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Atlan und der Ungeborene

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Atlan - Der Held vonArkon

Nr. 178

Atlan und der Ungeborene

Der Kristallprinz auf dem Planetender Stürme - der Sohn der

Goldenen Göttin ist in Gefahr

von Marianne Sydow

Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9.Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III. ein bruta-ler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten ließ, um selbst die Nach-folge antreten zu können. Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft inzwischenlängst gefestigt hat – einen Gegner hat der Imperator von Arkon besonders zu fürch-ten: Atlan, den rechtmäßigen Thronerben und Kristallprinzen des Reiches, der nachder Aktivierung seines Extrahirns den Kampf gegen den unrechtmäßigen Herrscheraufgenommen hat und – zusammen mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen– den Sturz Orbanaschols anstrebt.

Doch gegenwärtig – eigentlich schon seit dem Tag, da er erstmals Ischtar begeg-nete, der schönen Varganin, die man auch die Goldene Göttin nennt – hat er nochmehr zu tun, als sich mit Orbanaschols Schergen herumzuschlagen oder nach dem»Stein der Weisen« zu suchen, dem Kleinod kosmischer Macht.

Atlan – er liebt Ischtar und hat mit ihr einen Sohn gezeugt, der sich im embryona-len Zustand in einem Lebenserhaltungssystem befindet – muß sich auch der Nach-stellungen Magantillikens, des Henkers der Varganen erwehren, der die Eisige Sphä-re mit dem Auftrag verließ, Ischtar zu töten. Bereits einmal konnte die Varganin dankAtlans Hilfe dem Henker entgehen. Und als Magantilliken erneut zuschlägt, um sichIschtars zu bemächtigen, begibt sich der Kristallprinz in tödliche Gefahr.

Ein gefährliches Spiel beginnt auf dem Planeten der Stürme. Der Jäger ist Magan-tilliken – die Gejagten sind ATLAN UND DER UNGEBORENE …

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Kristallprinz flüchtet sich auf den Planeten der Stürme.Chapat - Ein Ungeborener ist in Gefahr.Fartuloon - Atlans väterlicher Freund und Lehrmeister.Ischtar - Die Goldene Göttin wird erpreßt.Magantilliken - Der Henker der Varganen wird getäuscht.

1.

Ischtars goldene Augen blitzten mich un-willig an.

»Ich muß fort«, behauptete sie. »Begreifstdu das denn nicht? Glaubst du wirklich, ichwäre hier auf Kraumon sicher?«

Ich setzte zu einer Antwort an, aber dieVarganin ließ mich nicht ausreden.

»Magantilliken ist nicht gekommen, ummit uns Versteck zu spielen«, fuhr sie ärger-lich fort. »Er muß mein Schiff bemerkt ha-ben, als er mit den fünf Alten hier landete.Du darfst dich darauf verlassen, daß er keineSekunde Zeit verlieren wird. Der einzigeWeg, der mir bleibt, ist die Flucht. Wenn icherst an Bord bin, kann er mir nicht mehr soleicht etwas anhaben. Wirklich sicher werdeich mich allerdings erst fühlen, wenn icheinen neuen Stützpunkt gefunden habe.«

Wir standen am Rand des Landefelds.Das Beiboot, mit dem Ischtar zu ihrem imOrbit um Kraumon kreisenden Raumschiffhinauffliegen wollte, war bereits startklar.

Alles, was jetzt gesprochen wurde, hattenwir bereits mehrmals beredet. Magantilliken,der varganische Henker, befand sich aufKraumon. Ischtar schwebte in höchster Ge-fahr. Sie war nirgends besser aufgehoben alsin ihrem eigenen Schiff. Dennoch versuchteich, sie zurückzuhalten.

Die hochgewachsene Varganin schlugmich völlig in ihren Bann. Wie sie jetzt vormir stand, wäre ich bedenkenlos bereit ge-wesen, mein Leben für sie hinzugeben. Dersanfte Wind, der von den Bergen herüber-wehte, spielte mit ihrem langen, roten Haar,Das ebenmäßige Gesicht leuchtete in derSonne, als hätte ein begnadeter Künstler esaus purem Gold geformt. Alles in mir

sträubte sich dagegen, sie jetzt gehen zu las-sen, noch dazu allein.

Aber so groß die Anziehungskraft auchsein mochte, die diese Frau auf mich ausübte– ich hatte noch andere Pflichten zu erfüllen.

Ich konnte Ischtar nicht begleiten. Zu vie-le Dinge stellten sich dagegen. Abgesehendavon war ich mir sehr wohl der Tatsachebewußt, daß Ischtar ganz gut ohne meineHilfe auskam – eine Erkenntnis, die nichtgerade erhebend auf mich wirkte. Und siewollte nicht bleiben. Meine Argumente hat-ten sie nicht überzeugen können. DieserStützpunkt war in ihren Augen nicht geeig-net, Magantilliken von einem direkten An-griff zurückzuhalten. Wenn ich an unserebisherigen Erfahrungen mit dem vargani-schen Henker zurückdachte, mußte ich ihrsogar recht geben.

Widerstrebend rang ich mich zu der Er-kenntnis durch, daß es für uns alle besserwar, wenn ich endlich nachgab. Aber eheich noch dazu kam, ihr das mitzuteilen, sahich Fartuloon. Der Bauchaufschneider stürz-te aus dem Gebäude und rannte auf uns zu,als wären Dämonen hinter ihm her.

Beunruhigt trennte ich mich von der Var-ganin und lief ihm entgegen.

»Magantilliken hat sich gemeldet«,keuchte er, als wir uns gegenüberstanden.»Er ist in Ischtars Schiff!«

Die Varganin war mir gefolgt. Als ichmich umdrehte und ihre vor Schreck gewei-teten Augen sah, kam auch mir die ganzeTragweite dieser Botschaft zu Bewußtsein,Chapat, unser Sohn, befand sich ebenfallsauf dem Doppelpyramidenschiff Ischtar hat-te ihn dort zurückgelassen, als sie mit unsnach Kraumon hinabflog. Er lag in einemLebenserhaltungssystem. Er war winzigklein, nichts als ein Embryo, und somit ab-

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solut hilflos.Ich wußte, wie sehr Ischtar dieses Ge-

schöpf liebte, und obwohl der Anblick einesunentwickelten Embryos nicht unbedingt da-zu geeignet ist, in einem Mann väterlicheGefühle zu erwecken, bestand auch zwi-schen Chapat und mir eine gewisse Bin-dung. Es versetzte mir einen Schock, zu wis-sen, daß sich dieses wehrlose Wesen nun inder Gewalt des Henkers befand.

»Was hat er gesagt?« fragte Ischtar.»Bisher nichts Wesentliches«, erklärte

Fartuloon, der inzwischen wieder einigerma-ßen zu Atem gekommen war. »Er teilte unsnur mit, daß er Sie zu sprechen wünscht. Al-lerdings klang das eher nach einem Befehlals nach einer Bitte!«

»Wie mag er in das Schiff gekommensein?« fragte ich Fartuloon bedrückt, wäh-rend wir in das Gebäude zurückkehrten.

»Es gibt nur eine logische Möglichkeit«,erwiderte mein Lehrmeister.

Fartuloon hatte recht. Seit der Landungdes Sofgart-Raumers war kein Schiff mehrvon Kraumon gestartet. Magantilliken je-doch war schon von Anfang an unauffindbargeblieben. Er mußte noch vor der Landungin den Varganenraumer hinübergewechseltsein. Die fünf Greise waren vermutlich mitdem Manöver und ihrem heißgeliebten Vur-gizzel so beschäftigt gewesen, daß niemandauf den vermeintlich harmlosen Mitreisen-den geachtet hatte. Magantilliken hatte Isch-tars Schiff bemerkt und sich mit einemRaumanzug aus dem Staub gemacht.

Ischtar schwieg immer noch, als wir denFunkraum betraten. Meine Getreuen haltensich inzwischen hier versammelt. Ein Blickauf ihre bedrückten Gesichter verriet mir,daß sie die Realität erkannten. Magantillikenwar kein Gegner, den man unterschätzendurfte. Und mit Chapat besaß er ein Druck-mittel, dem wir nichts entgegenzusetzen hat-ten.

Die Verbindung zu dem varganischenHenker bestand noch.

»Was willst du?« fragte Ischtar ohne jedeBegrüßung.

»Dich!« erwiderte Magantilliken genausoformlos.

Die Goldene Göttin schwieg sekunden-lang. Nur an der Art, wie ihre Hände sichöffneten und schlossen, ließ sich erkennen,wie aufgewühlt sie innerlich war.

»Und wenn ich nicht komme?«»Dann töte ich zuerst deinen Sohn«, er-

öffnete Magantilliken ihr gelassen.»Anschließend werde ich dafür sorgen, daßdieser Planet untergeht!«

»Welche Sicherheit gibst du mir, daßChapat am Leben bleibt, wenn ich mich er-gebe?«

»Du hast mein Wort. Das muß genügen!«Ich glaubte, das zynisch lächelnde Gesicht

des Henkers vor mir zu sehen. OhnmächtigeWut stieg in mir auf. Ich wollte neben Ischt-ar treten, aber Fartuloon hielt mich zurück.

»Wann?« fragte Ischtar flüsternd, als sieihre Beherrschung zurückgewonnen hatte.

»In einer halben Stunde!« lautete die Ant-wort des Henkers.

*

Als der Vargane die Verbindung unter-brach, war es totenstill im Raum. Niemandvon uns regte sich. Ischtar war die erste, dieaus dieser Erstarrung erwachte. Sie wandtesich mit eckigen Bewegungen um und woll-te zur Tür gehen. Ich sah, wie Ra sich mit ei-nem wilden Schrei auf sie stürzte und siefestzuhalten versuchte. Die Goldene Göttinschüttelte ihn ab, als wäre er ein lästigesTier.

Dieses Ereignis brachte auch mich wiederauf den Boden der Tatsachen zurück. Bisherhatte ich eigentlich nur an Chapat gedacht.Jetzt kam mir erst eindringlich zu Bewußt-sein, daß Ischtar drauf und dran war, in denTod zu gehen.

Ich hechtete vor, und es gelang mir, sieam Arm zu packen.

»Du darfst nicht gehen!« stieß ich hervor.»Glaubst du im Ernst, daß MagantillikenWort hält? Sobald er dich umgebracht hat,wird er auch Chapat töten!«

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Sie schien gar nicht zuzuhören, und ichwarf einen hilfesuchenden Blick in die Run-de.

»Wir haben noch etwas Zeit«, ließ Fartu-loon sich vernehmen. »Es muß uns etwaseinfallen, wie wir Magantilliken ausschaltenkönnen, ehe er sich an dem Embryo ver-greift.«

Ischtar lachte schrill auf.»Ausschalten?« rief sie »Niemand kann

das!«»Wir könnten versuchen, ihn aus dem

Schiff zu locken«, schlug Fartuloon vor.»Dann hätten wir Gelegenheit, Chapat in Si-cherheit zu bringen und …«

»Das ist unmöglich!« unterbrach Ischtarihn heftig. »Er wird sich nicht auf irgend-welche Tricks einlassen. Es ist sinnlos, nochweiter darüber zu reden. Ich muß zu ihm.Vielleicht gelingt es mir wenigstens, unserenSohn zu retten.«

Ischtar hatte offensichtlich nicht die Ab-sicht, sich auf weitere Diskussionen einzu-lassen. Ihr Entschluß stand fest, und als ichsie mit Gewalt daran hindern wollte, hinaus-zulaufen, bekam ich deutlich zu spüren, daßman die körperlichen Kräfte einer Varganinnicht unterschätzen durfte.

Mit einem verzweifelten Ruck riß sie sichlos und rannte davon. Ich setzte ihr augen-blicklich nach, aber ich ahnte, daß es sinnloswar. Draußen stand ein Gleiter bereit. Ischt-ar hatte zwar nur einen geringen Vorsprung,aber der mochte durchaus genügen. Sie wür-de das Beiboot auf jeden Fall früher als icherreichen. Saß sie erst einmal darin, sokonnte sie niemand mehr von diesem sinnlo-sen Opfergang abhalten.

Wieder einmal war es Fartuloon, der kon-sequenter und schneller handelte als ich. Erschrie mir etwas zu, ich warf mich fast auto-matisch zur Seite, und dann hörte ich auchschon das Zischen eines Paralysators. Ischtarbrach mitten im schnellen Lauf zusammen.

Ich wandte mich um und sah Fartuloonan. Der Bauchaufschneider steckte eben dieWaffe wieder ein. Sein Gesicht war düster.

Er traute den Varganen insgesamt nicht,

und selbst Ischtar genoß keineswegs seinvolles Vertrauen, aber als echter Freund ach-tete er meine Gefühle. Er hatte verhindert,daß die Goldene Göttin unüberlegt handelte,Wir wußten jedoch beide, daß damit nichtviel gewonnen war. Chapat befand sich nachwie vor in der Gewalt des Henkers, und dieDrohung, Kraumon zu vernichten, bliebebenfalls bestehen. Es sei denn …

Ein verwegener Plan schoß mir durch denKopf. Es war purer Wahnsinn, eine Ver-zweiflungstat und nichts weiter. Aber im-merhin war ich Chapats Vater.

Fartuloon hatte mich beobachtet. Als un-sere Blicke sich trafen, wußte ich, daß er zudemselben Schluß gekommen war.

»Nun geh schon!« nickte er grimmig.

2.

Für eine genaue Planung meines Vorge-hens blieb keine Zeit mehr. Wir mußten da-mit rechnen, daß Magantilliken sich kurzvor Ablauf der von ihm gestellten Frist nocheinmal meldete. War Ischtar dann unerreich-bar, ohne daß er den Start eines Beibootsfestgestellt hatte, so mußte er zwangsläufigmißtrauisch werden. Abgesehen davonkannten wir den varganischen Henker nichtgut genug, um seine Reaktionen vorherzuse-hen.

Damit der Schwindel nicht sofort aufflog,stieg ich in einen schweren Schutzanzug.Das Ding war so klobig, daß es keine Rück-schlüsse auf die Figur seines Trägers zuließ.Der Helm war massiv. Nur ein schmalerSichtschlitz gestattete mir einen ziemlicheingeengten Ausblick auf meine Umgebung.Dafür hatte ich den Vorteil, daß Magantilli-ken selbst auf kürzeste Entfernung nicht er-kennen würde, daß es nicht Ischtar war, dievor ihm stand.

Ich fuhr allein hinaus. Von Fartuloon undden anderen hatte ich mich im Innern desGebäudes verabschiedet. Wir wußten nicht,welche Beobachtungsmöglichkeiten demVarganen zur Verfügung standen und ver-mieden daher selbst das kleinste Risiko.

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Ischtar wußte ich unter sicherer Bewachung.Unter anderen hielt sich Chretkor in ihrerNähe auf. Eiskralles unheimliche Fähigkei-ten waren ihr bekannt. Überwand sie dieLähmung, bevor ich gestartet war, undschaffte es sonst niemand, mit ihr fertig zuwerden, so würde gerade sein Anblick sieam ehesten vor Unbesonnenheiten zurück-halten.

Die Hälfte der Frist war gerade verstri-chen, als ich das Beiboot startete. Ich hieltdie Funkanlage auf Empfang, und nach kur-zer Zeit drang Fartuloons Stimme aus demLautsprecher.

»Ischtar ist soeben gestartet«, teilte erdem varganischen Henker mit.

»Warum meldet sie mir das nicht selbst?«wollte Magantilliken misstrauisch wissen.

»Sie brach in höchster Eile auf«, log Far-tuloon grimmig. »Genauer gesagt, sie ver-läßt Kraumon gegen unseren Willen, IhrSohn ist ihr wichtiger als alles andere. Sienahm sich ein Beiboot, dessen Funkgerätüberholt werden sollte. Der Empfangsteil istin Ordnung, also hört sie vermutlich unsereUnterhaltung mit. Aber sie kann nicht sen-den!«

Ich wartete gespannt auf MagantillikensEntgegnung, aber zu meiner Überraschungschluckte der Vargane diese Lüge anstands-los. Er schien von unseren technischenKenntnissen keine hohe Meinung zu habenund hielt es wohl für selbstverständlich, daßsolche Pannen vorkamen. Ich war sehr er-leichtert, denn nun war ich der Notwendig-keit enthoben, mich vor dem direkten Zu-sammentreffen mit dem Henker auf Gesprä-che einzulassen. Die Gefahr einer vorzeiti-gen Aufdeckung des Täuschungsmanöverswar somit etwas geringer geworden. Den-noch fühlte ich mich nicht besonders wohlin meiner Haut. Ich wußte nur zu gut, daßich in einem direkten Kampf mit diesemVarganen nur wenig Chancen hatte. Daherwar ich auch nicht so vermessen, anzuneh-men, ich könnte Ischtars Erzfeind ein für al-lemal aus dem Verkehr ziehen. Es kam le-diglich darauf an, daß ich Chapat in Sicher-

heit brachte.Je höher das Beiboot stieg, desto nervöser

wurde ich. Der Verdacht, daß die Varganensich über eine gewisse Distanz auf eine mirunerklärliche Weise gegenseitig erspürten,hatte mich schon oft beschäftigt. Jetzt konn-te ich nur hoffen, daß ich mich irrte.

Ich erreichte die Umlaufbahn, ohne daßder Henker sich noch einmal meldete. DiePosition des Doppelpyramidenschiffs warbekannt, und die zur Handhabung des Bei-boots notwendigen Handgriffe waren mirlängst so vertraut, daß ich mich auf sie nichtmehr zu konzentrieren brauchte. Das war indieser Situation eher ein Nachteil – ich hatteviel zu viel Zeit zum Nachdenken. Die Auf-regung ließ meine Augen tränen, und ichfluchte über den schweren Helm, der michdaran hinderte, das salzige Sekret wegzuwi-schen. Eine der üblichen, zynischtrockenenBemerkungen meines Extrahirns wäre mirjetzt willkommen gewesen, aber die lautloseStimme in meinem Kopf schwieg sich aus.Wahrscheinlich hielt dieser streng logischdenkende Teil meines Gehirns das ganzeUnternehmen für so verrückt, daß er sich je-den Kommentars enthielt.

Endlich sah ich Ischtars Schiff vor mir.Die gewaltige Doppelpyramide schwebtewie ein gigantischer Kristall vor dem ster-nenblitzenden Hintergrund. Auf einem ande-ren Schirm zeichnete sich die braungelbeOberfläche Kraumons ab. Dort unten hieltenmeine Freunde jetzt wahrscheinlich genauwie ich den Atem an.

Automatisch paßte ich die Geschwindig-keit des Beiboots der des Varganenschiffsan. Eine schier endlos erscheinende Zeit ver-strich, ehe sich in der ungeheuren Wandungeine Öffnung bildete.

Ich manövrierte das kleine Boot in denvor mir liegenden Hangar, und als es zumStillstand gekommen war, warf ich dochnoch einen Blick auf Kraumon. Durch dassich schnell schließende Schott sah ich denWüstenplaneten seitlich weggleiten. Magan-tilliken beschleunigte also bereits. Er schienes sehr eilig zu haben, aus dieser Gegend zu

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verschwinden.Während wir Kraumon rasch hinter uns

ließen, kletterte ich aus dem Beiboot und un-tersuchte den Hangar. Den Empfangsteil desHelmfunkgeräts stellte ich auf die Wellen-länge ein, die Magantilliken vorher benutzthatte. Ich rechnete damit, daß er sich baldmit genauen Anweisungen melden würde.

Mein eigentlicher Plan lief darauf hinaus,den Henker aus der Zentrale zu locken. Ichhoffte, daß er sich jetzt sicher genug fühlte,um Chapat wenigstens für kurze Zeit ausden Augen zu lassen. Er hielt mich für Ischt-ar, und wenn die Varganin sich auch in die-sem riesigen Schiff ausgezeichnet zurecht-fand, so konnte sie ihrem Jäger doch auf kei-nen Fall entwischen. Der Hangar war be-stens für mein Vorhaben geeignet. MehrereSchotte führten in das Innere des Raumers,und es gab unzählige Verstecke. Magantilli-ken würde, wenn er diese Halle betrat, langesuchen müssen, ehe er genau wußte, daßsein Opfer sich bereits entfernt hatte. Inzwi-schen – so hoffte ich – würde ich zu der Le-benserhaltungsanlage vordringen können.

Ich öffnete also alle Zugänge zum Han-gar, um meine Spur zu verwischen, unddann betrat ich einen Gang, der in die Rich-tung der Zentrale führte. Es war beileibenicht die kürzeste Verbindung, aber ich legteja auch keinen Wert darauf, Magantillikendirekt in die Arme zu laufen.

Leider unterschätzte ich meinen Gegner.Der Vargane hütete sich wohlweislich da-vor, seine wertvolle Geisel allein zu lassen.Ich hatte schätzungsweise die Hälfte derEntfernung zurückgelegt; als er sich überFunk meldete.

»Ich warte, Ischtar! Mir scheint, du bistdir nicht bewußt, wie ernst die Lage für dei-nen Sohn ist. Ich halte die Waffe bereits aufihn gerichtet. Wenn du nicht innerhalb vonfünf Minuten in der Zentrale erscheinst,wird das Kind sterben!«

Es hatte keinen Sinn, diesem brutalen Ab-gesandten aus der Eisigen Sphäre mitzutei-len, was ich persönlich von Leuten hielt, diemit dem Mord an einem wehrlosen Kind

drohen. Ich ballte die Hände zu Fäusten undriß mich zusammen. Auch in meinem Volkgab es Verbrecher – das hatte ich am eige-nen Leibe erfahren. Aber die kalte Berech-nung, mit der Magantilliken handelte, brach-te mich zur Weißglut. Dieser Vargane hatteanscheinend überhaupt kein Gefühlsleben.

Immerhin waren die Fronten jetzt endgül-tig geklärt. Mein schöner Plan nützte mirnichts mehr. Es würde zum direkten Kontaktkommen, und das warf eine Menge Proble-me auf. Sobald der Henker erkannte, daß ergenarrt worden war, ging es um mein Leben.Wie ich unter diesen Umständen Chapat be-freien sollte, war mir rätselhaft. Immer be-drückender kam mir zu Bewußtsein, daß ichmich auf ein nahezu aussichtsloses Unter-nehmen eingelassen hatte.

Trotzdem kam mir nicht einmal der Ge-danke, einfach aufzugeben. Auch ein Varga-ne mußte irgendeinen wunden Punkt haben,an dem man ihn packen konnte. Es gibt kei-nen Gegner, der absolut unbesiegbar ist.

Kurz vor Ablauf der Frist erreichte ich dieZentrale. Das Schott stand offen. Drinnenkonnte ich Magantilliken erkennen. DerHenker stand in der Mitte des Raumes. Erhielt eine Waffe in der Hand und sah sichaufmerksam nach allen Seiten um. Durch ei-ne offene Tür im Hintergrund erkannte ichdie Lebenserhaltungsanlage, in der Chapatuntergebracht war.

Die Versuchung war groß. Ich tastete be-hutsam nach dem Paralysator, um Magantil-liken gleich jetzt auszuschalten. Noch hatteer mich nicht gesehen. Nur kurz kam mir derGedanke, der Henker könne gegen dieLähmstrahlen immun sein, und ich sollte lie-ber den Blaster benutzen. Aber das erschienmir als zu gefährlich. Zu leicht konnte ichbei aller Zielsicherheit, die ich mir zutraute,schwerwiegende Zerstörungen an den Gerä-ten anrichten. Außerdem war Ischtar nachFartuloons Lähmschuß zusammengebro-chen, und wenn Magantilliken auch nach ih-ren eigenen Worten nur eine Art Geist war,der einen uralten Körper als Werkzeug be-nutzte, so mußte er doch in dem Augenblick

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handlungsunfähig werden, in dem ich ebendiesen Körper ausschaltete.

Magantilliken stand günstig. Ich hob dieWaffe – und hatte für einen Augenblick ver-gessen, in welchem Monstrum von Schutz-anzug ich steckte. Es gab ein leises Klirren,als ich mit der Waffe gegen ein Metallteil inBrusthöhe stieß. Magantilliken hörte das Ge-räusch und reagierte sofort.

Ein einziger Sprung, bei dem sein tief-blauer Umhang sich gespenstisch aufblähte,brachte ihn in die Nähe der Tür, hinter derich Chapat wußte.

Ich steckte die Waffe weg, Es war klar,daß ich die winzige Chance verpaßt hatte.Wenn ich jetzt auf den Henker schoß, würdeauch der Embryo die Auswirkungen zu spü-ren bekommen. Ich wußte nicht, wie einsolch winziges Wesen darauf reagieren wür-de. Die Gefahr, daß ich Chapats Leben ge-fährdete, war zu groß.

Narr, teilte mir mein Extrahirn zu allemÜberfluß mit. Jetzt weiß er, wo du bist!

Es gab Augenblicke, in denen ich diesesDing zum Teufel wünschte. Es entwickeltezeitweilig eine geradezu beleidigende Fähig-keit, das Offensichtliche festzustellen.

»Ischtar!«An der Art, wie Magantilliken sich bei

diesem Ruf umsah, erkannte ich, daß er mei-nen genauen Standort doch nicht kannte.

Ich hütete mich zu antworten. Statt dessenduckte ich mich in den Schatten in der Nähedes Schotts und beobachtete den Henker an-gespannt.

»Komm her!«Ich biß mir auf die Lippen. Gab es denn

keinen Weg, diesen Kerl aus Chapats Nähezu locken?

»Komm!« forderte Magantilliken erneut,und diesmal ließ er keinen Zweifel mehrdaran, daß seine Geduld am Ende war. Errichtete die Waffe auf das Lebenserhaltungs-gerät.

Es hatte keinen Sinn, noch länger zu war-ten. Wenn ich es überhaupt noch schaffte,Magantilliken zu verwirren und von demEmbryo abzulenken, dann konnte das nur im

Moment meiner Demaskierung geschehen.Entschlossen richtete ich mich auf und

marschierte geradewegs auf ihn zu. Magan-tilliken blickte mir entgegen. Sein bronzefar-benes Gesicht war ruhig und beherrscht. Nurdie goldenen Augen glitzerten triumphie-rend.

»Du hast mich lange warten lassen«, be-merkte er spöttisch. Ich beobachtete ihn auf-merksam und wartete auf den günstigstenMoment.

»Wie ich sehe, hast du dich bis zur Un-kenntlichkeit vermummt«, fuhr Magantilli-ken unwillig fort, und ich registrierte zufrie-den, daß mein beharrliches Schweigen ihnnervös machte. »Was soll das? Glaubst du,der Anzug und die Waffen, die du bei dirträgst, würden dich vor mir schützen? Dusolltest es eigentlich besser wissen!«

Ich sagte noch immer nichts. Regungslosstand ich vor dem varganischen Henker, dermich seinerseits mit steigender Nervositätbeobachtete.

»Worauf wartest du?« fuhr er mich nacheiner Weile an. »Auf ein Wunder? Es wirdkeines geschehen! Nimm endlich diesen al-bernen Helm ab und laß uns zur Sache kom-men!«

Langsam hob ich die Hände. Magantilli-ken legte zwar die Waffe nicht weg, aber erließ sie sinken. Ich hätte an seiner Stelle dasGegenteil getan. Dann erinnerte ich mich anjenen Zweikampf zwischen ihm und Ischtar,den ich auf Tabraczon beobachtet hatte. DieErkenntnis, daß der Henker auch ohne Waf-fe zu töten vermochte, ließ mich kurz zö-gern, aber ich riß mich zusammen. Ich wuß-te nicht, wie die Goldene Göttin in dieser Si-tuation reagiert hätte, aber ich kannte ihreSelbstbeherrschung. Daß sie mit zitterndenFingern am Helmverschluß herumgefum-melt hätte, war kaum anzunehmen.

Betont langsam lockerte ich die Ver-schlüsse. Magantilliken wurde zusehends ru-higer. Er sah sein Ziel vor Augen. Und ge-nau in diesem Augenblick schlug ich mit ei-nem Ruck die Maske zurück.

Ich sah, wie seine Augen sich vor Überra-

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schung weiteten. Der Schock mußte unge-heuer stark sein, denn seine Waffe poltertezu Boden. Das war der Augenblick, auf denich gewartet hatte.

