649 Patienten untersucht.Von 325 Patienten, die mit Bevacizumab+ Interferon behandelt wurden, zeigten230 eine Progression gegenüber 275 Pa-tienten in der Gruppe, die Interferon al-lein erhielt. Das progressionsfreie Über-leben in der Bevacizumab+Interferon-Gruppe betrug imMedian 10,2 gegenüber5,4 Monate in der Gruppe, die allein In-terferon erhielt (Hazard ratio 0,63, 95 %Konfidenzintervall 0,52–0,75; p = 0,0001).Die Progression wurde lediglich von denUntersuchern selbst beurteilt, die Studieselbst wurde frühzeitig abgebrochen, be-vor der primäre Endpunkt, das Gesamt-überleben, hätte aussagekräftig werdenkönnen. Begründet wurde dies mit derVeröffentlichung weiterer Therapiemög-lichkeiten, die das Ergebnis hätten be-einflussen können. In der Bevacizu-mab+Interferon-Gruppe waren Müdigkeitmit 12% (n = 40) gegenüber 8% (n = 25)und Erschöpfung 10 % (n = 35) gegen-über 7 % (n = 20)häufiger.

In einem Kommentar im selben Heft (2)wird diese Studie anderen Therapiemög-lichkeiten gegenübergestellt (s. Tabelle 1):Sunitinib wurde bei 750 Patienten ge-genüber Interferon alleine untersucht

(3): Das progressionsfreie Überleben be-trug elf Monate in der Sunitinib- ge-genüber fünf Monaten in der Interferon-gruppe (Hazard ratio 0,42, 95 %-Konfi-denzintervall 0,32–0,54). UnabhängigeUntersucher ermittelten eine um 25 %größere Ansprechrate und eine bessere Le-bensqualität.

Temsirolimus, ein mTOR-Inhibitor (4)wurde (n = 209) gegenüber Interferon al-lein (n=207) und in Kombination mit In-terferon (n = 210) an Patienten mitschlechter Prognose untersucht. In derTemsirolimusgruppe zeigte sich ein gün-stigeres Gesamtüberleben (Median 10,9gegenüber 7,3 Monate, Hazard ratio fürTod 0,73, 95 % Konfidenzintervall 0,58–0,92, p = 0,008). Das progressionsfreieÜberleben war ebenfalls verbessert (5,5 ge-genüber 3,1 Monate). Durch die zusätz-liche Gabe von Interferon wurde das Er-gebnis nicht beeinflusst.

Die Medikamentenkosten für zwölf Wo-chen Behandlung werden für die USA fürdie Therapieregime mit Sunitinib undTemsirolimus auf knapp 14.000 Dollar,für Bevacizumab alleine auf 25.000 Dollarund für die Kombination von Bevacizu-mab und Interferon auf 48.000 $ ge-schätzt.

Da vergleichende Studien fehlen, kann dieFrage nicht beantwortet werden, welches

die Therapie der Wahl für Patienten mitmetastasierendem Nierenzellkarzinomist. Die orale Applikation spricht für Su-nitinib, die gute Verträglichkeit bei Pati-enten mit schlechter Prognose für Tem-sirolimus, die exorbitant hohen Kosten ge-gen eine Kombinationstherapie von Be-vacizumab und Interferon als Therapie-standard. Diese hohen Medikamenten-kosten wurden von uns schon einmal dis-kutiert (5).

Literatur

1. Escudier B, Pluzanska A, Koralewski Pet al.: Bevacizumab plus interferon alfa-2a for treatment of metastatic renal cellcarcinoma: a randomised, double-blindphase III trial. Lancet 2007; 370:2103–2111.

2. Motzer RJ, Basch E: Targeted drugs formetastatic renal cell carcinoma. Lancet2007; 370: 2071–2073.

3. Motzer RJ, Hutson TE, Tomczak P et al.:Sunitinib versus interferon alfa inmetastatic renal-cell carcinoma. N EnglJ Med 2007; 356: 115–124.

4. Hudes G, Carducci M, Tomczak Pet al.: Temsirolimus, interferon alfa,or both for advanced renal-cell car-cinoma. N Engl J Med 2007; 356:2271–2281.

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120 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

5. Bausch J: Teure Tyrosinkinasehemmermit systemsprengender Wirkung.Arzneiverordnung in der Praxis (AVP)2007; 34: 94–96.

Dr. med. Michael Zieschang, [email protected]

FAZIT

Es gibt neue vielversprechende, aberauch sehr teure Behandlungsmöglich-keiten für das lange Zeit nicht behandel-bare metastasierende Nierenzellkarzi-

nom. Welches die beste, sicherste undgleichzeitig kostengünstigste Therapieist, können die obengenannten Untersu-chungen leider noch nicht klären.

DerNutzen der CholesterinsenkungbeimDiabetesCa. 170 Millionen Menschen weltweitleiden an Diabetes mellitus. Die Prävalenzwächst rapide, und das vaskuläre Risikoist hoch. (1–4). Eine große aktuelle Meta-Analyse untersucht nun die Fragen, obPatienten mit Diabetes in gleicher Weisewie Nicht-Diabetiker von einer Behand-lungmit Statinen profitieren und von wel-chen Faktoren das Ausmaß der Risi-koreduktion beeinflusst wird. Die Analy-se der Cholesterol Treatment Trialist(CCT) Collaborators (5) umfasst 14 Stu-dien mit insgesamt 18.686 Patienten mitDiabetes mellitus (mittlere Nachverfol-gungszeit 4,3 Jahre). Die analysierten Stu-dien der Meta-Analyse waren prospektivdefiniert. Daher sind eine Reihe vonneueren negativen (4D, ASPEN, CORONA)und positiven Statin-Studien (ALLIANCE,SPARCL, GREACE) nicht Teil der Meta-Analyse. Durch eine nachträgliche Ein-beziehung von ASPEN und 4D in die Ana-lyse kam es zu keiner bedeutsamen Än-derung der Ergebnisse. Eine Statin-Me-dikation führte bei Patienten mit Diabe-tes zu einer 0,9 %ige absolute Reduktionder Sterblichkeit (11,9–11 %) pro mmol/lReduktion des LDL- Cholesterin (NNT111). Ähnliche Effekte finden sich beiNicht-Diabetikern (9,1–7,9% = 1,2% ent-spricht einer NNT von 83). Statine senk-ten das Risiko für ein vaskuläres Ereignisbei Diabetikern um 21% prommol/l LDL-Reduktion (RR 0,79, ARR 3,6%, NNT28). Die Analyse zeigt keine Unterschie-de in der Reduktion von Herzinfarkten,Schlaganfällen und anderen kardiovas-kulären Endpunkten zwischen Diabeti-kern und Nicht-Diabetikern. Die relativeRisikoreduktion war unabhängig von Ge-fäßkrankheiten in der Vorgeschichte undanderen Charakteristika wie Typ des Dia-betes, Geschlecht, Alter, behandelter Hy-pertonus, Body-Mass Index, systolischem

oder diastolischem Blutdruck, Nikotin-abusus und glomerulärer Filtrationsrate.Der entscheidende Prädiktor für den Sta-tin-Effekt war das Ausmaß der Choleste-rin-Senkung – unabhängig vom Aus-gangs-Cholesterin und ohne dass ein un-terer Grenzwert besteht, unter dem kei-ne weitere Risikoreduktion mehr auftrat.Im Vergleich zu Plazebo fand sich keineErhöhung der nicht-vaskulären Sterb-lichkeit oder der von Neoplasien. Fünf Jah-re Statin-Therapie verhinderte bei Dia-betikern mit vorbestehender Gefäßer-krankung 57 und ohne Gefäßerkran-kung 36 (in der Gesamt-Population 42)schwerwiegende vaskuläre Ereignisse prommol/l LDL-Senkung pro 1000 behan-delter Patienten. Eine typische LDL-Sen-kung unter Simvastatin 40mg liegt in derGrößenordnung von 40 %, d. h. um1,5 mmol.

Die Studie unterstützt zahlreiche frühe-re Analysen die zeigen, dass der absolu-te Behandlungseffekt für einen Patientenvon seinem individuellen vaskulären Ri-siko und dem Ausmaß der Cholesterin-Senkung abhängt. Die Autorengruppefolgert, dass alle Patienten mit Diabetesmellitus – unabhängig von einer Gefäß-manifestation und unabhängig vom Aus-gangs-Cholesterin – mit einem Statin be-handelt werden sollten. Auf dem Bodender CCT-Datenbasis werden die Therapie-Kosten für ein gerettetes Lebensjahr auf< 3.300 Euro geschätzt und sind damit inhohem Masse effektiv (6).

Literatur:

1. Wild S, Roglic G, Green A et al.: Globalprevalence of diabetes: estimates for theyear 2000 and projections for 2030. Dia-betes Care 2004; 27: 1047–1053.

2. Garcia MJ, McNamara PM, Gordon T,KANNELWB: Morbidity and mortality indiabetics in the Framingham popula-tion. Sixteen year follow-up study. Dia-betes 1974; 23: 105–111.

3. Pyorala K, Laakso M, Uusitupa M: Di-abetes and atherosclerosis: an epidemio-logic view. Diabetes Metab Rev 1987; 3:463–524.

4. Stamler J, Vaccaro O, Neaton JD,Wentworth D: Diabetes, other risk factors,and 12-yr cardiovascular mortality formen screened in the Multiple Risk FactorIntervention Trial. Diabetes Care 1993; 16:434–444.

5. Kearney PM, Blackwell L, Collins R etal.: Efficacy of cholesterol-lowering ther-apy in 18,686 people with diabetes in14 randomised trials of statins: a meta-analysis. Lancet 2008; 371: 117–125.

6. Mihaylova B, Briggs A, Armitage J et al.:Lifetime cost effectiveness of simvastatinin a range of risk groups and age groupsderived from a randomised trial of 20,536people. BMJ 2006; 333: 1145.

Dr. med. Oliver Adam und Prof. Dr.med. Ulrich Laufs, Homburg/[email protected]

FAZIT

Patienten mit Diabetes mellitus profi-tieren in gleichemMaße von einer Sta-tintherapie wie Patienten ohne Diabe-tes. Dabei spieltweder der Typ desDia-betes, noch das Alter oder das Ge-schlecht eine Rolle.

