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Inhalt Vorwort des Herausgebers ............................... VII Rickerts Philosophiebegriff. Von Rainer A. Bast .............. XI Zur vorliegenden Edition .............................. XXXI 1. Vom Begriff der Philosophie (1910) ..................... 3 2. Lebenswerte und Kulturwerte (1911) ................... 37 3. Vom System der Werte (1913) ......................... 73 4. Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare (1924) 107 5. Das Leben der Wissenschaft und die griechische Philosophie (1924) ................................ 153 6. Vom Anfang der Philosophie (1925) ................... 189 7. Geschichte und System der Philosophie (1932) .......... 231 8. Thesen zum System der Philosophie (1932) ............ 319 9. Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung (1933) 325 10. Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus (Systematische Selbstdarstellung) (1934) ............... 347 Anmerkungen des Herausgebers ......................... 413 Lebensdaten Heinrich Rickerts .......................... 437 Bibliographie der publizierten Schriften Heinrich Rickerts ..... 439 Personenregister ...................................... 457 Sach- und Begriffsregister ............................... 459

Bast Einleitung Rickert Aufsaetze

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Rainer A. Bast, Einleitung zu Heinrich Rickert, Aufsätze

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Page 1: Bast Einleitung Rickert Aufsaetze

Inhalt

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIIRickerts Philosophiebegriff. Von Rainer A. Bast . . . . . . . . . . . . . . XIZur vorliegenden Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI

1. Vom Begriff der Philosophie (1910) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Lebenswerte und Kulturwerte (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373. Vom System der Werte (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734. Die Methode der Philosophie und das Unmittelbare (1924) 1075. Das Leben der Wissenschaft und die griechische

Philosophie (1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1536. Vom Anfang der Philosophie (1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1897. Geschichte und System der Philosophie (1932) . . . . . . . . . . 2318. Thesen zum System der Philosophie (1932) . . . . . . . . . . . . 3199. Wissenschaftliche Philosophie und Weltanschauung (1933) 325

10. Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizismus(Systematische Selbstdarstellung) (1934) . . . . . . . . . . . . . . . 347

Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Lebensdaten Heinrich Rickerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Bibliographie der publizierten Schriften Heinrich Rickerts . . . . . 439

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457Sach- und Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

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H.-G. Gadamer in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. von L. J. Pon-1

gratz, Bd. 3, Hamburg 1977, S. 60.E. W. Orth und H. Holzhey in: Neukantianismus, hrsg. von Orth/Holzhey,2

Würzburg 1994, S. 5.Ueberweg: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Teil 4, Berlin 1923,3 12

bes. S. 417.

Vorwort des Herausgebers

Heinrich Rickert (1863-1936) gehört zu den einflußreichsten und um-strittensten deutschen Philosophen vor dem Dritten Reich, – und heutezu den am meisten vergessenen. Vom Kanon philosophischer Rezep-tion und Tradierung ist er mittlerweile weitgehend ausgeschlossen: Inphilosophischen Lexika, Handbüchern und Übersichtswerken ist er sogut wie nicht mehr vertreten. Als Vertreter des ‚Neukantianismus‘ teilter in besonderem Maß dessen Rezeptions-Schicksal. Der Neukantianis-mus hatte in seinem Zenit vor dem Ersten Weltkrieg eine „echte, wennauch umstrittene Weltgeltung“, rückte dann aber in jene fragwürdig1

prominente Rolle, die Gegenposition für jedweden philosophischenStandpunkt abzugeben, der nur irgend die ‚akademische Kathederphilo-sophie‘ ablehnt. Gegen die Kritiker der gemeinhin als ‚Neukantianer‘geltenden Denker ist jedoch festzuhalten: Von deren Problembewußt-sein, ihrer Kraft zu systematischer und dennoch die Geschichte nichtausblendender Arbeit sowie ihrem Reflexionsniveau und ihrem Kampfum philosophische Grundpositionen ist viel zu lernen. Unabdingbar istihre Kenntnis in der Tat „für das Verständnis unserer eigenen Epocheund ihrer möglichen Entwicklungen – sowohl, was das Selbstverständ-nis der Philosophie als auch das der Gesamtkultur betrifft.“ Das gilt2

auch dann, wenn man nicht, wie T. K. Oesterreich 1922, fast die Hälfteder Philosophie des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts unter den Titeldes ‚Neukantianismus bzw. Kritizismus‘ mit sieben Richtungen subsu-miert, sondern mit W. Flach und H. Holzhey für eine enge Verwen-3

dung des Titels ‚Neukantianismus‘ eintritt. Auch dann ist sie noch einevielgestaltige philosophische Bewegung (die man nicht eigentlich ‚Schu-le‘ nennen kann), die bis in die 30er Jahre von Einfluß war.

In den letzten Jahren ist dem Neukantianismus zu Recht eine starkeAufmerksamkeit zuteil geworden, aber freilich nur einer ihrer beidenHauptfraktionen, den ‚Marburgern‘ (wie man vor allem an HermannCohen und Ernst Cassirer sehen kann), während der zweiten Haupt-

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VIII Rainer A. Bast

Glockner in: Rickert: Unmittelbarkeit und Sinndeutung, 1939, S. XI.4

Vor allem in: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896-5

1902, 1929; Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899, 6./7. Aufl. 1926.5

Vor allem in: Der Gegenstand der Erkenntnis, 1891, 1928.6 6

Troeltsch: Ges. Schriften, Bd. 2, Tübingen 1922, S. 717.7 2

In: Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen, hrsg. von S. Steinberg,8

Leipzig 1925, S. 30. Peter Wust meint 1920 (Die Auferstehung der Metaphysik,Münster 1963, S. 169), mit Rickerts ‚Grenzen‘ sei „die Philosophie in eine ganzneue Epoche eingetreten“.

Th. W. Adorno: Briefe und Briefwechsel, Bd. 1: Th. W. Adorno, W. Benja-9

min: Briefwechsel 1928-1940, hrsg. von H. Lonitz, Frankfurt/Main 1994, S. 434.Heidegger: Gesamtausgabe, Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt/Main 1978, S.10

61, 190f. (jeweils im „Vorwort“).

fraktion, der ‚südwestdeutschen‘, der Rickert und sein Lehrer WilhelmWindelband zugerechnet werden, solches Interesse bisher versagt blieb.Der vorliegende Band soll dazu beitragen, diesem Interesse ein Stückder notwendigen Basis zu geben und der Mangellage entgegenzuwir-ken. Neben seinen teils umfangreichen Monographien kommt geradeRickerts Aufsätzen eine besondere Rolle zu: Als ‚erste Fassungen‘ derjeweiligen Problembehandlung sind sie nach dem Urteil des Rickert-Schülers Hermann Glockner „wenigstens für solche Leser, die seineMethode kennenlernen wollen, lehrreicher […] als die großen Bücher“.4