So schnell ich konnte, wirbelte ich herumund brachte mich mit wenigen Sprüngen inSicherheit. Magantilliken stieß einen Lautder Enttäuschung aus, dann jedoch fing ersich mit einer geradezu unmenschlichen Ge-schwindigkeit. Der Sprung, mit dem auch ersich in Deckung begab, war genau berech-net. Noch im Abrollen erwischte er seineWaffe wieder. Dann steckte er hinter einemder zahlreichen Instrumentenpulte. Noch im-mer befand er sich zwischen Chapat undmir, aber seine jetzige Position hatte für ihneinen großen Nachteil: Die Lebenserhal-tungsanlage war auch für ihn außer Reich-weite geraten. Er hätte schon die Fähigkeitbesitzen müssen, um die Ecke zu schießen,wollte er den Embryo zerstören.

Aber auch ich hatte noch nichts gewon-nen. Genau wie Magantilliken benutzte ichein Gerät als Deckung, von dem ich hoffte,daß es nicht allzu unwichtig war. Die Tatsa-che, daß der Henker bisher noch keinenSchuß auf mich abgefeuert hatte, sprach da-für. Die Tür zum Nebenraum lag jedoch fastauf der anderen Seite der Zentrale. Ich muß-te den Varganen also unbedingt aus seinemVersteck locken.

Aufmerksam betrachtete ich meine nähereUmgebung. Ich stellte fest, daß ich wiedereinmal Glück hatte. Keine zehn Schritte ent-fernt gab es eine Tür. Die meisten Räume inder Umgebung der Zentrale standen unter-einander in Verbindung, das wußte ich be-reits. Wenn es mir gelang, diese Tür zu er-reichen, hatte ich einen großen Pluspunktgewonnen. Ischtars Schiff war ein uner-gründliches Labyrinth. Es mußte mir einfachgelingen, Magantilliken in die Irrezuführen.

Aber wie?Der Schutzanzug, der mir bis hierher gute

Dienste geleistet hatte, erwies sich nun alsHemmschuh. Ich mußte das ungeschlachteDing schleunigst loswerden. In einem nor-malen Kampf hätte es mir nichts ausge-

macht, in dieser Rüstung herumzulaufen,aber gegen den Henker halfen nur Schnellig-keit und List.

Während ich so lautlos wie möglich dieMagnetverschlüsse lockerte, wartete ich an-gespannt darauf, daß der Vargane die Initia-tive ergriff. Ich vermochte mir nicht vorzu-stellen, daß Ischtars Todfeind einfach ab-wartete, bis mir die Geduld ausging. Der ge-fährlichste Augenblick kam dann, wenn ichmich aus dem Anzug schälte. Das ging unterGarantie nicht ohne Geräusche ab. Der Hen-ker würde sie mit Bestimmtheit richtig inter-pretieren und wissen, daß ich in diesem Au-genblick nahezu wehrlos war.

Die Verschlüsse waren offen. Ich maßnoch einmal mit den Blicken die Entfer-nung, die ich zurückzulegen hatte, dann at-mete ich tief durch. Meine Waffen – der Pa-ralysator und der Strahler – lagen griffbereitvor mir. Bis jetzt war alles geräuschlos ver-laufen.

Vorsichtig befreite ich meine Arme vonder lästigen Hülle. Dann kam das Brustteilan die Reihe, und ein hauchfeines Klirrenentstand Ich hörte aus der Richtung, in derich Magantilliken wußte, ein kurzes Ra-scheln und vergaß alle Vorsicht. Mit einemeinzigen Ruck warf ich mich nach vorne undbefreite mich so von dem Rest der klobigenSchutzkleidung. Im gleichen Bewegungsab-lauf hatte ich meine Waffen ergriffen, undindem ich mich noch einmal kräftig abstieß,rutschte ich auf dem Bauch hinter das näch-ste Pult. Blitzschnell war ich wieder auf denBeinen. Ich sah Magantilliken wie ein Ge-schoß auf mich zufliegen. Sein seltsamerUmhang breitete sich in der Form gespensti-scher Gleitflügel um ihn aus.

Es wäre mir sicher gelungen, ihn imSprung zu treffen. Aber auch er hielt dieWaffe im Anschlag. Ich hatte keine Zeit, mirdas merkwürdige Ding anzusehen, hinterdem ich mich befand. Es war jedoch offen-sichtlich, daß der Henker es nicht zu zerstö-ren wagte. Erst wenn er sicher sein konnte,nur mich zu treffen, würde er abdrücken.

Das verschaffte mir einen winzigen Zeit-

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vorteil. Ich überlegte nicht lange, sondernsprang los.

Wenn Magantilliken mit einem nicht ge-rechnet hatte, dann war es die Tatsache, daßich ihm entgegenkam, statt vor ihm zu flie-hen, Sein Sprung fiel infolge meines überra-schenden Hervorschießens zu weit aus. Hin-zu kam, daß er immer noch zögerte, hier inder Zentrale Energiestrahlen einzusetzen. Errechnete auch nicht damit, daß ich einenWaffeneinsatz riskierte. Hätte ich um denBruchteil einer Sekunde gezögert, so wäre erdirekt neben mir gelandet, und wie einHandgemenge mit dem Henker ausgefallenwäre, vermochte ich mir lebhaft vorzustel-len.

Er landete mit ausgebreiteten Armen angenau der Stelle, die ich vorausgesehen hat-te. Nur befand ich mich zu diesem Zeitpunktetwa zwei Schritte weiter seitlich. Der Au-genblick, den er brauchte, um sein Gleichge-wicht wiederzufinden und sich auf die ver-änderten Verhältnisse umzustellen, reichtevöllig. Ich holte aus und schlug mit derStrahlwaffe zu.

Es war ein Hieb, der einen Arkoniden vollzu Boden geschickt hätte. Ich traf genau denNacken. Magantilliken wankte, und ichdachte bereits, ich hätte es geschafft. Aberzu meinem Entsetzen blieb der Henker aufden Beinen. Er schien leicht betäubt, aberdas war auch alles. Ich fand noch Zeit, end-lich die längst anvisierte Tür aufzureißen,mich in den Raum zu werfen, der dahinterlag, und blitzschnell den Eingang wieder zuschließen. Dann hörte ich den Körper desHenkers gegen die andere Seite prallen undwußte, daß er die Folgen des Schlages be-reits überwunden hatte.

Ich stemmte mich gegen die geschlosseneTür und wunderte mich verschwommen dar-über, daß ich noch lebte. An MagantillikensStelle hätte ich jetzt geschossen. Dann er-blickte ich die zahlreichen Bildschirme.Durch Zufall hatte ich einen Raum gewählt,der nicht ohne Bedeutung für die Sicherheitdes Schilfes zu sein schien. Das ändertenichts an der Tatsache, daß meine Kräfte

bald erlahmen würden. Es war, als besäßeMagantilliken die Stärke von drei ausge-wachsenen Männern. Lange vermochte ichihn nicht davon abzuhalten, endlich docheinzudringen und sein Vorhaben zu vollen-den.

Benutze seine Kraft zu deinem Vorteil!riet mir mein Logiksektor, und ich begriffsofort.

Bisher stemmte sich der Vargane nur mitaller Kraft gegen die Tür, in der Hoffnung,ich möge recht bald schlappmachen. Er soll-te nicht umsonst gehofft haben. Vielleichtgelang es mir, ihn zu etwas mehr Anstren-gung zu verleiten. Rechts von mir gab es einSchott mit Sicherheitsverriegelungen. Wasauf der einen Seite war, mußte auf der ande-ren auch vorhanden sein. Wenn es mir ge-lang, in dieser Richtung einen Halbkreis umdie Zentrale zu schlagen, mußte ich zu Cha-pat gelangen …

Aber soweit war es noch nicht.Ich gab ein wenig nach, und die Tür öff-

nete sich um einige Millimeter. Es kostetemich tatsächlich fast die letzten Reserven,um Magantilliken wieder zurückzudrängen,aber es lohnte sich. Der Vargane war nichtnur ungeheuer stark, er war vor allen Dingenauch ungeduldig. Je eher er mich beseitigte,desto schneller konnte er umkehren undIschtar erneut unter Druck setzen – wobei erwohl um einiges mißtrauischer vorgehenwürde als beim erstenmal.

Diesmal hatte ich das Gefühl, es gäbe statteines Varganen ein halbes Dutzend auf deranderen Seite. Magantilliken warf sich mitderartiger Wucht gegen die Tür, daß er michauch dann überrannt hätte, wäre ich davorstehengeblieben. Ich war jedoch genau imrichtigen Moment zur Seite gesprungen.

Diesmal krachte er mit voller Wucht zuBoden, und der Schwung trug ihn über diespiegelglatte Fläche mit dem Kopf voran ge-gen den Sockel eines Schaltpults.

Die Erfahrung von vorhin hatte mich ge-lehrt, daß der Henker auf Zusammenstößedieser Art nicht viel anders reagierte als einRoboter. Darum wartete ich gar nicht erst

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ab, ob er sich auch von den Folgen diesesAufpralls erholte, sondern spurtete los. Ichriß das Schott auf und entdeckte, daß esauch hier von technischen Einrichtungenwimmelte.

Als die Verriegelungen einrasteten, fühlteich mich beinahe sicher. Der Varganebrauchte hoffentlich ein paar Sekunden, umwieder zu sich zu kommen. Bis er diesesSchott geöffnet hatte, mußte ich mich ausder direkten Gefahrenzone entfernt haben.

Ich hastete durch den dämmerigen Raum.Wie überall in diesem unheimlichen Schiffwar es absolut still. Ich hörte nur meine ei-genen Schritte und meine keuchendenAtemzüge.

Die nächste Tür brachte mich in einesechseckige Zelle, deren Sinn für mich rät-selhaft blieb. Dann kam ein kurzer Korridormit abgeschrägten Wänden, und endlich einZimmer, das mir vertraut war. Die in sanftenFarben schimmernden Wände, die zierlichenMöbel und das breite, von seidigen Fellenüberzogene Lager in der Nische mit denständig die Farben wechselnden Vorhängen– kein Zweifel, hier hatte ich mich schoneinmal aufgehalten. Ischtars Zimmer! Ichschritt über die weichen Teppiche, die dasGeräusch meiner Schritte schluckten, undfür einen Moment flackerten Erinnerungenin mir auf.

Ischtar! Würde ich die Goldene Göttin je-mals wiedersehen?

Ich riß mich zusammen. Es war keine Zeitfür melancholische Sehnsüchte.

Immerhin wußte ich jetzt, wo ich michbefand. Die Tür mir gegenüber führte aufeinen Gang hinaus, Der Zugang zur Zentralelag hinter dem sich ständig bewegendenVorhang direkt rechts neben mir. Es gabzwei Möglichkeiten, zu Chapat zu gelangen.Entweder kehrte ich in die Zentrale zurück,dann kam ich etwa fünf Schritte von derfraglichen Tür entfernt heraus. Oder ichdurchquerte den Gang, der Ischtars Zimmervon dem ihres Sohnes trennte. Infolge dermerkwürdigen Raumaufteilung innerhalbdes Doppelpyramidenschiffes war dieser

Weg ein wenig länger. Dafür schien er mirauch sicherer.

Während meines Weges durch die ver-schiedenen Nebenräume hatte ich von Ma-gantilliken nichts mehr gehört. Das war er-staunlich. Die Hoffnung, er hätte seinemDickschädel bei dem harten Aufprall dochzuviel zugetraut, wies ich energisch von mir.Ich war überzeugt davon, daß der Henkerquicklebendig war. Wenn er dennoch daraufverzichtete, mir nachzusetzen, dann konntedas nur einen Grund haben: Er hatte sich er-neut auf seine Geisel besonnen.

An seiner Stelle wäre ich auf schnellstemWege zu Chapat geeilt. Solange dieser Var-gane mit gezogener Waffe neben dem Em-bryo stand, war ich zur Untätigkeit ver-dammt. Es war der einfachste Weg, michzur bedingungslosen Kapitulation zu bele-gen. Ich mußte also damit rechnen, daß Ma-gantilliken entweder in der Zentrale oder ne-ben der Lebenserhaltungsanlage auf michwartete. Benutzte ich den hinteren Eingang,dann gelang es mir vielleicht noch einmal,den Henker zu überraschen.

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Der Gangwar still und leer.

Ich huschte auf die andere Seite hinüberund legte die Hand auf die Druckplatte. DieTür schwang zurück. Ich sah noch, daß dieLebenserhaltungsanlage offenbar unbeschä-digt war, dann kam ich für einige Zeit nichtmehr dazu, auf meine Umgebung zu achten.

Selbstverständlich hätte ich mir von vorn-herein sagen müssen, daß man einen varga-nischen Henker nicht so leicht für dummverkaufen konnte. Als ich durch das bewuß-te Schott verschwand, mußte er sofort dierichtigen Schlußfolgerungen gezogen haben.Er hatte auch ganz richtig erkannt, daß meineigentliches Ziel Chapat war. Da es nur zweiEingänge zu diesem Raum gab, war es fürihn leicht, den Ort meines Erscheinens vor-herzusagen. Ich wäre allerdings auch dannnicht besser beraten gewesen, wenn ich allseinen Überlegungen zum Trotz den un-wahrscheinlicheren Weg durch die Zentralegewählt hätte. Das hätte lediglich zu einer

Atlan und der Ungeborene 11

Neuauflage jener Situation geführt, mit derdieser Kampf begonnen hatte.

Im Augenblick überlegte ich mir das al-lerdings kaum. Ich hatte genug damit zu tun,den wuchtigen Schlägen des Varganen aus-zuweichen. Magantilliken hatte sich die Zeitgenommen, seine Bewaffnung grundlegendzu ändern. Wahrscheinlich war er es leid,selbst in günstigster Position nicht schießenzu können, weil er Rücksicht auf irgendwel-che Geräte zu nehmen hatte. Ich wünschte,ich wäre seinem Beispiel gefolgt.

Noch nie hatte ich einen Varganen sokämpfen sehen, aber das sagte nichts.Schließlich kannte ich nur sehr wenige An-gehörige dieses Volkes. Jedenfalls bewiesMagantilliken mir hinreichend, daß er auchmit einer primitiven Waffe hervorragendumzugehen verstand. Er schwang ein langesSchwert, daß er irgendwo in der Nähe derZentrale aufgetrieben haben mochte. Mitmeinen Strahlern in der Hand kam ich mirvor, wie ein Mann, der mit einer Nadel einenSaurier zu erlegen versucht.

Der erste Streich ging daneben, weil ichkurz einen Schatten auf dem Boden sah undvöllig instinktiv reagierte. Beim zweiten warMagantilliken so dicht bei mir, daß mich nurein wilder Sprung rettete. Für einen Augen-blick war ich außer Gefahr, aber ich merkte,daß es keinen Sinn hatte, noch einmal dasManöver mit dem Versteckspiel zu begin-nen. Obwohl in den Augen des Henkers einewilde Wut loderte, beherrschte er sich mei-sterhaft. Er blieb im Türrahmen stehen, dasSchwert erhoben, und wartete ab. Er wußtegenau, daß ich keinen Schuß riskieren durf-te, wollte ich Chapat nicht in Gefahr brin-gen. Diesmal hatte er in allen Punkten dieÜbermacht, und er war sich dessen bewußt.

Chapat war verloren, wenn ich ihn nichtdoch noch ausschaltete. Aber wie? Er standvor mir wie ein Dämon. Sein wallendes, rot-blondes Haar leuchtete unwirklich. Diebronzefarbene Hand hielt das Schwert sosachkundig, daß ich keine Hoffnung hatte,es ihm mit einem Trick abzunehmen und so-mit den Spieß umzudrehen.

Seltsamerweise sprach er nicht. Erstandeinfach nur da, bereit, zuzuschlagen, sobaldich mich in seine Reichweite begab. Erdrohte nicht – und er hatte das auch nichtnötig. Als ich unwillkürlich nach dem Para-lysator tastete, kräuselten sich seine Lippenzu einem verächtlichen Lächeln. Ich ließ dieHand sinken, überlegte es mir dann jedochanders. Mit einem Ruck riß ich die Waffeheraus. Magantilliken reagierte blitzschnell.Mein Wurfgeschoß verfehlte seinen Kopfnur um Zentimeter. Aber ich hatte ohnehinnicht damit gerechnet, ihn auf diese Weiseauszuschalten. Fast gleichzeitig sprang ichihn an.

Sein Schwert nutzte ihm jetzt wenig. Aufdiese Distanz vermochte er es nicht einzu-setzen. Ich krallte mich in seinem Umhangfest, stieß den Kopf von unten gegen seinKinn und trat gleichzeitig nach seinemSchienbein. Er wankte kurz, fing sich jedochschnell. Ehe ich die Wirkung meines An-griffs ausnutzen konnte, fühlte ich den Griffseiner linken Hand an meinem Arm. Es war,als hätte ich mit der stählernen Klaue einesRoboters Bekanntschaft gemacht.

Es gelang mir noch, ihm einen weiterenTritt zu versetzen, dann wurde ich mit un-heimlicher Kraft zu Boden geschleudert.

Trotz der Schmerzen, die wie flüssigesFeuer durch meine Muskeln rannen, gelanges mir, mich noch rechtzeitig zur Seite zurollen. An der Stelle, an der sich eben nochmein Hals befunden hatte, schlug dasSchwert klirrend am Boden auf. Aber schonhob Magantilliken die Waffe von neuem.Der Henker hatte inzwischen begriffen, daßer sich mir gegenüber keine Blöße gebendurfte. Das lange Schwert versetzte ihn indie Lage, nach mir zu schlagen, ohne sich ingefährliche Nähe meiner Hände oder Füßezu begeben. Meine eigenen Waffen hatte ichverloren – sie lagen außerhalb meiner Reich-weite.

Ich sah die Klinge herabzucken, und ob-wohl es scheinbar sinnlos war, wich ichnoch einmal dem tödlichen Schlag aus. Ichbereitete mich auf den nächsten Versuch

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vor, da geschah es.Ich hatte es schon einmal erlebt – auf Ta-

braczon.Magantilliken hatte das Schwert bereits

erhoben, als er plötzlich zu schwanken be-gann. Mit letzter Kraft schleuderte er dieWaffe nach mir, aber sie verfehlte mich. Alssie scheppernd am Boden aufschlug, fielMagantilliken bereits. Er sank in sich zu-sammen, als wäre sein Körper ein Bündelnasser Lappen.

3.

Mühsam erhob ich mich. Der rechte Arm,an dem Magantilliken mich herumgeschleu-dert hatte, schmerzte höllisch, aber er warnicht gebrochen, und das war die Hauptsa-che. Ich hob das Schwert auf, ehe ich michdem Henker vorsichtig näherte. Der Varganelag regungslos in der Gangmitte.

Hastig untersuchte ich ihn. Es gab keinenZweifel, die Symptome waren dieselben,wie damals. Wie hatte Ischtar diesen Zu-stand erklärt?

Magantilliken war nicht körperlich ausder Eisigen Sphäre in unser Universum ge-kommen. Er hatte sich lediglich den Körpereines jener Varganen angeeignet, die nochimmer auf den Versunkenen Welten in denLebenserhaltungsanlagen ruhten. Von Zeitzu Zeit mußte der Geist, der diesem Körperneues Leben gab, in das geheimnisumwitter-te Reich der Varganen zurückkehren, umsich dort mit neuer Energie zu versorgen.Wie lange dieser Zustand anhielt, ließ sichnicht genau sagen. Offensichtlich war je-doch, daß Magantilliken selbst auf den Zeit-punkt einer solchen »Aufladung« keinenEinfluß besaß. Sonst hätte er sich nicht aus-gerechnet jetzt in diesen hilflosen Zustandbegeben.

Ich sah das Schwert an – dann ließ ich eswieder sinken. Es hatte keinen Sinn, Magan-tillikens verlassenen Körper jetzt zu töten.Er vermochte es jederzeit, sich einen neuenzu besorgen. Diese Erscheinung des vargani-schen Henkers kannten wir. Wechselte er je-

doch in einen anderen Varganen über, sostanden uns höchstens neue Schwierigkeitenbevor. Abgesehen davon brachte ich es nichtfertig, mich an einem Wehrlosen zu vergrei-fen.

Ich sammelte meine Waffen ein und gingendlich in den Raum, den der Henker sohartnäckig verteidigt hatte. Während ich vordie Lebenserhaltungsanlage trat, zerbrachich mir den Kopf darüber, was ich nun mitChapat anstellen sollte.

Der Behälter, in dem Chapat sich befand,war klein und transparent. Ich hätte ihn mirleicht unter den Arm klemmen können. DieSchwierigkeit bestand darin, daß der Kastenmit schiffseigenen Anlagen verbunden war.Soweit ich darüber informiert war, mußteChapat zugrunde gehen, sobald er von die-sem Versorgungssystem abgeschnitten wur-de.

Ich starrte den winzigen Körper an. DieHaut war noch durchsichtig, schemenhaftzeichneten sich darunter Adern, Muskelnund zierliche Knochen ab, die sich jedocherst am Beginn ihrer Entwicklung befanden.Deutlich war das Herz zu sehen. Es hattenoch nicht die richtige Form, aber es pochteregelmäßig und kraftvoll. Die im Verhältnisviel zu kleinen Arme und Beine bewegtensich langsam. Auch die Augen waren bereitserkennbar, kleine, dunkle Flecken in einemGesicht, das in erster Linie aus einer vorge-wölbten Kugelstirn und einer kaum ange-deuteten Nase bestand.

Wie sollte ich dieses hilflose Wesenschützen?

Immer wieder landete ich bei demselbenProblem: Chapat selbst mußte weggeschafftwerden. Im Hangar lag noch immer meinBeiboot. Ich wußte nicht, wie groß dieStrecke war, die das Varganenschiff, das ichnicht steuern konnte, inzwischen zurückge-legt hatte, aber befand ich mich erst einmalim freien Raum, so würde ich auch Hilfefinden.

Zweifelnd betrachtete ich die Anschlüsse,die von Chapats derzeitiger Behausung weg-führten, aber immer wieder glitten meine

Atlan und der Ungeborene 13

Blicke zu dem Embryo zurück. Es war selt-sam – fast wie ein Zwang!

Ich wußte, daß ich keine Zeit zu verlierenhatte, daß Magantilliken jederzeit aufsprin-gen und erneut gegen mich kämpfen konnte.Und doch verschwendete ich wertvolle Au-genblicke damit, einfach nur dazustehen undmeinen geheimnisvollen Sohn anzustarren.Immer deutlicher wurde das Gefühl einer sotiefen Verbundenheit mit Chapat, wie ich esnie zuvor erlebt hatte. Und plötzlich war derKontakt geschlossen.

»Du hast mich vor dem Tode bewahrt«,flüsterte eine zarte Stimme in meinen Ge-danken. »Aber die Gefahr ist noch nicht vor-über!«

»Chapat?« stieß ich unsicher hervor. Ichkannte diese Art innerer Stimme. Mein Ex-trahirn machte sich auf ähnliche Weise be-merkbar. Dennoch bestand ein großer Unter-schied. Nur vermochte ich mir nicht vorzu-stellen, daß dieser Embryo, der aus der Ver-bindung zwischen mir und Ischtar entstan-den war, die unglaubliche Fähigkeit besaß,mir seine Gedanken mitzuteilen. Er besaß janoch kaum ein Gehirn, er konnte einfachnoch nicht einmal logisch denken, geschwei-ge denn die Gabe der Telepathie besitzen!

»Aber es ist so!« hörte ich die Stimme er-neut, ohne daß ein Geräusch an meine Ohrendrang.

Ich wirbelte herum – Magantilliken lagnoch immer leblos da. Die Gefahr, daß icheinem Trick des Henkers auf den Leim ging,schied somit aus.

»Es ist nicht so erstaunlich, wie dudenkst«, teilte der Embryo mir gelassen mit.»Eine Schutzmaßnahme, die Ischtar fürmich traf. Wir haben keine Zeit zu verlieren.Ich weiß, mit welchem Problem du dich be-schäftigt hast. Es ist sehr leicht zu lösen. DerBehälter, in dem ich mich befinde, verfügtüber ein eigenes Versorgungssystem. DieVorräte sind natürlich nicht groß, aber füreinige Zeit geht es. Jedenfalls lange genug,bis wir aus dem Schiff geflohen sind und ei-ne andere Anlage gefunden haben.«

»Moment«, wandte ich hastig ein, ohne

mir bewußt Rechenschaft darüber abzule-gen, daß ich mit einem Embryo diskutierte.»Solche Anlagen stehen nicht einfach über-all herum. Wir müssen zuerst einen Planetenerreichen …«

»Das ist bereits geschehen«, unterbrachChapat mich. »Das Schiff ist inzwischen ge-landet. Ich weiß, daß Magantilliken eine derVersunkenen Welten ansteuerte. Er wolltezu einem fast vergessenen Stützpunkt, umdort seinen Plan zu Ende zu führen. Die Sta-tion dürfte nicht weit vom Landeplatz ent-fernt liegen – sobald wir uns im Freien be-finden, werde ich dir den Weg zeigen kön-nen.«

Ich weiß, es klingt verrückt. Aber die Ein-dringlichkeit, mit der dieses Wesen sich mirmitteilte, verdrängte jeden Zweifel. Ich un-terhielt mich auf telepathischem Wege mitmeinem ungeborenen Sohn – und ich akzep-tierte diese Tatsache!

Chapats Wissen umfaßte auch die nötigenKenntnisse, um unser Vorhaben zu ermögli-chen. Nach seinen Anweisungen betätigteich Schalter, deren Bedeutung ich erst durchihn erfuhr, löste Verbindungen und stellteandere her, bis ich schließlich den kleinenBehälter anhob.

Es erschien mir als absolut selbstverständ-lich, daß Chapat auch die Richtung angab, indie ich mich zu wenden hatte. Einmal raffteich mich noch zu einer Frage auf.

»Könntest du mir notfalls auch erklären,wie ich dieses Raumschiff zu steuern hätte?«

»Ja«, erwiderte das Wispern in meinemSchädel. »Aber es würde uns nichts nützen.Wir wären nicht sicher genug. Sobald Ma-gantilliken zu sich käme, würde er mich tö-ten.«

Im Unterbewußtsein entstand in mir derEinwand, auch die Flucht in eine fremde,uns unbekannte Umwelt wäre ein sehr frag-licher Ausweg. Seltsamerweise sprach ichdiesen Gedanken nie aus. Bald vergaß ichihn sogar völlig.

Wir durchquerten die Zentrale, die nochstiller war als sonst. Die Bildschirme blick-ten wie erloschene Augen auf uns herab. Ich

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hätte gerne einen von ihnen in Betrieb ge-setzt, was mit Chapats Hilfe wohl kein Pro-blem darstellte. Mir wäre bedeutend wohlergewesen, hätte ich wenigstens einen kurzenBlick auf die Umgebung werfen können, inder das Schiff sich befand. Aber das winzigeGeschöpf in dem Behälter ließ eine solcheZeitverschwendung nicht zu.

Die Flucht durch Ischtars Schiff glich ei-nem Alptraum. Nicht, daß sich uns Gefahrenentgegenstellten. Im Gegenteil. Es gabnichts als die leeren, sterilen Gänge, alle indämmeriges Licht getaucht. Nirgends eineBewegung oder ein Laut. Nur die wisperndeStimme in meinen Gedanken, die mir mit-teilte, wohin ich gehen sollte.

Ständig verfolgte mich der Gedanke anMagantilliken, der irgendwo hinter mir inseinem scheintoten Zustand lag. Das bloßeVorhandensein des Henkers war wie eindunkler Schatten, der drohend über mir hingund mich vorwärtstrieb. Erst als die Schleu-se vor uns lag, erwachte ich wie aus einerBetäubung. Ich begriff, daß es eigentlichChapats Angst war, die mir so zu schaffenmachte.

Ich öffnete das innere Schott. Als es fastlautlos hinter uns zuglitt und ich mit demBehälter in der geräumigen Kammer stand,zögerte ich einen Augenblick. Aber dannüberwog wieder der Gedanke an den Henkerund an Chapats Sicherheit. Ich betätigteeinen Kontakt, und die Schleuse öffnetesich.

4.

Mein erster Eindruck von der Welt, diemich draußen erwartete, war, daß Magantil-liken mich geradewegs in die Hölle geflogenhatte.

Durch das sich öffnende Schleusenschottschlug mir heiße, trockene Luft entgegen,Sie brachte Unmengen von Sand mit sich,der mir die Augen fast verklebte, in die Nasedrang und zwischen den Zähnen knirschte.Da draußen tobte ein Sturm, wie ich ihn indieser Heftigkeit selten zuvor erlebt hatte.