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Seit der letzten Zusammenstellung der„Beseitigung von Kopfläusen und Krät-zemilben“ in der Arzneiverordnung in derPraxis – Ausgabe 4/1999 hat sich eine Ver-schiebung der Gewichtung verschiednerPräparate ergeben. Da die beiden Er-krankungen durch eine interhumane ek-toparasitäre Infestation (das ist die „In-fektion“mit Parasiten) zustande kommen,sind alle im Folgenden aufgeführten The-rapeutika vom Grundsatz her gleicher-maßen anwendbar, allerdings muss derzunehmenden Resistenzlage und Toxizitätder einzelnen Antiparasitenmittel Rech-nung getragen werden.

Es gibt leider nur sehr wenige qualitativhochwertige Studien zu den imWeiterenaufgeführten Arzneimitteln, insbeson-dere fehlen vergleichende Studien, dieeine Rangordnung zulassen würden.Ohnehin ist ein Ranking abhängig vonder länderspezifischen Resistenzlage (kei-nes der Insektizide ist in allen Länderngleich gut wirksam), den Anwendungs-gewohnheiten und dem Ausmaß desBefalls durch die Ektoparasiten. Darüberhinaus sind nicht alle in den verschiede-nen Ländern zugelassenen Präparateauch in Deutschland auf dem Markt.Lindan (y-Hexachlorcyclohexan) wurdegemäß Richtlinie der EU Ende 2007 ver-boten.

Pediculosis

Die Kopflaus lebt ständig auf dem Kopfund verlässt ihren Wirt nie, da sie auf4–6 Blutmahlzeiten pro Tag angewiesenist. Dementsprechend beträgt die Über-lebenszeit außerhalb des Kopfes nur zweiTage. Die nachfolgend aufgeführten Mit-tel müssen strikt gemäß Gebrauchsan-weisung eingesetzt werden.

1. Permethrin (Infectopedicul®)1

Permethrin ist das wirksamste der äußer-lich anzuwendenden Läusemittel undgilt als Mittel der ersten Wahl. Es beein-flusst den Na-Transport und führt zueiner Depolarisation der Nervenmem-bran. Es ist ein synthetisches Pyrethroid,das zu 70 % ovizid ist und nach der An-

wendung für 2 – 3 Wochen am Haar haf-ten bleibt. Es steht als 0,43 %-ige alko-holische Lösung zur Verfügung und wirdkaum resorbiert.

2. Pyrethrine/Piperonylbutoxid (Gold-geist Forte®)2

Hierbei handelt es sich nicht um eine de-finierte Substanz, sondern um einen Ex-trakt aus Chrysanthemen, kombiniertmit dem Wirkungsverstärker Piperonyl-butoxid.

3. Ölhaltige Externa

a) Dimeticon (Polydimethylsiloxan) (Ja-cutin Pedicul fluid®, Etopril®) entfal-tet eine rein physikalische Wirkung.Wegen seines guten Spreitvermögensdringt es in die Atemöffnung der Läu-se ein, die infolge der Verklebung er-sticken. Es gibt eine Studie, in der eineWirksamkeit von 94,5 % angegebenwird. Eine andere Studien nennt 35 %Versager (Burgess et al., BMJ 2005,330, 1423). Eine abschließende Beur-teilung ist noch nicht möglich.

b) Weiterhin existiert eine Kombinationvon Dimeticon mit Jojobawachs undTriglyzeriden (NYDA L®), bei der dieAngabe zur Dosierung von Dimeticonin der Fertigzubereitung fehlt. Auchwird das Mittel nur als Spray angebo-ten, was die Gefahr der Aspiration vonSilikonöl beinhaltet. Valide Studi-energebnisse liegen nicht vor.

c) Schließlich gibt es noch eine Kombi-nation aus Sojaöl, Cocamidopropyl-betain und Natriumlaurylsufat (Mos-quito Läuseshampoo®3), bei dem wohleine demDimeticon ähnlicheWirkungzustande kommt.

4. Heiße Luft

In einer Studie wird beim Einsatz einesspeziell konstruierten Heißluftgebläses,das mit einem Kamm kombiniert ist undüber einen Zeitraum von 30 Minuten aufder Kopfhaut und den Haaren angewandtwird, eine Erfolgsquote von 80 % (Läuse

selbst) und 98 % (Nissen) angegeben,wohingegen bei Benutzung eines han-delsüblichen Handföns nur 20 bis 55 %der Läuse und 97 % der Nissen abgetötetwerden. Hierzu fehlen weitere valideDaten, so dass diese Methode zum jetzi-gen Zeitpunkt nicht empfohlen werdenkann.

Die vom Robert-Koch-Institut (RKI) emp-fohlene Behandlung ist die Kombinationvon chemischer und physikalischer The-rapie, mit folgender Vorgehensweise: An-wendung des Pediculocids über die ge-samte in der Fachinformation angegebe-ne Dauer, dann Haare auswaschen undanschließend nass auskämmen (miteinem feinzinkigen Nissenkamm). Nachfünf Tagen erfolgt ein zweites Nass-Aus-kämmen, am neunten Tag eine zweite An-wendung des Pediculocids mit anschlie-ßendem Nassauskämmen. Diese 2. Ap-plikation ist unabdingbar notwendig, dainzwischen noch nicht abgetötete Nissengeschlüpft sind. Zur Kontrolle wird am 13.und 17. Tag das Haar nochmals nassausgekämmt und nach Nymphen oderadulten Läusen abgesucht.

Ein Problem ist die seit etwa zwei Jahr-zehnten zunehmende Resistenz der Läu-se gegen Pediculocide. Je nach Land ist dieResistenzlage unterschiedlich, in Deutsch-land ist Permethrin trotz nachgewiesenerResistenz immer noch Mittel der erstenWahl. Allerdings gilt es zu berücksichti-gen, dass nicht jeder Misserfolg einer The-rapie in der Resistenz begründet ist,denn daneben kommt als Ursache inFrage: Reinfektion (korrekter: Reinfe-station) aus dem Umfeld, falsche Ver-dünnung (Einsatz des Pediculocids in klat-schnassem statt handtuchgetocknetemHaar), falsche Anwendungsdauer, zu spar-samer Auftrag, ungleichmäßige Vertei-lung, Unterlassung der Wiederholungs-behandlung oder mangelnder ovizider Ef-fekt. Oft ist eine Behandlung des Umfel-des erforderlich.

121Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Behandlung vonKopfläusen undKrätzemilben

1 Dieses Mittel ist vom Bundesumweltamt geprüftund in die „Entwesungsliste 19“ nach $ 18 des In-fektionsschutzgesetzes aufgenommen worden.

2 Ebenfalls in der genannten Liste3 Ebenfalls in der genannten Lsite

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Eine sichere Methode ist die komplette Ra-sur, die bei Männern bei der heutigenMode schon eher durchführbar ist alsnoch in früheren Jahren.

Skabies

Die Krätzmilbe befällt den Menschen alsseinen spezifischen Wirt. Die weiblichenTiere graben Gänge in die Epidermisund legen am Ende des Ganges Eier ab.Klinisch besteht ausgeprägter Juckreiz.Die Diagnose kann korrekterweise nur ge-stellt werde, wenn Milben nachgewiesenwerden. Notwendig ist eine Dreifachbe-handlung: Patient, Kontaktperson undKleidung. Das RKI empfiehlt vor dereigentlichen medikamentösen Behand-lung ein Vollbad und als adjuvante Maß-nahmen denWechsel von Unter- und Kör-perbekleidung (ggf. auch der Bettdecken)alle 12–24 Stunden, der Handtücherzweimal pro Tag, Auslüften der Kleidungüber sieben Tage und das Waschen derWäsche bei 60°C. Folgende Präparatewerden therapeutisch eingesetzt:

1. Permethrin (Infectoscab 5 %®)

Als 5 %-ige Creme ist es in den USA undin England nach wie vor das Mittel der er-sten Wahl. Es wird nur geringfügig überdie Haut aufgenommen und ist wederkanzerogen noch teratogen. Die Hei-lungsquote wird von Hamm et al. mit95,1 % (am Tag 28) angegeben. Es ist not-wendig, die Behandlung nach einer Wo-che zu wiederholen, da Permethrin nichtovizid ist. Die Hände müssen unbedingtmitbehandelt werden (kein Händewa-schen zwischendurch!).

2. Allethrin (Jacutin N®, Jacutin PediculSpray®, Spregal®)

Allethrin wird kombiniert mit Piperonyl-butoxid angeboten, allerdings nur alsAerosolspray. Da als Nebenwirkung Bron-chospasmen ausgelöst werden können, istes bei bronchopulmonalen Erkrankungenkontraindiziert, ebenso in der Schwan-gerschaft und Stillzeit..

3. Benzylbenzoat (Antiscabiosum 10 %für Kinder®, Antiscabiosum 25 %®)

Es handelt sich hier um den Ester ausBenzoesäure und Benzylakohol, der als25%-ige und 10%-ige Emulsion erhältlichist und toxisch für das Nervensystem derParasiten ist. Bei Säuglingen ist Benzyl-benzoat kontraindiziert, nicht jedoch beiSchwangeren und Stillenden. Da Benzyl-benzoat aus Perubalsam gewonnen wird,kann es zu Kreuzallergien kommen. Hin-derlich bei der Applikation ist die nicht un-beträchtliche (unspezifische) Reizwirkung.

4. Crotamiton (Crotamitex®, Eraxil®)

Der Einsatz von Crotamiton hat einelange Tradition (2,5 %-ig bei Kindern,6–10 %-ig bei Erwachsenen), seine Wirk-samkeit ist in etwa der von Benzylbenzoatvergleichbar. Seine Anwendung ist nichteingeschränkt bei Säuglingen, Schwan-geren und Stillenden.