Rickert hatte hauptsächlich mit seiner für die logische Wissenschafts-lehre bedeutenden Begriffstheorie, seiner Erkenntnistheorie und sei-5 6

ner (in verschiedenen Werken entwickelten) Werttheorie breiteste ‚Wir-kung‘ (in positivem wie negativem Sinn), auch in Japan, Rußland undItalien, subkutan und auch bei Nichtphilosophen. Ernst Troeltsch z.B.schrieb 1904, Rickerts Logik der historischen Wissenschaften sei „eineErlösung und Befreiung“, Georg von Below sprach von einer „gewal-7

tigen Klärung unserer Anschauungen“ und dem „Glücksgefühl, befreitzu werden von der Bedrohung durch Voruteile“. ‚Schüler‘ hatte Rik-8

kert viele. Am bekanntesten wurden aber meist die, welche sich späterdavon distanzierten. Walter Benjamin z.B. nannte sich ironisch einen„Schüler von Rickert“. Und für Heidegger, der in seiner Dissertation9

„Rickert in dankbarer Gesinnung Schuldner bleiben“ will, weil er ihm„Sehen und Verstehen der modernen logischen Probleme“ verdanke,und der in seiner Rickert „in dankbarster Verehrung“ gewidmeten Ha-bilitationsschrift in der Wertphilosophie den „fruchtbaren Boden“ füreine problemorientierte „Vorwärtsbewegung“ der Philosophie sah,10

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Vorwort IX

Adorno: Ges. Schriften, Bd. 20/1, Frankfurt/Main 1986, S. 245.11

Z.B. Jaspers: Philosophische Autobiographie, München u.a. 1984, S. 35-40.12 2

war Rickert später der paradigmatische Unphilosoph und einer seinerLieblingsgegner, den er in seinen Vorlesungen oft und heftig attackier-te. In seiner Dissertation kritisiert Ernst Bloch schon 1908 in RickertsErkenntnistheorie „Schwankungen zwischen der positivistischen undapriorischen Methode“ sowie einen „peinlichen Zirkel“; seine Metho-dologie liege in „dürftiger Ruhe“, und die von Rickert behauptete Irra-tionalität des Wirklichen führe auch bei ihm nicht zu einer „neuenMetaphysik“. Adorno dagegen attestiert Rickert 1940 zwar Naivität,aber auch „eine intellektuelle Anstrengung, wie sie die versierte akade-mische Generation, die Rickert verachtet, kaum mehr aufbringt.“11

Rickert ist ein Systemdenker mit teils klassifikationistischer Tendenz,aber auch enger Problemorientiertheit, ein schwieriger, scharfsinnigerPhilosoph mit ebenso analytischer wie synthetischer Kraft. Das zeitigtzwei Rezeptionsfolgen: Rickert polarisiert bis heute; und: Er entziehtsich gängigen Einordnungen. Rickert kam früh in den zweifelhaftenGenuß, Gegner aus unterschiedlichsten Lagern anzuziehen. Vor allemsein Buch von 1920 über ‚Die Philosophie des Lebens‘, das eine ‚Dar-stellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit‘geben wollte, verschaffte ihm mit seinen teils erstaunlichen Charakteri-sierungen der Kollegen und den bissigen Bemerkungen reiche Gegner-schaft; seine breite Polemik trübte bei vielen Zeitgenossen den Blick fürdas von ihm positiv Angestrebte. Und es ist eine bemerkenswerte Fü-gung, daß gerade Karl Jaspers in Heidelberg seit 1921 neben Rickertden zweiten Lehrstuhl für Philosophie innehatte: Die Verkörperungvon tatsächlich polaren Philosophien, echte Antipoden, verbunden ein-zig im Schicksal einer lebensprägenden Krankheit und der gemeinsamenBerufung auf den 1920 gestorbenen Max Weber, in dem Jaspers einenPhilosophen sah, Rickert aber durchaus nicht. Beide sprachen sich je-doch gegenseitig ab, echte Philosophen zu sein: Rickert bekämpfte Jas-pers’ Denken als romantischen Dilettantismus, Jaspers sah in RickertsWerk eine vom Leben abgekoppelte bloße „Professorenphilosophie“;12

es war eine herzliche Feindschaft.Die Vorwürfe und Einwände, denen sich Rickert schon zu Lebzeiten

gegenübersah, sind ebenso unterschiedlich – teils gar sich widerspre-chend – wie seine Gegner und ihre Klassifikationen des RickertschenŒuvres. Aber bei näherer – und das heißt ja: sachlicher – Betrachtung

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X Rainer A. Bast

Rickert: System der Philosophie, Bd. 1, 1921, S. X.13

Cohen: Werke, Bd. 1/1: Kants Theorie der Erfahrung, Hildesheim u.a.14

1987, S. XII; Bd. 6: Logik der reinen Erkenntnis, a.a.O. 1977, S. XI/XII.Rickert: Goethes Faust, 1932, S. 528f.15

Die Philosophie des Lebens, S. 34.16

Rickert wird deshalb nicht selten auch dem ‚Neufichteanismus‘ zugerech-17

net. Auch das lehnte er ab.Z.B. hier S. 31 unten, 394, 409 oben.18

System der Philosophie, Bd. 1, S. XIIf.; a.a.O. schreibt Rickert sogar: „Die19

Frage Goethes [nach dem einen lebendigen Wesen] wissenschaftlich zu beant-worten, soweit das mit Begriffen, die im Zusammenhange mit der PhilosophieKants stehen, möglich ist, macht dies Buch sich zur Aufgabe.“ Bemerkenswertsind seine Studien zu Goethes ‚Faust‘, die er 1932 in einer 550 Seiten starkenMonographie zusammenfaßt.

widersetzt er sich etikettenhaften Einordnungen. Rickert lehnt für sichauch die Bezeichnung als ‚Neukantianer‘ ab. Einerseits hat sich Rickertvon Windelband, den er als Philosophiehistoriker hoch schätzt, syste-matisch öfters distanziert als die traditionelle philosophiehistoriogra-phische Rede von der ‚Windelband-Rickertschen Lehre‘ vermuten läßt.Andererseits ist Rickert sich mit dem Marburger Neukantianer Cohen,zu dem er sich in scharfer Opposition befindet und von dem er offenbekennt, er verstehe ihn nur zum Teil, immerhin noch einig in der13

Anknüpfung an das ‚Faktum der Wissenschaften‘, in der zentralen,emphatischen Stellung des Kulturbegriffs (siehe unten) und, in CohensWorten, im Willen zur „Wiederaufrichtung der Kantischen Autorität“,aber auch darin, daß es ihm „von vornherein […] um die Weiterbildungvon Kant’s System zu tun“ war. Ein Philosoph, der, wie Rickert,14

Goethes Auffassung der Unsterblichkeit „konsequenter ‚kantisch‘“ fin-det „als Kants eigene Lehre“ (!), ist wohl eher ein ‚Neukantianer‘ als15

‚Kantianer‘. Rickert selbst möchte zu denen gerechnet werden, „die sichum eine Weiterbildung des in der Philosophie des Deutschen Idealis-mus Begonnenen bemühen“, vor allem Fichtes. Gleichwohl ist Kant16 17

der bevorzugte historische Bezugspunkt Rickerts, – mit Goethe (eineAnalogie zu Cassirer); jener dient ihm für die elementarsten philosophi-schen Grundeinstellungen des kritischen Prinzips und des transzenden-talen Idealismus, dieser für die weltanschauliche „Fülle des geschicht-lichen Lebens“ und der Welt sowie für die Überwindung eines „engen18

Kantianismus“ zu einem wahrhaft universalen, pluralistischen Welt-begriff und einer kulturellen Sinndeutung.19

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Einleitung XI

Die Heidelberger Tradition in der deutschen Philosophie, 1931, S. 9f.20

Das Folgende beschränkt sich notwendigerweise auf eine Darstellung als21

Einführung. Eine Kritik der Philosophie Rickerts muß hier ebenso unterbleibenwie eine Darstellung ihrer Entwicklung.