Von der näheren Umgebung außerhalbdes Schiffes war im Augenblick so gut wienichts zu erkennen. Sand in der Luft, Sandam Boden – es war kaum auszumachen, wodas eine begann und das andere aufhörte.

Ein schrilles Kreischen mischte sich in dieübrigen Sturmgeräusche. Es rührte von denscharfkantigen Sandkörnern her, die mit un-vorstellbarer Wucht über die Außenflächendes Varganenschiffs getrieben wurden. Bin-nen weniger Atemzüge bildeten sich amRand der Schleuse die ersten Verwehungen.

Du brauchst einen Raumanzug, meldetesich mein Extrahirn energisch. Sonst wirddir der Sand sehr schnell die Haut vom Kör-per schmirgeln!

Erst jetzt bemerkte ich, daß der Logiksek-tor schon seit einiger Zeit versucht hatte,sich mit mir in Verbindung zu setzen. Cha-pats angsterfüllte Ausstrahlungen mußtendie warnende Stimme überlagert haben,sonst wäre ich gewiß nicht so kopflos da-vongestürmt. Mit Schrecken stellte ich fest,daß ich bei dieser wilden Flucht sowohlmeine Waffen als auch den Schutzanzug zu-rückgelassen hatte. Vor der überwältigendenFurcht des Embryos hatte mein Verstandrestlos kapituliert. Erst der Anblick der drau-ßen herrschenden Verhältnisse hatte michzur Ordnung gerufen.

Von Chapat kam ein drängender Impuls.Das winzige Wesen war in seinem Behälterrelativ sicher untergebracht und verstandnicht, warum ich zögerte. Seine Angst droh-te erneut, meine gerade wieder erwachteVernunft hinwegzuschwemmen, aber dies-mal hielt ich stand.

Als der Ungeborene endlich begriff,worum es ging, reagierte er sofort.

»Verzeih mir!« wisperte die lautloseStimme in meinem Gehirn. »Ich habe sehrunvernünftig gehandelt.«

»Diese Einsicht kommt etwas zu spät!«erwiderte ich grimmig, nachdem ich denSand ausgespuckt hatte, der mich am Spre-chen hinderte. »Was nun? Den ganzen Wegnoch einmal zurück?«

Unwillkürlich schüttelte es mich bei die-

Atlan und der Ungeborene 15

sem Gedanken.»Das ist nicht nötig«, teilte Chapat, mir

mit, »Neben der Schleuse befindet sich eineAusrüstungskammer. Dort wirst du alles fin-den, was du brauchst!«

Ich fand den Raum, den Chapat meinte,auf Anhieb. Allerdings gab es dort längstnicht alles, was ich gerne mitgenommen hät-te. Der Gedanke, waffenlos auf einem frem-den Planeten herumzuirren, war mir unange-nehm, aber von Waffen irgendwelcher Artfehlte jede Spur.

Obwohl Chapat immer ungeduldiger wur-de, durchstöberte ich jeden Winkel, ohneauch nur den simpelsten Strahler aufzutrei-ben. Schließlich gab ich es auf. Chapat ver-sicherte mir immer wieder, es gäbe auf die-ser Welt keine feindlich gesinnten Lebewe-sen, aber ich traute dem Frieden nicht.

Immerhin stöberte ich einen Anzug auf,der mir einigermaßen paßte. Als ich die Ta-schen durchsuchte, fand ich neben der übli-chen Notausrüstung auch ein paar Päckchenmit Konzentraten und Wassertabletten. Ichatmete auf. Auch das war ein Problem, dasder Embryo, der ja keine praktischen Erfah-rungen besaß, nicht berücksichtigt hatte.

In weiser Voraussicht plünderte ich auchdie Taschen der anderen Anzüge aus, ob-wohl der Embryo inzwischen fast die Ge-duld verlor. Dann befaßte ich mich nähermit dem Anzug, den ich mir angeeignet hat-te, und stellte fest, daß auch dieses Dingeinen Schönheitsfehler hatte. Entweder be-saß es gar keinen Schwerkraftregler, oderdie Kontrollen waren so fremdartig, daß ichden betreffenden Schalter nicht fand.

Das war bei dem derzeit herrschendenSturm ein arges Hindernis. Chapat reagierteauf meine Fragen nicht. Er wurde völlig vonseiner Furcht beherrscht. Mir blieb also kei-ne andere Wahl, als endlich loszumarschie-ren.

Erneut klemmte ich mir den Behälter mitmeinem Sohn unter den Arm und stapfte zurSchleuse. Der Sturm hatte unterdessen kei-neswegs nachgelassen. Mir graute es beidem Gedanken, in den treibenden Sandmas-

sen umherzuirren, und ich hielt es für siche-rer, noch ein wenig zu warten – aber diesmalsiegte Chapat.

Ich sprang aus der Schleuse. Der Bodenlag etwa einen Meter tiefer. Der kurze Mo-ment, in dem ich mich in der Luft befand,reichte dem Sturm aus, um mir zu zeigen,wer der Herr auf diesem Planeten war. EineBö erfaßte mich, wirbelte mich herum, alswäre ich ein welkes Blatt und schleudertemich dann mitten in eine der Sandverwehun-gen hinein, die sich inzwischen am unterenRand des Schiffes gebildet hatten. EinSchauer von kleinen Steinen prasselte aufmeinen Rücken herab.

Das Doppelpyramidenschiff, dessen größ-te Länge immerhin einen Kilometer betrug,bildete ein Hindernis in der Bahn des Or-kans, Die dadurch entstehenden Luftwirbelstellten sich mir wie Mauern entgegen. Ver-bissen kämpfte ich um mein Gleichgewicht,aber sobald ich einen neuen Vorstoß machte,um aus der Nähe des Schiffes zu gelangen,schlugen Böen und Sandmassen wie titani-sche Fäuste auf mich ein und warfen michzurück.

Du mußt am Schiff entlangkriechen, bisdu aus der Wirbelzone herauskommst!machte mein Extrahirn mir klar. Die eigent-liche Richtung des Sturmes ist genau die, inder auch die Station liegen soll!

Ich fluchte vor mich hin, als mir bewußtwurde, daß Chapats zielbewußtes Strebennach der Sicherheit der mysteriösen Stationmir erneut einen ungewollt gefährlichenStreich gespielt hatte. Seine Impulse hattenmich dazu verführt, sinnlos gegen die Ge-walten des Sturmes zu kämpfen und so eineMenge Kraft zu verschwenden.

Ich mußte erst noch lernen, mit den Aus-strahlungen des Embryos fertig zu werden.Das, was er in seiner lautlosen Gedanken-sprache formulierte, ließ sich leicht ignorie-ren. Die unterschwelligen Impulse, mit de-nen er mich nach seinen Wünschen zu diri-gieren versuchte, erkannte ich meistens erst,wenn es zu spät war. Immerhin besaß ichaber schon eine gewisse Übung darin, mit

16 Marianne Sydow

einem »Gedankenpartner« fertig zu werden.Nach der Aktivierung meines Extrahirnshatte ich einer ähnlichen Situation gegen-übergestanden. Diese Erkenntnis half mir,die nagende Ungeduld des Ungeborenen zuunterdrücken.

Auch die Schiffswand bot nur wenigSchutz vor den wütenden Naturgewaltendieses höllischen Planeten, aber ich kamjetzt doch wesentlich besser voran. Ich be-mühte mich, die Kraft des Sturmes zu mei-nem Vorteil zu nutzen, stemmte mich nichtmehr einfach dagegen, sondern ließ michweitertreiben, sobald die Situation günstigwar. Zwar landete ich auf diese Weise im-mer wieder in den Sandhaufen, aber ichsparte Kraft. Nach etlichen Bauchlandungenverrieten mir waagerecht vorbeistreichendeStaubschwaden, daß es an dieser Stelle kei-ne Wirbel gab. Ich überließ mich dem Sturmund torkelte in die Wüste hinaus.

Dann befolgte ich wieder Chapats Anwei-sungen, denn ich selbst hatte keine Ahnung,in welche Richtung ich mich wenden mußte.Schon nach wenigen Minuten hatte ich dieOrientierung verloren. Ich wunderte mich,woran der Embryo den Weg erkannte, aberich hatte zu viel mit mir selbst zu tun, umihn jetzt danach zu fragen.

Allmählich verlor ich nicht nur die Orien-tierung, sondern auch jedes Zeitgefühl. DieSicht reichte nach allen Seiten nur wenigeMeter weit. Es gab keine Abwechslung, diemich aus meiner Lethargie hatte reißen kön-nen. Es gab nur den Sand, der mich von al-len Seiten zu umschließen schien.

Automatisch setzte ich einen Fuß vor denanderen. Der Boden unter mir schien in stän-diger Bewegung zu sein. Das infernalischeKreischen und Heulen des Sturmes hörte ichkaum noch.

Dann buckelten urplötzlich rundgeschlif-fene, pechschwarze Felsen vor mir auf. Mei-ne Reaktion kam fast zu spät. Im letzten Au-genblick bemerkte ich die Gefahr, schlangdie Arme schützend um den gläsernen Be-hälter und prallte dann schwer gegen dasHindernis. Halb benommen blieb ich liegen.

Ich fühlte mich unsagbar müde, aber die Fel-sen boten keinen Schutz. Binnen Sekundenbedeckte der Sand meine Beine, und selbstwenn ich durch den Raumanzug vor der Ge-fahr des Erstickens sicher war, so fürchteteich doch, daß die Verwehung schnell so weitanwachsen könnte, daß ich mich aus eigenerKraft nicht mehr daraus zu befreien ver-mochte. Fast willenlos folgte ich den Impul-sen des Embryos, kroch um das Hindernisherum und taumelte dann weiter.

Ich weiß nicht mehr, wieviel Zeit verstri-chen war, als das Wüten endlich etwasnachließ.

»Dort vorne sind Felsen«, bemerkte Cha-pat. »Du brauchst etwas Ruhe.«

Ich folgte dem Rat des Ungeborenen undsuchte mir einen Platz, an dem der Sand kei-ne Bedrohung für mich darstellte. EineHandvoll Schlaf hätte mir gutgetan, aber ichwagte es nicht, der Müdigkeit nachzugeben.Nicht nur Magantilliken war eine Gefahr,sondern jetzt auch der Sturm.

Allmählich wurde die Luft etwas klarer.Ich stellte fest, daß es noch mehr Felsgrup-pen gab. Sie waren von dem Sandsturm zuden abenteuerlichsten Gebilden zusammen-geschliffen worden.

Eine plötzliche Laune des Orkans wirbel-te die Staubschleier über mir auseinander,und zum erstenmal erblickte ich den Him-mel dieser Welt. Düstere Wolken jagten dar-über hin. Als sie einmal für Sekunden aufris-sen, gaben sie den Blick auf einen rostfarbe-nen Himmel frei, in dem eine bleiche Sonnewie eine silbrige Blase schwamm.

Ich war verblüfft, als ich bemerkte, daßdas Gestirn fast im Zenit stand. Die durchdie Sandwolken bedingte tiefe Dämmerunghatte mich zu dem gefühlsmäßigen Schlußverleitet, es sei später Abend.

Nachdem ich einen Konzentratriegel zer-kaut und eine Wassertablette gelutscht hatte,kehrten meine Kräfte allmählich zurück.Nach einigen Minuten totaler Entspannungwar ich bereit, den Kampf gegen die Wüstewieder aufzunehmen.

»Wo sind wir hier eigentlich?« erkundigte

Atlan und der Ungeborene 17

ich mich bei Chapat, als wir den Windschat-ten der Felsen hinter uns gelassen hatten.

»Auf Sogantvort«, erwiderte der Embryolakonisch.

Der Name sagte mir gar nichts. Ich wußtenur, daß es sich um eine der VersunkenenWelten handelte, die einst von Varganen be-siedelt worden waren. Dieses alte Volk hattein manchen Dingen sehr merkwürdige An-sichten, aber ich konnte mir beim bestenWillen nicht vorstellen, was an diesem Pla-neten so verlockend war, daß man einenStützpunkt darauf eingerichtet hatte. Aller-dings war seitdem viel Zeit verstrichen, undfrüher mochte es hier ganz anders ausgese-hen haben.

Eben wollte ich Chapat danach fragen,was ihm über die Vergangenheit von So-gantvort bekannt war, da geschah etwas, wasmich fassungslos stehenbleiben ließ.

Der Sturm mochte auf ein für hiesige Ver-hältnisse mildes Format gesunken sein, aberfür mich handelte es sich immer noch umeinen mittleren Orkan, dessen Kräften ichmich ohne zwingenden Grund nicht ausge-setzt hätte. Jetzt mußte ich feststellen, daß esWesen gab, die darüber entschieden andersdachten.

Über einer vom Sand fast begrabenenFelskuppe tauchten dunkle, schattenhafteGeschöpfe auf. Das Erstaunliche war, daßsie sich fliegend in der Luft hielten.

»Was sind das für Wesen?« wollte ichvon Chapat wissen.

Aber der Embryo schwieg. Ich hatte denEindruck, als sei auch er verwirrt und beun-ruhigt.

Aufmerksam beobachtete ich die Sche-men. Es waren unzweifelhaft Lebewesen,auch wenn ich vorerst, nicht wußte, ob essich um Tiere handelte oder um hypotheti-sche Eingeborene.

Sie besaßen Flughäute, mit denen sie un-geheuer geschickt umgingen. Es erfordertesicher viel Kraft und Behendigkeit, um beidiesem Wetter nicht nur in der Luft zu blei-ben, sondern sogar gegen den Sturm zukreuzen. Ihr genaues Aussehen konnte ich

noch nicht erkennen, aber wenn diese We-sen ihre jetzige Flugrichtung beibehielten,mußte es zwangsläufig zu einem Zusam-mentreffen kommen.

In Anbetracht der Tatsache, daß ich unbe-waffnet war, lag mir nichts daran, die Flug-häutler näher kennenzulernen. Sie warennoch ziemlich weit entfernt, und ich hoffte,daß sie mich noch nicht entdeckt hatten.Auch wenn sie mit dem Sturm scheinbarmühelos fertig wurden, trieben ihnen scharfeSandkörner entgegen, die ihre Sicht behin-dern mußten. Ich wich also von der bisheri-gen Richtung ab.

Chapat erhob diesmal keinen Protest.Auch er war daran interessiert, jeden Auf-enthalt zu vermeiden. Der Zeitverlust, derdurch einen Umweg entstand, war sicher ge-ringer als der, den ein möglicher Kampf ge-gen die Unbekannten uns eingebracht hätte.

Leider erfüllte sich meine Hoffnung nicht.Als ich mich nach einigen Schritten umsah,folgten mir die dunkelhäutigen Flugwesen.Ich begann zu rennen, aber mein Vorsprungschrumpfte schnell. Und dann tauchte plötz-lich direkt über mir ein dunkler Schatten auf.Gleichzeitig erhielt ich einen Stoß in denRücken, der mich der Länge nach in denSand schleuderte. Es war, als hätte einBaumstamm mich ins Kreuz getroffen.

Ich wälzte mich hastig herum, bereit,mein Leben so teuer wie möglich zu verkau-fen, Aber mein Gegner befand sich bereitsaußer Reichweite und segelte etliche Meterüber mir.

Vorsichtig richtete ich mich auf.Nichts geschah.Als ich mich umsah, stellte ich fest, daß

mich inzwischen etwa fünfzig dieser Flug-geschöpfe eingekreist hatten. Sie gaukeltenin einem seltsam schlingernden Flug ummich herum. Mißtrauisch beobachtete ichsie, aber es schien fast, als gäben sie sich da-mit zufrieden, mich zu beobachten Oderwarteten sie auf etwas? Da ich keine Ah-nung hatte, was sie von mir wollten, setzteich mich schließlich in meiner ursprüngli-chen Marschrichtung in Bewegung.

18 Marianne Sydow

Das ging ihnen offensichtlich gegen denStrich.

Ein langgezogener, unglaublich hoherSchrei erklang. Eines der Wesen löste sichaus dem Kreis und schoß wie ein drohenderSchatten auf mich zu. Geistesgegenwärtigließ ich mich fallen und entkam so demnächsten Schlag. Und auch diesmal zog sichder Angreifer sofort zurück.

Ratlos erhob ich mich wieder. Was warendas für Wesen? Hatte ich es mit Tieren zutun, die mit ihrer Beute spielten, ehe sie sietöteten? Oder wunderten sie sich lediglichdarüber, daß ich nicht fliegen konnte wiesie?

Obwohl ich sie mir jetzt aus der Nähe an-sehen konnte, waren kaum Einzelheiten anihnen auszumachen. Sie waren so eintönigdunkel gefärbt, daß alle Konturen ineinanderübergingen. Ich glaubte einmal, als einesdieser Wesen vor einem helleren Hinter-grund schwebte, zwischen den Flughäuteneinen Körper zu sehen, der dem eines Arko-niden nicht unähnlich war. Und als ein Ge-fährte von ihm bedrohlich nah auf mich her-abstieß und sich erst kurz vor mir wiederhochriß, blickte ich für einen Moment in dü-ster glimmende Augen.

Man ließ mir keine Zeit für weitere Beob-achtungen. Erneut schoß einer der dunklenSegler auf mich herab, und unwillkürlichwich ich zurück. Sofort kreuzten auch einigemeiner seltsamen Gegner in diese Richtung.

Da begriff ich endlich. Ich sollte ihnenfolgen. Sie zeigten mir den Weg, und sie lie-ßen keinen Zweifel daran aufkommen, daßsie mich mit Gewalt hindern würden, meinursprüngliches Ziel zu verfolgen. Ich machtedie Probe aufs Exempel, indem ich zunächstnachgab. Umgehend zogen sich die Wesenauf die für sie anscheinend günstigste Flug-höhe zurück. Als ich jedoch nur zwei Schrit-te in die Richtung versuchte, die Chapat mirangab, griffen sie an.

»Es hilft nichts«, teilte ich dem Embryomit. »Wir müssen uns damit abfinden.«

Ich spürte Chapats Furcht, aber ich ver-schloß mich eisern seinen Impulsen. Es war

sinnlos, gegen diese Kreaturen zu kämpfen.Selbst wenn ich einen Strahler bei mir ge-

habt hätte, wäre es mir schwer geworden,auf diese Geschöpfe zu schießen. Nochwußte ich nicht, ob es sich wirklich um Tie-re handelte oder um intelligente Eingebore-ne. Es stand auch keineswegs fest, daß siemeine Feinde waren. Vielleicht meinten siees sogar gut und führten uns zu einem Ort,an dem wir in Ruhe das Ende des Sturmesabwarten konnten.

Träumer! warf mein Extrahirn ein, aberich ignorierte die sarkastische Bemerkung.

Unser neuer Weg führte uns wieder in dieoffene Wüste hinaus. Die Felsen gerietenschon bald außer Sichtweite. Unsere Führerhatten es eilig. Sie trieben mich unbarmher-zig an, und sobald ich versuchte, das Tempoherabzusetzen, bekam ich Ärger mit ihnen.

Trotz der kurzen Ruhepause von vorhinmachten sich die Anstrengungen bei mir all-mählich bemerkbar. Ich fragte mich, wie siemich wohl weiterzutransportieren gedach-ten, wenn ich schlappmachte.

Um mich abzulenken, begann ich eineUnterhaltung mit Chapat.

»Hast du inzwischen herausgefunden, wasdas für komische Gestalten sind?« erkundig-te ich mich.

Der Ungeborene zögerte nur kurz mit derAntwort.

»Es müssen mutierte Eingeborene vonSogantvort sein«, behauptete er dann.

»Ach nein!« erwiderte ich spöttisch. »Ichdenke, hier draußen gibt es keine feindlichenLebewesen?«

»Ich dachte nicht, daß es noch welche vonihnen gibt«, erklärte er nüchtern. »Wie dusiehst, ist es ein recht unwirtlicher Planet. Eswar damit zu rechnen, daß sie aussterbenwürden, nachdem die Varganen sich zurück-zogen. Aber wie es scheint, haben sie sichden Verhältnissen angepaßt.«

»Sie sind also intelligent?« vergewisserteich mich.

»Ja, ich glaube schon. Jedenfalls kann ichmir nicht vorstellen, daß diese Wesen aus ei-ner der Tierarten von Sogantvort hervorge-

Atlan und der Ungeborene 19

gangen sind. Es kann sich nur um die Einge-borenen handeln. Wir werden es bald selbstsehen. Ihr Ziel scheint schon ziemlich nahezu sein.«

»Du kannst ihre Gedanken lesen?«»Leider nicht«, wisperte die Stimme des

Ungeborenen in meinen Gedanken. »Ichnehme nur verschwommene Gefühle von ih-nen auf.«

Schade, dachte ich, denn damit war ichum eine Hoffnung ärmer.

Ich hielt Ausschau, in der Hoffnung,schon jetzt das Ziel dieser Wüstenwande-rung zu erkennen. Aber die eintönige Umge-bung wurde durch nichts unterbrochen.

»Konnten die Burschen früher auch schonfliegen?« fragte ich, und noch ehe Chapatsverneinende Antwort mich erreichte, stießich auf ein viel wichtigeres Problem.

»Woher weißt du eigentlich, daß dieserPlanet Sogantvort heißt, daß es hier Einge-borene gab, wo die Station liegt und all dieanderen Dinge?«

»Mir steht fast die gesamte Erinnerungmeiner Mutter zur Verfügung«, erklärte mirder Ungeborene seelenruhig. »Und nicht nurdie Erinnerungen, sondern darüber hinausauch ein großer Teil des Wissens, das Ischt-ar erworben hat.«

»Dann wird mein Sohn also ein Wunder-kind«, stieß ich einigermaßen erschütterthervor. »Wenn ich mir das vorstelle! Als Te-lepath geboren und noch dazu mit diesemWissen ausgestattet …«

»Das wird nicht geschehen«, unterbrachChapat mich. »Im Augenblick meiner Ge-burt werde ich diese Fähigkeiten verlieren.Ich werde auch das vergessen, was wir jetztgemeinsam erleben. Alle meine jetzigenKenntnisse werden ausgelöscht werden.«

»Auch die Gabe der Telepathie?«»Ich weiß es nicht. Vielleicht bleibt etwas

davon zurück, eine Veranlagung. Was sichdaraus entwickelt, kann nur die Zukunft zei-gen. Jedenfalls weiß ich, daß ich nicht alsTelepath zur Welt kommen werde.«

Ich schwieg. Mir war klar, daß Chapat,meine Gedanken erkennen konnte, und dar-

um bemühte ich mich, möglichst ruhig zubleiben.

Die ganze Angelegenheit verwirrte michmaßlos. Zum erstenmal wurde ich mir volldarüber bewußt, was Chapat in diesem Mo-ment war, und ich mußte mich mit Gewaltan die Fremden erinnern, die ein solchesVerhalten zweifellos mißverstanden hätten.Sonst wäre ich auf der Stelle stehengeblie-ben, um meinen Sohn ungläubig zu betrach-ten.

Es schien in meinen Augen total unmög-lich, eine solche Fülle von Informationen imkaum entwickelten Gehirn eines Embryos zuverstauen. Hinzu kam, daß Chapat sehr ge-nau über seine nächste Zukunft orientiertwar. Zumindest wußte er, was bei seiner Ge-burt mit ihm geschehen würde.

Geburt?Wie, bei allen Dämonen der Galaxis, ließ

sich dieser Begriff auf ein Wesen anwenden,das in einem Glaskasten aufwuchs?

Chapat traf keine Anstalten, mich überdiese Frage aufzuklären, denn wir waren amZiel der Eingeborenen angelangt.

5.

Hinter schwarzen Felsbarrieren, die aufder uns zugewandten Seite von angewehtemSand fast verdeckt waren, fiel der Boden ur-plötzlich steil ab. Vor uns lag ein fast kreis-förmiges Tal.

Die Fremden führten uns am Rand desAbgrunds entlang. Erst als mich eine uner-wartete Bö fast in die Tiefe geschleuderthätte, zogen sie es vor, mich hinter den stei-nernen Schutzwall zu drängen. Die meistenvon ihnen landeten jetzt auch auf dem Bo-den, schlugen die Flughäute wie Mäntel umsich und stießen mich wie ein StückSchlachtvieh vor sich her. Sie legten eineimmer größere Hast an den Tag. Es war of-fensichtlich, daß auch sie die starken Böenüber den Felsen fürchteten.

Ich wunderte mich darüber, daß sie esnicht vorzogen, einfach in das schützendeTal hinabzusegeln. Zehn von ihnen hätten

20 Marianne Sydow

für meine Bewachung völlig ausgereicht.Aber es schien, als benutzten sie ihre Flügelnur draußen im freien Gelände. Mir bliebauch gar keine Zeit, Spekulationen über dieGründe für dieses Verhalten anzustellen. Ichwar restlos damit beschäftigt, mich auf denBeinen zu halten.

Endlich tat sich vor uns eine breite Lückein dem steinernen Schutzwall auf. Dahinterführte ein halsbrecherisch schmaler Pfad inengen Serpentinen zu Tal. Der Steilhangmochte hier etwa einhundert Meter hochsein. Unten erblickte ich eine Vielzahl klei-ner, runder Hütten An den Hängen klebtenseltsame, unregelmäßig geformte Wind-schirme. Und überall wimmelte es von Ein-geborenen.

Die Fremden gaben mir zu verstehen, daßich mich gefälligst beeilen sollte. Sie hättensich ihre Bemühungen sparen können, dennfast im selben Moment packte mich derSturm und warf mich durch das steinerneTor, als wäre ich ein Bündel Lumpen.

Ich landete auf dem Weg, aber ehe ichmich aufrichten konnte, wurde einer meinerBewacher von der gleichen Bö erfaßt. Erschoß durch das Loch, wie die sprichwörtli-che Kugel aus einer Pistole. Es gelang mirnoch, den Behälter schützend in meinen Ar-men zu bergen, dann prallte der Fremde mitvoller Wucht gegen mich. Der Stoß warfmich über den Rand des Pfades.

Jenseits der steinernen Begrenzung gab esnichts als weichen Sand. Mein Gewichtbrachte ihn in eine fließende Bewegung, undich wurde in rasender Fahrt nach unten ge-rissen. Wie eine riesige Wand sah ich etwasDunkles auf mich zukommen. Es war einerder Windschirme, und ich trieb genau in ihnhinein. Mit Entsetzen stellte ich fest, daßmeine abenteuerliche Fahrt dort ein absolu-tes Ende finden mußte. Ich erblickte eindichtes Geflecht von Zweigen, an denen fin-gerlange, blitzende Dornen prangten. Dar-über hinaus ragten Unmengen speerartigerStangen noch vor dieser Todesfalle aus demSand. Das ganze Gebilde war nur noch we-nige Meter von mir entfernt.

Da hörte ich plötzlich über mir das Sau-sen von Flughäuten. Ein stechender Schmerzzuckte durch meine Schultern, und ich wur-de hochgerissen. Meine Arme wurden taub,und fast hätte ich den Behälter mit meinemSohn fallen lassen. Dann stellte ich fest, daßich noch längst nicht gerettet war, denn derEingeborene, in dessen Klauen ich hing, ge-wann zu wenig Höhe. Im letzten Augenblickzog ich verzweifelt die Beine an, und derRand des Dornengeranks huschte nur umZentimeter unter mir vorbei.

Eine schräge Sandfläche folgte. Obwohldie Schmerzen fast unerträglich waren, be-mühte ich mich, dem Flugwesen die Last zuerleichtern. Es hatte mich vor einem grauen-haften Tod bewahrt, und mir war klar, daßes dabei auch sein eigenes Leben riskierthatte.

Relativ sanft wurde ich auf der nächst-tieferen Biegung des Pfades abgesetzt. Mei-ne Beine knickten unter mir weg, und meineArme, die den wertvollen Behälter fest um-klammert hielten, waren fast ohne Gefühl.Von den Schultern ging ein pochenderSchmerz aus, der mich beinahe betäubte.Am liebsten wäre ich einfach liegengeblie-ben, aber eine Rotte von Eingeborenenstürzte sich auf mich.

Große, knochenharte Hände griffen nachmir und schleiften mich wie ein Gepäck-stück weiter. Diese Transportmethode ließmich um meine Knochen fürchten, und ichraffte mühsam meine letzten Energien zu-sammen. Die Fremden bemerkten meine Be-mühungen und richteten mich auf.

Ein sehniger Arm, der von einer ledrigenFlughaut umflattert wurde, zeigte in einerhastigen Bewegung noch oben. Für Sekun-denbruchteile sah ich, wie der Windschirm,der mir fast zum Verhängnis geworden wä-re, sich durchbog, und da verstand ich.