5. Ivermectin (Stromectol® und Mec-tizan®)

Ivermectin wird oral in einer Dosis von200 µg/kg KG oral einmalig eingenom-

men. Es führt zu einer Erhöhung der Per-meabilität von Glutamat-gesteuertenChlorid-Kanälen, und damit zu einerHyperpolarisation an Nerven undMuskelnder Milben (Menschen haben keine der-artigen Chlorid-Kanäle). Der Vorteil derIvermectin-Behandlung besteht in der ein-fachen Handhabung, der schnellen und si-cheren Wirkung, der guten Toleranz undder guten Compliance. Indiziert ist Iver-mectin besonders bei massenhaftem Ska-bies-Befall in Altenheimen und bei derScabies crustosa (Scabies norwegica),bei der in den Krusten tausende vonMilben vorhanden sind. Ivermectin ist inDeutschland nicht zugelassen (Off- Label-Use) und daher nur über internationaleApotheken erhältlich.

6. Präzipitat-Schwefel

Sulfur praecipitatum wird bei Kindern ineiner Konzentration von 2,5 %, bei Er-wachsenen zu 6–10 % nach einem Voll-bad lokal aufgetragen. Er ist so wirksamwie Benzylbenzoat. Er kann auch beiKleinkindern und Schwangeren eingesetztwerden.

Die Trombidiose, auch Erythema au-tumnale, Erntebeiß oder Heukrätze ge-nannt, wird durch Milbenlarven mehre-rer Arten der Gattung Neotrombiculahervorgerufen. Diese Milben finden sichauf Gräsern. Befallen sind oft die Anlie-geflächen enger Kleidung, Unterarmeund Unterschenkel. Das klinische Bild unddie Therapie unterscheiden sich von demder echten Krätze nicht (siehe auch AVP1/1999, Seite 11). Die Milben werdennicht von Mensch zu Mensch übertragen.

Literatur

Das umfangreiche Literaturverzeichniskann beim Autor angefordert werden.

Prof. Dr. med. Roland Niedner, [email protected]

122 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

FAZIT

Trotz zunehmender Berichte über Resis-tenzen gegen Permethrin (Infectoscab5 %®) bleibt dieses Mittel immer nochMittel der ersten Wahl zur Behandlungder Pediculosis capitis. Faszinierend istdas Konzept der physikalischen, für denMenschen atoxischen Beseitigung derKopfläuse mit Dimeticon – diese Sub-stanz ist eswert, trotz noch fehlenderBe-stätigungs-Studien eingesetzt zu wer-den.

Auch die Skabies wird in erster Linie mitPermethrin angegangen, das gut wirksa-me Allethrin Jacutin N®, Jacutin PediculSpray®, Spregal®) ist, da lediglich alsSpray verfügbar, nur begrenzt einsetzbar.Tritt die Krätze massenhaft auf (Altenhei-me u. ä.), oder liegt die hochinfektiöseScabies crustosa vor, ist in erster Liniedas innerlich zu verabreichendenur überdie internationale Apotheke erhältlicheIvermectin (Off-Label-Use) indiziert.

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Die altersabhängige Makula-Degeneration(AMD) ist in allen Industrienationen in-zwischen die häufigste Ursache für eineErblindung. Weltweit sind über 30 Mil-lionen und allein in Deutschland nach ak-tuellen Schätzungen etwa 4,5 MillionenMenschen betroffen. EpidemiologischeStudien weisen auf den exponentiellen An-stieg von Prävalenz und Inzidenz jenseitsdes 50. Lebensjahres hin, wobei angesichtsder demographischen Entwicklung wei-ter mit einer deutlichen Zunahme zurechnen ist. Die Angaben zur Prävalenzund Inzidenz variieren in der Literatur.Hinsichtlich der Prävalenz wird davonausgegangen, dass unter der Frühform derErkrankung ca. 20 % der 65- bis 74-jähri-gen und ca. 35 % der 75- bis 84-jährigenleiden, während von der Spätform unterden 65- bis 74-jährigen ca. 1 % und un-ter den 75- bis 84-jährigen ca. 5 % be-troffen sind. Da die Spätstadien der Er-krankung mit einem Verlust der Lese-fähigkeit und der selbständigen Lebens-führung einhergehen, resultieren Pfle-gebedürftigkeit (und damit erheblicheKosten) und eine gravierende Ein-schränkungen der Lebensqualität. AlleTherapiekosten müssen vor diesem Hin-tergrund gesehen werden.

Basierend auf neuen Erkenntnissen zu pa-thogenetisch relevanten molekularenMechanismen konnten in jüngster Zeitneue Therapieverfahren entwickelt wer-den, die Gegenstand dieser Übersichtsind.

Ursachen undManifestation

Bei der AMD handelt sich um eine mul-tifaktorielle, progrediente Erkrankungdes zentralen Netzhaut/Pigmentepithel/Aderhaut-Komplexes, bei der sowohlgenetische Determinanten als auch Um-weltfaktoren eine Rolle spielen. Ange-schuldigt werden u. a. eine starke Son-nenlichtexposition. Die Frühstadien derErkrankung werden aufgrund der nurgeringfügigen retinalen Funktionsein-bußen vom Patienten kaum bemerkt.Daher ist eine routinemäßige Kontrolle

älterer Menschen durch den Augenarztwichtig.

Im Spätstadium kommt es unbehandeltzur Degeneration der äußeren Netzhaut-und Aderhautschichten oder es ent-wickeln sich sekundäre Gefäßneubil-dungen aus der Aderhaut. Dies bezeich-net man als „feuchte“ Makuladegenera-tion. Für den Patienten bedeutet dies, dasser in der Mitte des Gesichtsfeldes nur nocheinen grauen Fleck wahrnimmt und fi-xierte Dinge nicht mehr erkennen kann.

Bislang standen nur die thermische La-serkoagulation und die photodynami-sche Therapie (PDT) mit Verteporfin alsBehandlungsmöglichkeit für bestimmteAusprägungsformen der feuchten AMDzur Verfügung. In jüngster Zeit wurdenv.a. pharmakologische Verfahren ent-wickelt, mit denen sich neue Perspektivenin der Therapie der AMD eröffnet haben.Bei den medikamentösen Ansätzen han-delt es sich um Substanzen, die direkt indas Auge (intravitreal) appliziert werdenmüssen und die die Hyperpermeabilitätund das Wachstum der Gefäßneubildun-gen unter der Netzhautmitte einschrän-ken

Antiangiogenese: Inhibitionder biologischenWirkungvon VEGF (vascular endothelialgrowth factor) im Auge

Die Antiangiogenese als Behandlungs-strategie hat mittlerweile Eingang in dieTherapie maligner Neoplasien gefunden(z. B. Bevacizumab bei metastasierendemKolonkarzinom). Für die neovaskuläreAMD konnte gezeigt werden, dass derWachstumsfaktor VEGF eine wichtige pa-thogenetische Rolle spielt. VEGF bindetselektiv an Rezeptoren auf der Ober-fläche von Gefäßendothelzellen und in-duziert Gefäßneubildung, vermehrte Ge-fäß-Permeabilität und Entzündung. VEGFwird inmehreren Isoformen gebildet. Die-se Unterformen unterscheiden sich im Ex-pressionsmuster und in ihrer Funktion so-

wohl in physiologischen als auch in pa-thologischen Prozessen.

Die Induktoren für die vermehrte lokaleFreisetzung im Bereich der Makula sindnoch nicht eindeutig geklärt. VEGFkommt aber vermehrt in neovaskulärenMembranen von AMD-Patienten vor.Hierauf basiert das Konzept, VEGF bei Pa-tienten mit neovaskulärer AMD zu neu-tralisieren, um so den natürlichen Verlaufder Erkrankung zu beeinflussen.

Das erste Präparat, das 2004 in den USAdie FDA-Zulassung zur Anwendung beiAMD erhielt, ist Pegaptanib (Macugen®)ein synthetisiertes Oligonukleotid, das alssog. Aptamer wie ein Antikörper wirkt undhochselektiv eine VEGF-Unterform(VEGF165) bindet. So wird das Andocken andie Rezeptoren der Gefäßendothelzellenund damit die Signalweiterleitung ver-hindert. Das Präparat wird alle sechsWochen in den Glaskörper (intravitreal)injiziert.

In einer Phase-III-Studie mit über 1000Patienten konnte gezeigt werden, dass diedurch Pegaptanib induzierte Inaktivierungvon VEGF dessen angiogene und per-meabiltitätsteigernde Wirkung unter-drücken kann, wobei letzterer Effektoffensichtlich im Vordergrund steht.Nach zwölf Monaten trat eine Stabilisie-rung (definiert als Verringerung der Seh-schärfe von weniger als drei Zeilen aufeiner standardisierten Lesetafel) bei 70 %der Pegaptanib-Gruppe gegenüber 55 %in der Kontrollgruppe auf (p < 0,001), wo-bei eine Dosierung von 0,3 mg ausrei-chend war.

Eine tatsächliche Visusverbesserung (Vi-susgewinn � 3 Zeilen) war allerdings nurselten zu beobachten: bei 6 % in der Ver-umgruppe gegenüber 2 % in der Kon-trollgruppe. Während der zwölf Monatewurden acht Injektionen durchgeführt,wobei voraussichtlich auch danach nochweitere Verabreichungen notwendig sind,um den erzielten visusstabilisierenden Ef-fekt zu erhalten.

123Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Antiangiogenetische Therapie zurBehandlung der neovas-kulären (‚feuchten’) altersabhängigenMakuladegeneration

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Ranibizumab (= rhuFab V2; Lucentis®) alsweiteres neues Präparat ist ein humani-siertes, therapeutisches Antikörperfrag-ment, das selektiv alle VEGF-Isoformenneutralisiert (im Gegensatz zu Pegapta-nib, das nur eine hemmt). Es liegenmittlerweile 24- bzw. 12-Monatsdatenaus mehreren Phase-III-Studien vor. MA-RINA ist eine multizentrische, randomi-sierte, doppelblinde Phase III-Studie mitScheininjektionenkontrolle zur Wirk-samkeit und Sicherheit von Ranibizumabbei Patienten mit minimal klassischeroder okkulter feuchter AMD. Die Zwei-jahresdaten von MARINA zeigten, dass un-gefähr 90 % der Patienten, die monatlichmit Ranibizumab behandelt wurden, dieSehkraft bewahrten (definiert als Verlustder Sehschärfe um weniger als 15 Buch-staben auf der ETDRS-Tafel (Early Treat-ment of Diabetic Retinopathy Study), imVergleich zu 53 % der Patienten in derKontrollgruppe. Bei bis zu 33 % der mitRanibizumab behandelten Patienten ver-besserte sich die Sehkraft (definiert alsVerbesserung um 15 oder mehr Buch-staben auf der ETDRS-Tafel), im Gegen-satz zu 4 % der Patienten in der Kon-trollgruppe. Mit Ranibizumab behandel-te Patienten erreichten durchschnittlicheine Verbesserung der mittleren Seh-schärfe um 6,6 Buchstaben. Bei Patienten,die die Scheininjektionen erhielten, ver-schlechterte sich die mittlere Sehkraft umdurchschnittlich 14,9 Buchstaben.