Rickert selbst ordnet sich ausdrücklich ein in das, was er die ‚Heidel-berger Tradition‘ nennt und bestimmt sieht durch die enge Verbindungvon Systematik und Geschichte, die Betonung des Deutschen Idealis-mus, die Klärung der Kulturprobleme und (ein Hieb vor allem gegenJaspers) den „prinzipiellen Gegensatz zu aller romantischen Philoso-phie bis hinab [!] zu den neuesten Nietzsche- und Kierkegaard-Epigo-nen“. Rickerts transzendentaler Idealismus und seine ontologische20

Kulturphilosophie wie auch vor allem seine – beides untermauernde –Werttheorie bekämpft vehement und nie nachlassend die Lebens- undExistenzphilosophie, den Intuitionismus und den philosophischen Bio-logismus, den Psychologismus und Anthropologismus, den Indivi-dualismus und Naturalismus, den Relativismus wie den angloamerika-nischen Pragmatismus, – für Rickert letztlich alles Formen der, wie erfand, ‚modischen‘ Rehabilitierung des vortheoretischen Verhaltens. Erblieb ‚unmodern‘ und behauptete (in kantischer Terminologie:) denVorrang des Schulbegriffs der Philosophie vor ihrem Weltbegriff. Rik-kert wendet sich aber auch gegen den Intellektualismus und die Phäno-menologie, den Logizismus (bes. der ‚Marburger‘) und Historismus(z.B. Diltheys), den Hegelianismus oder die traditionelle Metaphysik.Ein weites und reiches Feld also für prinzipiellen Widerspruch wielehrreiche Diskussion, – und Mißverständnisse. Als Einleitung undsachliche Hinführung zu den in diesem Band vereinigten AufsätzenRickerts soll im folgenden sein Philosophiebegriff dargestellt werden.21

Rickerts Philosophiebegriff

Rickerts Philosophie insgesamt ist geprägt durch die BegriffsthemenErkenntnis, Wert, Kultur und Geschichte. Philosophie gilt Rickert alsdie höchste Form der Erkenntnis. Sie ist weder Wirklichkeitswissen-schaft noch Einzelwissenschaft. Sie beschränkt sich nicht, wie diese, aufTeile oder Aspekte der Welt, sondern sie ist ontologisch universale, kri-tische und theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnis der Universalitätdes Weltganzen, zu dem auch die Totalität der Bedeutungen, d.h. der

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XII Rainer A. Bast

Von Rickerts geplantem Werk ‚System der Philosophie‘ ist nur Teil 1 er-22

schienen: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, 1921. Teil 2 sollte die ‚Phi-losophie des kontemplativen Lebens‘, Teil 3 die des ‚tätigen Lebens‘ enthalten.Kaum einen Ersatz für die fehlenden Teile bietet das 1934 erschienene Buch über‚Grundprobleme der Philosophie‘.

Gesamtsinn des Lebens in der Welt, das Sinnganze der Welt gehört.Philosophie strebt nicht nur nach zeitlos gültigen Erkenntnissen wie dieEinzelwissenschaften, sondern macht das Verhältnis zwischen demZeitlichen und dem Ewigen zu einem eigenen Problem. Sachlich darfdie Philosophie aber in keinen Gegensatz zu den Einzelwissenschaftengeraten, sondern muß mit deren jeweils neustem Forschungsstand kom-patibel sein; auch der transzendentale Idealismus der Philosophie mußmit dem empirischen Realismus der Einzelwissenschaften harmonieren.Als Universalwissenschaft, die die Welt als ein Ganzes sieht, strebt diePhilosophie notwendig zum System, das offen ist und sich entwickelt,22

das theoretische und praktische Philosophie gleichrangig sieht. Die, u.a.von Jaspers geforderte, Trennung von (anzustrebender) Systematik und(abzulehnendem) System ist undurchführbar. Im Gegensatz zum dog-matischen geht Rickerts kritizistisches System davon aus, daß (begriff-lich) logischer, (ontologisch) sachlicher und (faktisch) zeitlicher Anfangnicht zusammenfallen, und daß das Welt- und Seinsprinzip nicht amAnfang, sondern am Schluß des Systems steht, wenngleich seine Suchedie Systementwicklung beherrscht. Am Systemanfang steht als einebenso kritisches wie universales Minimum das unmittelbar Gegebene,das aber keine bloße Intuition eines Objekts oder ein metaphysischesPostulat ist, sondern die (heterothetische) Zweiheit von (reinem) Ichund (ihm immanentem) Nicht-Ich, Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt.

Im eigentlichen, strengen Sinne ist Philosophie Wissenschaft, dieRickert anstrebt und die von einer Philosophie als Weltanschauungstreng zu trennen ist. Ziel der Philosophie ist es nicht, Weltanschauungund Lebenshalt, sondern die Theorie als Weltanschauungslehre zugeben. Weltanschauung im eigentlichen, strengen Sinne ist vor- undaußerwissenschaftlich; sie geht vom ‚ganzen‘ ( nicht nur theoretischen)Menschen aus und dient diesem als Orientierung für sein persönlichesGesamtleben. Gegen die lebens- bzw. existenzphilosophische Behaup-tung, nicht der theoretisch-wissenschaftliche, sondern der ‚ganze‘Mensch (Dilthey), das ‚Leben‘ (Nietzsche) und die ‚Existenz‘ (Kier-kegaard, Heidegger) müsse im Zentrum der Philosophie stehen, be-schwört Rickert geradezu den Wissenschafts- und Systemcharakter der

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Einleitung XIII

Hier S. 20, 62, 162-186, 233, 241.23

Philosophie und die theoretisch-wissenschaftliche Einstellung des Phi-losophen. Fehlen diese Charaktere, verkommt die Philosophie zur„Zerfalls- und Verfallserscheinung“. Wie Cohen knüpft also auch Rik-kerts Philosophie an das ‚Faktum der Wissenschaften‘, „das KulturgutWissenschaft“ an.23