Mein Absturz hatte Sandmassen in Bewe-gung gesetzt, die sich nicht mehr kontrollie-ren ließen. Wir mußten schleunigst aus demGefahrenbereich verschwinden, ehe eine mitDornen gespickte Lawine uns unter sich be-grub.

Atlan und der Ungeborene 21

Während ich von zwei Eingeborenen ehergetragen wurde, als daß ich wirklich lief,fragte ich mich, warum sie nicht auch jetztvon ihren Flughäuten Gebrauch machten.Erst als einer der Fremden den Kopf verlor,die Häute entfaltete und sich mit einem ver-zweifelten Schrei über den von Steinen ge-säumten Rand des Weges warf, begriff ich.

Die Gleithäute versagten in dieser Regiondes Tales. Es gab hier unten nicht mehr ge-nug Auftrieb, und der Fremde stürzte wieein Stein zu Boden.

Irgendwann hörte ich es hinter uns kra-chen. Wir wurden mit stäubendem Sandüberschüttet, aber die eigentliche Lawineging ein Stück weiter entfernt zu Tal. Meinebeiden Begleiter ließen mich einfach fallen,und ich sank zu Boden und spürte wie meinBewußtsein schwand.

*

Das Erwachen war eigenartig und beinahetraumhaft. Ich fragte mich verwundert, obich vielleicht unter dem Einfluß einer Drogestand. Meine Umgebung schien mit den vor-angegangenen Ereignissen in keiner Weisein Verbindung zu stehen.

Ich lag auf etwas sehr Weichem. Die Luftwar kühl und sauber. Über mir wölbte sicheine vielfarbige, von blitzenden Juwelendurchsetzte Decke, in deren Mittelpunkt eineetwa kopfgroße Kugel ein sanftes Licht ver-strahlte. Die Schmerzen waren verschwun-den, und ich fühlte mich so frisch und aus-geruht wie nach einem langen, erholsamenSchlaf.

Ich blieb auf dem Rücken liegen und be-wunderte die Farbenpracht. Nur langsamkam meine Erinnerung in Gang. Die Flug-wesen, der Absturz, die Lawine …

Ein eisiger Schreck durchfuhr mich undich richtete mich hastig auf.

Wo war Chapat?»Links neben dir«, wisperte zu meiner Er-

leichterung die feine Gedankenstimme.Ich sah den Behälter, der auf einem nied-

rigen, kunstvoll geschliffenen Block aus

schwarzem Gestein stand.»Wo sind wir hier?« erkundigte ich mich

und schwang die Beine über den Rand desLagers.

Verwundert befühlte ich die bunte Decke,auf der ich gelegen hatte. Ich kannte dasMaterial nicht, aus dem man sie gefertigthatte. Sie war weich und wirkte wie einwertvoller Pelz, obwohl ich sicher war, daßes sich nicht um die Haut eines Tieres han-delte.

»In einer der Hütten, die du von oben ge-sehen hast«, beantwortete Chapat meine Fra-ge. »Von außen wirken die Dinger wie bes-sere Lehmklumpen, aber innen sind sie of-fenbar recht komfortabel.«

Das fand ich allerdings auch. Allein derSockel, auf dem Chapats Behälter stand, hät-te so manchen sammelwütigen Arkoniden inBegeisterung versetzt, von den Geweben anden Wänden ganz zu schweigen.

»Man brachte dich hierher«, fuhr der Un-geborene fort. »Einer von den Fremden be-handelte dich mit einer Salbe, und seitdemhat sich niemand mehr blicken lassen. Duhast nur etwa zwei Stunden geschlafen. Ichversuchte einmal, dich durch Gedankenim-pulse zu wecken, aber es gelang mir nicht.Wahrscheinlich besaß die Salbe eine betäu-bende Wirkung.«

Erst jetzt fielen mir die Wunden ein, dieich bei dem Rettungsmanöver des Fremdendavongetragen hatte. Das äußerst wider-standsfähige Material des Schutzanzugswies auf jeder Seite vier daumendicke Lö-cher auf.

Verwundert bewegte ich die Arme – nurein leichtes Ziehen in den Schultern machtesich bemerkbar. Ich öffnete vorsichtig dieMagnetverschlüsse. Die Stellen, an denendie scharfen Klauen des Fremden meineHaut durchbohrt hatten, waren deutlich zuerkennen, aber die Wunden hatten sichschon fast geschlossen. Es gab keine Anzei-chen für eine Entzündung.

Nachdenklich schloß ich den Anzug wie-der.

Diese Fremden gaben mir Rätsel auf. Sie

22 Marianne Sydow

lebten unter primitivsten Bedingungen in ei-ner wilden, lebensfeindlichen Umgebung,aber ihre Hütten erwiesen sich als luxuriösekleine Paläste. Und sie verfügten über Heil-kräfte, die ich ihnen nie zugetraut hätte.

»Wir müssen weiter«, machte Chapat sichbemerkbar. »Magantilliken wird bald erwa-chen, wenn er nicht sogar schon auf demWeg hierher ist.«

»Er wird uns in diesem Tal kaum aufspü-ren«, wandte ich ein.

Schließlich waren wir von unserem ei-gentlichen Ziel noch weit entfernt, und dasDorf der Eingeborenen lag weit abseits derdirekten Verbindung zwischen dem Varga-nen-Schiff und der alten Station.

»Er wird mich überall finden!« wider-sprach Chapat.

Ich hätte nichts dagegen gehabt, michnoch ein wenig auszuruhen. Diese eigenarti-ge Hütte wirkte wie ein sicherer Hafen inder tobenden Sandhölle Sogantvorts. Ande-rerseits sah ich durchaus ein, daß wir hiernicht bleiben konnten. Nicht nur der Gedan-ke an Magantilliken trieb mich weiter. Cha-pat würde es nicht mehr lange aushalten, oh-ne frischen Nachschub aus einem großenLebenserhaltungssystem zu erhalten.

Die Frage war nur, ob die Eingeborenenmich einfach gehen ließen.

Seufzend stand ich auf. Obwohl ich nursehr kurze Zeit geschlafen hatte, fühlte ichmich ausgesprochen wohl. Die Erschöpfungwar von mir abgefallen. Unternehmungslu-stig sah ich mich um.

Mitten in den mit prächtigen Matten aus-staffierten Wänden erblickte ich eineschmutzigbraune Stelle, die wie ein Schand-fleck in dieser ausgewogenen Umgebungwirkte.

Das mußte der Ausgang sein. Ich nahmden Behälter und marschierte los.

Die »Tür« bestand aus einer nur grob be-arbeiteten Tierhaut, die einen seltsamenKontrast zu den dicht daneben hängenden,zarten Geweben bildete. Ich schlug den pri-mitiven Vorhang zur Seite – und blicktehaargenau in zwei gefährlich funkelnde

Speerspitzen.Die beiden Eingeborenen hatten sich

rechts und links des Ausgangs postiert. Daich mich noch immer nicht daran gewöhnthatte, meine Fragen an Chapat nur gedank-lich auszudrücken, waren sie durch meineStimme auf mein Kommen vorbereitet ge-wesen. Aber auch, wenn ich mich schwei-gend angeschlichen hätte, wäre meine Situa-tion hoffnungslos gewesen, denn die Hüttestand fast im Zentrum des Dorfes, und drau-ßen waren überall Sogantvortler unterwegs.

»Was soll das?« fragte ich. »Sind wir Ge-fangene?«

Die beiden Fremden schwiegen, Dafürhielt es mein Logiksektor wieder einmal fürangebracht, mich mit einer dummen Bemer-kung an seine Existenz zu erinnern.

Was sonst, du Dummkopf! spottete er.Denkst du, das ist eine Ehreneskorte?

Zum erstenmal hatte ich Zeit, mir zweidieser Eingeborenen in Ruhe anzusehen. Jelänger ich sie betrachtete, desto fremdartigererschienen sie mir.

Sie sahen aus, als hätte man sie aus lauterLederstücken zusammengeflickt. Alles anihnen war erdfarben. Die Haut war faltigund wettergegerbt. Sie trugen keine Klei-dung, aber dafür schlotterten die weitenFlughäute wie groteske Mäntel um ihre dür-ren Körper. Diese Häute setzten ungefähr inKniehöhe an und endeten kurz vor denHandgelenken. Die Arme waren von bizar-rer Länge. Die Gleitflächen wurden vonschmalen Sehnensträngen durchzogen.

Die beiden hatten offenbar nicht die Ab-sicht, mich umzubringen, solange ich nichtweiter hinausging. Ich stand regungslos inder Türöffnung, und die Eingeborenen starr-ten mich aus ihren seltsam glimmenden Au-gen abwartend an. Ihre ledrigen »Gesichter«blieben völlig ausdruckslos.

Ich war etwas irritiert durch die Tatsache,daß sie nicht ein einziges mal blinzelten, bisich feststellte, daß sie gar keine Augenliderhatten. Ihre Köpfe waren kahl und runzelig,und außer zwei verschließbaren Löchern, diewohl das Gegenstück zu einer Nase darstell-

Atlan und der Ungeborene 23

ten, und einem strichförmigen Mund ohneLippen war nichts zu erkennen, was einemGesicht im üblichen Sinne geähnelt hätte.

Diese Anstarrerei wurde mir zu dumm.Ich wollte endlich wissen, was man mit mirvorhatte.

Schließlich hatten einige der Fremdenmich vorher unter Einsatz ihres eigenen Le-bens gerettet. Man hatte meine Wunden be-handelt und mich in diese luxuriöse Hüttegebracht.

»Wie geht das eigentlich weiter!« wandteich mich erneut an die Eingeborenen, aberdie einzige Reaktion, die ich erzielte, war,daß sie die Spitzen ihrer Speere noch einStückchen näher schoben.

»Sie verstehen dich nicht«, teilte Chapatmir beunruhigt mit. »Aber ich weiß, daß siedich nicht töten wollen.«

»Das ist mir klar«, gab ich zurück – dies-mal jedoch lautlos, denn die Speerspitzenwaren nur noch etwa eine Handbreite vonmeinem Hals entfernt. »Sie hätten es vorhinleichter gehabt. Kannst du herausfinden, wa-rum man uns festhält?«

»Nein. Ich fühle, daß sie sich auf etwasfreuen, aber ich weiß nicht, worauf.«

Unschlüssig stand ich da. Eine Verständi-gung mit diesen Wesen war offensichtlichunmöglich. Einige Eingeborene, die überden freien Platz vor der Hütte eilten, unter-hielten sich schnatternd miteinander. IhreSprache war so fremdartig, daß ich keinWort davon verstand.

Wie sollte ich friedlich mit Wesen aus-kommen, mit denen ich mich nicht unterhal-ten konnte?

Da man mich freiwillig nicht fortließ,blieb nur die Flucht. Aber auch das war imAugenblick eine riskante Sache. Die beidenWachen hätte ich vielleicht durch eine Listausschalten können, aber damit war nichtviel gewonnen. Ich befand mich mitten imDorf. Überall huschten die düster wirkendenEingeborenen umher. Ganze Trauben vonihnen hingen an den Windschirmen und be-seitigten die Schäden, die der Sturm ange-richtet hatte. Auf dem Serpentinenpfad, den

ich von meinem Standort aus gut sehenkonnte, herrschte ständiges Kommen undGehen.

Ich hatte keine Chance, unbemerkt ausdem Dorf herauszukommen, geschweigedenn das Tal zu verlassen, solange noch einsolcher Betrieb herrschte.

Ganz langsam, um die Wachen nicht zuprovozieren, legte ich den Kopf in denNacken.

Der Himmel war noch immer bewölkt,aber ich hatte den Eindruck, als wäre derSturm inzwischen fast abgeflaut, von einerSonne war nichts zu sehen, und obwohl nachwie vor eine bleierne Dämmerung über die-sem Teil von Sogantvort hing, die der gan-zen Umgebung etwas Alptraumhaftes ver-lieh, war ich mir sicher, daß es bald Abendwerden mußte. Ich fragte mich, ob die Ein-geborenen auch nachts draußen herum-schwirren mochten.

Sie besaßen Beleuchtungskörper, wie dieKugel bewies, die in der Hütte am höchstenPunkt der Wölbung in die Decke eingelassenwar. Andererseits war gerade diese Lampeein neuer Faktor, der sich nicht in das allge-meine Bild dieses Dorfes einfügen wollte.Es war unwahrscheinlich, daß dieses merk-würdige Volk mit Elektrizität arbeitete.

Es gab so viele Ungereimtheiten, daß mirder Kopf zu schwirren begann. Irgend etwasstimmte nicht mit diesen Fremden!

Etwa zehn Minuten lang blieb ich in derTüröffnung stehen und betrachtete das Trei-ben der Eingeborenen. Dann gaben die bei-den Wächter mir zu verstehen, daß ich ihrerMeinung nach genug zu sehen bekommenhatte. Entmutigt ließ ich mich drinnen wie-der auf das weiche Lager fallen.

Chapat schien ebenfalls sehr bedrückt.»Wir müssen die Nacht abwarten«, ver-

suchte ich ihn zu beruhigen. »Vielleichtsieht es dann günstiger für uns aus.«

Der Embryo antwortete nicht. Als ich ihnansah, lag er ganz ruhig da. Eine eisigeHand schien nach meinem Herzen zu grei-fen, Waren die Vorräte, die ihm zur Verfü-gung standen, bereits verbraucht?

24 Marianne Sydow

Ich beugte mich tiefer hinab, und da sahich, daß sein Herz regelmäßig schlug. Erlebte also noch, aber die Unruhe in mirwuchs.

Ich mußte zu der alten Station gelangen,ehe Chapat zu schwach war, um mir die nö-tigen Hinweise zu geben. Die Technik derVarganen war immer noch fremdartig fürmich. Allein auf mich gestellt, hatte ich kei-ne Hoffnung, ein funktionierendes Lebens-erhaltungssystem zu finden und den Behäl-ter ordnungsgemäß anzuschließen.

Ich versuchte, mich mit der Hypothese zuberuhigen, daß auch ein Embryo ab und zueine Ruhepause brauchte, und daß Chapatbald wieder erwachen würde. Bis dahinwollte ich wenigstens ein paar Vorbereitun-gen getroffen haben.

Am meisten interessierte mich die ge-heimnisvolle Leuchtkugel. Wenn es mir ge-lang, sie zu löschen, konnte ich die Wachenvielleicht überrumpeln, Ich kletterte also aufdas Lager, um mir diese Lampe genauer zubetrachten.

Die Hütte war niedrig genug, daß ich dieKugel erreichen konnte. Zu meinem Erstau-nen stellte ich fest, daß sie keine Wärmeausstrahlte. Zögernd berührte ich die milch-glasartige Oberfläche. Sie fühlte sich kühlund glatt an. Ich glaubte, eine verschwom-mene, schattenhafte Bewegung in ihrem In-nern zu erkennen. Vergeblich forschte ichnach einer Energiezuleitung, Das ganze Ge-bilde war fest in den Lehm, aus dem dieHüttenwand bestand, eingefügt. Aber ir-gendwo mußte es doch einen Kontakt geben,der diese Kugel in Betrieb setzte!

Ich kletterte wieder hinunter und suchtedie Wände ab, aber es war nichts zu ent-decken, Bei dieser Gelegenheit stellte ichauch fest, daß es keinen zweiten Ausganggab. Die Wand ging fugenlos in einem sanf-ten Bogen in den Fußboden über. Die ganzeHütte wirkte, als hätte jemand aus einemLehmkloß eine perfekte Halbkugel geformt.Nirgends gab es Verstrebungen oder einenanderen Hinweis darauf, wie man diesenBau errichtet hatte. Das, was ich vorher für

einzelne Matten gehalten hatte, erwies sichals ein zusammenhängendes Gespenst, dasnur hier und da einige unregelmäßige Rissezeigte.

Auf meiner Suche nach einem Ding, daseinen Lichtschalter darstellen mochte, stießich gegen einen der blitzenden Steine, diemir auch vorher schon aufgefallen waren,Das Ding strömte eine Kälte aus, die michunwillkürlich an Eiskralle, den Chretkor, er-innerte.

Damit war geklärt, warum es in diesemRaum so angenehm kühl war, aber das Rät-sel wurde dadurch nicht geringer. Eine Kli-maanlage war in dieser Umgebung genausoverwirrend wie diese Kugel, die ohne er-kennbare Energiezufuhr kaltes Licht ver-strömte.

Ich kehrte nachdenklich zum Bett zurückund setzte mich.

Es schien sinnlos, noch weiter zu suchen.Außer dem Lager und dem schwarzen Stein-block gab es keine Einrichtung, Das Bettselbst bestand aus einem Rahmen, den mangeschickt aus Steinplatten zusammengefügthatte. Die eine Hälfte war mit Sand gefüllt,die andere mit diesen seidigen Decken, Inder ganzen Hütte gab es nichts, was sichnotfalls als Waffe verwenden ließ.

»Ich habe meine Erinnerung durch-forscht«, meldete Chapat sich überraschend.»Leider ist nicht viel dabei herausgekom-men. Auch ich kann dir keine Lösung fürdas Rätsel bieten, das diese Eingeborenenumgibt.«

Ich berichtete ihm, was ich inzwischenherausgefunden hatte, aber ehe er noch sei-nen Kommentar dazu geben konnte, erklangvon draußen ein so gräßlicher Schrei, daßich zusammenzuckte und aufsprang.

Etwas zischte heftig. Es hörte sich an, wieein überhitzter Dampfkessel. Dann kam einlautes Fauchen, das plötzlich abbrach.Gleichzeitig wurde der Schrei zu einemgrauenvollen Wimmern, das allmählich inlautes Röcheln überging. Kurz darauf hörteich triumphierendes Gebrüll, das nur vonden Eingeborenen stammen konnte. Die

Atlan und der Ungeborene 25

Tierhaut am Eingang schwankte, und ichdachte schon, ich würde Besuch erhalten,aber dann hörte ich meine beiden Wächteraufgeregt schnattern. Da sie nicht zu mirhereinsahen, nahm ich an, daß ihr Interesseden Vorgängen im Dorf galt.

Die Gelegenheit war günstig. Vielleichtgab es da draußen ein solches Durcheinan-der, daß ich fliehen konnte. Selbst wenn dasnicht der Fall war, mußte es mir gelingen,den Grund für die Aufregung der Eingebore-nen herauszufinden.

Vorsichtig hob ich den Vorhang an.Obwohl inzwischen die Nacht hereinge-

brochen war, war es auf dem Dorfplatz er-staunlich hell. Ein paar Dutzend Fackeln, dieman auf hohe Stangen gesteckt hatte, warfenihr rötliches Licht über eine Unmenge vonSogantvortlern, die sich am Rand des Plat-zes drängten. Direkt vor mir befand sich ei-ne Kette von etwa vierzig Eingeborenen.

Ich erhaschte einen kurzen Bück auf einhalbkugeliges Gebilde, das fast wie ein ferti-ges Haus der Fremden aussah. Das Dingstand genau in der Mitte des Platzes, und ichwar mir sicher, daß es sich vorhin noch nichtdort befunden hatte. Dann gewahrte ich dasAufblitzen eines Speeres, und der Ring, dendie Eingeborenen um etwas gebildet hatten,was vor der Halbkugel auf dem Boden lag,löste sich auf.

Entsetzt schnappte ich nach Luft, als ichsah, was die düsteren Körper so lange ver-borgen hatten.

Das Tier war nicht einmal besonders rie-sig, etwa zwei Meter lang und fast ebensodick, aber es wirkte ungeheuer gefährlich.Der beinahe kugelförmige Leib wurde vonDutzenden von Beinen gestützt, die das We-sen wie ein Zaun umgaben. MesserscharfeKrallen, jede fast so lang wie ein Unterarm,zerfurchten den Sand.

Der Speer steckte im vorderen Drittel desKörpers. Er schwankte leicht hin und her,aber es schien, daß das Tier tödlich getroffenwar. Sonst wäre es wohl nicht einfach anseinem Platz stehengeblieben.

Ein lautes Zischen erklang. Die Beine der

Bestie knickten in den Gelenken ein. Es ver-suchte, im Sand Halt zu finden, aber dieKrallen peitschten hilflos durch die Luft.Qualvoll langsam rollte der schwere Körperhilflos zur Seite. An seiner Unterseite wurdeeine runde, mit blitzenden Zähnen ausgestat-tete Mundöffnung sichtbar, und das, was indiesem gräßlichen Maul steckte, war unver-kennbar die untere Hälfte eines Eingebore-nen.

Er schien noch am Leben zu sein, dennseine Beine bewegten sich. Das konnte aller-dings auch auf die mahlenden Mundbewe-gungen des Ungeheuers zurückzuführensein.

Schweigend warteten die Sogantvortler,bis das Leben in der Riesenspinne erloschenwar. Dann erst wagten sich einige in die un-mittelbare Nähe der Bestie. Sie stiegen vor-sichtig über die verkrampften Beine hinwegund zogen das Opfer zwischen den immernoch schnappenden Kiefern hervor.

Der Fremde war grauenhaft zugerichtet.Einer der Umstehenden trat heran, wälzteihn herum und begann, seine Wunden zu be-handeln. Dabei erblickte ich die Fesseln, dieman um die Handgelenke des bedauernswer-ten Opfers geschlungen hatte.

Die übrigen Dorfbewohner verloren jedesInteresse an ihrem halbtoten Artgenossen.Während er verarztet wurde, strömten sie zuder Hütte, warfen neugierige Blicke hineinund stießen kehlige Laute hervor, Auch dietote Bestie wurde gebührend bewundert.Meine Bewacher tauschten in ihrem unver-ständlichen Geschnatter kurz ihre Meinungaus, dann endlich bemerkten sie, das derVorhang verschoben worden war.

Als sich die Speerspitzen ruckartig aufmich zubewegten, zog ich hastig den Kopfein.

6.

Meine Beobachtungen reichten aus, ummeine Lage neu zu beurteilen. Der Logik-sektor half mir bei der Auswertung der ge-wonnenen Fakten, und das Ergebnis war

26 Marianne Sydow

nicht dazu angetan, mich aufzumuntern.Zwar blieb vieles ungeklärt, aber das Prin-zip, nach dem die Eingeborenen lebten, schi-en mir jetzt klar zu sein.

Diese wundervollen Hütten waren nichtsanderes als die Behausungen der Bestien.Vielleicht stellten sie spezielle Bruthöhlendar. Ich hatte keine Ahnung, wie die Tieredie Leuchtkugel und die kühlenden Kristallefabrizierten, aber so langsam erschien esmir, als wäre auf den ehemals von Varganenbewohnten Planeten alles möglich.

Die neue »Hütte« hatte nur einen sehrdünnen Lehmmantel. Den würde man wohlnoch verstärken. Aber sie war bereits er-leuchtet, soviel hatte ich erkennen können.Und zweifellos war das ganze Gebilde ge-nauso phantastisch ausgekleidet, wie derRaum, im dem ich mich befand.

Das Tier, das man draußen getötet hatte,paßte gerade noch durch die Türöffnung.Wenn es sich drinnen mit seinen Füßen fest-krallte, mußte es nahezu unangreifbar sein.Selbst wenn man es mit einem vom draußengeschleuderten Speer tödlich traf, mußte esungeheuer schwierig sein, es stückweise ausseiner eigenartigen Höhle herauszuholen.Ganz abgesehen davon konnte es den Kokonim Todeskampf zerstören. Darum waren dieSogantvortler auf einen bequemeren Aus-weg verfallen.

Vermutlich waren diese Biester Fleisch-fresser. Man lockte sie also mit einem leben-den Köder aus ihrer Höhle, und wenn dasUntier seine Beute erfaßt hatte, nutzte manden Augenblick, in dem es nicht weiter aufseine Umgebung achtete.

Ich fragte mich, warum man keine Tierezu diesem Zweck verwendete. Wahrschein-lich war es einfach so, daß es in der Wüstenur wenig jagdbares Wild gab. Die Sogant-vortler setzten ihren unfreiwilligen Hauslie-feranten nichts vor, was für sie selbst eßbarwar.

Obwohl ich nicht wußte, wie es um dieMoral dieser Eingeborenen stand, nahm ichnicht an, daß sie ihre nächsten Nachbarn denBestien zum Fraß vorwarfen. Wahrscheinli-

cher war, daß sie Verbrecher auf diese Wei-se bestraften, und wenn aus dieser Richtungder Nachschub ausblieb, dienten die Ange-hörigen feindlicher Stämme demselbenZweck. Einer Jagdexpedition dieser Art warich unglücklicherweise über den Weg gelau-fen.

Mir graute es bei dem Gedanken, dem-nächst die Rolle des Lockvogels überneh-men zu müssen.

Der Eingeborene hatte das Drama lebendüberstanden, und bei den unglaublich hochentwickelten Heilmethoden der Fremdenwar es vermutlich auch zu einem zweitenEinsatz zu gebrauchen. Die Flughäute unddie ledrige Haut setzten den Zähnen der Rie-senspinne einigen Widerstand entgegen. Ge-riet dagegen mein vergleichsweise zerbrech-licher Körper in diesen mahlenden Schlund…

Du wirst einen Leckerbissen abgeben,kommentierte mein Extrasinn trocken. Nurschade, daß man dem lieben Tierchen so we-nig Zeit lassen wird, diese Delikatesse zu ge-nießen!

Wahrhaftig, das Ding in meinem Kopfhatte eine herzerfrischende Art, mich aufzu-muntern!

Gegen meinen Willen faszinierte mich dieLebensweise dieser Wüstenbewohner. DieBestien lieferten ihnen vergleichsweisekomfortable Behausungen. Um die Kokonsmit den lebenden Riesenspinnen in das Talzu bringen, setzten die Sogantvortler sichzweifellos großen Gefahren aus. Anderer-seits hatten sie wohl auch hauptsächlich we-gen der Riesenspinnen die Kunst der Wund-behandlung zu einer solchen Höhe ent-wickelt.

Allerdings erhob sich die Frage, warumdie so intensiv gejagten Bestien nicht längstausgestorben waren. Wenn es sich bei denHütten wirklich um Bruthöhlen handelte –und die ungeheure Mühe, die die Tiere sichmit dem Bau dieser Gebilde gaben, sprachdafür –, so gefährdeten die Eingeborenendoch ihre eigene Existenz! Die von den Tie-ren irgendwie in den Leuchtkugeln und

Atlan und der Ungeborene 27

Kühlkristallen gespeicherte Energie mußtesich im Lauf der Zeit verbrauchen, und dannwar die Hütte relativ wertlos.

Mein Blick wanderte automatisch zu derDeckenlampe. Wieder glaubte ich, hinter derglasähnlichen Oberfläche eine Bewegungwahrzunehmen, und plötzlich schnappte esbei mir ein.

Es hat lange genug gedauert, bis du end-lich darauf gekommen bist! lästerte der Lo-giksektor, während ich auf die Kugel starrte.

Ein Ei?Ich war mir nicht sicher, aber alle Indizien

sprachen dafür.Ein kalter Luftzug schien mich anzuwe-

hen. Natürlich, nur so kam Logik in die gan-ze Sache!

Unwillkürlich wich ich bis zur Wand zu-rück. Mißtrauisch beobachtete ich die Ku-gel, und jetzt entsann ich mich auch, daß mirvorhin, als ich zum erstenmal das Treibenim Dorf beobachtet hatte, eine Gruppe vonEingeborenen aufgefallen war, der ich nurwenig Bedeutung beigemessen hatte.

Auf einer Art Bahre hatten sie einen leb-losen Körper zu dem Serpentinenweg trans-portiert. Es war mir so vorgekommen, alshätten sie regelrechte Angst vor dem Toten.Jedenfalls hielten sie ständig Abstand undfaßten die Stangen der Bahre am äußerstenEnde an. Alle anderen Eingeborenen warenihnen im weiten Bogen ausgewichen.

Hatte es sich wirklich um einen gewöhnli-chen Leichenzug gehandelt?

Vielleicht gaukelte mir meine überreiztePhantasie Bilder vor, die grauenhafter alsdie Wirklichkeit waren, aber ich glaubtenicht an diese Möglichkeit. Im Gegenteil,ein Steinchen fügte sich zum anderen, undes entstand ein perfektes Bild des Kreislaufs,in dem das Leben der Eingeborenen und dermonströsen Spinnen sich abspielte.

Die erwachsenen Tiere wurden getötet.Ihre Brut aber mußte geschützt werden,wenn die Eingeborenen sich nicht selbstschaden wollten.