ANCHOR ist eine multizentrische, ran-domisierte, doppelblinde Wirkstoff-kon-

trollierte Phase-III-Studie, bei der Rani-bizumab als monatliche intravitreale In-jektion im Vergleich mit photodynami-scher Therapie (PDT) mit Verteporfin(Visudyne®) bei Patientenmit vorwiegendklassischen choroidalen Neovaskularisa-tionen infolge AMD angewendet wurde.Einjahresdaten von ANCHOR zeigten,dass ungefähr 95% der Patienten, die mitRanibizumab behandelt wurden, die Seh-kraft bewahrten, im Vergleich zu 64% dermit PDT behandelten Patienten. Bei bis zu40 % der mit Ranibizumab behandeltenPatienten verbesserte sich die Sehkraft, imGegensatz zu 6 % der mit PDT behan-delten Patienten. Weiterhin erreichten diemit Ranibizumab behandelten Patien-ten durchschnittlich eine Verbesserungder mittleren Sehschärfe um 11,3 Buch-staben. Bei Patienten, die eine PDT er-hielten, verschlechterte sich die mittlereSehkraft um durchschnittlich 9,5 Buch-staben.

Diese Daten zeigten erstmalig, dass eineBehandlungsmethode nicht nur den Seh-kraftverlust verlangsamen kann, sondernauch bei einem hohen Anteil der Patien-ten zu einer Verbesserung der Sehkraftführt. Ranibizumab wurde im Januar2007 in Deutschland zur Therapie derneovaskulären AMD zugelassen. Im Ge-gensatz zu den amerikanischen Thera-pieempfehlungen mit monatlicher Gabevon Ranibizumab wird (basierend aufeinem mathematischen Modell) in derFachinformation für die europäischeZulassung eine initiale Aufsättigung von

drei Injektionen, gefolgt von einer in-dividuellen, visusabhängigen Erhal-tungstherapie, empfohlen.

Bevacizumab (Avastin®), die Vorläufer-substanz des Antikörperfragments Rani-bizumab, ist ein kompletter humanisier-ter monoklonaler Antikörper gegen allehumanen VEGF-Isoformen. Er ist zur Be-handlung von metastasiertem Kolon-oder Rektumkarzinom in Kombinationmit einer Chemotherapie zugelassen.

In Tierversuchen konnte gezeigt wer-den, dass eine systemische Anti-VEGF-Therapie die Ausbildung von choroidalenNeovaskularisationen verhindert. Dertierexperimentelle Nachweis eines Aus-tritts von Fluoreszein-konjugiertem Be-vacizumab aus Laser-induzierten choro-idalen Neovaskularisationen nach intra-venöser Gabe führte zur Initiierung eineroffen, unkontrollierten Studie, in derPatienten mit subfovealen choroidalenNeovaskularisationen bei AMD mit in-travenös verabreichtem Bevacizumabtherapiert wurden. Ähnlich wie bei der in-travitrealen Gabe von Ranibizumab er-fuhren unter intravenöser Gabe von Be-vacizumab drei von neun Patienten eineVerbesserung der Sehkraft vonmindestens15 Buchstaben.

Mittlerweile wird Bevacizumab auch in-travitreal injiziert, und es wurden the-rapeutische Effekte in zahlreichen Fallse-rien bei der neovaskulären AMD beob-achtet. Offensichtlich ist das Molekül

124 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Tabelle 1: Wirksamkeit von Angiogenasehemmern bei feuchter AMD

Wirkstoff Studie Ereignis Behandlungsgruppe Kontrollgruppe Nettoeffekt

Pegaptanib VISION Pegaptanib Plazebo

Stabilisierung* 70 % 55 % 15 %

Visusverbesserung* 6 % 2 % 4 %

Ranibizumab MARINA Ranibizumab Plazebo

Stabilisierung * 90 % 53 % 37 %

Visusverbesserung* 33 % 4 % 29 %

ANCHOR Ranibizumab PDT**

Stabilisierung* 95 % 64 % 31 %

Visusverbesserung* 40 % 6 % 34 %

** Definition siehe Text** Photodynamische Therapie mit Verteporfin

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entgegen der ursprünglichen Annahmennicht zu groß, um aus dem Glaskörper-raum durch die Netzhaut zu diffundieren.Bevacizumab wird bereits in größeremUmfang intravitreal angewandt. Aller-dings liegen Daten aus randomisiertenStudien nicht vor, und es handelt sich inder Augenheilkunde folglich um einen‚off-label-use’ der Substanz. Anreize zurAnwendung dieser Substanz liegen in densehr geringen Kosten für eine Injektionvon Bevacizumab.

Eine vereinfachte Übersicht über dieTherapie-Ergebnisse bietet Tabelle 1.

Unerwünschte Arzneimittel-wirkungen (UAW)

Was das UAW-Profil dieser Anti-VEGF-The-rapie betrifft, so ist nach den bisherigenDaten von einer außerordentlich gutenVerträglichkeit auszugehen.

Allgemein wäre bezüglich möglicher sys-temischer UAW der intravitrealen Anti-VEGF-Therapie beispielsweise eine ungün-stige Wirkung auf die Regeneration nachkardialer Ischämie sowie peripherer Man-geldurchblutungskrankheiten denkbar.Systemische Nebenwirkungen wurdenjedoch bislang bei keinem der mit Anti-VEGF-Präparaten behandelten Patien-ten beobachtet. Verdachtsmomente füreine höhere Inzidenz von Schlaganfällennach intravitrealer Injektion von Ranibi-zumab zeigten sich in einer 6-Monats-Zwi-schenauswertung der SAILOR-Studie.Dieser Unterschied war nach sechs Mo-naten signifikant (1,2 % vs. 0,3 %; p =0,02), jedoch nicht nach neun Monaten.In einer Stellungnahme der FDA im Fe-bruar 2007 wurde bemerkt, dass die Ratevon Schlaganfällen in beiden Dosis-Armender SAILOR Studie niedriger war als inden Zulassungsstudien. Die FDA sah kei-ne Notwendigkeit, die zugelassene Do-sierung zu ändern, oder einen entspre-chenden Hinweis einer besonderen Ge-fährdung in die Fachinformation aufzu-nehmen. Eine solche Beurteilung ergibtsich aus dem Vergleich der Inzidenz vonSchlaganfällen in der für die AMD typi-schen Altersgruppe mit der Inzidenz vonSchlaganfällen in den Behandlungsarmender Zulassungsstudien für Ranibizumab.Allerdings ist zu bedenken, dass die Anti-

VEGF-Therapie mit allen bislang zurVerfügung stehenden Substanzen beieinem hohen Anteil der Patienten mitneovaskulärer AMD über viele Jahre er-forderlich sein wird, und dass bislang nurDaten aus relativ kurzen Beobachtungs-zeiträumen zur Verfügung stehen. Diesgilt auch für potentielle okuläre Neben-wirkungen. VEGF als pleiotropes Zytokinbesitzt vielfältige physiologische Funk-tionen, u. a. auch als Survival- und neu-rotroper Faktor. So wäre es denkbar,dass die Entstehung von Arealen mitgeographischer Atrophie im Rahmen derAMD begünstigt werden könnte oder be-stehende Atrophien sich rascher ver-größern. Bislang wurde dies jedoch nichtbeobachtet.

Von der intravenösen Applikation von Be-vacizumab wurdemittlerweile Abstand ge-nommen, da hier z.T. schwerwiegende Ne-benwirkungen auftreten können, wie inStudien zur systemischen Gabe bei on-kologischen Krankheitsbildern gezeigtwurde. Das Risikoprofil einer intravit-realen Applikation ist hier in jedem Fallgünstiger.

Netzhautablösungen und traumatischeKatarakte liegen in ihrer Inzidenz unter0,1 %, die Inzidenz von Endophthalmiti-den wird bei einemBehandlungszeitraumvon zwölf Monaten mit 1 % angegeben.

Applikationsmöglichkeitenam Auge

Das menschliche Auge bietet hinsichtlichder pharmakologischen Therapie denVorteil der lokalen Applikation, womithoheWirkspiegel am Zielgewebe (hier derMakula) erreicht und systemische Ne-benwirkungen vermieden werden können.

Bei den vorgestellten Präparaten erfolgtderzeit eine Injektion in das Auge im Be-reich der sog. Pars plana (ca. 4 mm vomHornhautrand entfernt). An dieser Stel-le bleibt im Augeninneren die Netzhautunverletzt. Potentielle Gefahren sind dieVerschleppung von Keimen in das Augemit nachfolgender Endophthalmitis. Un-ter Beachtung aseptischer Techniken istdie Inzidenz dieser Komplikation jedochsehr gering. Die Verletzung der Linse imAuge ist bei inadäquater Injektionstech-

125Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

nik theoretisch möglich. Die intravitrea-len Injektionen sind für die Patienten an-fangs erschreckend, jedoch zeigt die Er-fahrung, dass diese von den Patienten sehrgut toleriert werden. Der Eingriff wird inörtlicher Betäubung (Tropfanästhesie)durchgeführt.

Kosten

Ranibizumab (Lucentis®) ist in Deutsch-land zugelassen. Die Ampulle kostet ca.1.500 Euro. Pegaptanib (Macugen®) kostetca. 850 Euro. pro Injektion. Entschließtman sich zum Off-Label-Use von Bevaci-zumab (Avastin®) ergeben sich lediglichca. 40 EuroMedikamentenkosten. Bei die-sem bleibt zu beachten:

1. Es gibt für Avastin® keine am Auge ge-prüfte Darreichungsform

2. Der Hersteller hafte nicht für demMe-dikament anzulastende Zwischenfälle

3. Es ist eine besonders sorgfältige In-formation des Patienten erforderlich

4. Im Zweifel könnte die Deckung einesSchadens durch die Berufhaftpflichtauf Schwierigkeiten stoßen

Für die Injektionsprozedur und die er-forderliche Diagnostik werden z.T. un-terschiedliche Preise verlangt (im allge-meinen zwischen ca. 200 – 400 Euro). Die-se Kosten sind zu den reinen Medika-mentenkosten zu addieren. Den Ge-samtkosten sind die Kosten einer Pflegeeines stark sehbehinderten alten Men-schen gegenüberzustellen. Je nach Pfle-gestufe und Heim sind hier Kosten von2.500 bis 4.000 Euro oder mehr pro Mo-nat zu veranschlagen.