Vor- bzw. außerwissenschaftliche Weltanschauung leistet in bezugauf das Gesamtleben in gewisser Hinsicht mehr als wissenschaftlichePhilosophie, denn der Philosoph, der das Weltganze theoretisch erken-nen will, muß Fragen unbeantwortet lassen, die der ‚ganze‘ Menschstellt, die theoretisch-wissenschaftlich aber nicht zu beantworten sind.Weltanschauung hat somit als ein Bedürfnis des ‚ganzen‘ Menschen fürsein Gesamtleben ihr Recht, darf (wissenschaftliche) Philosophie abernicht beerben wollen. Denn (wissenschaftliche) Philosophie ist (vorwis-senschaftlicher) Weltanschauung überlegen in bezug auf das Erkennenund die Universalität. Die theoretisch-wissenschaftliche Einstellung istzwar einseitig, weil sie ihren Gegenstand nicht erlebt, sondern ‚nur‘über ihn nachdenkt; aber eben dadurch erfaßt sie mehr als die bloßweltanschauliche Einstellung des ‚ganzen‘ Menschen. Die fruchtbareEinseitigkeit des theoretischen Menschen führt zu eigentlicher, über-persönlicher Universalität, die bloß persönliche Universalität der welt-anschaulichen Einstellung führt zu einengender Partikularität: Geradeder ‚ganze‘ Mensch kommt über seine eigene, kleine Welt niemals hin-aus. Die Einseitigkeit des persönlichen Lebens kann nur durch die ausder Einseitigkeit der Theorie entstehende Universalität überwundenwerden; nur sie führt zum freien Blick auf die Totalität des Weltganzenund zur Befreiung von inhaltlicher, methodischer und geschichtlicherPartikularität. Natürlich hat die Philosophie durch ihren wissenschaft-lich begründeten Weltbegriff faktisch Einfluß auf die Weltanschauung.Aber nur durch die Trennung von Philosophie und Weltanschauungkann man auch die Konflikte begreifen, die aus dieser Opposition seitjeher entstanden, die Rede von der ‚Philosophie als Wagnis‘ verstehenund beide auch versöhnen. Philosophie und Weltanschauung habenalso verschiedene, spezifische und unaustauschbare Aufgaben. Die phi-losophische Weltanschauungslehre gibt keine Anweisung zur Praxisund keine Weltanschauung für jedermann; in ihr wird vielmehr dieVielheit der außerwissenschaftlichen Weltanschauungen wissenschaft-lich geklärt und auf die ihnen zugrundeliegenden Werte bezogen.

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XIV Rainer A. Bast

Grundprobleme der Philosophie, S. 162.24

Nach Rickert soll der Philosoph ebenso antiintellektualistisch wieantinaturalistisch durchaus das Gesamtleben, die „‚volle‘ Realität des‚ganzen Menschen‘“ thematisieren, wobei er gar nicht anders kann, als24

die eigene Persönlichkeit zu berücksichtigen. Aber er darf nicht aus dereigenen Individualität heraus philosophieren, weil dies das wissen-schaftliche, universal-systematische Wesen der Philosophie zerstörte. Esgibt Teilwahrheiten, aber keine individuelle Wahrheit. Und die eigene,individuelle Welt des Philosophen ist nicht das in der Philosophie ge-suchte Weltganze. Die Lebens- und Existenzphilosophie vermischt dies(Rickert zufolge) und folgert aus der auch von Rickert behauptetenUnvermeidlichkeit, atheoretische Faktoren aus der Persönlichkeit desPhilosophen als Probleme in die Philosophie aufzunehmen, die eigeneIndividualität sei die Basis des Philosophierens, das dann einen ro-mantisch-egozentrischen und damit unwissenschaftlichen Charakterannimmt. Antisystematische Lebens- und Existenzphilosophie ist fürRickert gar keine Philosophie, denn das ‚Leben‘ der Lebensphilosophieist naturalistisch, biologisch, und die ‚Existenz‘ der Existenzphilosophieindividuell (was beide Fraktionen natürlich bestreiten). Für Rickert istPhilosophie als Welterkenntnis und Ganzheitswissenschaft nur alsTheorie möglich; das Nachdenken über das Gesamtleben bleibt Theo-rie, was aber nicht Intellektualismus oder Theoretizismus bedeutet: Dietheoretische Behandlung der Welt behauptet nicht, die Welt als Ganzeshabe theoretischen Charakter; Überwindung des Intellektualismus heißtnicht Überwindung des Intellekts in der Wissenschaft.

Die Logik bleibt somit wesentlicher Bestandteil von Philosophie. DieLogik im weiteren Sinne gliedert Rickert in die formale Logik (desDenkens überhaupt), die transzendentale Logik (des Erkennens: Er-kenntnistheorie) – die beide die Wahrheitslehre bilden – und die(erkenntnistheoretische) Wissenschaftslehre. In der formalen Logik (dienicht mit der modernen formalisierten Logik identisch ist) ist RickertsHauptthese: Der rein logische Gegenstand ist kein absolut Einfaches; erist das aus dem Einen und dem Anderen, aus Form und Stoff und ausihrer Einheit Bestehende, aus dem das Mathematische nicht einfachabgeleitet werden kann (wie Natorp meint). Die (ganze, endliche) Zahlist kein rein logisches Gebilde, zu ihrer Bildung sind prinzipiell neue,alogische Momente notwendig: ein homogenes Medium (im Gegensatzzum heterogenen des rein Logischen) und das Quantum (die quantitati-

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Einleitung XV

ve Qualität). Aus dem Einen und dem Anderen und aus der Einheitdieser (logischen) Mannigfaltigkeit läßt sich die Einzahl und Mehrzahl(die Eins und Zwei als mathematische Mannigfaltigkeit) nicht ableiten.Rein logische Gegenstände sind nur mit sich selbst identisch oder nurvoneinander verschieden, sie können nie einander gleich und auch nichtaddierbar sein; ebendas aber sind die Zahlen selbst (nicht die Zahlbe-griffe oder -stellen der Zahlenreihe). Insofern das Logische einen reinformalen Charakter hat, existiert es nicht, sondern es gilt. Zahlen da-gegen existieren, und zwar ideal; das Psychophysische existiert real.Das Geltende geht dem Existierenden logisch voran.

Zum rein logischen Gegenstand überhaupt als dem Minimum destheoretisch Denkbaren gehören also drei Momente: das Eine (Iden-tische), das Andere und ihrer beider Einheit. Die synthetische Einheitder Mannigfaltigkeit, nicht die unterschiedslose Einheit (Einfachheit)der Identität ermöglicht allererst den einfachsten denkbaren, rein logi-schen Gegenstand. Der rein logische Gegenstand ist also einheitlich und(heterologisch) mannigfaltig, aber nicht (dialektisch) widerspruchsvoll;er ist das logische „Urphänomen“ des Denkens. Die Tautologie (derIdentität) reicht für das theoretische Minimum nicht aus, für das schondie Andersheit, die Heterologie, notwendig ist. In dieser Heterologiesieht Rickert die Methode der Philosophie als des universalen Denkens.Als heterologisches (Ganzheits-) Prinzip ist sie das allgemeine Prinzipder Welterkenntnis. Anders als die Dialektik geht die Heterologie vonAlternativen aus, bei denen beide Glieder positiv bestimmt sind, dennein rein negativer Gegensatz bleibt für das universal-philosophischeDenken unfruchtbar. Die (positiv bestimmte) Andersheit geht der (lee-ren) Negation logisch voran. Das Andere ist nicht die bloße Antithesis,sondern die bestimmte Heterothesis. Identität (als Form des Einen)fordert die Andersheit (Verschiedenheit), so wie die Form den Stofffordert. Andersheit ist weder nur Negation der Identität (bloße Nicht-Identität) noch Privation der Identität (Nicht-Etwas bzw. Nichts).