Es gab auf verschiedenen Welten eineganze Reihe von Tieren, die zu dem Zeit-

punkt abstarben, in dem ihre Jungen aus-schlüpften. Der Körper der toten Mutterdiente dann den eigenen Kindern als ersteNahrung, durch die sie überhaupt erst zumÜberleben fähig wären. Da die Bestien diesevon der Natur vorgeschriebene Rolle nichtmehr übernehmen konnten, lieferte man ih-ren Sprößlingen einen Ersatz.

Wieder starrte ich zur Lampe hinauf.War die Bewegung hinter der milchigen

Oberfläche nicht bereits heftiger geworden?Wie lange dauerte es, bis das Ding da obenausschlüpfte und sich meiner bemächtigte?Oder warf man den Jungen nur bereits getö-tete Opfer vor?

Ich hatte keine Lust, so lange zu warten,bis mir die Antwort auf diese Fragen in derPraxis demonstriert wurde. Ich mußte hierhinaus, und zwar schnell!

Die Wachen …Wieder einmal hielt mich mein Logiksek-

tor davor zurück, unüberlegt zu handeln undmich dadurch höchstens in noch größere Ge-fahr zu bringen. Natürlich war es nicht damitgetan, die beiden Sogantvortler auszuschal-ten, die sich vor dem Ausgang postiert hat-ten. Ich war ein kostbarer Gefangener, unddas ganze Dorf würde mich behüten und be-schützen, damit ich einen guten Köder ab-gab.

Jetzt wünschte ich mir Magantilliken bei-nahe herbei. Der varganische Henker würdenicht zögern, seine Waffen gegen die Einge-borenen zu richten. Kam es zwischen ihmund den Fremden zum Kampf, so ergab sichvielleicht eine Chance, zu entkommen.

Aber dann fiel mir ein, daß der Henkerdas Risiko einer blutigen Auseinanderset-zung gar nicht auf sich zu nehmen brauchte.Es reichte, wenn er sich in die verlasseneStation begab und sich vergewisserte, daßwir dort vor Ablauf einer gewissen Zeitspan-ne nicht eintrafen, Dann hatte sich sein Pro-blem von selbst erledigt, da Chapat ohne dieHilfe der Lebenserhaltungssysteme verlorenwar.

»Er wird sich damit nicht zufrieden ge-ben«, meldete sich der Embryo, der meine

28 Marianne Sydow

Gedanken verfolgt hatte. »Erstens weiß ernicht genau, welche Sicherheitsmaßnahmenmeine Mutter für mich getroffen hat. Ehe ersich nicht persönlich davon überzeugenkonnte, daß ich tot bin, wird er die Jagdnicht abbrechen. Zweitens vergißt du, daß ernoch andere Ziele verfolgt. Es geht nicht ummich, sondern um Ischtar. Nur wenn er michlebend in die Hand bekommt, kann er sie er-pressen.«

Das winzige Geschöpf dachte logisch.Seine Erklärungen hatten Hand und Fuß.

Es gab viele Unbekannte in diesem Spiel,und Magantilliken selbst war nicht wenigergefährlich als alle Bewohner dieses seltsa-men Dorfes zusammengenommen. Aber eswar offensichtlich der einzige Ausweg, dernoch blieb. Wollte ich die geringe Chancenutzen, so mußte ich allerdings einige Vor-kehrungen treffen.

*

Die Nacht verging qualvoll langsam, ob-wohl ich ausreichend beschäftigt war. Im-mer wieder trat ich an die Tür und lauschtenach draußen. Ich rechnete damit, daß Ma-gantilliken noch im Laufe der Nacht angriff.Aber der Vargane ließ sich Zeit.

Der wichtigste Punkt in meinem Flucht-plan war es, einen zweiten Ausgang aus demTal zu entdecken. Da Magantilliken vermut-lich in gerader Linie auf uns zustrebte, gelei-tet von dem eigenartigen Instinkt, der auchmeinem Sohn zur Verfügung stand, würdeer meiner Berechnung nach auf den Pfadtreffen, der mir schon einmal beinahe zumVerhängnis geworden wäre. Ich wollte nichtwarten, bis Magantilliken bereits im Dorfbeschäftigt war, sondern mich schon bei Be-ginn des Kampfes aus dem Staube machen.Aber auch wenn der Henker die Serpentinenbereits hinter sich gelassen hatte, ehe ichdort eintraf, konnte dieser Pfad sehr leicht zueiner Falle werden. Ich würde ihn nur im äu-ßersten Notfall benutzen. Ich glaubte nichtdaran, daß es nur diesen einen Aufstieg gab.

Meine beiden Wächter ließen keinen

Zweifel daran aufkommen, daß ich michvon der Tür fernzuhalten hatte. Außerdemwar mir der Teil des Tales, den ich von dortaus überblicken konnte, bereits einigerma-ßen bekannt. Fenster besaß die eigenartigeHütte nicht. Ich mußte mir also selbst eineGelegenheit verschaffen, die Umgebung ei-ner näheren Betrachtung zu unterziehen.War Magantilliken erst einmal eingetroffen,blieb mir bestimmt nur noch wenig Zeit.

»Es tut mir so leid!« bekannte Chapat be-drückt. »Hätte ich dich im Schiff nicht zurEile gedrängt, so könntest du jetzt die Waf-fen einsetzen, die du bei dir hattest!«

Er hatte natürlich recht, aber mit Selbst-vorwürfen war uns auch nicht gedient.

Verbissen untersuchte ich noch einmal je-den Quadratzentimeter der Hütte. Vielleichthätte ich eine Öffnung in der Wand schaffenkönnen, indem ich den Steinblock dagegen-warf. Aber erstens wäre ein solcher Versuchnicht ohne verräterische Geräusche abgegan-gen, und zweitens war das Ding ungeheuerschwer.

Schließlich blieb mein Blick an einem derKristalle hängen. Er hatte sehr scharfe Kan-ten. Es erschien fraglich, ob ich mich damitdurch die Lehmwand kratzen konnte, aberein Versuch konnte nicht schaden.

Ich zog einen der Schutzhandschuhe an,die am Gürtel des varganischen Rauman-zugs hingen, und berührte den eigenartigenStein vorsichtig. Wie ich es erwartet hatte,hielt die Isolierschicht die Kälte von meinenHänden fern. Es kostete einige Mühe, denStein aus dem Gespinst zu lösen. Als ich ihnendlich in der Hand hielt, bemerkte ich et-was Seltsames. Jene Spitze, die in den In-nenraum der Hütte ragte, strahlte die meisteKälte ab. Die Fläche des Steines, die ur-sprünglich der Wand zugekehrt war, fühltesich dagegen fast normal an.

Das brachte mich auf eine Idee, und ichunternahm sofort einen Versuch.

Das Gewebe war zäh und ließ sich nurschwer zerreißen, aber nach einiger Anstren-gung lag die Lehmwand vor mir. Ich drücktedie eisige Spitze des Kristalls dagegen – und

Atlan und der Ungeborene 29

prompt, veränderte die Wand ihr Aussehen.Der Lehm durchzog sich mit unzähligen fei-nen Rissen. Als ich den Kristall zur Seitelegte und mit der Hand über die »vereiste«Stelle strich, bröckelte das Zeug unter mei-nen Fingern ab.

Ich grinste triumphierend. Die Falle derEingeborenen war also doch nicht so stabilgebaut!

Der Erfolg gab mir neuen Auftrieb. Grim-mig machte ich mich an die Arbeit. Ich hattenach etwa einer halben Stunde vier Gucklö-cher in die Lehmwand gebohrt.

Draußen war es stockfinster. Nur an denStellen, an denen die Eingeborenen immernoch damit beschäftigt waren, die Auswir-kungen des Sturmes zu beseitigen, blaktenprimitive Fackeln. In ihrem unruhigen Lichtbeobachtete ich, daß das Dorf kaum bewachtwar, und ich registrierte auch, daß der Sturmsich jetzt anscheinend völlig gelegt hatte. Je-denfalls arbeiteten schon bald nur noch we-nige Eingeborene. Die anderen zogen sichnach und nach in ihre Behausungen zurück.Nur von einem anderen Zugang zum Talkes-sel sah ich noch immer nichts. Dafür ent-deckte ich, daß man den Serpentinenpfadabgesichert hatte. Ein paar Eingeborenehockten an seinem unteren Ende im Schutzeines aus Ranken geflochtenen Daches. Siehatten eine Fackel neben sich in den Sandgesteckt, und ich sah deutlich die Speere, diesie griffbereit bei sich liegen hatten.

Dennoch schien mir die Gelegenheit zurFlucht günstig. Mit Hilfe des Kristalls wares nicht schwierig, ein Loch in die Wand zubohren, durch das ich hinauskriechen konn-te. Die Wachen vor der Tür würden mit ei-nem Angriff aus dieser Richtung nicht rech-nen, und hatte ich erst ihre Speere, so würdeich irgendwie auch mit den Posten am Auf-stieg fertig werden.

Ich wollte gerade mit der Arbeit begin-nen, da fühlte ich eine ungeheure Schwächein mir aufsteigen. Ich taumelte und schafftees gerade noch, bis zu dem Bett zu kriechen,ehe ich die Gewalt über meinen Körper ver-lor.

Verzweifelt kämpfte ich gegen den mirunerklärlichen Anfall, bis endlich ChapatsStimme zu mir vordrang.

»Es ist das Mittel, mit dem man deineWunden behandelt hat«, behauptete er. »DieWirkung ist jetzt vorbei. Es ist besser, duruhst dich aus. Dein Körper braucht Schlaf!«

»Und wenn Magantilliken inzwischeneintrifft?«

»Ich werde es spüren, wenn er näherkommt«, versuchte der Ungeborene mich zuberuhigen. »Wenn es soweit ist, werde ichdich durch Gedankenimpulse wecken.Schlaf jetzt!«

Ich wehrte mich noch immer. Aber dieMüdigkeit war stärker, und schließlich gabich auf. Auch der Logiksektor war der Mei-nung, es sei besser, wenn ich mich jetztschonte.

Es konnte sein, daß der Henker uns nochbis zum nächsten Abend warten ließ, und solange hielt ich es ohne Ruhepause nicht aus.Vor allem mußte ich bedenken, daß ich nachder Flucht aus dem Tal noch einen weitenWeg durch die Wüste zurückzulegen hatte.

*

Zu behaupten, ich hätte in dieser Nachtschlecht geschlafen, wäre eine schlichte Un-tertreibung. In meinen Träumen kämpfte ichabwechselnd gegen eine Riesenspinne undden varganischen Henker, manchmal auchgegen beide gleichzeitig. Mehrere Maleschrak ich schweißbedeckt hoch, glaubteKampflärm von draußen zu hören undwankte schlaftrunken zu meinen Gucklö-chern, nur um festzustellen, daß im Dorf al-les ruhig war. Erst gegen Morgen fiel ich infesten, traumlosen Schlaf.

Schnatternde Eingeborenenstimmenweckten mich. Ich setzte mich verwirrt auf.Die Hütte war leer, aber die Stimmen derFremden waren ganz nahe, so als fände dieUnterhaltung direkt neben der Lehmwandstatt. Erschrocken sprang ich auf und sahhinaus.

Ich hätte mir die Aufregung sparen kön-

30 Marianne Sydow

nen. Meine Gucklöcher waren noch nichtentdeckt worden. Es handelte sich nur umein paar Dorfbewohner, die sich mit meinenWächtern auf ein Schwätzchen eingelassenhatten.

Es war noch sehr früh, soweit sich das beider ständigen Dämmerung beurteilen ließ.Ich fühlte mich wie zerschlagen, verzichtetejedoch darauf, mich noch einmal hinzule-gen. Nach einem knappen Konzentratfrüh-stück bezog ich erneut Posten und beobach-tete das Dorf.

Allmählich wurde es etwas heller. MeineNervosität wuchs. Zwar waren die Löcher inder Wand nur etwa daumendick, aber einemaufmerksamen Beobachter mußten sie auf-fallen. Außerdem fürchtete ich, ein Eingebo-rener könnte hereinkommen und mich beimeinen Beobachtungen überraschen. Es er-schien mir schon seltsam genug, daß mansich bisher überhaupt nicht um mich geküm-mert hatte.

Ich verfluchte die Müdigkeit, die michdaran gehindert hatte, im Schutz der Nachtzu fliehen. Inzwischen waren die Sogant-vortler wieder auf den Beinen, und unsereLage hatte sich in keiner Weise verbessert.

Chapat versicherte mir, es ginge ihm gutund er würde es noch bis zum nächsten Tagaushalten. Das beruhigte mich etwas. DerUngeborene drängte auch nicht mehr zumAusbruch, wie er es anfangs immer wiederversucht hatte.

Die Eingeborenen waren weit in derÜberzahl. Ihre körperlichen Kräfte hatte ichgestern am eigenen Leibe zu spüren bekom-men. Unbewaffnet konnte ich ihnen tagsüberkaum entwischen, solange sie nicht ander-weitig stark beschäftigt waren.

Kaum war der während der Nacht nurschwach bewölkte Himmel einigermaßenhell geworden, da tauchten auch schon diemir wohlbekannten Vorboten des Sturmesauf, der auf Sogantvort täglich zu tobenschien. Lange Sandfahnen wehten über dieRänder des Steilhangs, aber die Windschir-me, die überall wie seltsame, flache Pilze anden Wänden verteilt waren, fingen das mei-

ste auf.Die Eingeborenen waren an die Zustände

in diesem Tal offensichtlich gewöhnt. Sienahmen seelenruhig ihre Arbeiten wiederauf.

Ich konnte mir nicht vorstellen, daß siedas Tag für Tag durchhielten. Aber viel-leicht gab es auch günstigere Jahreszeiten.Für den Bau ihrer Befestigungen verwende-ten sie Holz, also mußten auch irgendwoPflanzen gedeihen. Es war mir ein Rätsel,warum sie sich nicht längst in diese freundli-cheren Gefilde zurückgezogen hatten.

Während mir diese Überlegungen durchden Kopf wanderten, suchte ich immer wie-der nach einem Ausweg aus diesem Talkes-sel. Je länger ich die steilen Hänge betrach-tete, desto merkwürdiger erschienen sie mir.Es gab Stellen, die aus glatten, wie glasiertaussehenden Felsen bestanden. Irgendwiewirkte dieser Zufluchtsort künstlich. Dieobere Begrenzung des Tales war so regelmä-ßig, als hätte man hier einen gigantischenKrater in die Wüste geschmolzen.

Aber das war nebensächlich. Auf jedenFall war es unmöglich, ohne Hilfsmittel denHang hinaufzukommen. Weder die Felsennoch die Sandflächen hätten mir einen Haltgeboten.

Ich dachte schon, es gäbe tatsächlich nurden einen Weg, da bemerkte ich auf der ent-gegengesetzten Seite zum Dorfplatz eineGruppe von Eingeborenen, die aufgeregtnach oben deuteten.

Der Henker?Ich verrenkte mir fast den Hals, aber dann

stellte ich fest, daß die Erregung der Frem-den eine andere Ursache hatte.

Oben, auf dem steinernen Rand des Tales,standen einige Sogantvortler. Sie gaben de-nen, die unten warteten, offensichtlich be-stimmte Zeichen, denn ein lautes Freudenge-heul drang zu mir herüber. In aller Eile rann-ten einige der Wesen zu einer Anlage, dieich bisher für einen Teil der Schaufelrädergehalten hatte, die den angewehten Sandwieder wegbeförderten. Es stellte sich je-doch heraus, daß es sich um eine Plattform

Atlan und der Ungeborene 31

von schätzungsweise zehn Schritt Durch-messer handelte. Als ich das mißtönigeQuietschen hörte und sah, wie diese Plattesich allmählich hob, wußte ich Bescheid.

So also transportierten sie die Kokons mitden Riesenspinnen in das Tal!

Die Seile, an denen die Plattform hing,sah ich erst jetzt. Man hatte sie oben an denFelsen verankert. Wahrscheinlich funktio-nierte die ganze Sache nach dem Prinzip ei-nes Flaschenaufzugs. Die eigentliche Appa-ratur blieb hinter den Körpern der Fremdenverborgen.

Sie hatten alle Hände voll zu tun, diePlattform zu bewegen. Ich hielt den Ateman, als ich sah, wie der schwere Kokon überden Felsrand geschoben wurde. Die Platt-form schwankte, aber die Eingeborenen hin-gen in Trauben an den Seilen, und sieschafften es tatsächlich, die schwere Last si-cher herabzuholen. Das Ganze spielte sich inetwa zweihundert Metern Entfernung ab. Bisin die Hütte hinein hörte ich deutlich einwildes Zischen – die Bestie schien zu ahnen,was ihr bevorstand.

Du ahnst es hoffentlich auch! bemerktemein Extrahirn lakonisch.

Ich schrak zusammen. Über meinen ange-strengten Beobachtungen hatte ich fast ver-gessen, welche Folgen das Jagdglück derFremden für mich haben mußte.

Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Im Augen-blick nahm der Sturm noch an Kraft zu. DieFremden hatten ihre liebe Mühe mit demAbseilen des Kokons, und überall warenSandmassen zu beseitigen, die trotz derSchutzvorkehrungen in das Tal eingedrun-gen waren. Aber sobald die Lage wieder we-niger kritisch wurde, mußte ich mich daraufgefaßt machen, daß man mich als Köder prä-parierte.

Unter diesen Umständen durfte ich nichtmehr auf Magantilliken warten. Ehe ichmich abschlachten ließ, wollte ich lieber diegefährliche Flucht riskieren.

An der Stelle, an der sich der Flaschenzugbefand, bestand die Steilwand zum größtenTeil aus glattem Fels. Die Seile verliefen

schräg nach oben, und einige waren demGestein sehr nahe. Wenn ich mich an ihnenhochhangelte, konnte ich mich zumindeststellenweise mit den Füßen abstützen.

Entschlossen begann ich, meinen Aus-bruch vorzubereiten.

Die Plattform war unterdessen am Bodenangekommen. Über ein weiteres System vonSeilen zog man den Kokon samt seinem zi-schenden und fauchenden Bewohner weiterauf das Dorf zu. Ab und zu unterbrach ichmeine Arbeit, um die weiteren Vorgängedraußen zu beobachten. Die Bestie, derenOpfer ich vermutlich werden sollte, war äu-ßerst gereizt. Immer wieder langte eines derlangen, schwarzen Beine aus der Öffnung.Klauenfüße mit stählern blinkenden Krallenschlugen nach den Arbeitern.

Aber die Eingeborenen hielten sich in si-cherer Entfernung. Sie waren an den Um-gang mit diesen Tieren gewöhnt. Die jünge-ren unter ihnen schienen sogar ihren Spaß ander sinnlosen Wut der Riesenspinne zu fin-den. Sie versuchten, ihre Geschicklichkeitzu beweisen, indem sie das Tier mit langenStangen reizten. Wäre das Biest plötzlichaus der Öffnung seines Nestes gekrochenund über sie hergefallen, so wäre ihr Über-mut wohl rasch gesunken. Aber es war wohleine Eigenart dieser Tiere, selbst bei großerGefahr in ihrer Höhle zu verharren.

Ich kannte jetzt die Dicke der Lehmwandund arbeitete deshalb schnell und zielstrebig.Auf einer Fläche, die groß genug war, ummir ein müheloses Hindurchspringen zu er-möglichen, zerbröckelte ich mit Hilfe deseiskalten Kristalls den Lehm. Ich ließ nur ei-ne dünne Kruste stehen, damit man von au-ßen nichts sah. Ein Fußtritt würde ausrei-chen, um dieses Hindernis zu beseitigen.

Angespannt beobachtete ich die Fremdenweiter. Chapats Behälter hielt ich griffbereit,um keine Sekunde Zeit zu verlieren.

Ich wollte fliehen, sobald die Eingebore-nen sich auf dem Platz versammelten. Esschien sich bei der Überwältigung der Besti-en um eine Art Volksbelustigung zu han-deln, und ich hatte vor, die allgemeine Vor-

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freude auf das Schauspiel auszunutzen.Aber dann kam alles ganz anders.Das erste Anzeichen bildeten einige Ein-

geborene, die in wilder Hast den Pfad herun-tergeeilt kamen. Erst dachte ich, es wärewieder einmal eine Lawine im Anzüge, aberdann bemerkte ich, daß sie verletzte Artge-nossen mit sich schleppten.

Kaum waren sie im Dorf angekommen,da ertönten schrille Rufe, die alle Eingebore-nen zusammeneilen ließen. Nach einigenAugenblicken spritzten sie aufgeregt wiederauseinander. Manche rannten in ihre Hüttenund liefen dann – mit Speeren bewaffnet –auf das Ende des Pfades zu. Die Kinder, diesich außer in der Größe durch nichts von denErwachsenen unterscheiden ließen, wurdenin die Hütten geschickt. Nachdem dieseVorbereitungen getroffen waren, breitetesich lähmendes Schweigen über dem Dorfaus.

Ich wechselte meinen Standort und bekameinen der Verletzten zu sehen, den man aufdem Dorf platz behandelte. Ich erkanntedeutlich die Spuren eines Strahlschusses.

Aus den Gesten der Dorfbewohner, diesich um die Verwundeten kümmerten,glaubte ich, Entsetzen herauszulesen. Daswar leicht zu begreifen. Diese Wesen kann-ten keine besseren Waffen als ihre Speere.Energiestrahlen mußten ihnen wie die ver-nichtenden Kräfte böser Dämonen erschei-nen. Für mich dagegen ließen diese Vorfällenur eine Schlußfolgerung zu: Magantillikenwar im Anmarsch.

Im nächsten Moment konnte ich feststel-len, wie nahe er bereits war.

Ein greller Blitz zuckte durch die be-drückende Dämmerung, dann fiel eine derHütten in sich zusammen. Die Gewebe imInnern fingen Feuer. Mannshohe Flammenschlugen aus den Lehmtrümmern.

Die Schreie verletzter und sterbender Ein-geborener erfüllte plötzlich das Tal. Inner-halb von Sekunden brach eine Panik aus.Die Erkenntnis, daß ihre Behausungen ihnendiesem Feind gegenüber nicht den gering-sten Schutz boten, mußte für die Sogantvort-

ler furchtbar sein.Einige versuchten, sich in die Luft zu er-

heben, aber der Sturm trieb sie wie welkeBlätter vor sich her und drückte sie wiederzum Boden zurück. Die meisten ranntenkopflos durcheinander. An Gegenwehr schi-en keiner mehr zu denken. Und dann kameiner der eben herbeitransportierten Behau-sung der Riesenspinne zu nahe.

Das Tier mußte bis aufs Blut gereizt sein.Ohnmächtig hatte es alles über sich ergehenlassen müssen. Hinzu kamen der plötzlicheLärm, das Geschrei der Verwundeten, dergrelle Energieblitz und die Flammen in derNähe. Und zu allem Überfluß rannte einerseiner Todfeinde ihm fast in die Arme.

Ich sah, wie der schwere Körper durch dieÖffnung katapultiert wurde, und schloß füreinen Augenblick unwillkürlich die Augen.

Als ich wieder hinsah, wälzte sich dieRiesenspinne wie ein Panzerfahrzeug durchdie Reihen der vor Entsetzen erstarrten Ein-geborenen.

Die scharfen Klauen schlugen zielbewußtzu. Das Tier mähte Dutzende seiner Peinigernieder, ehe diese überhaupt begriffen, wel-ches Unheil über sie hereingebrochen war.

Die Kraft und die Geschwindigkeit, diediese Bestie an den Tag legte, waren er-staunlich, Im Vergleich dazu hatte das Biest,das man gestern abend so elegant erledigte,geradezu verschlafen gewirkt.

In wilder Wut tobte es über den Platz. Diebeiden Wachen vor meiner Tür warfen sichdem Ungeheuer in den Weg, Ihre Speere flo-gen fast synchron durch die Luft. Aber diescharfen Spitzen blieben im glänzendenPanzer der Riesenspinne stecken, ohne ihrernsthaften Schaden zuzufügen.

Die Bestie warf sich herum und wandtesich den neuen Angreifern zu. Ein einzigerSchlag mit einem der riesigen Beine reichte,dann lagen zwei zerfetzte Körper im Sand.Die anderen Sogantvortler wandten sichschreiend zur Flucht.

Direkt in meiner Nähe ging eine zweiteHütte in Flammen auf. Glühende Fetzenwirbelten durch die Luft. Einer traf die Be-

Atlan und der Ungeborene 33

stie und blieb auf ihrem Rücken hängen.Halb wahnsinnig vor Wut und Schmerzenraste sie auf die Behausung zu, in der ichsteckte, eine breite Spur von Tod und Ver-nichtung hinter sich lassend.

Damit war die Entscheidung gefallen.Ich hätte Magantilliken lieber noch etwas

Zeit gelassen. Je tiefer er in das Tal kam, jeintensiver er sich mit den Flugwesen befas-sen mußte, desto leichter mußte es mir wer-den, unbemerkt zu fliehen. Aber das heran-rasende Ungeheuer zwang mich, meine Plä-ne zu ändern.

Ich trat die dünne Lehmkruste ein, diemich noch von der Freiheit trennte. Als ichmich durch die entstehende Öffnung warf,sah ich aus den Augenwinkeln heraus, wiedie Tierhaut vor dem Eingang von einer me-tallisch blitzenden Kralle zerfetzt und zurSeite geschleudert wurde.

Dann rollte ich mich im Sand ab undduckte mich in den Schatten der Hütten-wand.

7.

Erst draußen roch ich den entsetzlichenGestank. Der Qualm, der aus den brennen-den Hütten aufstieg, mischte sich mit demGeruch nach verbranntem Fleisch. Von deranderen Seite der Behausung schrillten dieSchreie der Eingeborenen herüber.

Nur eine Hütte lag zwischen mir und demfreien Gelände, das bis an die Seilwinde her-anreichte. Der Weg war frei, aber obwohlmein Instinkt mich dazu drängte, in wilderFlucht davonzustürmen, beherrschte ichmich mühsam. Ich mußte wissen, was imDorf vorging, und was Magantilliken tat.

Lautlos schob ich mich an der Wand ent-lang. Jenseits der Lehmkruste zischte undfauchte die Bestie. Der Rauch, der aus denvon mir gebohrten Luftlöchern drang, verrietmir, daß das Tier geradewegs in neueSchwierigkeiten gestolpert war. Offenbarhatte es den glimmenden Fetzen mit sich ge-schleppt, und die von seinen Artgenossengesponnenen Matten entflammten leicht.

Es gab zwei Möglichkeiten.Entweder kam die Bestie m der Hitze um,

oder sie verließ die Hütte rechtzeitig undführte ihren Kampf gegen die Eingeborenenweiter.

Ich blickte um die gekrümmte Wand derHütte auf den Platz hinaus, Niemand schiensich mehr um mich zu kümmern. Die Einge-borenen mußten annehmen, daß ich längstums Leben gekommen war – sofern sieüberhaupt noch einen Gedanken an michverschwendeten. Die meisten hatten sich in-zwischen zurückgezogen, denn sie begriffenwohl, daß sie es mit einer voll leistungsfähi-gen Riesenspinne nicht aufzunehmen ver-mochten.

Am Rande des Platzes sah ich eine Grup-pe bewaffneter Männer vorbeieilen. Sie lie-fen in Richtung auf den Pfad davon. Dortmußten sich jetzt schon eine ganze Mengevon Dorfbewohnern versammelt haben.Wenn sie sich geschickt in der Deckung derFelsen hielten, hatten sie durchaus die Chan-ce, Magantilliken beträchtliche Schwierig-keiten zu bereiten.

Den Standort des Henkers erkannte ich,als der Vargane den nächsten Schuß abgab.Er war bereits etwa auf der Hälfte des Han-ges angelangt. Die Hütte, die er diesmal traf,explodierte förmlich, und ein Regen flam-mender Fetzen ergoß sich über die Siedlung.Ein paar Eingeborene hielten sich im Be-reich des Feuerregens auf. Ihre Flughäutegerieten sofort in Brand.

Obwohl diese Wesen mir ein nicht geradeerfreuliches Schicksal zugedacht hatten, bißich die Zähne zusammen, als ich die armenKreaturen sah, die sich schreiend im Sandwälzten, während das Feuer sich rasendschnell über ihre Körper ausbreitete.

Ich verstand Magantilliken nicht. Warumentfesselte er eine solche Hölle?

Keiner der Eingeborenen wäre auf Speer-wurfweite an ihn herangekommen, solangeer den Strahler in der Hand hielt. Er hätteChapat und mich in aller Ruhe holen kön-nen, ohne daß einer der Fremden ihn anzu-gehen gewagt hätte. Statt dessen schien er es

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darauf anzulegen, dieses Dorf völlig zu ver-nichten.