Literatur

Literatur zu den publizierten Studienda-ten zur VEGF-Inhibition bei neovaskulä-rer AMD (Auswahl 1–9)

1. Aisenbrey S, Ziemssen F, Volker M et al.:Intravitreal bevacizumab (Avastin) foroccult choroidal neovascularization inage-related macular degeneration. Grae-fes Arch Clin Exp Ophthalmol 2007; 245:941–948.

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5. Chen CY, Wong TY, Heriot WJ: Intra-vitreal bevacizumab (Avastin) for neo-vascular age-related macular degenera-tion: a short-term study. Am J Ophthal-mol 2007; 143: 510–512.

6. Gonzales CR: Enhanced efficacyassociated with early treatment of neo-vascular age-related macular degenera-tion with pegaptanib sodium: an ex-ploratory analysis. Retina 2005; 25:815–827.

7. Gragoudas ES, Adamis AP, CunninghamET, Jr. et al.: Pegaptanib for neovascularage-related macular degeneration. N EnglJ Med 2004; 351: 2805–2816.

8. Kaiser PK, Brown DM, Zhang K et al.:Ranibizumab for predominantly classicneovascular age-related macular degen-eration: subgroup analysis of first-year AN-CHOR results. Am J Ophthalmol 2007;144: 850–857.

9. Rosenfeld PJ, Brown DM, Heier JS et al.:Ranibizumab for neovascular age-relatedmacular degeneration. N Engl J Med2006; 355: 1419–1431.

Prof. Dr. med. Frank Faude, Baden-BadenProf. Dr. med. Frank G. Holz, [email protected]

126 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

2. Bashshur ZF, Haddad ZA, Schakal A etal.: Intravitreal bevacizumab for treatmentof neovascular age-related macular de-generation: a one-year prospective study.Am J Ophthalmol 2008; 145: 249–256.

3. Brown DM, Kaiser PK, Michels M et al.:Ranibizumab versus verteporfin for neo-vascular age-related macular degenera-tion. N Engl J Med 2006; 355: 1432–1444.

4. Chakravarthy U, Adamis AP, Cunning-ham ET, Jr. et al.: Year 2 efficacy resultsof 2 randomized controlled clinical trialsof pegaptanib for neovascular age-relat-ed macular degeneration. Ophthalmolo-gy 2006; 113: 1508–1525.

FAZIT

Mit der Behandlung der neovaskulärenAMD durch VEGF-Inhibitoren wurde eintherapeutischer Durchbruch erreicht.Erstmals kann bei einemGroßteil der Pa-tienten ein Sehverlust verhindert und beivielen sogar eine Sehverbesserung er-zielt werden. Während Pegaptanib (Ma-cugen®) und Ranibizumab (Lucentis®)nun in Deutschland zugelassen sind,wird die Applikation von Bevacizumab(Avastin®) vermutlich auf längere Sichtaußerhalb der zugelassenen Indikatio-

nen („Off-Label-Use“) erfolgen. Geplantbzw. z.T. schon initiiert sind gegenwärtigin verschiedenen Ländern prospektiveVergleichsstudien zwischen Ranibizu-mab undBevacizumab hinsichtlichWirk-samkeit, Sicherheit und Applikations-häufigkeit (bspw. CATT-Studie in denU.S.A.). Für alle Verfahren gilt und wirdgelten, dass sie nur in einem rela-tiv frühen Stadium der neovaskulärenAMD greifen können. Jenseits dieses‚windows of opportunity’ treten im wei-

teren Verlauf der Erkrankung irreversibleFunktionseinbußen der Netzhaut auf.Daher sind auch eine Aufklärung überFrühsymptome und eine regelmäßigeaugenärztliche Untersuchung zur Früh-erkennung von besonderer Bedeutung.DenKosten dieser Therapie sind der Ver-lust an Lebensqualität bei erheblichemSehverlust und die Kosten der Pflegealter stark sehbehinderter Menschengegenüberzustellen.

RituximabbeimPemphigus

Der Pemphigus ist eine lebensbedrohlicheblasenbildende Autoimmunerkrankungder Haut und Schleimhäute. Die Inzidenzder Erkrankung liegt in Mitteleuropaund Nordamerika bei 1 bis 5 Neuerkran-kungen/1Million Einwohner/Jahr. Anhandvon klinischen, histologischen und im-munpathologischenMerkmalen wird zwi-schen dem Pemphigus vulgaris, Pem-phigus foliaceus und paraneoplastischenPemphigus unterschieden. Allen ge-meinsam ist das Auftreten von Autoanti-körpern gegen desmosomale Struktur-proteine (Desmogleine), wodurch es zumVerlust des intraepidermalen Zell-Zell-Kontaktes mit nachfolgender Blasenbil-

dung kommt. Die pathogenetische Be-deutung von Desmoglein-spezifischenAutoantikörpern beim Pemphigus ist imTiermodell gesichert. Deren Spiegel kor-relieren mit der klinischen Aktivität derErkrankung. Die häufigste klinische Pem-phigus-Variante, der Pemphigus vulgaris,ist durch zunächst in der Mundhöhle auf-tretende schmerzhafte Erosionen ge-kennzeichnet. Auch alle anderen Schleim-häute können betroffen sein. An derHaut zeigen sich schlaffe Blasen, die sichrasch in großflächige nässende Erosionenumwandeln. Vor der Verfügbarkeit syn-thetischer Glukokortikoide verlief derPemphigus vulgaris fast immer letal, wo-

bei Sepsis und Elektrolytentgleisungen dieHaupttodesursachen darstellten. Durchdie Einführung von systemischen Glu-kokortikoide und anderen Immunsup-pressiva konnte die Mortalität des Pem-phigus reduziert werden. Heute stellen dieNebenwirkungen langjähriger Gluko-kortikoidanwendung die wichtigste To-desursache dieser Patienten dar. Des-halb besteht ein Bedarf an innovativen, ef-fektiven und nebenwirkungsarmen Be-handlungsoptionen für den Pemphigus.

Rituximab (MabThera®) ist ein monoklo-naler rekombinant hergestellter murin-humaner Antikörper gegen das Zellober-

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flächenantigen CD20. Dies ist ein Diffe-renzierungsmarker, der von B-Lympho-zyten exprimiert wird. HämatopoetischeStammzellen im Knochenmark und Plas-mazellen besitzen dagegen kein CD20-An-tigen. Die Gabe von Rituximab resultiertin einer Deletion von CD20-positiven B-Zellen. Nach einigen Monaten kommt eszur Erholung zirkulierender B-Zellen, dadie CD20-negativen hämatopoetischenStammzellen unversehrt bleiben. DieGesamt-IgG-Konzentration sowie dieSpiegel von spezifischem IgG gegen Her-pes simplex-Viren, Pneumokokken oderTetanustoxoid bleiben unter dieser The-rapie meist unverändert und werdendurch langlebige Plasmazellen aufrech-terhalten. Die Autoantikörper-produzie-renden Plasmazellen sind jedoch ge-genüber der Rituximabtherapie emp-findlicher. Auf dieser Weise kann Rituxi-mab eine langfristige Heilung B-Zell-vermittelter Autoimmunerkrankungenbewirken. Derzeit liegen positive Erfah-rungen mit der Rituximabtherapie unteranderem bei M. Werlhof, M. Wegener, au-toimmuner hämolytischer Anämie, My-asthenia gravis, systemischem Lupuserythematodes und membranöser Glo-merulonephritis vor. Darüber hinaus istRituximab in Kombination mit Metho-trexat für die Behandlung von Patientenmit Rheumatoider Arthritis zugelassen.

Mittlerweile liegen zwei prospektive Stu-dien zum Einsatz von Rituximab beimPemphigus vor. Ahmed et al. erzieltendurch eine Therapie mit Rituximab inKombination mit hochdosierten Im-munglobulinen bei 9 von 11 Pemphigus-Patienten eine klinische Remission (1).Joly et al. zeigten, dass Rituximab in Kom-bination mit systemischen Glukokorti-koiden bei 18 von 21 Patienten mit re-fraktärem Pemphigus zur klinischen Re-mission führte (2). Insgesamt wurde dieAnwendung von Rituximab bis dato bei 93Patienten mit Pemphigus veröffentlicht(Übersicht in (3)). Eine komplette dau-erhafte Remission (Fehlen von klini-schen Symptomen und zirkulierenden Au-toantikörpern auch nach komplettemAbsetzen der immunsuppressiven The-rapie) wurde bei 43 Patienten (46 %) be-obachtet. Bei 26 weiteren Patienten (28%)konnte eine klinische Remission unterfortgesetzter Immunsuppression erreicht

werden. Achtzehn Patienten (19 %) zeig-ten eine klinische Besserung, jedoch kei-ne komplette Abheilung des Pemphigusunter Rituximabtherapie. Sechs Patienten(6%) waren gegenüber der Rituximab-Be-handlung resistent. In eigenen Untersu-chungen war die Ansprechrate des zuvortherapierefraktären Pemphigus auf Ri-tuximab hoch (4). Es steht außer Frage,dass dieses Medikament eine wirksame Be-handlungsoption des Pemphigus dar-stellt und einemwesentlichen Teil der Pa-tienten die Perspektive einer dauerhaftenHeilung eröffnet. Grundsätzlich solltedie Rituximab-Behandlung daher bei je-dem Patienten mit einem therapiere-fraktären Pemphigus erwogen werden(3). Die „Schwere“ allein begründet bis-lang jedoch noch nicht den primären Ein-satz – außer beim paraneoplastischenPemphigus.