Ausgangspunkt des heterologischen Denkprinzips sind also Begriffs-korrelationen, bei denen beide Glieder logisch gleich notwendig sind,wie die Subjekt-Objekt- bzw. Ich-Du- und Ich-Nichtich-Korrelationoder die Korrelation von Form-Inhalt und Identität-Andersheit. BeimBegriff des ‚Ganzen‘ (der Welt) setzt der Begriff der Einheit einer Viel-heit den Begriff der Vielheit notwendig voraus. Dialektisches Denkendagegen entsteht aus der Unklarheit darüber, d.h. aus einem falschenGanzheitsbegriff und aus der Verwechslung bzw. Identifizierung vonNegation und positiver Andersheit. Erst und nur die Heterologie, nicht

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XVI Rainer A. Bast

Grundprobleme der Philosophie, S. 36.25

die Dialektik, erklärt Ursprung und Möglichkeit der Bewegung desDenkens; denn schon die Thesis des Einen ist möglich nur durch dieHeterothesis des Anderen (nicht: durch die Antithesis der Negation).Aller berechtigte Dualismus erhält seine Berechtigung durch diesenantirelativistischen Relationismus.

Das methodische Wesen der Philosophie als universaler Wissenschaftist die Erkenntnis, die methodische Grundlegung der Philosophie (nichtder Anfang des Systems) also die Erkenntnistheorie, die beide Seiten derErkenntnisrelation, Objekt und Subjekt, erkannter Gegenstand und er-kennendes Ich, zu berücksichtigen hat und sich zu dem von Kant be-gründeten und von Rickert umgestalteten transzendentalen Idealismusentfaltet. „Daß etwas wirklich ist, kann nur gedacht werden.“ Wirk-25

lichkeit ist ‚nur‘ eine Form des Denkens; ein von jedem Bewußtseinunabhängiges Wirkliches, ein ‚transzendentes Reales‘, ist ein erkennt-nistheoretischer Unbegriff. Der Gegenstand der Erkenntnis ist nicht alsfür sich bestehende Realität, d.h. völlig unabhängig vom Subjekt unddessen ‚Vorstellungen‘ zu denken; er ist letztlich ein, auf einen Wertbezogenes, Sollen (siehe dazu unten). Rickert lehnt den Psychologismus(des engl. Empirismus, J. F. Fries’, W. Wundts, Sigwarts, Th. Lipps’oder Ziehens), den Husserl 1900 in den ‚Prolegomena‘ seiner ‚Logi-schen Untersuchungen‘ endgültig widerlegte, und den theoretischenIntuitionismus (Fries’, Schopenhauers, Ed. von Hartmanns, Bergsonsund Husserls) ebenso ab wie die Abbildtheorie. Anschauung ist nichtDenken, und Kennen ist nicht Erkennen, denn Erkennen ist eo ipso aufWahrheit bezogen, ist also Urteilen, Prädizieren, kein bloßes passivesVorstellen oder Wahrnehmen und kein Abbilden, sondern Umbilden.Erkannte Wahrheit hat Urteilsform; zu ihr gehört ein intuitives und eindiskursives Moment. Eine urteilsfreie, unmittelbare Erkenntnis gibt esnicht. Das Urteil geht der Wirklichkeitsthesis voran. Auch der eigentli-che, ‚fertige‘ Begriff hat keinen rein anschaulichen Charakter, sondernentsteht erst durch ein Urteil, dem deswegen der logische Vorrang vordem Begriff zukommt.

Abgelehnt wird auch der hyletische Sensualismus (Kants und Hus-serls). Gegen dessen These, aller erfahrbare Weltstoff habe sinnlichenCharakter, behauptet Rickert: Alles Unsinnliche ist nicht nur Form; esgibt auch unmittelbar unsinnlichen Stoff. Daraus folgt die für Rickertzentrale Unterscheidung zwischen dem Realen, dem Reich des Wirkli-

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Einleitung XVII

Mit Beginn der 20er Jahre verwendet Rickert den Begriff des ‚Seins‘ als26

Oberbegriff dazu, d.h. als übergreifenden Ausdruck für alles Denkbare über-haupt. Die Formulierung der Opposition von „realem Sein und irrealem Sinn“(auch und gerade bei Rickert selbst) ist also mißverständlich.

Da mit dem Wort ‚Geist‘ oft auch seelisches Sein gemeint ist, vermeidet27

Rickert den Terminus ‚Geisteswissenschaft‘ zugunsten von ‚Kulturwissenschaft‘.Der Gegensatz von Natur und Geist muß durch den von Natur und Kulturersetzt werden, da die historische Begriffsbildung auf Werte rekurriert; dieseaber konstituieren Kultur, nicht Geist.

chen einerseits und dem Irrealen, dem Reich des Sinns, der Bedeutungund des Geltens andererseits. Mit diesem Reich, nicht mit real-psycho-26

logischen Problemen haben es die Kulturwissenschaften zu tun. ‚Wirk-27

lich‘ und ‚real‘ verwendet Rickert synonym und meint damit denmethodologisch, wissenschaftlich noch unbearbeiteten Stoff. Zu dieserpositivistischen Terminologie bekennt sich Rickert offen und ausdrück-lich, will damit in der Sache aber ebenso jeden positivistischen Begriffs-nominalismus wie metaphysischen Begriffsrealismus abwehren. FürRickert hat alles bloß Wirkliche ein irrationales Gepräge; es ist ein Cha-os und bloßes ‚Gewühl‘. Aber weder ist die Welttotalität mit der bloßwirklichen, irrationalen Welt identisch, noch gelten nur theoretischeund rationale Sinngebilde. Und nicht nur im Realen, sondern auch imIrrealen oder Geltenden gibt es Irrationales. Deshalb muß die Philoso-phie dem Rationalen und Irrationalen gerecht werden, – was aber nurmit rationalem, diskursivem Denken möglich ist. Notwendig ist eine‚kritische Theorie des Atheoretischen‘.