Wie konnte er der Tatsache gewiß sein,daß der Embryo sich nicht in einer der ver-nichteten Hütten befand?

Oder irrten wir uns, wenn wir annahmen,daß er Chapat auch weiterhin als Druckmit-tel gegen Ischtar einzusetzen gedachte?

Ich hatte keine Zeit, mir darüber den Kopfzu zerbrechen. Die Gelegenheit zur Fluchtwürde nie wieder so günstig sein wie jetzt.Gerade als ich aufspringen und in Richtungauf die Seilwinde davoneilen wollte, wurdeich jedoch noch einmal durch das wütendeMonstrum in meinem Vorhaben gehindert.

Die Hitze innerhalb der Hütte mußte in-zwischen beträchtlich sein. Die Lehmwandfühlte sich außen bereits sehr warm an. Ichrechnete schon damit, daß die Riesenspinnein ihrem selbstgewählten Gefängnis veren-den würde, aber das Biest war widerstands-fähiger als ich dachte.

Ich zuckte zurück, als ich nur etwa zweiMeter vor mir eine der scharfen Klauen auf-blitzen sah. Der Körper folgte mit ungeheu-rer Wucht nach.

Das Ding zischte wie ein Dampfkesselkurz vor der Explosion. Seine Wut mußteunvorstellbar sein. Mit untrüglichem Instinktraste es auf eine Gruppe von Eingeborenenlos, die sich in der fragwürdigen Deckungeiner Hütte verborgen hatten und wohl aufden Tod des Ungeheuers warteten. Das Endeereilte sie nun selbst, und so tragisch das fürdie Eingeborenen sein mochte, für michbrachte es einen unschätzbaren Vorteil mitsich.

Magantilliken mußte inzwischen bemerkthaben, daß die Panik im Dorf einen Punkterreicht hatte, an dem sie kaum noch zu stei-gern war. Er gab im Augenblick keinen wei-teren Schuß ab, und die Dorfbewohner ver-gaßen beim Anblick der wütenden Spinneprompt den Gegner, der ihnen das ganze Un-glück eingebrockt hatte. Die letzten Überle-benden flohen aus der Umgebung des Dorf-platzes, und die Bestie, die sich jetzt durchalles reizen ließ, was sich bewegte, verfolgte

sie unter lautem Fauchen.Schon vorher hatte ich den Speer be-

merkt, der vor dem Eingang lag. Die Spinnemußte die Waffe abgestreift haben, als siesich durch das Loch schob. Solange dasBiest noch in der Hütte hockte, hatte ich esnicht gewagt, mir diese willkommene Beuteanzueignen.

Mit einem letzten Blick vergewisserte ichmich, daß niemand mich beobachtete, dannhechtete ich vorwärts. Als ich die Stange auserstaunlich hartem, elastischem Holz in derHand spürte, fühlte ich mich wohler. Wenig-stens war ich nun nicht mehr ganz wehrlos.

Jetzt gab es für mich keinen Grund mehr,auch nur eine Sekunde länger zuwarten.

Im Laufen befestigte ich Chapats Behältermit Hilfe des Gürtels und der Magnetver-schlüsse so vor meiner Brust, daß er auchbei der Turnerei an den Seilen nicht herab-fallen konnte. Den Speer behielt ich in derHand, Selbst wenn es so aussah, als wärendie Eingeborenen vor lauter Panik unfähig,auch nur die einfachsten Überlegungen an-zustellen, mußte ich doch damit rechnen, ei-nige von ihnen bei der Winde anzutreffen.Es war der einzige Fluchtweg aus dem Tal,nachdem Magantilliken den Serpentinenpfadversperrte.

Meine Vorsicht erwies sich als berechtigt,Ungefähr ein Dutzend der Sogantvortlerdrängten sich um die primitive Apparatur.

Einer turnte bereits an einem Seil hinauf.So geschickt diese Eingeborenen jedochsonst waren – das Klettern schien nicht ihreStärke zu sein.

Der Fremde kam nur langsam voran. So-zusagen in der Luft zu hängen und dochnicht zu fliegen, war für ihn sicherlich einungewohnter Zustand. Instinktiv entfalteteer die Flughäute, als das Seil ins Schwankengeriet, und gerade damit besiegelte er seinSchicksal.

Der Sturm, der sich heulend an den obe-ren Felsen brach, bildete entlang der Hängeunberechenbare Luftströmungen, In den ei-gentlichen Talkessel drang er nur gedämpftvor, aber in halber Höhe, wo der Fremde

Atlan und der Ungeborene 35

sich inzwischen befand, besaßen die Wirbelbereits verheerende Kräfte. Ich sah, wie sichdie Flughäute unter dem Ansturm der Luftdurchbeulten. Nur kurz vermochte der Frem-de sich noch an das Seil zu klammern, dannwurde er davongeweht.

Das alles ging so schnell, daß er nichtmehr dazu kam, seine Geschicklichkeit imFliegen einzusetzen. Wie ein Stoffetzenschleuderte die Bö ihn herum und warf ihngegen die Felsen.

Kein lebendes Wesen konnte einen sol-chen Aufprall und den nachfolgenden Sturzüberstehen. Als der Körper des Fremden miteinem dumpfen Laut in den Sand neben derWinde fiel, begriffen seine Artgenossen, daßdieser Ausweg genauso gefährlich war wiedie Vorgänge, die sich hinter ihnen im Dorfabspielten. Sie kannten Sogantvort besser alsich und hatten vermutlich schon vorher aneinem Erfolg gezweifelt. Bis auf einenwandten sie sich ab.

Eine kleine Gruppe lief ins Dorf zurück.Andere hasteten weiter zu dem nächstliegen-den Sandschaufelgerät. Was sie dort woll-ten, wußte ich nicht, denn die beiden dünnenSeile, an denen in etwa über zwei SchrittAbstand aus Holzstücken zusammengefügteEimer hingen, boten nun schon gar keinenFluchtweg.

Der letzte lief direkt auf mich zu.Er bemerkte mich erst, als es für ihn

schon zu spät war. Die überall aufflackern-den Brände und der unbeschreibliche Lärmmußten ihn restlos verwirren. Hinzu kam,daß er sich noch immer nicht an den Gedan-ken gewöhnt hatte, er könne innerhalb desTales einem Feind begegnen.

Es widerstrebte mir, einen Wehrlosen zutöten.

Aber der Kerl mußte den Verstand verlo-ren haben. Obwohl er unbewaffnet war,sprang er mich an. Dabei spreizte er die Ar-me etwas ab, um mit seinen Flughäuten sei-ne Richtung korrigieren zu können. Dadurchwurde er jedoch auch etwas langsamer, undso erhielt ich Zeit, mich auf seinen Angriffvorzubereiten.

Eines war klar: Genau wie bei dem varga-nischen Henker durfte ich mich auf einen di-rekten Kampf nicht einlassen. Auch wenndie Wunden an meiner Schulter inzwischenpraktisch verheilt waren, erinnerte ich michnoch zu gut an die Kraft, die in diesen sehni-gen, dürren Armen wohnte.

Ich wich mit einem Sprung zur Seite, inder Absicht, ihm nach der Landung denSpeer über den Kopf zu schlagen und ihn sozu betäuben, wie ich es auch mit Magantilli-ken versucht hatte.

Aber der Fremde änderte blitzschnell sei-ne Flugbahn. Seine Berechnungen waren je-doch in der Hast des Angriffes nicht gut ge-nug, um mich doch noch zu erwischen. Stattdessen raste er genau in den Speer hineinund starb auf der Stelle.

Ich riß den Speer aus dem Körper meinesGegners.

Ich rannte weiter und bemerkte, daß einanderer Eingeborener inzwischen an denSeilen entlangturnte.

Er entdeckte mich, als ich an einem ande-ren Seil hinauf hangelte, und sofort verdop-pelte er seine Bemühungen. Gelangte er ausdem Tal hinaus, wo er seine Flugkünste wie-der einsetzen konnte, so hatte ich es mit ei-nem Gegner zu tun, der mir zumindest einenneuen Aufenthalt bescherte.

Auch wenn ich gegen meine Prinzipienverstieß, niemals ein intelligentes Wesen an-zugreifen, ohne daß es mich direkt angriff,blieb mir nichts anderes übrig, als mir diesenpotentiellen Feind vom Hals zu schaffen. Esging nicht nur um mein Leben, sondern auchum das meines Sohnes.

Die beiden Seile waren nur etwa einein-halb Schritt voneinander entfernt. Die Armedes Eingeborenen waren lang genug, daß ermich packen konnte, sobald ich in seineReichweite kam. Ich hing ein paar Meter un-ter ihm, den Speer zwischen den Zähnen. Erkam langsamer voran als ich. Mir war klar,daß es zum Kampf kommen mußte, und ichwußte auch, wie ich den Fremden loswurde.Aber noch immer zögerte ich. Bis schließ-lich der Eingeborene selbst durch sein Ver-

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halten den Ausschlag gab.Er hielt im Klettern inne und streckte vor-

sichtig den linken Arm aus, bemüht, seineFlughaut nicht zu weit auszubreiten.

Ich wußte, was er vorhatte. Gelang esihm, das benachbarte Seil zu packen, sokonnte er es in Schwingungen versetzen,denn es war nicht gerade straff gespannt.Selbst wenn es mir gelang, mich trotzdem zuhalten – was ich stark bezweifelte – ver-schaffte er sich einen Vorsprung. Auch ichspürte jetzt den Sog des Sturmes. Der Frem-de hatte nur noch wenige Meter zurückzule-gen, dann konnte er sich wieder auf seineFlughäute verlassen. In diesem Fall warenmeine Chancen, nach oben zu kommen,gleich Null.

Ich klammerte mich mit einer Hand undden Beinen an das rauhe, aus zähen Pflan-zenfasern geflochtene Seil und griff mit derRechten nach dem Speer. Die Spitze warlang und besaß drei rasiermesserscharfeSchneiden. Während der Wind an meinemKörper zerrte und unten im Dorf erneut eineHütte in Flammen aufging, setzte ich die ei-ne Kante gegen das Seil. Nur wenige Schnit-te waren notwendig, dann zerriß das Ge-flecht.

Die Hand des Fremden hatte meinenschwankenden Halt fast erreicht. Als dasSeil plötzlich unter ihm schlaff wurde und erauf die Felsen zufiel, gingen seine Nervenmit ihm durch. Der Sturm fuhr unter seineausgebreiteten Flughäute, und ich hörte sei-nen schauerlichen Schrei, als er davongewir-belt wurde.

Ich klemmte den Speer wieder zwischenmeine Zähne und kletterte hastig weiter.Aber meine Flucht war offensichtlich dochnicht unbemerkt geblieben. Ich hörte dasSausen eines Speeres, der verdammt gut ge-worfen worden war. Zum Glück änderte derWind die Flugbahn etwas ab, sonst hättemein Ausbruchsversuch in diesem Momentein jähes Ende genommen.

Ich sah nach unten.Zwei Sogantvortler standen dort. Beide

starrten zu mir hinauf. Eben wollte der eine

nun ebenfalls sein Glück im Speerwerfenprobieren, da kam sein Gefährte auf einebessere Idee.

Ich sah die Schneide kurz vor dem Seilaufblinken und änderte blitzschnell meineHaltung. Als die Felswand auf mich zukam,hatte ich bereits die Beine ausgestreckt undkonnte den Aufprall einigermaßen abfangen.Bis jetzt hatte sich die Wand einige Meterentfernt befunden. Nun jedoch fanden meineFüße einen sicheren Halt.

Der Plan der beiden Eingeborenen, michan den Felsen zerschmettern zu lassen, hattesomit genau die entgegengesetzte Wirkung.Ich kam jetzt viel schneller voran, und ehesie sich von ihrer Überraschung erholt hat-ten, befand ich mich außerhalb der Reich-weite des Speeres.

Mir lief der Schweiß aus sämtlichen Po-ren, als ich endlich die Felsbarriere am Randdes Tales erreichte.

Hier oben erfaßte mich der Sturm mit vol-ler Kraft und trieb mich immer wieder vonmeinem Ziel weg. Ich mußte den Speer fal-len lassen und den Helm des Raumanzugsschließen, denn der Sand trieb mir ins Ge-sicht und ließ meine Augen so stark tränen,daß ich fast blind war. Außerdem hatte ichgenug zu tun, um nicht doch noch an denFelsen zu scheitern. Die Wirbel waren unbe-rechenbar. Im einen Augenblick zogen siemich in die Luft hinaus, im nächsten Mo-ment schon schleuderten sie mich wieder ge-gen die Wand.

Meine Hände schmerzten. Das rauhe Seilriß sie blutig, und die Sandkörner stachenwie Nadeln auf meiner Haut. Ich klammertemich fest und arbeitete mich in den kurzenSekunden, in denen ich Halt unter den Fü-ßen fand, Zentimeter um Zentimeter nachoben. Für die Vorgänge im Tal hatte ichjetzt keinen Blick mehr übrig.

Dann kam der Punkt, an dem das Tauüber den Felsen lief, und ich holte die letz-ten Reserven aus meinem geschundenenKörper, denn hier oben war die Hölle los, Ir-gendwie schaffte ich es, mich über denKamm zu ziehen, und plötzlich lag ich in ei-

Atlan und der Ungeborene 37

ner windgeschützten Mulde. Über mirkreischten die Sandkörner auf den Felsen.

Halb besinnungslos blieb ich liegen.Erst nach etwa fünf Minuten fand ich die

Kraft, um weiterzukriechen. Ich bewegtemich in einer Rinne zwischen zwei parallelzueinander stehenden Steinwällen. Ichmachte mir Sorgen um Chapat, der bei die-ser Flucht kräftig durchgerüttelt worden war.Aber der Embryo beruhigte mich schnell.

»Es geht mir gut«, behauptete er.»Allerdings wird es Zeit, daß wir uns aufden Weg machen. Meine Reserven werdenbald erschöpft sein.«

»Kannst du feststellen, was Magantillikenjetzt macht?« fragte ich.

»Leider nein«, kam die lautlose Antwort.»Aber ich fühle seinen Haß. Er ist uns ziem-lich nahe.«

»Gib mir ein Zeichen, wenn wir uns ingerader Linie zwischen dem Tal und derStation befinden«, bat ich erschöpft. »Ichmöchte so lange wie möglich im Windschat-ten bleiben, um Kräfte zu sparen.«

Der Weg schien endlos lang. Einmal kamich an einer Stelle vorüber, an der die Fels-barriere zum Tal hin eine schmale Lückeaufwies.

Unten im Dorf brannte es immer noch.Die meisten Hütten waren zerstört. Von denEingeborenen sah ich nichts mehr. DieÜberlebenden waren in panischer Angst ge-flohen. Die Riesenspinne, der ich als Köderhatte dienen sollen, lag in der Nähe des Ser-pentinenpfades regungslos am Boden. ImFeuerschein sah ich jedoch eine Gestalt imschimmernden Raumanzug, die von Hüttezu Hütte eilte.

Magantilliken!Er suchte uns noch immer zwischen den

rauchenden Trümmern des fast zerstörtenDorfes.

»Er weiß, daß ich noch lebe und in derNähe bin«, erklärte Chapat sofort. »Aber erkann mich nicht genau lokalisieren. Sobaldwir uns von dem Tal entfernen, wird er auf-merksam werden.«

Ich biß die Zähne zusammen, kroch von

der Lücke weg und legte eine kurze Pauseein. Ich durchsuchte die laschen meines An-zugs und fand unter der Notausrüstung einenkleinen Medikamentenkasten, Eine Büchseerregte meine Aufmerksamkeit.

»Wundspray!« teilte Chapat mir lakonischmit.

Hastig säuberte ich meine schmerzendenHände, so gut es ging, und sprühte sie dannmit dem Zeug ein. Dann sah ich nach denBefestigungen des Behälters und zog an-schließend die Schutzhandschuhe an. ImWeiterkriechen zerkaute ich einen Konzen-tratriegel und lutschte eine Wassertablette.

Wahrscheinlich befanden sich unter denMedikamenten auch Anregungsmittel, dieich jetzt dringend hatte brauchen können.Aber ich zögerte, eine solche Droge zu neh-men. Was in diesem Anzug steckte, war fürden Körper eines Varganen bestimmt – aufmich haften diese Mittel vielleicht eine ganzandere Wirkung ausgeübt.

Etwa zehn Minuten später kam ChapatsZeichen. Ich kroch über die Felsen hinweg,und vor mir öffnete sich erneut die Holle ausSturm und fliegendem Sand.

8.

Ich rannte um mein Leben. Nur die Ge-wißheit, daß der varganischc Henker uns imNacken saß, trieb mich weiter. Ich war so er-schöpft, daß ich mich am liebsten an Ort undStelle in den Sand geworfen hätte, um zuschlafen. Aber dem übermächtigen Drangnach Ruhe nachzugeben, wäre zweifelsohneeine andere Form von Selbstmord gewesen.

Seit Stunden folgte ich den Hinweisen,die der Embryo mir gab. Ich selbst hatte kei-ne Ahnung, wo wir uns befanden. Ich hätteniemals zum Tal, geschweige denn zu Ischt-ars Schiff zurückgefunden. Der Sturm hieltunvermindert an. Nur selten gönnte ich mireine kurze Rast. Es kostete mich jedesmalmehr Selbstüberwindung, aufzustehen undweiterzulaufen. Längst, war ich so abge-stumpft, daß ich an etwaige Gefahren garnicht mehr dachte.

38 Marianne Sydow

Und dann kam die Nacht. Zum Glück wa-ren die Sandflächen hell genug, mich wenig-stens die gröbsten Hindernisse rechtzeitigerkennen zu lassen. Aber die Dunkelheitstellte ein weiteres Problem dar. Ich hattebisher nicht feststellen können, wie lange ei-ne Nacht auf Sogantvort dauerte.

»Wie weil, ist es noch?« erkundigte ichmich bei Chapat, als ich mich für einige Mi-nuten im Windschatten eines Felsens aus-ruhte.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Em-bryo niedergeschlagen. »Ich kenne die Rich-tung, nicht aber die Entfernung.«

Das waren ja herrliche Aussichten!Magantilliken ist nicht ohne Grund auf

Sogantvort gelandet, mischte mein Extrahirnsich ein. Er hat sich von der alten Stationeinen Nutzen versprochen. Schon deshalb istanzunehmen, daß der Stützpunkt nicht allzuweit vom Schiff entfernt liegt!

Das mochte durchaus richtig sein. Derwunde Punkt war nur, daß uns die Eingebo-renen zu einem großen Umweg gezwungenhatten.

Jede Minute war kostbar. Zwar warenChapats Reserven noch nicht erschöpft, aberder Augenblick, in dem es für den Embryozu spät war, mußte unweigerlich kommen.Magantilliken hatte zwar im Tal eine MengeZeit verloren, aber wie mein Sohn mir be-richtete, hatte er unsere Spur inzwischenwiedergefunden. Also marschierte ich wei-ter.

Es war irgendwie merkwürdig. Ich war al-lein – und doch in gewisser Weise zu dritt.Chapat war bei mir. Ein Embryo, nichts wei-ter, und dennoch das einzige Wesen, das mirden Weg zu zeigen vermochte. Und danngab es noch mein Extrahirn, das sich auf in-tellektueller Basis wie ein selbständiges We-sen verhielt.

Als ich merkte, daß der Boden zu steigenbegann, warf ich einen Blick auf die Uhr,Wie lange dauerte diese Finsternis noch?

Die Steigung wurde stärker, Sand rutschteunter meinen Füßen weg. Mir wurde klar,daß wir in ein Gebiet geraten waren, in dem

es Wanderdünen gab, Hier in der Dunkelheitherumzuirren, war auf jeden Fall lebensge-fährlich. Chapat war beunruhigt, aber nach-dem er mit seinen seltsamen Sinnen ge-lauscht hatte, erklärte er sich mit einer Pauseeinverstanden. Magantilliken war uns in derletzten Zeit nicht näher gekommen. Entwe-der legte auch er eine Rast ein, oder etwashielt ihn auf.

Ich hockte mich am Fuß der Düne hin.Der Wind stand günstig – hier drohte mirkeine Gefahr. Aber die Ruhe war auch ge-fährlich. Ehe ich es merkte, war ich einge-nickt, und nur die energischen Impulse desEmbryos rüttelten mich wieder auf. Es warabsolut verrückt, aber ich begann, dem Em-bryo alles mögliche zu erzählen. Ich sprachüber alles, was mir gerade einfiel, nur umwachzubleiben. Als endlich eine leichteDämmerung den Sand erhellte, atmete icherleichtert auf. Es war zwar immer noch fastdunkel, aber ich erkannte die Dünen deut-lich.

Es waren riesige Gebilde, gar nicht malbesonders hoch, aber von ungeheurer Aus-dehnung. Nachdem ich die erste erkletterthatte, wußte ich, daß ich diese Hindernissenicht umgehen konnte. Also stolperte ichstur die unter mir weggleitenden Hänge hin-auf, ließ mich vom Wind über die Kämmetreiben und rutschte auf der anderen Seitehinunter.

Chapat drängte mich nicht mehr zur Eile.Er spürte wohl, daß ich an der Grenze mei-ner Leistungsfähigkeit angekommen war.Aber ich merkte seine ständig wachsendeFurcht und wußte, daß Magantilliken näherkam. Eigentlich wunderte es mich nur, daßer uns nicht längst eingeholt hatte. Er warbesser ausgerüstet als ich, und nachdem er inseiner rätselhaften Weise in der EisigenSphäre frische Kräfte getankt hatte, mußte ermir auch körperlich weit überlegen sein.

Einmal wäre ich bei meiner Rutschfahrtan einem Dünenhang hinunter fast einer Rie-senspinne direkt ins Maul gerast. Im letztenMoment sah ich den schwachen Lichtschim-mer direkt vor mir und warf mich in einer

Atlan und der Ungeborene 39

verzweifelten Reaktion zur Seite. Ein klau-enbewehrtes Bein zischte durch die Luft undverfehlte mich nur um etwa einen Meter.Deutlich hörte ich das wohlbekannte Zi-schen, mit dem die Bestie ihre Enttäuschungausdrückte. Hätte sie sich zu einer Verfol-gungsjagd entschlossen, so wäre ihr dieBeute sicher gewesen. Aber die Spinneblieb, wo sie war, und Sekunden später lagder Kokon bereits weit hinter mir.

Ich fand nicht einmal mehr die Kraft,mich über mein Glück zu freuen, oder michdarüber zu wundern, wie diese Tiere hierdraußen überlebten. Die Wüste war leer. Ichsah weder Pflanzen noch Tiere. Was aberbildete dann die Beute für diese Wesen?

Ich erfuhr es etwas später, als ich von ei-ner ungewöhnlich heftigen Bö gegen denHang einer anderen Düne geworfen wurde.Ein Teil des Sandes glitt herab. Nachdemich mich freigearbeitet hatte, erblickte ich zumeinem Erstaunen ein Geflecht dunkelbrau-ner Stämme, zwischen denen einige kleine,bepelzte Tiere herauskletterten.

Pflanzen, die sich in dieser Jahreszeit ein-wehen lassen, bemerkte mein Extrahirn. An-ders konnten diese riesigen Bodenerhebun-gen in einer solchen Umgebung gar nichtentstehen.

Ich akzeptierte diese Erklärung, ohne wei-ter darüber nachzudenken. Kommentarlosmachte ich mich an einer anderen Stelle anden Aufstieg.

Das Gebiet der Dünen endete so plötzlich,wie es begonnen hatte, Ich stolperte denletzten Hang hinunter und lief wie ein Robo-ter weiter.

Und dann tauchten plötzlich Dinge auf,die es in dieser Wüste nicht hätte geben dür-fen.

Steine lagen im Sand. Sie wurden zahlrei-cher, und ich suchte mir mühsam meinenWeg zwischen ihnen hindurch. Niedrige,vom Wind zerfressene Mauerreste stelltensich mir in den Weg.

»Schneller!« mahnte Chapat angsterfüllt.»Wir sind fast am Ziel, aber Magantillikenist uns jetzt ganz nahe!«

Ich verzichtete darauf, einen Blick in dieRichtung zu werfen, aus der wir gekommenwaren. Die Luft war von Staub durchsetzt,und wenn Magantilliken mich bereits hättesehen können, dann wäre ich jetzt nichtmehr fähig gewesen, nach dem Eingang zusuchen, von dem Chapat sich die Rettungversprach.

Flüchtig kam mir zu Bewußtsein, wie trü-gerisch diese Hoffnung war.

Gesetzt den Fall, wir kamen tatsächlichvor Magantilliken in der Station an – wassollte dann geschehen? In den alten Anlagenkannte sich der Henker besser aus als ich,und ich war noch dazu unbewaffnet.

Dennoch ging ich weiter, über die halb-verwehten, geborstenen Reste einer einst-mals vermutlich prächtigen Anlage, bis einGebäude in Sicht kam.

Es handelte sich um eine niedrige, stump-fe Pyramide, die nur aus Sand zu bestehenschien. Erst als ich näher kam, bemerkte ich,daß ich einen terrassenförmig angelegtenBau vor mir hatte, der vom Sturm fast zuge-weht worden war. Nur einige steinerne Kan-ten ragten noch hervor.

Auf eine davon führte Chapat mich zu.Kurz darauf stand ich am Grund einer etwafünf Meter hohen Verwehung, die die unter-ste Stufe der Pyramide zu mehr als zweiDritteln verdeckte, Nach den Aussagen desEmbryos mußte der Eingang zur Station ge-nau hinter dem Sand liegen. Entmutigtschüttelte ich den Kopf. Selbst wenn es mirgelang, mich da hindurchzugraben, ehe derHenker uns einholte, mußte der Gang ins In-nere des Gebäudes längst verschüttet sein.

»Es gibt ein Schott«, bemerkte Chapat.Ich seufzte. Dann dachte ich an Magantil-

liken und sah mir den Sandberg genauer an.Der Sand war sehr feinkörnig – hier einen

Erdrutsch auszulösen, war ein Kinderspiel.Das Risiko bestand darin, daß ich nicht auchdas Zeug in Bewegung setzen durfte, das aufder nächsten Stufe lagerte.

Mühsam kroch ich den ständig unter mirweggleitenden Hang hinauf, bis ich michlaut Chapat direkt über dem verschütteten

40 Marianne Sydow

Eingang befand. Ich wußte, daß es ein sehrgefährliches Spiel war, das ich da trieb. Eineeinzige falsche Bewegung, und die Lawinewürde ins Rollen kommen.

Unter mir bildete sich eine Rille, in dieder Sand von allen Seiten her sofort nach-strömte. Immer wieder warf ich ängstlicheBlicke zu den lockeren Massen auf dernächsthöheren Stufe, bereit, mich zurückzu-werfen, sobald die Katastrophe begann.Aber noch war es nicht soweit, und wenn esgeschah, ehe ich mich innerhalb der Stationbefand, so würde auch die schnellste Reakti-on mich nicht mehr retten.

Endlich erreichte ich die rauhe Steinwand.Vorsichtig richtete ich mich auf. Umgehendrutschte ich ein Stück tiefer, aber ich kralltedie Hände in das Mauerwerk und hielt michfest. Behutsam zog ich die Füße aus demSand, der immer stärker in Bewegung kam.

Wahrscheinlich war dieses Gebäude imLaufe der Zeit schon oft restlos begrabenworden, aber die immer wiederkehrendenStürme von Sogantvort begannen das grau-same Spiel jedesmal von neuem. Es war einglücklicher Zufall, daß wir einen Zeitpunkterwischt hatten, zu dem wenigstens ein Teilder Anlage zugänglich war.

Ich hielt den Atem an, als von oben einestaubfeine Sandfahne herunterkam. WieWasser rieselte das Zeug direkt neben mirherab. Aber unterdessen rutschte auch derHang unter mir immer tiefer, und ich hatteMühe, in der Nähe der Wand zu bleiben.Verbissen klammerte ich mich mit beidenHänden an die Steine und trat mit den Füßenauf den Sand ein. Plötzlich glitt der Bodenunter mir weg, und ich hing für einen Mo-ment nur mit den Händen an der Wand. Ichließ mich fallen, wurde nach unten gerissenund spürte, wie der Sand über mir zusam-menschlug.

Nur mühsam arbeitete ich mich heraus.Zum Glück lag die Mauer dicht vor mir.Und dann sah ich das Schott, das sich seit-lich in der Wand abzeichnete.