Die meisten Patientenmit Pemphigus er-hielten vier Infusionen von Rituximab (je-weils 375mg/m2 Körperoberfläche) im Ab-stand von einer Woche. Dieses Thera-pieschema wurde aus der Behandlung desB Zell-Lymphoms übernommen, für dasRituximab ursprünglich zugelassen wur-de. Für die Anwendung beim Pemphigusist jedoch in der Zukunft eher das für dierheumatoide Arthritis zugelassene Be-handlungsprotokoll (zwei Gaben von je1000 mg Rituximab in Abstand von zweiWochen) zu empfehlen. Zur Vermeidungvon häufigen Infusionsreaktionen (Fieber,Schüttelfrost, Hypotonie, Übelkeit, Bron-chospasmus, Urtikaria) während der Ri-tuximab-Gabe sollte eine Prämedikationmit 10 mg Cetirizin, 1000 mg Paraceta-mol und 100 mg Prednisolon (letzteresnur bei Erstgabe) erfolgen. Zusätzlichmüssen während der Rituximab-Infusio-nen Puls, Blutdruck und Temperaturengmaschig überwacht werden. Der kli-nisch fassbare Wirkungseintritt von Ri-tuximab kann in der Regel nach 2 bis 3Monaten erwartet werden. Aus diesemGrund wird Rituximab zunächst mit Glu-kokortikoiden, anderen Immunsuppres-siva oder einer jeweils vorangehenden ex-trakorporalen Immunapherese kombi-niert, die nach Wirkungseintritt von Ri-tuximab im optimalen Fall komplett aus-geschlichen werden können. Die Kostenfür einen Behandlungszyklus mit Ritu-ximab betragen ca. 3.700,- Euro.

Auch wenn der Gesamt-IgG-Spiegel nachder Rituximabtherapie meist unverändertbleibt, gehören schwere Infektionen zuden wichtigsten potentiellen Nebenwir-kungen bei Pemphigus-Patienten, dieRituximab erhalten. Zu den berichtetenKomplikationen zählen insbesondereSepsis, Pneumonie (einschließlich P. ca-rinii-Pneumonie), bakterielle Arthritis, Py-elonephritis, persistierende Hypogam-maglobulinämie und Zytomegalievirus-In-fektion (3;4). Das Risiko infektiöser Kom-plikationen durch Rituximab scheint beiPemphigus-Patienten deutlich höher zuliegen als bei Patienten mit Lympho-men, Rheumatoider Arthritis oder syste-mischem Lupus erythematodes. Dies istmöglicherweise darauf zurückzuführen,dass beim Pemphigus gleichzeitig hoheDosen immunsuppressiver Medikamenteverabreicht werden, und eine Infektionüber die Hautläsion eher möglich ist.Denkbar ist auch eine zu hohe Einschät-zung der tatsächlichen Komplikations-raten durch selektive Berichterstattung.Bislang wurden nämlich alle Pemphigus-Patienten, im Gegensatz z. B. zu Patien-ten mit Lymphomen, im Rahmen vonkleinen unkontrollierten Studien mit Ri-tuximab behandelt. Größere randomi-sierte Untersuchungen zur Rituximab-An-wendung beim Pemphigus sind daher not-wendig.

Literatur

1. Ahmed AR, Spigelman Z, Cavacini LA,Posner MR: Treatment of pemphigus vul-garis with rituximab and intravenousimmune globulin. N Engl J Med 2006;355: 1772–1779.

2. Joly P, Mouquet H, Roujeau JC et al.: Asingle cycle of rituximab for the treatmentof severe pemphigus. N Engl J Med 2007;357: 545–552.

3. Hertl M, Zillikens D, Borradori L et al.:Recommendations for the use of ritux-imab (anti-CD20 antibody) in the treat-ment of autoimmune bullous skin dis-eases. J Dtsch Dermatol Ges 2008; 6:366–373.

4. Shimanovich I, Nitschke M, Rose C etal.: Treatment of severe pemphigus withprotein A immunoadsorption, rituximab

127Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

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and intravenous immunoglobulins. Br JDermatol 2008; 158: 382–388.

Iakov Shimanovich und Detlef Zillikens

Prof. Dr. med. Detlef Zillikens, Lübeck

[email protected]

128 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

FAZIT

Der Pemphigus ist eine chronische le-bensbedrohliche blasenbildende Au-toimmundermatose, die durch bislangverfügbare immunsuppressive Therapi-en nur in Ausnahmefällen geheilt wer-den konnte. Neuere Arbeiten zeigen,dass der Anti-CD20 Antikörper Rituxi-mab bei einem Teil der Pemphigus-Pati-enten durch die permanente Deletionautoreaktiver B-Zellklone zu einer dau-erhaften Ausheilung der Erkrankung

führen kann. Die Behandlung ist teuerund kann durch Infektionen kompliziertwerden. Diese Risiken gilt es gegen dieKosten und Nebenwirkungen einer le-benslangen Therapie mit Glukokortikoi-den und anderen Immunsuppressiva ab-zuwägen. Eine Rituximab-Behandlungsollte bei jedemPatientenmit einem the-rapierefraktären Pemphigus in Betrachtgezogen werden.

Arzneimittel – kritisch betrachtet

DerNuvaRing®, eineVerhütungsmethodeKombinierte orale Kontrazeptiva (COC)werden in Deutschland von etwa einemDrittel aller Frauen im reproduktions-fähigen Alter angewandt. Ihre hohe Ak-zeptanz verdanken die Präparate insbe-sondere ihrer kontrazeptiven Sicher-heit, ihrer relativ niedrigen Nebenwir-kungsrate, ihrer Zyklusstabilität undihrer Reversibilität. Für viele Frauen istjedoch die erforderliche tägliche Ein-nahme ein Problem. Nicht selten kommtes zu Anwendungsfehlern durch Verges-sen der rechtzeitigen Einnahme.

Die täglicheEinnahme ist bei demneuenPräparat NuvaRing® nicht erforderlich.Wir hatten über diese Innovation bereitsim Jahre 2003 berichtet (AVP 30, 4, No-vember 2003), konnten aber aufgrundder damaligen Datenlage keine Empfeh-lung aussprechen. Heute, fünf Jahre spä-ter ergibt sich eine andere Sachlage:

Bei dem Vaginalring handelt es sich umein kombiniertes Hormonpräparat zurKontrazeption, das von der Anwenderintief in die Vagina eingeführt wird. Er sollmöglichst im hinteren Scheidengewölbeliegen, eine exakte Platzierung ist abernicht erforderlich. Die Hormone befin-den sich in einem flexiblen Ring ausEthinylvinylazetat. Der Ring hat einenDurchmesser von 54 mm und eine Stär-

ke von 4 mm, er gibt täglich etwa 15 µgEthinylestradiol und 120 µg Etonoge-strel ab. Etonogestrel ist 3-Ketodesoge-strel, der biologisch aktive Metabolit vonDesogestrel. Diemittleren Serumspiegelfür Ethinylestradiol betragen 19 pg/ml,maximal 35 pg/ml (1).

Als Vorteil des NuvaRing® kann man diegegenüber den COC weitgehend kon-stante Hormonabgabe ansehen. Wäh-rend es bei COC zu täglichen Schwan-kungen der Serumspiegel kommt, sinddie Ethinylestradiol- und Etonogestrel-spiegel unter Anwendung desNuvaRing®

weitgehend konstant. Weiterhin könnteals Vorteil gelten, dass durch die vagina-le Applikation der first-pass-Effekt überdie Leber vermieden wird.

Die kontrazeptive Wirkung des Nuva-Ring® besteht vor allem in der Unter-drückung der Follikelreifung und derOvulation. Daneben kommt es durch dieGestagenwirkung zur Atrophie des En-dometriums und zur Veränderung desZervixschleims. Die Wirkungen entspre-chen somit den Wirkungen der COC.

Üblicherweise wird der Ring von der An-wenderin in die Scheide eingelegt undnach 21 Tagen wieder entfernt. Nacheiner 7-tägigen Anwendungspause, in

der es zur Abbruchblutung kommt, wirdein neuer Ring eingesetzt. Falls ge-wünscht, kann der Ring auch im Lang-zyklus angewendetwerden. Erwird dann28 Tage belassen, anschließend wirdohne Anwendungspause ein neuer Ringeingelegt. Während des Geschlechtsver-kehrs kann der Ring in der Vagina ver-bleiben. In den meisten Fällen wird derRing vomPartner nicht wahrgenommenbzw. nicht als störend empfunden. DerRing kann aber auch vor dem Verkehrentfernt werden. Er sollte dann nachspätestens drei Stunden wieder einge-setzt werden.

In verschiedenen Studien wurde diekontrazeptive Sicherheit des NuvaRing®

untersucht (2–4). Der beobachtetePearl-Index (Schwangerschaften pro 100Frauenjahre) war mit ca. 1,2 dem derCOC vergleichbar, bei vorschriftsmäßi-ger Anwendung betrug der Pearl-Index0,77.

Die Akzeptanz desNuvaRing®wird in denverfügbaren Studien als hervorragendangegeben. Vermutlich gilt das aber nurfür diejenigen Anwenderinnen, die keinegrundsätzlichen Einwände gegen die er-forderliche Manipulation und gegeneinen dauerhaft vorhandenen Fremd-körper in der Vagina haben.

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129Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

Quo vadis, Acomplia® (Rimonabant)?Die Adipositas entwickelt sich besondersin Industrieländern zur Epidemie (1), unddie Kosten der Behandlung von Folgeer-krankungen belasten das Gesundheits-system. Daher liegt der Wunsch nacheiner effektiven und sicheren Therapienahe. Im Januar 2007 wurde in der AVPbereits über Rimonabant, den ersten zu-gelassenen Vertreter der Gruppe derCannabinoid-1-Rezeptorantagonisten zurBehandlung der Adipositas, mit der

Schlussfolgerung berichtet, dass „dieVerordnung von Rimonabant nicht emp-fohlen werden [kann], da die Effekte aufdie Gewichtsabnahme eher gering undkurzdauernd sind“. Außerdem „[liegen]über die unerwünschten Arzneimittel-wirkungen, insbesondere bei Langzeit-anwendung, nur spärliche Erfahrung[vor]“(2). Bedeutsame unerwünschte Wir-kungen sind depressive Verstimmungenbis hin zum Suizid (3).