Eine prominente Leistung Rickerts im Rahmen seiner erkenntnis-theoretischen Wissenschaftslehre besteht in seiner Methodologie dergeschichtlichen Begriffsbildung, die sich gegen den Naturalismus unddie naturwissenschaftliche Universalmethode sowie die Begründungeiner an der Geschichte orientierten idealistischen Philosophie wendet,– die Folge der Erkenntnis, daß sich die Wissenschaften nicht eigentlichdurch ihre ‚Gegenstände‘, sondern durch ihre Methoden unterscheiden,sowie der These, daß die gemeinsamen Elemente der Dinge nicht mitden wesentlichen Merkmalen der Begriffe identisch sind, denn dieScheidung der wesentlichen und unwesentlichen Merkmale hängt vomZweck der Betrachtung ab. Die generalisierende Methode der Natur-wissenschaften ist für die Geschichte ungeeignet, die eine spezifische,individualisierende Methode erfordert. In ausdrücklichem Unterschiedzu Windelbands „absolutem Gegensatz“ von naturwissenschaftlich-

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XVIII Rainer A. Bast

Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1929, S. 756, 475.28 5

nomothetischem und idiographisch-geschichtlichem Verfahren willRickert mit dem „relativen Unterschied“ von generalisierender undindividualisierender Methode nicht auf eine strenge Klassifikation derWissenschaften hinaus. Einzelne, faktisch vorliegende Wissenschaftensind als „historische Kulturprodukte“ nicht nur generalisierend odernur individualisierend, behandeln nicht jeweils nur das Allgemeine odernur das Besondere. Die einzelwissenschaftliche Erfassung der Welt er-fordert einen Methodenpluralismus. Es geht Rickert dabei nicht um einsachliches Klassifikationsschema, sondern um einen logisch-formalenUnterschied, um eine Methodologie der historischen Begriffsbildung,die zeigen soll, wie in den Einzelwissenschaften „sich das Allgemeinemit dem Besonderen verknüpft, und wie aus der Verschiedenheit dieserVerknüpfung die verschiedene logische Struktur der Wissenschaften zuverstehen ist“. Nur so hält Rickert die Einheit der Wissenschaft für28

erreichbar. Wirklichkeit wird zu ‚Natur‘ unter dem Vorrang des Allge-meinen; sie wird zur ‚Geschichte‘ unter dem Vorrang des Besonderenund Individuellen. Aber es gibt auch in der Kulturwissenschaft einAllgemeines. Das Allgemeine der Naturwissenschaft ist die Gattungsall-gemeinheit der Natur, letztlich das Gesetz; das Allgemeine der histori-schen Kulturwissenschaft ist die nichtgattungsmäßige Allgemeinheit(der Bedeutung) des kulturellen Wertes, der nur an Individuellem, Ein-maligem aufgewiesen werden kann. Geschichte ist somit eine wertbezie-hende, keine wertende Wissenschaft. Wissenschaftliche Philosophiestrebt ein „System von allgemeinen Begriffen“ zum Weltganzen an, wasnur generalisierend, nicht individualisierend möglich ist; sie ist generali-sierende Erforschung der irrealen Sinngebilde, die sich zu einer syste-matischen Werttheorie ausgestaltet und eine Geschichtsphilosophieenthält.

Logik muß also in ihren verschiedenen Teilen genau bestimmt wer-den. Die Überschätzung der formalen Logik ist ebenso falsch wie dieIsolierung der transzendentalen. Schon die formale Logik zeigt: DasEine, die Einheit und die Eins sind ebenso logisch verschiedene Gebildewie logischer Sinn und sprachlicher Ausdruck. Logik ist nicht identischmit Sprachphilosophie. Rickert wendet sich damit gegen den Logizis-mus (der ‚Marburger‘) wie gegen den Panlogismus Hegels: Schon dieelementarste arithmetische Wahrheit enthält ein alogisches Momentund kann nicht aus rein logischen Einichten abgeleitet werden. Ohne

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Einleitung XIX

‚Metaphysik‘ ist beim späteren Rickert äquivok: Abgelehnt wird dogmatische29

Metaphysik, die ihren Halt im ‚Jenseits‘ sucht; angestrebt wird später eine tran-szendental-kritische Metaphysik, die sich im ‚Diesseits‘ (Intelligiblen) verankert.

irgendwelche alogischen Faktoren ist keine sachlich-wissenschaftlicheEinsicht möglich. In der Philosophie gehören transzendentale Logikund Ontologie zusammen. Philosophie als Erkenntnistheorie mußonto-logisch, eine Logik des Seienden sein. Logik und Ontologie, Er-kenntnistheorie und Metaphysik sind keine Alternativen; Philosophie29

als universale Wissenschaft muß sie miteinander verbinden.Der heterologischen Grundrelation von Subjekt-Objekt im Welt-

begriff entsprechend gliedert sich die Philosophie (‚nach‘ ihrer Grund-legung durch Erkenntnistheorie bzw. Logik und Heterologie) inOntologie und Anthropologie, behandelt also das Sein der Welt und dieStellung des Menschen in ihr. In der Ontologie geht Rickert von einemPluralismus aus, zu dem eine ganzheitliche Tendenz hinzutreten muß(worin er auch ein Beurteilungskriterium historischer Philosophiensieht): Die Vielfältigkeit des Seienden darf nicht übersehen, muß aberauf die Einheit der Welt bezogen werden, und zwar nicht in naiv-dog-matischer, sondern in einer anhand der Ergebnisse der bisherigen Phi-losophiegeschichte reflektierten, kritischen Weise. Diese Einheitsstif-tung darf aber nicht monistisch im ‚Sein selbst‘ gesucht werden. GegenHeideggers Metaphysizierung des Seins bleibt Rickert bei der kanti-schen These, daß das Sein ein bloßes, kein reales Prädikat ist. ‚Sein‘ und‚Wirklichkeit‘ haben Bedeutung nur als Prädikat. Statt einer Heidegger-schen Fundamentalontologie ist zunächst eine „Logik des Prädikats“notwendig. ‚Sein‘ als bloße Denkform (formale Logik) darf nicht mitdem ‚Sein‘ als Erkenntnisform (transzendentale Logik) verwechselt oderidentifiziert werden; jenes ist bloßes Prädikat; dieses hat Bedeutung undSinn nur im Bezug auf die verschiedenen Arten von Seiendem. Das‚Sein der Welt‘ ist weder bloße Denkform, noch ein realer Gegenstand,noch ein Jenseits der diesseitigen Welt, sondern ein diesseitig Immanen-tes, das aber den bloßen Gedanken transzendiert.

Aufgrund des postulierten ontologischen Pluralismus kommt Rickertzu vier Seinsarten: dem vorgegenständlichen prophysischen, dem sinn-lichen psychophysischen, dem intelligiblen verstehbaren bzw. sinnhaftenund dem metaphysischen Sein. Bemerkenswert dabei ist vor allem dieontologische Erweiterung des Weltbegriffs um das Prophysische unddes Erfahrungsbegriffs (über die psychophysische Realität hinaus) umdas Intelligible, wodurch der (cartesische) psychophysische Dualismus

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XX Rainer A. Bast

Grundprobleme der Philosophie, S. 90; Die Erkenntnis der intelligibeln30

Welt und das Problem der Metaphysik, Teil II (1929), S. 39.„Nur das in jeder Hinsicht Bedeutungslose ist rein sinnlich.“ (hier S. 148)31

Ausdrücklich wendet sich Rickert gegen die materialistische, spiritualisti-32

sche, monistische und parallelistische Überwindung des psychophysischen Dua-lismus; er bleibt bestehen, ist aber unwichtig, – ganz im Gegensatz zu dem neu-en Dualismus zwischen psychophysisch-sensiblem und intelligiblem Sein.