Aber die leichte Erschütterung, die derErdrutsch durch das alte Gemäuer geschickt

hatte, ließ nun auch das staubfeine Zeug aufden anderen Stufen reagieren. Die wasser-ähnlichen Rinnsale verstärkten sich. Ichwußte, daß mir wahrscheinlich nur noch Se-kunden blieben und warf mich nach vorne.Ein Hebel ragte aus der Wand, und ichklammerte mich daran fest. Verzweifeltsuchte ich mit der freien Hand nach demÖffnungsmechanismus. Ich fühlte die Kon-taktfläche und schlug darauf.

Im selben Augenblick gellte hinter mir einSchrei durch das Tosen des Sturmes. Chapathätte sich seine angsterfüllte Warnung spa-ren können, denn es war klar, worum esging.

Im Grunde genommen war es völliggleichgültig, ob Magantilliken eingetroffenwar oder nicht. Wenn der uralte Mechanis-mus versagte, war ich so oder so verloren.Das Schott rührte sich nicht. Wütend trom-melte ich mit der Faust gegen die Kontakt-platte, dann sah ich den Spalt, der sich übermir bildete.

Keine Zeit mehr, zu warten, bis das Dingsich endlich ganz geöffnet hatte. Ich zwangmeinen Körper zu einer letzten Anstren-gung, bekam den oberen Rand des Schottszu fassen und zog mich hoch. Als ich geradeüber die Kante glitt und mich fallen lassenwollte, zischte eine Energiewaffe. Eine glü-hende Bahn erhitzter Staubkörner bildetesich zwischen der Gestalt auf einem etwahundert Schritt entfernten Mauerrest unddem Schott.

»Vorbei«, dachte ich – und dann fiel ichzufällig doch auf die richtige Seite.

*

Ich schlug hart auf. Hinter dem Schottwar es dunkel, und das Dämmerlicht, dasdurch den schmalen Schlitz hereindrang,reichte nicht aus, um Einzelheiten in meinerUmgebung zu erhellen. Ich hatte das Gefühl,daß mein ganzer Körper nur noch aus blauenFlecken bestand, aber mein Extrahirn ließmir keine Zeit, mich dem Selbstmitleid hin-zugeben.

Atlan und der Ungeborene 41

Das Schott! meldete es sich energisch.Taumelnd kam ich hoch. Vor meinen Au-

gen tanzten feurige Punkte, aber ich igno-rierte die entsetzliche Schwäche, die nachmeinem Körper griff. Verbissen tastete ichdie Wände ab. Ich mußte das Schott schlie-ßen. Danach konnte ich ausruhen – hoffent-lich!

Ich fand die Druckplatte. Von draußendrang ein Rauschen zu mir herein, das zuohrenbetäubendem Lärm anschwoll. Ge-waltsam riß ich mich zusammen. MeineFaust traf die Platte, dann sprang ich zurück.Gleichzeitig wurde es stockfinster. Ich hörteden Sand hereinrauschen. Das alte Schottknirschte und ächzte, und die Körner pras-selten wie ein feiner Hagel auf mich herab.Aber noch ehe das Zeug mir gefährlich wer-den konnte, trat Ruhe ein.

Ich taumelte ein Stück weiter in den Ganghinein, dann gab ich den Kampf auf. Ich ließmich auf den harten Boden sinken undschloß die Augen. Irgendeine lästige Stimmewisperte durch mein Gehirn und ließ michnicht schlafen. Dabei war Schlaf das einzige,was ich mir jetzt wünschte.

Liegenbleiben, keinen Schritt mehr gehenmüssen, einfach ausruhen …

»Noch nicht!«Diesmal war die Stimme von solch zwin-

gender Kraft, daß ich fast gegen meinenWillen aufstand. Als zögen mich unsichtbareFäden, ging ich auf die Wand zu, die ich inder totalen Finsternis gar nicht sehen konnte.Mein Arm hob sich fast von allein, als gehö-re er mir gar nicht. Meine Finger fuhrenüber eine Erhöhung und drückten automa-tisch darauf. Licht flammte auf, und ichblinzelte erstaunt in die plötzliche Hellig-keit.

Etwas zwang mich, mich wieder zu set-zen. Auf einmal hielt ich den kleinen Kastenmit den Medikamenten in der Hand. Ichstarrte auf eine winzige, weiße Tablette, be-merkte, daß ich inzwischen den Helm geöff-net hatte, und würgte das Ding herunter.

Dann erst rutschte ich endgültig zu Bo-den.

Als ich wieder zu mir kam, fühlte ichmich frisch und klar. Ich erschrak, als ich er-kannte, daß ich tatsächlich geschlafen hatte.Der Henker …

»Du hast nur wenige Minuten geruht«,machte Chapat sich bemerkbar. »Wir habennicht viel Zeit verloren. Aber es ist trotzdembesser, wenn du jetzt weitergehst. Noch sindwir nicht ganz in Sicherheit.«

Jetzt, im hellen Licht einer rechteckigenDeckenlampe, erkannte ich, wie knapp wirdem Tod entronnen waren. Wir befandenuns in einer geräumigen Kammer, die fastzur Hälfte von einem Sandberg ausgefülltwar. Das Schott, das ins Innere der Stationführte, stand offen. Der Gang dahinter wardunkel.

Wie mochte es draußen aussehen? Wartatsächlich die ganze Pyramide freigelegtworden? Wenn ja, dann gab es da vorne einHindernis, das selbst den Varganen vor un-lösbare Probleme stellen mußte.

»Eben nicht«, behauptete Chapat nach-drücklich. »Gut, dieser Eingang ist blockiert.Aber dem Henker stehen viele Wege offen.«

Gab es noch andere Möglichkeiten, in dieStation einzudringen? Warum hatten wirdann den Eingang gewählt, der die meistenGefahren für uns barg?

»Ich meine das etwas anders«, antworteteChapat. »Du wirst es bald selbst sehen.Komm!«

Ich folgte seinen Anweisungen und betratden stockfinsteren Gang. Schon nach etwaeiner Minute gab der Ungeborene mir einZeichen. Ich blieb stehen, suchte die Wandzur Rechten ab und fand eine Tür. Der da-hinterliegende Raum war nur schwach be-leuchtet. Es handelte sich um ein kleines La-ger, in dem es allerlei Werkzeuge und Er-satzteile gab. Der Ungeborene machte michauf eine Handlampe aufmerksam, derenSpeicherteil an die Energiezufuhr für dieDeckenlampen angeschlossen war.

»Der obere Teil der Anlage ist restlos zer-stört«, erklärte er. »Auch auf dieser Etagegibt es nur wenige Einrichtungen, die nochfunktionieren. Erst weiter unten werden wir

42 Marianne Sydow

in Regionen kommen, die noch gut erhaltensind. Ich kann dich zwar auch im Dunkelndorthin führen, aber es ist leichter, wenn duetwas siehst.«

Zu meinem Erstaunen funktionierte dieLampe. Ich fragte mich, wie es möglich war,daß es in dieser uralten Anlage überhauptnoch Energie gab, aber ich gab es schnellauf, mir den Kopf darüber zu zerbrechen.Alles, was mit den Varganen zusammen-hing, hatte einen gewissen Schimmer vonUnwirklichkeit.

Chapat dirigierte mich durch leere, ofthalb zusammengebrochene Gänge zu einersteilen Rampe, die uns tiefer in die Stationhineinführte. Im hellen Schein meiner Lam-pe sah ich, daß das Material, aus dem dieWände bestanden, an vielen Stellen gebor-sten war. Sand und Schuttmassen füllten ei-nige Gänge fast völlig aus. Ich schwitzteBlut und Wasser, als ich mich durch dieschmalen Spalten schob.

Was für mich eine Gefahr bedeutete,mußte jedoch auch Magantilliken Hindernis-se in den Weg stellen. Falls er es doch nochschaffte, den verschütteten Eingang freizule-gen, so bedeutete das noch lange nicht, daßer auch zu uns vordrang. Dieser Teil der An-lage jedenfalls war eine einzige Todesfalle.Die geringste Erschütterung mochte reichen,um den Weg in die Tiefe oder zurück end-gültig abzuschneiden.

Chapat reagierte nicht auf diese Gedan-ken. Entweder war er zu sehr damit beschäf-tigt, den richtigen Weg zu finden, oder erwußte, daß ich mir unnötige Sorgen machte.Die Station war riesig, und die Anlage ge-nauso unübersichtlich wie das Innere vonIschtars Schiff. Es mochte Dutzende vonFluchtwegen geben.

Unwillkürlich atmete ich auf, als ich vormir einen schwachen Lichtschimmer sah.Nur ein kurzes Gangstück, dessen Bodenvon Steinen übersät war, trennte mich nochvon einer steil nach unten führenden Rampe.Vorn nächsttiefer gelegenen Stockwerkleuchtete eine Lampe herauf.

Als ich unten angelangt war, merkte ich,

daß wir den gefährlichsten Teil unseresWeges hinter uns hatten.

Die Rampe endete in einem kreisrundenRaum, von dem mehrere Gänge abzweigten.Einige waren beleuchtet, andere lagen imDunkeln. Automatisch wollte ich mich anunsere bisherige Richtung halten, aber Cha-pat machte mich auf einen Korridor zurRechten aufmerksam. Dort war die Beleuch-tung besonders hell. Am Ende erkannte ichein graues Schott, in dessen Mittelpunkt einSymbol eingraviert war, das mir bekanntvorkam.

»Was gibt es dort?« erkundigte ich mich.»Eine Aufgabe für dich«, erwiderte Cha-

pat rätselhaft. »Geh hinein!«Zögernd öffnete ich die schwere Tür. Als

ich den dahinterliegenden Saal überblickenkonnte, stockte mir der Atem.

Varganen! Dutzende von ihnen!Erst nach Sekunden überwand ich den

Schock. Es war tatsächlich dumm von mir,mich so überraschen zu lassen. Natürlichhandelte es sich nicht um lebendige Angehö-rige dieses Volkes, sondern um Schläfer. Sieruhten in den Nischen entlang der Wände.Obwohl sie schon seit undenkbaren Zeitendort liegen mochten, waren ihre Körper ein-wandfrei erhalten.

»Nicht nur das«, machte Chapat sich er-neut bemerkbar. »Diese Körper sind auch je-derzeit einsatzfähig!«

Ich wollte nicht verstehen, was er damitmeinte. Diesem Raum haftete die Stille desTodes an. Auch wenn die reglosen Körper inden Nischen durch das Wirken der Lebens-erhaltungsanlage in biologischer Hinsichtnoch immer lebten, so waren diese Varga-nen für mich doch Tote, deren Ruhe man zuachten hatte.

Vielleicht gelang es Ischtar oder Magan-tilliken sie wieder zu erwecken. Ich wußte,daß ein solcher Vorgang sich auch nach sehrlanger Zeit noch einleiten ließ. Aber instink-tiv bezweifelte ich, daß jemand einen so un-endlichen Schlaf hinter sich bringen konnte,ohne daß dabei sein Verstand litt.

»Darauf kommt es nicht an!« konterte

Atlan und der Ungeborene 43

Chapat erbarmungslos. »Magantilliken wirdden fehlenden Geist mühelos ersetzen. Dumußt diese Körper vernichten, sonst war al-les umsonst. Sobald der Henker feststellt,daß er auf normalem Wege nicht zu uns ge-langen kann, wird er einen der Schläferübernehmen. Was glaubst du wohl, wie erzu seinem jetzigen Körper gekommen ist?«

»Ich kann diese Wesen nicht töten!«fauchte ich ihn an. Die mit Ornamenten inleuchtenden Farben bedeckten Wände war-fen meine Stimme als dumpfes Echo zurück.»Sie sind hilflos. Vielleicht gibt es noch eineRettung für sie.«

»Sie sind in deinem Sinne schon sehr lan-ge tot«, kam die etwas unwillige Antwortdes Ungeborenen. »Es wird ohnehin nichtmehr lange dauern, bis die Energie ver-braucht ist. Sobald die Lebenserhaltungsan-lage sich abschaltet, werden diese Körperzerfallen.«

Ich versuchte, seine Argumente zu igno-rieren. Auch wenn er aus rein logischerSicht recht hatte, brachte ich es nicht fertig,mich an diesen wehrlosen Schläfern zu ver-greifen. Außerdem – wie hätte ich diesehilflosen Wesen überhaupt vernichten sol-len? Mit meinen bloßen Händen?

Dieser Raum war sehr groß. Es mochtenan die hundert Varganen sein, die hier ihreletzte Zuflucht gefunden hatten.

Sie sahen wirklich aus, als schliefen sienur für kurze Zeit. Viele lächelten, alsträumten sie von einer herrlichen Vergan-genheit. Es war für mich unvorstellbar, daßich etwas gegen sie unternehmen sollte. Al-lein meine Anwesenheit schien ihre Ruhe zustören. Ich fühlte mich wie ein Grabschän-der.

Aber noch während ich mich gegen daswehrte, was der Embryo plante, setzte ichmich wie unter Zwang in Bewegung. Ichschritt auf ein Schaltpult zu, und genau wievorhin, als Chapat mich dazu gebracht hatte,ein Aufputschmittel aus Ischtars Vorrat zuschlucken, entwickelten meine Hände eineArt Eigenleben. Ich begriff, was ich tat, aberich konnte es nicht verhindern. Die Befehle,

die mein Gehirn erteilte, schienen meineMuskeln gar nicht zu erreichen.

Meine Finger glitten über Schalter undTasten, deren Funktion mir unbekannt war.Ich nahm Veränderungen vor, sah das hekti-sche Blinken von Kontrollampen, bewegteendlich einen letzten Hebel, und dann erlo-schen die kleinen, bunten Lichter.

Noch immer stand ich unter dem unheim-lichen Einfluß, den der Embryo auf michausübte. Wie eine Marionette drehte ichmich und schritt auf eine der Nischen zu.Als ich davor stand, hätte ich am liebstenaufgeschrien, aber eine eisige Klammer inmeinem Gehirn hielt mich fest und zwangmich dazu, das grausige Schauspiel zu ver-folgen.

Natürlich war es nicht wirklich Ischtar,die ich vor mir hatte, aber die Varganin inder Nische sah der Goldenen Göttin gerade-zu verblüffend ähnlich. Nur allmählich ent-deckte ich einige kleine Unterschiede.

Sie war jünger als Chapats Mutter. Aufihrem Gesicht lag ein leichtes, friedlichesLächeln. Sie hatte die rechte Hand auf ihreBrust gelegt. Zwischen den schlanken Fin-gern hatte sich eine dünne Haarsträhne ver-fangen, die golden aufblitzte, als das Lichtaus meiner Lampe darauffiel.

Ich blickte wieder auf das Gesicht. DieAugen waren geschlossen, aber es schiennur eines Zauberwortes zu bedürfen, um dieVarganin zu wecken.

Und gerade, als ich das dachte, begannendie Veränderungen.

Runzeln bildeten sich auf der glatten Hautder Stirn und der Wangen. Die Augenhöhlenwurden tiefer. Mit einem kaum hörbaren Ra-scheln fiel das rotblonde Haar zur Seite, DieLippen schrumpften ein und gaben denBlick auf die sich verfärbenden Zähne frei.Die Hand auf der Brust der Schläferin schi-en zu zucken, aber als ich genauer hinsah,bemerkte ich, daß die scheinbare Bewegungnur dadurch entstand, daß auch der übrigeKörper mit ungeheurer Geschwindigkeitverfiel.

Der von Chapat ausgehende Zwang war

44 Marianne Sydow

bereits bei Beginn des schrecklichen Vor-gangs erloschen. Er war vollauf damit zu-frieden, sein Ziel erreicht zu haben. Ich da-gegen wurde durch mein Entsetzen noch im-mer an diesen Ort gebannt. Ich vermochte esnicht, mich von diesem grauenhaften Zerr-bild der Goldenen Göttin loszureißen.

Erst als mir nur noch ein von dünner Hautumspannter Totenschädel entgegengrinste,fuhr ich mit einem Schrei herum und stürztein wilder Flucht dem Ausgang dieser Grab-kammer entgegen. Im Vorbeilaufen sah ich,daß auch die anderen Schläfer sich rapideveränderten. Was vorher wie eine Versamm-lung friedlich ruhender Varganen gewirkthatte, sah jetzt eher wie eine makabre Aus-stellung von Mumien aus.

Bleib stehen, du Narr!Der schmerzhaft intensive Impuls meines

Extrahirns brachte mich zur Vernunft. Ichwischte mir den Schweiß von der Stirn undging langsamer. Ohne mich noch ein einzi-gesmal nach den Nischen umzusehen, ver-ließ ich das Mausoleum.

Chapat schwieg. Ich selbst verspürte auchkeine Lust, mich jetzt mit ihm zu unterhal-ten. Er hatte mich gegen meinen Willen ge-zwungen, die Schläfer zu vernichten, undmeine eigene Tat stieß mich ab, auch wennich keine Verantwortung für das Geschehe-ne trug. Chapat einen Vorwurf zu machen,wäre jedoch ebenfalls verfehlt gewesen. Erfolgte seinem Selbsterhaltungstrieb, undmein Logiksektor klärte mich Punkt fürPunkt darüber auf, daß es auch in meinemInteresse lag, Magantilliken an der weiterenVerfolgung zu hindern. Außerdem, so setztedas Extrahirn mir auseinander, war meineextrem gefühlsmäßige Reaktion hauptsach-lich auf das Medikament zurückzuführen,das in meinen Adern kreiste.

Das war alles schön und gut, aber dasBild der zum Skelett zerfallenden Varganinverfolgte mich trotzdem noch lange Zeit.

Unsere Probleme waren noch längst nichtgelöst. Ein ängstlicher Hinweis Chapatsüberzeugte mich davon, daß wir uns beeilenmußten. Seine Vorräte waren fast erschöpft.

Gelang es mir nicht, schnellstens eine funk-tionierende Anlage zu finden, an die ich denBehälter anschließen konnte, so war der Er-folg dieser Rettungsaktion tatsächlich inFrage gestellt.

Mein erster Gedanke galt dem Mausole-um. Auch wenn sich alles in mir dagegensträubte, noch einmal in diesen Raum zu-rückzukehren, so hätte ich es um meinesSohnes willen schließlich doch getan.

»Sinnlos«, kommentierte Chapat.Täuschte ich mich, oder waren seine Im-

pulse wirklich schon schwächer geworden?»Diese Anlage ist abgeschaltet. Um sie

wieder in Gang zu setzen, brauchen wirmehr Energie, als uns zur Verfügung steht.«

Ich eilte durch die uralten Korridore. DerUngeborene gab mir nur noch selten Hin-weise. Er schien sich verausgabt zu haben,als er mich zum Abschalten des riesigen Sy-stems gezwungen hatte. Um mich herumwar die fremdartige Technik eines Volkes,von dem ich noch immer fast nichts wußte.Es gab unzählige Geräte, die ich nicht kann-te. Ohne die Hinweise des Embryos war ichhier unten so hilflos wie ein Kind in derZentrale eines Großraumschiffs. Wenn erselbst mir nicht sagen konnte, wo ich seinenBehälter anschließen sollte, würde ich denrettenden Ort niemals finden. Dann warChapat nach all den Strapazen doch nochverloren.

Und du mit ihm! stellte der Logiksektorsarkastisch fest. Wie willst du ohne Hilfe je-mals hier herausfinden?

»Halt den Mund!« knurrte ich unwillkür-lich, obwohl ich wußte, daß das Extrahirnsich durch solche Bemerkungen nicht beein-drucken ließ.

9.

Ich hatte meinen Sohn unterschätzt. Ob-wohl er mir jetzt, um Kräfte zu sparen, keinedirekten Hinweise mehr gab, wirkte er dochauf mein Unterbewußtsein ein und lenktemeine Schritte genau in die Richtung, in derer sich Erfolg versprach.

Atlan und der Ungeborene 45

Wir eilten durch düstere Etagen, in denenes nichts mehr zu geben schien, das die lan-ge Zeit unbeschadet überstanden hatte. Mehrals einmal wollte ich umkehren, um wiederin den relativ gut erhaltenen Teil der Stationzu gelangen, aber ein unbestimmbares Ge-fühl trieb mich voran.

Ich hatte früher schon ähnliche Situatio-nen erlebt. Rein verstandesmäßig hat manunzählige Argumente dafür, daß ein gesuch-ter Gegenstand sich an einem bestimmtenPlatz gar nicht befinden kann. Aber es gibtimmer Informationen, die nicht zum Be-wußtsein aufsteigen, sondern sozusagen un-terwegs steckenbleiben. Folgt man solchen»Ahnungen«, dann ist man oft besser dran,als wenn man sich einzig und allein auf dieLogik verläßt.

So war es auch hier.Über Rampen, die bröckelnden Abhängen

glichen, drang ich tiefer in die unterirdi-schen Anlagen ein. Zielstrebig durcheilte ichdie nach einem mir unbekannten Schema an-gelegten Verbindungsgänge. Ab und zuzweifelte ich daran, daß meine Suche einenSinn erfüllte, und Chapat antwortete auf kei-ne meiner Fragen. Bis ich endlich erkannte,daß ich praktisch schon am Ziel war.

Am Ende einer Rampe lag ein Raum, derdem vor dem Mausoleum bis auf Kleinigkei-ten glich. Es gab sogar funktionierendeDeckenlampen. Sie spendeten weniger Lichtals die, die es oben gab, aber ich erkanntedeutlich die Tür, hinter der der Saal mit denLebenserhaltungsanlagen liegen mußte.

Als ich den Raum betrat, stöhnte ich vorEnttäuschung auf. Chapat mußte sich letztenEndes doch geirrt haben.

Nur wenige Leuchtkörper brannten. IhrLicht enthüllte ein wahres Chaos. Ein Teilder Wand hatte der Belastung nicht standge-halten und war zusammengebrochen. Bergevon Schutt türmten sich rechts neben mirauf. Links gab es noch einige der mir bereitsbekannten Nischen, aber diesmal lagen kei-ne Schläfer darin. Staub und Schmutz be-deckten die Lager. An einer Stelle sah ichblanke Knochen hell aufleuchten, und ich

wandte mich hastig ab. Allmählich warenmeine Nerven ziemlich überanstrengt.

»Was nun?« fragte ich den Embryo, in derHoffnung, doch noch einen Hinweis zu er-halten. Aber Chapat meldete sich nicht.

Ein furchtbarer Verdacht keimte in mirauf, und hastig zog ich den Behälter hervor.Ich richtete den Lichtstrahl der Lampe aufden durchsichtigen Deckel.

Der Ungeborene lebte noch. Sein Herzschlug deutlich erkennbar, aber noch immerwartete ich vergebens auf den telepathischenKontakt. Qualvoll langsam bewegte daswinzige Wesen einen der Miniaturarme undstreckte ihn mir wie anklagend entgegen. Esdauerte Sekunden, ehe ich begriff, was Cha-pat meinte.

Hinter mir befand sich eine der Nischen.Sie war leer, bis auf einige kleine Steine, dieauf einer dicken Staubschicht lagen. In derWand konnte ich Schaltelemente und An-schlüsse erkennen, wie ich sie auch in Ischt-ars Schiff schon gesehen hatte.

Unschlüssig trat ich näher.Bei all der Zerstörung hielt ich es für un-

möglich, daß diese Anlage noch in Betriebwar. Aber Chapat wurde immer unruhiger.Und endlich, als hätte er seine letzten Kräftezusammengerafft, stand eine deutliche Gra-fik vor meinem inneren Auge. Ich wußte,wie und wo ich den Behälter anzubringenhatte. Ob es für Chapat die Rettung war,blieb unklar.

Aber was hätte ich tun sollen? Der Em-bryo war offensichtlich am Ende. Entwederlieferte dieses System das, was er so drin-gend brauchte, oder …

Ich riß mich zusammen und verbannte diedüsteren Gedanken in den letzten Winkelmeines Gehirns. Statt dessen konzentrierteich mich auf meine Arbeit.

Das Aufputschmittel aus dem Medika-mentenkasten ließ allmählich in seiner Wir-kung nach. Die Müdigkeit machte mir zuschaffen. Meine Finger begannen unkontrol-liert zu zittern, als ich Chapats Behälter indie richtige Position rückte.

Unwillkürlich griff ich in die Tasche des

46 Marianne Sydow

Anzugs, in der ich das Mittel wußte, dasauch diesmal meine Kräfte mobilisierenwürde. Aber Chapat schien immer noch übereinige Reserven zu verfügen.

»Nein!« wisperte die Stimme in meinemGehirn.

Ich wartete auf eine Erklärung, aber eskam nichts mehr. Dafür meldete sich der Lo-giksektor.

Das Mittel ist zu stark für dich. Noch einesolche Dosis würde deinen Zusammenbruchherbeiführen, vielleicht sogar tödlich wir-ken. Reiß dich zusammen. Du schaffst esnoch!

Die Zeit schien stillzustehen.Ich tastete wie ein Betrunkener nach He-

beln und Schaltern, ließ irgendwelche Ver-schlüsse einrasten und hatte dabei das Ge-fühl, in einer dicken Watteschicht zu liegenund eher einen Traum als die Wirklichkeitzu erleben.

Als dicht vor mir ein kleines, violettesLicht aufflammte, sank ich neben dem Be-hälter zu Boden. Den Aufprall spürte ichschon nicht mehr.

*

»Guten Morgen!« begrüßte mich einewispernde Stimme.

Ich schlug die Augen auf. Direkt über mirbrannte eine violette Kontrollampe. Staubdrang mir in die Nase, und ich nieste heftig.

»Ich bin sehr froh, daß du endlich wachbist«, bemerkte Chapat, und ruckartig kehrtedie Erinnerung zurück.

Ich richtete mich hastig auf und sah denBehälter an. Das kleine Geschöpf hinter derGlasplatte bewegte sich unruhig. Ich erblick-te die Leitungen, die den Kasten mit derWand verbanden, und atmete erleichtert auf.

Wir hatten es also doch noch geschafft.»Ja«, bestätigte Chapat. »Es war knapp.«»Wie lange habe ich geschlafen?« fragte

ich, dann fiel mir ein, daß der Embryo mirdarüber kaum Auskunft geben konnte. EinBlick auf die Uhr an meinem Handgelenkließ mich zusammenschrecken. Fast zehn

Stunden waren vergangen, seit ich diesenRaum betreten hatte. Kein Wunder, daß mirsämtliche Knochen weh taten.

»Es ist kein weiches Lager«, gab Chapatzu. »Aber diese Pause war dringend notwen-dig.«

Ich verzog das Gesicht, wischte mir denStaub aus den Augen und richtete mich vor-sichtig auf. Meine Muskeln protestiertenzwar, aber das würde vergehen. Wir hatteneinen Ort erreicht, an dem ich mich ausru-hen durfte, und das allein zählte. MochteMagantilliken da oben im Sturm herumsu-chen, solange er wollte. Wenn ich nur einenTag lang Rast machen durfte, würde ich esdem Varganen schon zeigen! Vielleicht fandich irgendwo eine brauchbare Waffe. ZumGlück verfügte ich noch über einen ausrei-chenden Vorrat an Konzentraten. Ich würdejetzt erst einmal in aller Ruhe frühstückenund mir dann die Umgebung der Halle anse-hen.

»Genau das wirst du tun«, stimmte Cha-pat zu. »Allerdings mit einem anderen Ziel,als du jetzt denkst.«

»Was soll das nun wieder bedeuten?«fragte ich ärgerlich. Ich war immer noch et-was benommen, und der bloße Gedanke,schon wieder Pflichten vorgesetzt zu be-kommen, machte mich ungeduldig.

»Wir müssen Hilfe herbeirufen!« erklärteChapat seelenruhig.

»Gute Idee!« knurrte ich. »Was darf esdenn sein? Rauchzeichen? Oder vielleichtlieber eine große Flagge?«

Chapat seufzte gedanklich.»Es gibt Funkgeräte«, bemerkte er.»Ja, natürlich. In Ischtars Schiff zum Bei-

spiel. Magantilliken wird uns sicher mitVergnügen hinführen!«

Halt den Mund und iß etwas! befahl meinExtrahirn, ehe die Antwort des Embryosmich erreichte. Du bist im Augenblick zu lo-gischem Denken nicht fähig!

Der Verweis machte mich wütend, aberschon im selben Moment wurde mir klar,daß ich mich wirklich unmöglich verhielt.Dieses Varganenmedikament hinterließ bei

Atlan und der Ungeborene 47

mir offensichtlich sehr seltsame Nachwir-kungen.