Rimonabant wirkt im Endocannabinoid-system des Körpers durch selektive Blo-ckade des Cannabinoid-1-Rezeptors(CB-1-Rezeptor). Für das Endocannabi-noidsystem sind bis zu diesem Zeitpunktnur zwei Rezeptoren, der Cannabinoid-1-und der Cannabinoid-2-Rezeptor (CB-2)bekannt. Der CB-2-Rezeptor wird aufhohem Niveau in B- und natürlichen Kil-lerzellen exprimiert und scheint immu-nologische Funktionen zu erfüllen (4). Der

Auf Grund der konstanten Hormonspie-gel kommt es im Vergleich zu COC selte-ner zu irregulären Blutungen, die Ratewird mit 5,5 % angegeben. In ersterLinie handelt es sich dabei um Spotting.Mit derDauer der AnwendungnimmtdieHäufigkeit irregulärer Blutungen ab. Zuregulären Blutungen kommt es in 98 bis99 % der Zyklen, die mittlere Blutungs-dauer beträgt ca. 5 Tage.

Als unerwünschte Wirkungen werdenam häufigsten Kolpitiden (13,7 %),Fluor (5,9 %) und Kopfschmerzen(11,8 %) angegeben. Insgesamt wurdedie Anwendung von knapp 30 % derFrauen vorzeitig beendet. Gelegentlichkommt es zum Herausfallen des Ringes.In diesem Fall sollte der Ring spätestensnach 3 Stunden erneut eingesetzt wer-den. Zum Verlust kam es bei einigenFrauen während des Geschlechtsver-kehrs.

In einer Studie an 1.145 Frauen kam esbei 20 Frauen mit zuvor unauffälligerZervixzytologie nach Anwendung desNuva-Ring® zum PAP III, bei einer zumPAP IVa (5). Da es auch unter EinnahmevonCOCzu einer erhöhtenRate vonZer-vixkarzinomen kommt, ist ein ausge-prägterer Einfluss auf die Zervixzytolo-gie bei unmittelbaremKontakt von Ringund Portiooberfläche nicht auszuschlie-ßen.

Die Stellungnahme der WHO zu Risikendes NuvaRing® entspricht im Wesentli-chen der Stellungnahme für COC. Eswird jedoch betont, dass bisher nur Stu-

dien des Herstellers vorliegen und dasslängere Erfahrungen abgewartet werdenmüssen (6).

Literatur

1. van den Heuvel MW, van Bragt AJ,Alnabawy AK, Kaptein MC: Comparisonof ethinylestradiol pharmacokinetics inthree hormonal contraceptive formula-tions: the vaginal ring, the transdermalpatch and an oral contraceptive. Contra-ception 2005; 72: 168–174.

2. Dieben TO, Roumen FJ, Apter D: Effi-cacy, cycle control, and user acceptabili-ty of a novel combined contraceptivevaginal ring. Obstet Gynecol 2002; 100:585–593.

3. Oddsson K, Leifels-Fischer B, de MeloNR et al.: Efficacy and safety of a contra-ceptive vaginal ring (NuvaRing) com-pared with a combined oral contracep-tive: a 1-year randomized trial. Contra-ception 2005; 71: 176–182.

4. Roumen FJ, op ten Berg MM,Hoomans EH: The combined contracep-tive vaginal ring (NuvaRing): first expe-rience in daily clinical practice in TheNetherlands. Eur J Contracept ReprodHealth Care 2006; 11: 14–22.

5. Roumen FJ, Apter D, Mulders TM,Dieben TO: Efficacy, tolerability and ac-ceptability of a novel contraceptive vagi-nal ring releasing etonogestrel andethinyl oestradiol. Hum Reprod 2001;16: 469–475.

6. Medical Eligibility Criteria for Contra-ceptive Use. 3. Aufl.; Genf: World HealthOrganization, 2004.

Prof. Dr. med. Bernd Hinney, Gö[email protected]

FAZITDerNuvaRing® ist ein den kombiniertenoralen Kontrazeptiva (COC) vergleich-bares Präparat. Der Ring gibt nach Ein-lage in die Vagina Ethinylestradiol undEtonogestrel abundwirkt in erster Linieovulationshemmend. Vorteil der vagi-nalen Applikation ist insbesondere dieVerminderung von Anwendungsfeh-lern, eine tägliche Einnahme ist nichterforderlich. Hinzu kommen Vorteiledurch bessere Zykluskontrolle aufGrund der konstanten Hormonspiegelund die Vermeidung des first-pass-Ef-fekts über die Leber. Der Pearl-Indexentspricht dem der COC. Nachteiligsind die durch den Ring verursachtenlokalen Reaktionen der Vagina und dieerforderlichen Manipulationen im Ge-nitalbereich. Studien zur Langzeitsi-cherheit liegen bisher nicht vor. In er-ster Linie ist der NuvaRing® für Frauengeeignet, die Probleme mit der regel-mäßigen COC-Einnahme haben, u. a.gilt dies auch für Schichtarbeiterinnenund für Flugpersonal. Als weitererGrund für die Verordnung wird die ge-genüber COC bessere Zykluskontrollegenannt. Jedoch beendeten fast einDrittel der Teilnehmerinnen einschlägi-ger Studien die Anwendung der Me-thode aus unterschiedlichen Gründen.

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130 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

CB-1-Rezeptor befindet sich hauptsäch-lich im Gehirn, dort zum Beispiel in derHypophyse und dem Hypothalamus, woer endokrine Funktionen beeinflusst. Inmesolimbischen Arealen werden durchden CB-1-Rezeptor die belohnendenEigenschaften der Nahrungsaufnahmemoduliert. Auch in peripheren Gewebenwie Adipozyten und Hepatozyten, in wel-chen seine Aktivierung die Lipogenese zubegünstigen scheint, ist er vorhanden(5, 6). Psychotrope Effekte einer Aktivie-rung des CB-1-Rezeptors sind komplex. Esliegen gute epidemiologische Hinweisevor, dass der Langzeitkonsum von Cann-abis, dessen Hauptwirkstoff als Cannabi-noidrezeptoragonist fungiert, Psychosenauslösen kann (7). Auch werden CB-1-Re-zeptoragonisten immer wieder als po-tentielle Leitstrukturen für neuartigeAntidepressiva diskutiert (8, 9). Vor die-sem Hintergrund ist ein Zusammenhangzwischen der Gabe eines CB-1-Rezepto-rantagonisten und dem Entstehen einerDepression oder schlimmstenfalls derProvokation eines Suizides gut zu ver-stehen.

Die Sicherheit und Wirksamkeit von Ri-monabant wurden kürzlich in einer Me-taanalyse (10) erneut bewertet. Die Er-gebnisse sollen im folgendem kurz dar-gestellt werden, um einen besserenÜberblick über die Sicherheit des Arz-neimittels zu gewinnen. Alle vier Studi-en des vomHersteller gestützten RIO-Pro-grammes (Rimonabant in Obesity) wur-den untersucht (RIO-Europe, RIO-Li-pids, RIO-North America, RIO-Diabetes).In die Metaanalyse wurden insgesamt4.105 Patienten mit Plazebo und mit derüblichen Tagesdosis von 20 mg Rimona-bant eingeschlossen.

Bezüglich der Effektivität der Therapie er-gab sich folgendes Bild. Nach einem Jahrder Behandlung mit Rimonabant wurdeeine um 4,7 kg (95 % Konfidenzintervall(KI): 4,5–5,3 kg; p < 0,0001) größere Ge-wichtsreduktion erzielt als unter Plazebo.Für Patienten unter Rimonabant wareine zehnprozentige Gewichtsreduktionfünfmal wahrscheinlicher als unter Pla-zebo (OR = 5,1 (95 % KI:3,6–7,3); p <0,0001). Auf Basis der durchschnittli-chen Anzahl von Respondern, definiert alsPatienten mit einer zehnprozentigen Ge-

wichtsreduktion im Rimonabant- undPlazeboarm (639 [26 %] und 106 [7 %]),entspricht dies einer Number Needed toTreat (NNT) von 6 ( 95 % KI: 4–8).

Rimonabant verursachte mehr uner-wünschte Ereignisse als Plazebo (OR:1,4(95 % KI: 1,13-1,6); p < 0,0007; NumberNeeded to Harm (NNH): 25 (95 % KI: 17–58)) und 1,4-fach häufiger (OR: 1,4 (95 %KI: 1,03–1,98); p = 0,03, NNH: 59 (95 %KI: 27–830)) schwere unerwünschte Er-eignisse. Außerdem brachen Patienten un-ter Rimonabant die Studie 2,5-mal häu-figer (OR:2,5 (95 % KI: 1,23–5,12); p =0,01; NNH: 49 (95 % KI: 19–316)) auf-grund von depressiven Stimmungs-störungen und 3-mal häufiger (OR: 3,0 (95% KI: 1,1–8,4); p < 0,03; NNH: 166 (95 %KI 47–3716)) aufgrund von Angstge-fühlen ab.

Die Autoren der Metaanalyse geben zu be-denken, dass diese Zahlen noch unter-schätzt sein könnten, da in den RIO-Stu-dien depressive Verstimmung ein Aus-schlusskriterium war, und daher die Er-gebnisse in einer allgemeinen Patien-tenpopulation noch höher ausfallen könn-ten. Sie kamen daher zu der Schlussfol-gerung, dass erhöhte Aufmerksamkeit fürdie potentiell schweren psychiatrischenStörungen zu empfehlen sei.

Seit der Veröffentlichung in AVP 1/2007vor über einem Jahr zum Thema Ri-monabant (2) haben sich sowohl die eu-ropäische Zulassungsbehörde (EMEA)als auch die Zulassungsbehörde der Ver-einigten Staaten von Amerika (FDA) mitdem Arzneistoff beschäftigt. Das zustän-dige Beratergremium der FDA stimmteam 13.06.07 einstimmig gegen die Zu-lassung von Rimonabant zur Gewichts-reduktion. Die Basis dieser Entschei-dung stellte eine verblindete Auswer-tung verschiedener Studien dar, in denenRimonabant 20mg bei insgesamt knapp15.000 Patienten verwendet wurde (3).Hauptbedenken waren zum einen dieHinweise auf psychiatrische und neuro-logische Störungen und zum anderen Be-fürchtungen über die Zunahme der Sui-zidalität unter behandelten Patienten(11). Als Konsequenz hat der Herstellerden Zulassungsantrag in den USA zurück-gezogen. Die EMEA reagierte am 13.07.07

auf diese Entscheidung der FDAmit einerÄnderung der „Summary of Product Cha-racteristics“(12). Depression wurde alsKontraindikation für die Verschreibungeingefügt und wichtige Warnungen in Be-zug auf die Entwicklung depressiver Ver-stimmung aufgenommen. Das Nutzen-Risikoverhältnis wurde von der EMEA al-lerdings nach wie vor als positiv bewertet(13).