„Ein Gegenstand besteht inhaltlich aus Zuständen, denen die Form ihres33

Gegenstandes noch fehlt, die also nicht absolut, aber im Vergleich zu ihm form-los sind.“ (Die Erkenntnis der intelligibeln Welt …, Teil II, 1929, S. 51)

(von körperlichem und seelischem Sein) durch den (ursprünglich plato-nischen und von Kant weiterentwickelten) Erfahrungsdualismus vonsinnlich wahrnehmbarem und unsinnlich verstehbarem (sensiblem undintelligiblem) Sein ersetzt wird, einhergehend mit der Propagierung der„Rehabilitierung der Körperwelt als Sinnträger“. Erst das intelligible30

Sein ermöglicht Verstehen und Erkennen, und sein Bereich ist deshalb31

wesentlich größer und wichtiger, als seine bisherige psychologische wiemetaphysische Mißdeutung annehmen ließ. Das bloß Wirkliche istnämlich irrational: unverständlich und sinnfrei, denn in ihm ist Hetero-genität und Kontinuität vermischt. Erkennbar wird das Wirkliche erstdurch die begriffliche Trennung von Andersartigkeit und Stetigkeit,durch Auflösung des heterogenen Kontinuums (generalisierend:) in einhomogenes Kontinuum oder (individualisierend:) in ein heterogenesDiskretum. Dieser Prozeß der ‚Rationalisierung des Wirklichen‘ ist einsolcher der ‚Umformung‘, denn abbilden kann man es nicht.

Das Weltganze gliedert sich so in die vorgegenständliche Welt derProphysik, die gegenständliche Erfahrungswelt (mit psychophysischem,sensiblem Sein einerseits und intelligiblem Sein andererseits ) und die32

(gegenüber den beiden genannten diesseitigen Welten jenseitige und)übergegenständliche Welt der Metaphysik bzw. Religion. Das prophysi-sche Sein ist (noch) nicht das Sein von Gegenständen, sondern das vonZuständen, der noch nicht als Gegenstand erkannte Stoff; es ist nicht33

von den zu erkennenden Objekten her gegenständlich und kausal, son-dern vom erkennenden Subjekt her zuständlich und durch Freiheitbestimmt. Das ‚prophysische Subjekt‘ ist das erkennende, vorgegen-ständliche und nichtobjektivierbare Ich-Subjekt und entspricht Kantstranszendentaler Apperzeption bzw. dem Bewußtsein überhaupt. Es istdamit das ‚Band‘, das den Dualismus der Erfahrungswelt von psycho-physischer Wirklichkeit einerseits und durch Werten bestimmten, deut-

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Einleitung XXI

baren Sinngebilden andererseits überwindet. Der späte Rickert siehtdarin nur noch das erkenntnistheoretische Band, nicht die echte Einheitbzw. Ganzheit. Sie jedoch fordert Rickert nun, denn die Ganzheit vonWirklichkeit und Wert ist die unabdingbare Voraussetzung allen sinn-vollen Forschens und theoretischen Lebens. Diese Ganzheit ist Rickertzufolge denkbar nur als ‚jenseitige‘ Basis und Einheit, die aber wedergegeben, noch erfahren, sondern nur angenommen bzw. geglaubt wer-den kann und muß und ein eigenes Seinsgebiet, die Wertrealität, bildet.Sie ist Gegenstand der Metaphysik, die dieses Gebiet in einer formalen,bloß symbolischen ‚Erkenntnis‘ thematisiert, einem Denken, das seinMaterial dem Diesseits entnimmt und es transzendent umdeutet. DieAnnahme eines metaphysischen Seins ist dem späten Rickert zufolgeaus theoretischen Gründen, nämlich zum Zwecke eines vollständigenBegriffs des Weltganzen, unvermeidlich, darf aber kein Religionsersatzsein. Die Religion ihrerseits muß erlaubt und auch von der Philosophieunbestritten sein, da die Philosophie auf Fragen stößt, die theoretisch-wissenschaftlich unentschieden bleiben müssen, in der Religionsphilo-sophie aber thematisiert werden. Die philosophische Anthropologie istkeine Psychologie des objektivierbaren psychischen Geschehens, son-dern versucht eine übergeschichtliche, universal-wissenschaftliche Deu-tung des Sinns des menschlichen Gesamtlebens, ist bezogen auf alle vierSeinsarten und betrachtet den Menschen im Kulturzusammenhang,womit sie, wie die Ontologie, darauf verweist, daß die ganze Welt mehrist als die philosophisch-wissenschaftlich erkennbare, weshalb der phi-losophische Begriff des Weltganzen auch die metaphysische und reli-giöse Region umfassen muß. Die philosophische Anthropologie ist beiRickert ausgearbeitet als Kulturphilosophie.

Rickerts Postulat der Ganzheit der Welt und ihrer prinzipiellen Er-kennbarkeit wird bei ihm ergänzt durch das Postulat des Wertes, – derZentralbegriff der Rickertschen Philosophie. Erst die Anerkennungvon Werten ermöglicht sowohl wahre Erkenntnis wie sinnvolles undfreies Handeln, das beides in einer rein kausal determinierten Weltunmöglich wäre. Werte gehören zur Welt wie das (wertfreie) Wirkliche.Das Erkenntnisgebiet ist für Rickert ein Wertgebiet. Seiendes, Wirkli-ches, Tatsachen, gelten nicht. Nur Werte, wahre Sätze, gelten, dennWahrheit ist ihrem Wesen nach ein Wert. Das Wahrheitsproblem wirdsich deshalb niemals als Wirklichkeitsproblem lösen lassen. Das alteontologische Gegenstandsproblem muß in ein Geltungs- bzw. Wert-problem verwandelt werden. Erkennen, wie alles theoretische, ‚kontem-plative‘ Verhalten, ist im Hinblick auf seine Leistung, als Streben nach

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XXII Rainer A. Bast

wie auch der Gedanke Goethes, „daß alles Factische schon Theorie ist“34

(Maximen und Reflexionen, Hecker-Nr. 575; Fricke-Nr. 1.308), „wir schon beijedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren“ (Farbenlehre, Vorwort).

Also: Der Sinn des Urteilsaktes ist immanent, die Bedeutung des Urteils-35

gehalts ist transzendent. Insofern das Sollen sich durch den transzendenten Wert

Wahrheit, ein aktives Verhalten, ein Stellungnehmen zu einem Wert,dessen Geltung anerkannt und damit seinem Sollen entsprochen wird.Das Wirkliche, das Sollen (der Geltung des Wertes) und das Subjektsind also miteinander verbunden: Wirklich ist nur der Inhalt, der vomurteilenden Subjekt als wirklich anerkannt werden soll. Es gibt damitein ‚praktisches‘ Moment im Erkennen und allem theoretischen Verhal-ten, womit die Grenze zwischen theoretischer und praktischer Philo-sophie ihre traditionelle Schärfe verliert und die kantische These vomPrimat der praktischen Vernunft eine besondere Wendung erfährt:34

Der Gegenstand der Erkenntnis liegt nicht in der Sphäre des real Seien-den, sondern in der des Sollens (des Wertes); die Wahrheit eines Urteilsbasiert auf diesem, nicht auf jenem. Das Sollen ist der Gegenstand,dessen Anerkennen durch Urteile aus dem bloßen Denken ein Erken-nen macht und dem Erkennen die Objektivität verleiht. Rickert nimmthier, als „Ideal der Erkenntnis“, ein transzendental-irreales, überindivi-duelles, erkenntnistheoretisches und normatives Subjekt an, das, als‚reines Ich‘ (im Gegensatz zum individuellen Ich) und Voraussetzungvon Objektivität, selbst nie objektiviert werden kann. Es ist kein all-gemeiner Gattungsbegriff der empirischen Subjekte, sondern reineForm und urteilendes Bewußtsein überhaupt im Gegensatz zu allemBewußtseinsinhalt und kommt durch isolierende, nicht generalisierendeAbstraktion zustande. Nur durch die im Wert enthaltene Regel bzw.Norm, der das transzendentale Subjekt folgt, ist Gegenständlichkeit,Objektivität, erklärbar, ohne auf ein metaphysisches oder psychologi-sches Ich zurückgreifen zu müssen. Das Subjekt untersteht nicht demZwang eines Müssens, sondern besitzt die Freiheit, dem Sollen auchnicht zu entsprechen, wodurch es zur Unwahrheit kommt.