Ich befolgte den Rat. Mein Hunger warmaßlos. Die Flucht und das aufreibendeUmherirren in diesen Anlagen hatten michvöllig ausgelaugt. Trotz des langen Schlafesfühlte ich mich noch immer wie zerschla-gen.

Ich erinnerte mich an das, was Fartuloonmir beigebracht hatte, legte mich flach aufden Rücken und zwang mich, ruhig undkonzentriert zu atmen. Nur langsam wichdie Verkrampfung aus meinem Körper. Undallmählich lösten sich auch meine Gedankenvon der unmittelbaren Vergangenheit undschlugen neue Wege ein.

Vorsichtig richtete ich mich nach einigenMinuten auf. Ich fühlte mich noch etwasschwindelig und war mir klar darüber, daßich noch längst, nicht wieder fit war.

Die varganische Droge hatte die natürli-chen Grenzen meines Körpers aus meinemBewußtsein gelöscht. Ohne dieses Zeug hät-te ich mich niemals so voll verausgabt. Ichhatte tatsächlich das Letzte aus mir heraus-geholt, und nun dauerte es seine Zeit, bis dieReserven sich wieder auffüllten.

Erst jetzt war ich bereit, über ChapatsWorte nachzudenken.

Wir saßen hier unten fest. Der Zugang zurStation war verschüttet. Aber es gab be-stimmt noch weitere Eingänge, die demHenker natürlich bekannt sein mußten. Diemeisten konnten kaum besser begehbar seinals das Schott, durch das wir gekommen wa-ren. Andere mochten längst zerstört sein.

Was also würde der Vargane unterneh-men?

Er hatte zwei Möglichkeiten zur Auswahl.Entweder wartete er ab, bis wir von selbstwieder an die Oberfläche kamen. Oder erlegte einen der Eingänge frei und suchte uns.Wahrscheinlich würde er beide Möglichkei-ten kombinieren. Während er uns auf demam besten erhaltenen Weg verfolgte, konnteer die anderen in Frage kommenden Stellenmit Fallen spicken, in denen wir uns fangenmußten.

Wieder fiel Fartuloon mir ein. Der Bauch-aufschneider hatte mir einmal einen langenVortrag darüber gehalten, was man zu tunhat, wenn man in einer Falle sitzt. Es ist insolchen Lagen unsinnig, tatenlos auf Hilfevon draußen zu warten, hatte er behauptet.Die meisten Fallen sind so beschaffen, daßsie den Schlüssel zur Freiheit bereits enthal-ten. Das Problem besteht einzig und alleindarin, ihn auch zu finden. Auf unseren Fallübertragen, hieß das nichts anderes, als daßChapat recht hatte.

Meine Reaktion von vorhin tat mir leid.Sie war unvernünftig gewesen.

»Bist du sicher, daß es hier irgendwo einFunkgerät gibt?« erkundigte ich mich.

Das Durcheinander in dieser Halle warwenig ermutigend. Aber das System, an dasich den Behälter angeschlossen hatte, funk-tionierte reibungslos. Damit war bewiesen,daß die Zerstörung längst nicht so groß war,wie es dem ersten Anschein nach aussah.

»Ich kenne das Schema, nach dem dieVarganen ihre Stationen anlegten«, erklärteChapat. »Daher weiß ich, daß es in jedermehrere Notrufstellen gibt. Es sind autarkeGeräte, die von der allgemeinen Energiever-sorgung unabhängig sind. Selbstverständlichweiß ich nicht, ob sich ein betriebsbereitesGerät in unserer unmittelbaren Nähe befin-det. Viele mögen im Laufe der Zeit entwe-der ausgefallen sein, oder sie wurden unterden Steinen begraben. Aber ich kann dich zuden betreffenden Stellen führen, an denendie Dinger stehen. Eines von ihnen muß inOrdnung sein. Magantilliken wäre niemalshierhergeflogen, wenn diese Station völligunbrauchbar wäre.«

Mein strapaziertes Gehirn war momentannicht in der Lage, die Logik in Chapats Aus-führungen voll zu würdigen. Ich wußte nureines: selbst wenn es mir gelang, einen derSender in Betrieb zu setzen, waren wir damitnoch längst nicht gerettet.

Auch Chapat vermochte mir keine Aus-kunft darüber zu geben, wie weit Sogantvortvon Kraumon entfernt war. Ich zweifeltenicht daran, daß Fartuloon und die anderen

48 Marianne Sydow

Himmel und Hölle in Bewegung setzten, ummich wiederzufinden. Aber die Reichweitedes Notsenders mußte begrenzt sein. Auf ei-nem Varganenschiff gab es sicher die Mög-lichkeit, einen solchen Notruf an jedem be-liebigen Punkt der Galaxis zu empfangen.Nur – Ischtars Schiff befand sich ebenfallsauf Sogantvort. Der Goldenen Göttin stan-den somit nur noch die technischen Einrich-tungen unseres Geheimstützpunkts zur Ver-fügung.

»Meine Mutter wird den Ruf empfan-gen!« behauptete Chapat, der meine Gedan-kengänge verfolgte. »Und sie wird uns hierherausholen!«

»Vielleicht«, murmelte ich deprimiert.»Aber ohne ihr Raumschiff und die Dinge,die sich darin befinden, wird auch sie mitMagantilliken kaum fertig werden!«

Chapat antwortete nicht.Seufzend stand ich auf. Auch wenn es

tausend Argumente und Einwände gab, eswar sinnlos, lange darüber zu diskutieren.Schlug der Versuch fehl, oder traf Ischtar zuspät ein, dann waren wir ohnehin verloren.Meine Vorräte reichten nur noch für ein paarTage. In der Station gab es sicher keinenNachschub für mich.

Nur kurz dachte ich an die Lebenserhal-tungsanlage, aber ich vorwarf diese Idee so-fort.

Selbst wenn es mir gelang, eine der Ni-schen so herzurichten, daß sie auch mir einÜberleben garantierte, war ich im konser-vierten Zustand völlig wehrlos jedem An-griff ausgesetzt.

Die grenzenlose Erschöpfung, in die dasvarganische Medikament mich getriebenhatte, rief eine tiefe Mutlosigkeit in mir her-vor. Es schien alles so sinnlos zu sein.Schön, ich hatte einiges geschafft, hatte demHenker ein Schnippchen geschlagen – undwar dadurch nur noch tiefer in die Falle hin-eingerannt. Die Rache an Orbanaschol undseinen Spießgesellen, der Kampf um meinErbe als Kristallprinz des Großen Imperiums– das schien so weit entfernt, daß ich michkaum noch daran erinnerte.

Nichts existierte – außer der verfallenenStation und dem unerbittlichen Henker.

Armer Atlan! spottete mein Extrahirn.Nimm dir einen Strick und häng dich auf.Dann sind alle Probleme gelöst, und mirbleibt dein Selbstmitleiderspart!

Ich zuckte zusammen.»Verdammtes Teufelszeug!« murrte ich

vor mich hin.»Zeig mir den Weg«, wandte ich mich

dann entschlossen an den Embryo.

10.

Ich kam mir merkwürdig nackt vor, seitich den Behälter nicht bei mir trug. AberChapat hatte darauf bestanden, daß ich ihnzurückließ und mich alleine auf die Suchebegab. Mir war nicht wohl dabei, aber esblieb mir nichts anderes übrig. Die Vorrätein der separaten Anlage des Behälters warennoch immer nicht voll ergänzt. Im übrigensah ich auch bald selbst ein, daß es besserwar, wenn ich nicht, mehr auf das zerbrech-liche Gerät achtgeben mußte. Ich kam ohneChapat schneller und leichter voran, zumaler auch weiterhin in telepathischer Verbin-dung mit mir stand. Er leitete mich zielstre-big durch die halbzerfallenen Korridore.

Ich untersuchte zuerst die Etage, auf derwir uns befanden. Einige Gänge waren sehrgut erhalten. Überall brannten Leuchtplatten,und einmal kam ich an einem Gitter vorüber,aus dem frische Luft strömte. Also war so-gar noch ein Teil der Klimaanlage in Be-trieb. Es reizte mich, die Türen zu öffnen,die ich in den Wänden bemerkte, aber Cha-pat kam mir zuvor.

»Dafür hast du später noch Zeit«, behaup-tete seine geisterhaft wispernde Gedanken-stimme. »Ich weiß, daß Magantilliken fie-berhaft nach einem Eingang sucht. Jede Se-kunde, die wir gewinnen, kann kostbarsein.«

Das war richtig. Der Notruf ging vor.Chapat schien überhaupt immer recht zu ha-ben. Die Vorstellungen, die ich mir von ei-nem gerade entstehenden Baby machte,

Atlan und der Ungeborene 49

stimmten keineswegs mit dem Verhaltendieses Wesens überein, das noch dazu meinSohn war.

Natürlich war das eine der Fragen, die ermir nicht beantwortete.

Schon nach ziemlich kurzer Zeit gelangteich in die Region, in der sich das Funkgerätbefinden sollte. Hier sah es schon wenigererfreulich aus. Ein Teil der Leuchtplattenwar ausgefallen, und im ungewissen Däm-merlicht bemerkte ich breite Risse in denWänden und Decken der Gänge. Ich hattenoch nie unter Platzangst gelitten, aber jetztwurde mir doch etwas merkwürdig zumute.

Vorsichtig schlich ich weiter. Einmalspürte ich, wie ein sanftes Vibrieren durchdas alte Gemäuer ging. Ich blieb stehen undhielt den Atem an. Nur wenige Meter vonmir entfernt erlosch eine Lampe, und gleichdarauf hörte ich lautes Klirren.

Hoffentlich wandte Magantilliken keineallzu rabiaten Mittel an, um sich den Zugangzu erzwingen. Sonst löste er am Ende Zer-störungen aus, die diesen Teil der Anlage ineinen Trümmerhaufen verwandelten.

»Er will mich lebend!« erinnerte Chapatmich an die Behauptung, die er auch früherschon aufgestellt hatte.

Ich schnitt eine Grimasse und stieg vor-sichtig über die Reste der zerbrochenenDeckenlampe hinweg. Meinen Scheinwerferwollte ich erst dann einsetzen, wenn mir kei-ne andere Lichtquelle mehr zur Verfügungstand. Einmal mußte die Batterie erschöpftsein, und der Gedanke, im Finstern durchdiese Gänge zu irren, war nicht gerade er-mutigend.

Wenig später gelangte ich in einen lang-gestreckten, niedrigen Raum, in dem es ver-schiedene Geräte gab. Da Chapat der Mei-nung war, ich hätte mein Zielgebiet erreicht,begann ich, ihm die technischen Einrichtun-gen zu schildern. Einige wiesen deutlicheSpuren von Zerstörung auf, was ein wenigrätselhaft war, denn der Raum an sich war inOrdnung.

Schon beim vierten Schaltpult schickteChapat mir einen triumphierenden Impuls.

»Das ist es!«Ich betrachtete das unscheinbare Ding ge-

nauer, und da erst sah ich das faustgroßeLoch, das in seiner Seitenwand klaffte. LoseDrähte hingen daraus hervor. Der Lichtkegelmeiner Lampe enthüllte mir eine Vielzahlvon Schaltelementen. Ich leuchtete die Kon-trollfläche ab – mehrere Hebel waren abge-brochen.

»Das war es!« kommentierte ich grimmig.»Das sieht nach Sabotage aus.«

Da der Embryo darauf bestand, nahm icheinige Kontrollschaltungen vor, aber das Ge-rät war tot.

Widerstrebend befolgte ich Chapats An-weisung, mich in die nächsttiefere Etage zubegeben. Ich hätte lieber weiter oben ge-sucht. Zwar erinnerte ich mich daran, daßwir auf unserer Flucht durch völlig verwahr-loste Regionen der Station gerannt waren,aber zumindest in der Nähe des Mausoleumsmußte es noch um einiges besser aussehen.Der Embryo überging meinen Protest, undda ich zugeben mußte, daß er besser orien-tiert war als ich, schlug ich mich bis zurnächsten Rampe durch.

Unten herrschte totale Finsternis. Ichschaltete meine Lampe an und mustertemein neues Betätigungsfeld mißtrauisch.Die Gänge waren leer und tot. Hier gab eskeinen Funken Energie mehr.

»Das hat nichts zu sagen«, stellte Chapatungerührt fest. »Geh weiter!«

Gänge, Verteilerhallen, Maschinenräume,die still und verlassen vor mir lagen, dannneue Gänge – ich wußte, daß ich alleinekaum wieder herausgefunden hätte. Meinegrößte Sorge war die Lampe. Ohne sie fandich das Gerät auf keinen Fall.

Einmal hörte ich es aus einem der Seiten-gänge tropfen, und unwillkürlich blieb ichstehen. Das Geräusch alleine genügte, ummich durstig zu machen. Die Wassertablet-ten waren nur ein unvollkommener Ersatzfür ein echtes Getränk. Vielleicht gab es hierunten tatsächlich noch Rohre, die Wasserführten. Eines davon mochte gebrochensein. Die Versuchung, nach dem kostbaren

50 Marianne Sydow

Naß zu fahnden, war riesig.»Später!« mahnte Chapat schon wieder.Endlich stand ich in einem ähnlichen

Raum, wie es ihn auch oben gab. Ich ließden Lichtkegel über die Geräte wandern – esgab keine Spuren von Zerstörung. Nur dieAnordnung war anders, und da für mich die-se Schaltpulte alle gleich aussahen, fing dasmühsame Geschäft von vorne an.

Das erste, was ich Chapat beschrieb, ent-puppte sich als zuständig für die Inbetrieb-nahme von Reinigungsmaschinen. Ich muß-te lachen, als ich mir vorstellte, wie vollau-tomatische Staubsauger durch diese Trümm-erstation schnurrten. Die Heiterkeit vergingmir, als mein Extrahirn mich darauf auf-merksam machte, daß ich mich wieder ein-mal ziemlich irrational benahm. Die lästigenNachwirkungen des Aufputschmittels hiel-ten also noch immer an. Vielleicht waren sieauch für den brennenden Durst verantwort-lich, den ich verspürte.

Nur mit Mühe konzentrierte ich mich wie-der auf meine Arbeit, und endlich kam daserlösende Signal.

Ich konnte es kaum glauben.Noch weißt du nicht, ob es auch funktio-

niert! brachte der Logiksektor mich schnellwieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Ernüchtert lauschte ich Chapats Erklärun-gen. Wieder betätigte ich die Kontrollschal-tungen, und diesmal fand der Embryo diekaum wahrnehmbaren Reaktionen zufrie-denstellend Der Rest war überraschend ein-fach. Ein einziger Hebel mußte betätigt wer-den. Alles andere passierte laut Chapat auto-matisch.

Ich fragte erst gar nicht danach, wie dasGerät überhaupt arbeitete, und woran Ischtarerkennen sollte, daß wir es waren, die da umHilfe riefen. Ich sah nichts, was mit einemunserer Funkgeräte etwas gemein hatte.Aber ich konnte mir vorstellen, daß ChapatsAuskunft alles andere als erschöpfend aus-fallen mußte.

Ich wandte mich zufrieden ab, um zu mei-nem Sohn zurückzukehren – und da ging dieLampe aus.

Ich saß im Dunkeln in den unbekanntenGewölben einer uralten Station, auf die Im-pulse Chapats angewiesen, der als einzigesWesen imstande war, mich wieder an denAusgangsort dieses Unternehmens zurück-zuführen.

Nach etwa einer Stunde hörte ich auf, dieBeulen zu zählen, die ich mir an den Wän-den holte. Erst als ich wieder an die Stellekam, an der man deutlich das Wasser trop-fen hörte, wurde ich wieder munter. Das Ge-räusch zog mich fast magisch an. Ich über-legte hin und her. Von hier aus war es nichtmehr weit bis zu der Rampe, die mich in be-leuchtete Regionen führte. Wenn es hier un-ten noch Wasser gab, mußte oben erst rechtwelches zu finden sein.

Aber das Durstgefühl war stärker als dieVernunft.

Ich tastete mich an den Wänden entlang.Um die Spuren der Feuchtigkeit zu finden,hatte ich meine Handschuhe abgelegt.

Chapat konnte mir keinen Rat geben. Erkannte das Gewirr von Gängen, aber wo sichhier ein geborstenes Wasserrohr befindensollte, entzog sich seiner Kenntnis.

Ich zuckte zurück, als ich in eine weiche,schwammige Masse hineinlangte, die sichgenau zwischen mir und dem Klatschen derauf Stein treffenden Tropfen befand. Unsi-cher wartete ich ab, aber nichts rührte sich.Die absolute Finsternis machte mich nervös.Ich sah buchstäblich nicht die Hand vor Au-gen, und ich fühlte mich hilflos und ver-wundbar.

Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Ichglaubte, ein schmatzendes Saugen zu hören,so, als schiebe sich ein Schleimwesen überden Stein. Aber je angestrengter ich die Oh-ren aufsperrte, desto lauter rauschte das Blutin meinem Kopf. Ich überlegte, ob ich einerTäuschung zum Opfer gefallen war. Viel-leicht hatte sich gar nichts bewegt. Es moch-te sich bei der seltsamen Masse um irgendei-nen Fäulnispilz handeln, der sich am Wasserfestgesetzt hatte.

Endlich überwand ich meinen Ekel undstreckte die Hand wieder aus. Meine Finger

Atlan und der Ungeborene 51

trafen auf kahlen Fels. Das schleimige Dingwar verschwunden.

Mein Instinkt warnte mich davor, nochweiter nach dem Wasser zu suchen, das soverheißungsvolle Geräusche zu mir herübersandte. Unschlüssig blieb ich stehen. Ichkonnte mir nicht vorstellen, daß es hier un-ten noch Leben gab, aber das Gegenteil wur-de mir drastisch bewiesen, als ein dünnerFaden über mein Gesicht tastete.

Ich wich einen Schritt zurück, stolperteüber einen Stein und fiel zu Boden. Hintermir hörte ich etwas klatschen, dann folgteein leises Zischen, als würde die Luft lang-sam aus einem beschädigten Ballon entwei-chen. Meine Nackenhaare sträubten sich,und ich zog vorsichtig die Füße an.

Wieder tastete einer dieser Fäden nachmir, und diesmal hörte ich ganz deutlich dasleise Schleifen, mit dein sich ein unbekann-tes Etwas den Gang entlangbewegte.

Mir fielen die Riesenspinnen ein und dieVersuchung, aufzuspringen und zu fliehen,wuchs. Nur die Erkenntnis, daß ich mir aufdiese Weise sehr schnell den Schädel einren-nen würde, zwang mich, an Ort und Stellezu bleiben.

Etwas Schleimiges wischt über mein Ge-sicht, und ich ärgerte mich darüber, daß ichden Helm nicht geschlossen hatte. Ich hobdie Hand, um das Ding wegzuwischen, daerreichte mich eine Warnung von Chapat.

»Bleib ganz still sitzen!« flüsterte dieStimme in meinem Kopf. »Keine Bewe-gung, hörst du?«

»Was ist das für ein Tier?« fragte ich laut-los.

»Ich weiß es nicht. Vielleicht stammt esvon der Oberfläche und mutierte. Aber ichspüre schwache Impulse, die mir verraten,daß es nicht angriffslustig ist. Du scheinstnur eine Art Hindernis darzustellen, das die-sem Wesen unbekannt ist. Es scheint neu-gierig zu sein. Wenn es dich untersucht hat,kriecht es vermutlich weiter.«

»Und wenn es nun bei seiner Untersu-chung feststellt, daß ich eßbar bin?« wandteich ein.

»Ich werde dich rechtzeitig warnen!«»Zu freundlich!« dachte ich sarkastisch,

aber ich hatte keine andere Wahl, als Cha-pats Ratschlag zu befolgen.

Es dauerte eine Ewigkeit. Dünne Fädenglitten über mein Gesicht und meine Händeund hinterließen klebrigfeuchte Spuren, vondenen ein schier unerträglicher Juckreiz aus-ging. Da der Embryo aber immer noch be-hauptete, weder Hunger noch Angriffslust indem unbekannten Geschöpf zu spüren, rißich mich zusammen.

Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit tat-sächlich verstrichen war, ehe sich die Tenta-kel zögernd zurückzogen. WiderwärtigesSchmatzen ertönte, dann plumpste vor miretwas auf den Boden. Kurz darauf veränder-te sich die Geräuschkulisse. Die Wassertrop-fen, um derentwillen ich diesen Gang betre-ten hatte, fielen nicht mehr auf harten Stein,sondern auf eine weiche Unterlage.

»Es trinkt!« bemerkte Chapat mit messer-scharfer Logik. »Ich denke, jetzt kannst dues wagen.«

Ich erhob mich zentimeterweise und wichlangsam zurück. Der Durst war mir inzwi-schen vergangen. Ich hatte nur noch denWunsch, diesen Ort schleunigst zu verlas-sen.

Ich war so auf das trinkende Schleimwe-sen konzentriert, daß ich das Zischen vonvorhin völlig vergaß. Erst als ich auf einerschleimigen Unterlage ausrutschte, kam ichauf die Idee, daß ich es möglicherweise mitzwei von diesen Kreaturen zu tun hatte.

Chapats Warnruf gellte in meinem Ge-hirn. Ich versuchte mich hochzuschnellen,aber etwas hielt mich an den Fußknöchelnfest. Um mich herum zischte es empört, undich ahnte, daß ich in ein regelrechtes Nestdieser Wesen hineingetappt war.

Ich schlug wild mit den Armen um mich,traf auf einen Wulst von schleimigen Fädenund erwischte endlich den Stein, über denich zuvor gestolpert war. Ich faßte ihn wieeinen Faustkeil und schlug auf die weicheMasse ein, auf der ich hilflos zappelte. Aberdas seltsame Körpermaterial des fremden

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Tieres gab wie Gummi nach. Neue Tentakelschlugen nach mir und schlangen sich ummeine Arme. Rechts neben mir war das Zi-schen noch lauter geworden, und in derHoffnung, wenigstens einen dieser unheim-lichen Gegner unschädlich zu machen,schleuderte ich den Stein in diese Richtung.

Ich verfehlte mein Ziel, wie ich an demlauten Krachen hören konnte, mit dem derStein auf die Mauer traf. Aber gerade dasführte unerwarteterweise meine Befreiungherbei.

Vielleicht hatten die Wesen bereitsschlechte Erfahrungen mit niederprasseln-den Steinen gemacht, oder sie reagierteneinfach nur auf das ungewohnt laute Ge-räusch, während gleichzeitig der Druck vonmeinen Armen und Beinen wich. Ich begriff,daß das Wesen sämtliche Protuberanzen ein-gezogen hatte, um sich mit Höchstgeschwin-digkeit von dem Gefahrenort zu entfernen.Ich wurde dabei einfach mitgeschleift. Ichwarf mich nach vorne und kullerte kopfüberauf den Steinboden.

Was auch immer diese Wesen darstellten,sie würden schnell feststellen, daß ihnen kei-ne Gefahr drohte, und dann zu ihrer Wasser-stelle zurückkehren. Ich tastete mich sorasch wie möglich vom Ort des Geschehensweg, während hinter mir das aufgeregte Zi-schen allmählich verklang.

In höchster Eile kehrte ich in den Haupt-gang zurück, und von da an vermied ich je-den Aufenthalt. Keine zehn Pferde würdenmich in diese Region zurückbringen, solan-ge ich nicht wenigstens über eine Lampeund eine Waffe verfügte, das schwor ichmir!

Wenig später tauchte ein kleiner Licht-fleck vor mir auf, und ich rannte fast daraufzu. Erst als ich in einem beleuchteten Gangstand, in dem weit und breit kein Schleim-wesen zu erblicken war, widmete ich michder Tätigkeit, nach der es mich seit meinerBegegnung mit den Bewohnern dieser Un-terwelt am meisten verlangte.

Ich schälte mich aus dem Anzug undkratzte mich mit wahrer Wonne mindestens

zehn Minuten lang.Zum Glück erwiesen sich die klebrigen

Sekrete der schleimigen Geschöpfe als rechtungefährlich. Wo die Tentakel mich berührthatten, bildeten sich rote Flecken auf derHaut, die jedoch bald wieder verschwanden.Dennoch mußte etwas von dem Zeug vonder Haut aufgenommen und in die Blutbahngeleitet worden sein. Jedenfalls juckte esmich tatsächlich überall.

Eine harmlose, allergische Reaktion be-hauptete der Logiksektor. Vergiß es. Es ver-geht bald wieder.

Das Ding hatte leicht reden. Schmerzensind eine Sache, Juckreiz eine andere. Nochlange Zeit kämpfte ich immer wieder gegendas Verlangen an, eine wahre Kratzorgie zuveranstalten.

Noch einmal mußte ich ein Gebiet durch-queren, in dem die Leuchtplatten außer Be-trieb waren, aber diesmal war ich gewarnt.Alle paar Schritte blieb ich stehen undlauschte. Aber ich hörte weder ein Zischen,noch ein Schmatzen, das mir die Anwesen-heit von Schleimwesen verkündet hätte. Ent-weder gab es sie nur in den untersten Eta-gen, oder sie versammelten sich an den we-nigen Orten, an denen sie Wasser fanden.

Der Embryo ließ mir Zeit. Er schien vol-lauf damit zufrieden zu sein, daß der Notrufhinausging. Selbst die Tatsache, daß es inder Station Leben gab, interessierte ihn nichtweiter.

»Ich bin sicher, daß es sich um harmloseGeschöpfe handelt«, teilte er mir mit. »Sonstwärst du nicht so leicht entkommen.«

Ich schwieg und versuchte, an etwas an-deres zu denken, um den lästigen Juckreizloszuwerden. Kurze Zeit später stand ich inder alten Halle vor Chapats Behälter.

»Magantilliken sucht uns noch immer«,teilte der Embryo mir übergangslos mit.

»Das kann ich mir denken«, erwiderte ich.»Wie lange wird es deiner Meinung nochdauern, bis wir Hilfe erhalten?«

»Ich weiß es nicht.«Ich war todmüde, aber die Aussicht, wie-

der auf dem harten Boden zu schlafen, lock-

Atlan und der Ungeborene 53

te mich nicht besonders. Ich entsann michder guterhaltenen Korridore in der Nähe derLebenserhaltungsanlage.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich mireinen etwas gemütlicheren Platz suche?«wollte ich wissen.

»Keineswegs«, kam die lautlose Antwort.»Meine Vorräte sind ergänzt. Ich kommewieder ein paar Tage lang damit aus. Es be-steht kein Grund, weshalb wir in dieser halb-zerfallenen Halle bleiben sollten!«

Ich durchsuchte die Räumlichkeiten undfand heraus, daß es sich um Mannschaftska-binen gehandelt zu haben schien. In einigenZimmern gab es sogar noch Überreste derMöblierung. Das Wertvollste jedoch ent-deckte ich, als ich ohne große Hoffnung einaus der Wand ragendes Ding betätigte, daseine gewisse Ähnlichkeit mit einem Wasser-hahn aufwies.

Die Flüssigkeit, die daraus hervorrann,war nicht unbedingt mit Quellwasser zu ver-gleichen. Immerhin erwies sie sich als trink-bar. Das gab den Ausschlag. Ich schleppteetwas von dem Gerumpel aus den angren-zenden Kabinen in diesen Raum, bereitetemir ein primitives Lager und stellte ChapatsBehälter daneben. Ich genoß die Wohltat,still dazuliegen, bis es mich wieder zujucken begann. Wahrend ich mich gedan-

kenverloren kratzte, kreisten meine Gedan-ken um Magantilliken.

Gab es für mich wirklich keine andereMöglichkeit, als tatenlos auf Hilfe zu war-ten?

Ich nahm mir vor, nach Waffen zu su-chen, sobald ich etwas geschlafen hatte. Esmußte mir einfach gelingen, den Weg in dieFreiheit zu erzwingen. Auch ein vargani-scher Henker war nicht völlig unverletzbar.Es gab noch andere Eingänge, hatte Chapatbehauptet …

»Eingänge ja«, mischte mein Sohn sich inmeine Gedanken. »Dem Henker stehen dietechnischen Mittel des Raumschiffs zur Ver-fügung. Er kann sich damit durch Sand undStein bohren. Wir haben diese Möglichkeitnicht. Wir können nur warten.«

Ich schwieg. Was hätte ich auch noch sa-gen können?

Es gab keinen Weg nach oben. Wir muß-ten warten, bis uns jemand herausholte. Werwürde zuerst kommen? Ischtar – oder Ma-gantilliken …

ENDE

E N D E

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