Auch die Ergebnisse der kürzlich imJAMA veröffentlichten STRADIVARIUSStudie (14, siehe auch Kommentar 15)deuten in die gleiche Richtung: Von ins-gesamt 676 Patienten, welche die Studiebeendeten, nahmen jene der Verum-gruppe (20mg Rimonabant, einmal täg-lich) in achtzehn Monaten durch-schnittlich 4,3 (95 % KI: 5,1–3.5) kg ab,während es in der Plazebogruppe nur 0,5(95 % KI: -1,3–0,3) kg waren. Der primä-re Endpunkt der Studie, eine signifikan-te Senkung des PAV (Prozentuale Ände-rung des Atheromvolumens, ein Surro-gatparameter zur Bewertung der Pro-gression der Atherosklerose und damit derkoronaren Herzkrankheit) wurde nicht er-reicht. Psychiatrische Störungen tratenunter Rimonabant häufiger auf (43,4 % vs28,4 %, p < .001), insbesondere Depres-sionen.

Könnte man die positiven Effekte einesCannabinoidrezeptor-Antagonisten aufdas Essverhalten bei übergewichtigenPatienten von den Effekten auf das Erle-ben und Verhalten durch chemische Mo-difikation des Wirkstoffes trennen, hätteman vielleicht einen besseren Arzneistoffzur Behandlung der Adipositas zur Hand.Zu bedenken ist jedoch, dass für das En-docannabinoidsystem trotz intensiverForschung bis jetzt nur zwei Rezeptorenbekannt sind (CB-1 und CB-2), und derCB-1 Rezeptor, durch dessen Blockade diepharmakologisch gewünschte Wirkungvon Rimonabant hervorgerufen wird, diewahrscheinlich aber auch für die uner-wünschte psychotrope Wirkung verant-wortlich ist (16). Vielleicht lassen sichzukünftig Cannabinoid-1-Subrezeptorenentdecken, die dann einen Ausgangs-punkt für einen selektiveren Therapie-ansatz liefern und dann auch ein besse-res Sicherheitsprofil besitzen würden.Beispiele liegen bei anderen Arzneistoff-

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131Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

klassen vor, z. B. den Betarezeptoren-blockern oder bei Arzneistoffen, die dasserotoninerge System beeinflussen.

Rimonabant kann nicht zu Lasten derGKV verordnet werden (zur ausführlichenDiskussion der Entscheidung des G-BAsiehe (17)). Die Tagestherapiekosten be-

laufen sich auf ca. 3,30 Euro welche zu-mindest von Patienten in der gesetzlichenKrankenkasse, selber zu zahlen sind.

Literatur

Die Ziffern im Text beziehen sich aufdas ausführliche Literaturverzeichnis,

welches bei der Autorin nachgefragt wer-den kann.

Cand. rer. nat. Sergej Ramusovic undProf. Dr. med. Stephanie Läer, Dü[email protected]

FAZIT

Während eine (bescheidene) Wirksam-keit von Rimonabantwohl bestehen dürf-te, bleiben die schon vor einem Jahr indieser Zeitschrift geäußerten Bedenkenbezüglich der Verschreibung unverän-dert bestehen. Aufgrund der zweifelhaf-ten Sicherheit einer Rimonabant-Thera-

pie kann die Verschreibung weiterhinnicht empfohlen werden. Entschließtsich einArzt trotz dieserBedenken für Ri-monabant, ist erstens eine sorgfältigeAnamnese bezüglich einer Depressionoder depressiver Episoden zu erhebenund bei nur geringen Hinweisen die Me-

dikation zu unterlassen; zweitens mussder Patient in kurzen Abständen bezüg-lich evtl. auftretender depressiver Ver-stimmungenbefragt unduntersuchtwer-den.

Ausder Praxis – Für die Praxis

Aut-idemoder auch: Chaos perfektEine 74 jährige terminal niereninsuffizi-ente Patientin wird wegen einer tiefenBeinvenenthrombose mit Phenprocou-mon (Marcumar®) antikoaguliert. Da einwahrscheinlich gleichwertiges preiswer-teres Generikum zur Verfügung steht,wird auf Marcuphen®umgestellt und derPatientin ein entsprechender Medika-mentenplan ausgehändigt. Die Patientinleidet unter zahlreichen Nebenerkran-kungen, und die Tabletteneinnahme wirddurch Angehörige kontrolliert. Diesewerden ebenfalls informiert.

Da eine Shuntanlage geplant ist, wird dasMarcuphen® pausiert und wiederum einMedikamentenplanmitgegeben. Im roten„Marcumarpass“ wird zudem die Tablet-teneinnahme auf 0 gesetzt. Eine über-brückende Antikoagulation mit Heparinsoll begonnen werden. Es fällt jedoch auf,dass die INR nicht abfällt. Auch nach zwei-wöchiger Pause ist die INR immer noch> 2. Daraufhin erhält die Patientin Vita-min K zunächst oral und dann i. v. (Ko-nakion®). Mit den Angehörigen wirdmehrfach telefoniert, diese geben an,dass die Patientin sicher kein Marcumar®

oder Marcuphen® mehr einnehme. Lang-sam beginnt die INR zu fallen und die Pa-tientin kann schließlich operiert werden.

Nach Entlassung aus dem Krankenhauswird wieder mit der oralen Antikoagula-tion begonnen. Die Patientin wird in-nerhalb von zehn Tagen wieder in einenguten INR Bereich gesenkt. Bei der näch-sten Kontrolle ist die INR größer > 9, dieMedikamentengabe wird wieder pausiert(neuer Medikamentenplan, zusätzlichEintrag der Pause ins rote „Marcumar-büchlein“ und telefonische Informationder Angehörigen). Die INR ist jedoch nachzehn Tagen Pause immer noch bei 3,6–7,3.Daraufhin wird die Patientin gebeten, ihreganzen Tabletten von zu Hause in einePlastiktüte zu packen und mitzubringen.

Bei der genauen Durchsicht findet manein Medikament, dass so auf keinem Ta-blettenplan steht: Phenprocoumon®. Eswurde vom Apotheker im Rahmen der„Aut- idem-Regelung substituiert undvon der Patientin trotz Einnahmepause imMarcumarpass und auf dem Medika-mentenplan weiter eingenommen. Glück-

licherweise kam es zu keiner lebensbe-drohlichen Blutung.

Dieses Beispiel zeigt, dass die „Aut-idem-Regelung“ insbesondere für ältere Pati-enten lebensgefährlich sein kann. Wie solldie Therapietreue überwacht werden,wenn die Namen der Medikamente aufdem Einnahmeplan und der Tabletten-schachtel nicht übereinstimmen? Kaumein Patient kann verstehen, dass Amlo-beta® den gleichen Wirkstoff enthält wieAmlodipin Heumann® . Sie nehmen danndas verordnete Medikament gar nichtoder doppelt ein. Solche Beispiele kenntjeder Allgemeinarzt.

Die Substitutionsregel bedroht das Lebenvon Patienten. Wie kannman sie stoppen?Viele Kollegen wären durchaus damitzufrieden, nur den Wirkstoff aufzu-schreiben, da man bei dem Rabattchaosohnehin nicht mehr nachvollziehen kann,was für ein Medikament der Patient be-kommt. Der Apotheker müsste dann al-lerdings den vom Arzt mitgegebenenMedikamentenplan in das wirklich aus-gegebene Präparat umändern. Oder soll

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man dem Patienten einen Behandlungs-vorschlag mitgeben, der Patient geht da-mit zur Krankenkasse und diese sagt, wassie davon wirklich bezahlen will? Beideswenig praktikable Vorschläge. Die Situa-tion jetzt ist jedoch unerträglich und ge-fährdet die Patienten. Sie setzt darüberhinaus den Arzt unkalkulierbaren Haf-tungsrisiken aus. Stoppt er jedoch die

Substitution durch Ankreuzen des „Aut-idem“-Kästchens, läuft er Gefahr, in Re-gress genommen zu werden. Denn wie soller später beweisen, dass der Patient un-bedingt sein ursprünglich angekreuztesMedikament hätte nehmen müssen?

Dr. med. Michael Zieschang, [email protected]

132 Arzneiverordnung in der Praxis ~ Band 35 · Ausgabe 6 · November 2008

FAZIT

Die Substitutionsregel gefährdet Pati-enten und ist für den Arzt mit erhebli-chen Haftungsrisiken verbunden. Siemuss geändert werden.

In eigener Sache

Terminhinweis: Veranstaltung derArzneimittelkommissionder deutschenÄrzteschaft imRahmendes33. Interdisziplinären ForumsderBundesärztekammer

10. Januar 2008

9.00–12.30 Uhr

Hotel AquinoHannoversche Straße 5Berlin

Moderation

Prof. Dr. med. Wolf-Dieter Ludwig,Berlin

Thema V

„Geschlechtsspezifische Arzneimitteltherapie“

Themen und Referenten

PharmakoepidemiologischerHintergrund der geschlechts-spezifischen Arzneimitteltherapie

Prof. Dr. med. Ulrich Schwabe,Heidelberg

Geschlechtsspezifische Unterschiedein der Pharmakotherapie

Prof. Dr. med. Petra A. Thürmann,Wuppertal

Geschlechtsspezifische Aspekte derArzneimitteltherapie in der Kardiologie

Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek,Berlin

Tatsächliche und behaupteteWirkungen und Risiken menopausalerHormontherapie

Prof. Dr. med. Martina Dören,Berlin

Geschlechtsspezifische Aspekte derArzneimitteltherapie in der Psychiatrie

PD Dr. med. Stephanie Krüger,Berlin