Die Bejahung des Sollens, der Akt des Wertens in bezug auf seinenimmanenten Sinn, bildet aufgrund seines Charakters als Leistungsbe-griff das verbindende ‚Mittel-‘ oder ‚Zwischenreich‘ bzw. ‚Dritte Reich‘(das wir deuten) zwischen dem Reich des (realen, auch psychischen)Wirklichen (das wir erklären) und seinen Daseinsbegriffen und demReich des irrealen logischen Gehalts und transzendenten Wertes (denwir verstehen) mit seinen Geltungsbegriffen. Das Mittel- bzw. Dritte35

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Einleitung XXIII

begründet, ist auch das Sollen selbst ‚urteilsjenseitig transzendent‘, der durch dieAnerkennung des Sollens erwirkte Sinn des Urteilsaktes ist aber immanent. ‚Tran-szendent‘ ist in diesen Zusammenhängen natürlich erkenntnistheoretisch, nichtim traditionellen Sinne metaphysisch zu verstehen.

Ontologisch gefaßt: die Prophysik, das prophysische Ich; erkenntnistheore-36

tisch gefaßt: der wertende Urteilsakt und sein immanenter Sinn, das reine Ich.System der Philosophie, Bd. 1, S. 260, 266, 297, 305.37

System der Philosophie, Bd. 1, S. 175. Im selben Jahr (1921) formuliert38

Rickert an anderer Stelle gegen Hegel: „was vernünftig ist, das ist nicht nurwirklich, und was nur wirklich ist, das ist noch nicht vernünftig.“ (Die Grenzender naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Vorwort zur 3. und 4. Aufl.)

Reich ist weder ein real-psychisches Sein bzw. real-psychischer Pro-36

zeß, noch der geltende Wert selbst; durch die Bejahung des Sollens (derAnerkennung der Geltung) verbindet es gerade beides: nämlich die bei-den Reiche von (transzendentem, irreal-geltendem) Wert und (existie-render) Wirklichkeit; es ist damit der „Weltknoten“. Wirkliches wird37

also erkannt gerade durch die Anerkennung von Unwirklichem (gelten-dem Wert); Reales wird konstituiert durch Irreales. „Alles Wirkliche istzwischen Werte, alles real Seiende zwischen Geltendes gewissermaßeneingeschlossen und hat ohne Irreales keinen Bestand.“ ‚Maßstab‘ des38

Erkennens ist nicht ein transzendentes Sein, sondern ein transzendentesSollen. Diesem Sollen und dem Sinn seiner Anerkennung gebührt derlogisch-begriffliche Vorrang vor dem Wirklichen. Nur so hält Rickertdie transzendentalphilosophisch notwendige völlige Umkehrung der‚natürlichen‘, dogmatisch-metaphysischen Ansicht vom Erkennen, nachder das Urteilen sich nach einem real Seienden oder Wirklichen zu rich-ten hat, für erfüllt. Und nur so sieht er die subjektive und objektiveSeite der Erkenntnis, die Erkenntnis des Gegenstandes (Akt) und denGegenstand der Erkenntnis (Aktsinn), gleichberechtigt gewürdigt unddie Dualismen von Wert und Wirklichkeit, irrealem Sinn und realerWirklichkeit, Form und Inhalt, Subjekt und Objekt bewahrt geradedurch ihre jeweilige korrelative Verbindung.

Das letzte theoretische Prinzip ist nur in dem zu finden, was demSubjekt den letzten Maßstab gibt, und dies ist das irreale Sollen, das dasSubjekt im Erkennen anerkennt. Indem das Erkennen dem Sollen ent-spricht, weist es mit der Anerkennung des Geltens über den Erkennt-nisakt hinaus. Dieser Standpunkt ist weder der einer reinen Immanenz,noch der eines subjektiven Vorstellungsidealismus oder gar der einestranszendentalen Realismus, sondern der des transzendentalen Idealis-

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XXIV Rainer A. Bast

mus. Das ‚Absolute‘ bzw. die letzte Grundlage der Erkenntnis liegtnicht in einem Wirklichen, sondern in einem Unwirklichen: einem gel-tenden Wert. Aufgrund dieser logischen Priorität des Sollens vor demWirklichen liegt der letzte theoretische Grund alles (eo ipso immanen-ten) Wirklichen weder in diesem selbst, noch in einer transzendentenRealität, sondern in einem transzendentalen Ideal, welches das erken-nende Subjekt anzuerkennen hat. Der Gegenstand der Erkenntnis istalso weder immanent noch transzendent ‚gegeben‘, sondern ‚aufgege-ben‘, womit für Rickert der traditionelle Gegensatz von immanenterund transzendenter Erkenntnistheorie sowie die Alternative von Ratio-nalismus und Empirismus überwunden und das Berechtigte beiderSeiten anerkannt ist. Die von Rickert postulierte ontologische Pluralitätführt auch bei der Erfassung der Wirklichkeitstotalität in der Erkennt-nistheorie also nicht zu einem Ontologismus oder einer ontologischenMetaphysik, sondern zu einer Philosophie als Wertlehre, die als Wert-wissenschaft den Wirklichkeitswissenschaften gegenübertritt.

Güter und Wertungen müssen streng von Werten getrennt werden.Werte sind als Werte nie wirklich, real; sie bilden ein eigenes Reichjenseits von Subjekt und Objekt, ‚haften‘ aber immer an wirklichenGütern. Güter und Wertungen sind die Verbindungen von Werten mitWirklichkeiten. Werte sind keine subjektiven Gebilde. Sie gelten, ohnereal zu sein und ohne die faktische Wertung durch ein Individuum (aufdas sie durch das Sollen bezogen sind). Ohne diesen vom realen Aktder Wertung unabhängigen transzendenten Maßstab der Wertgeltungverlöre alle Theorie ihren Sinn. Die Allgemeinheit des Geltens vonWerten ist aber keine abstrakte Gattungsallgemeinheit; Werte sind auchkonkrete und individuelle Gebilde, und nicht alle Werte sind theore-tisch. Als Wertwissenschaft strebt die Philosophie eine überschaubareAnzahl formaler Werte und Wertgegensätze, d.h. ein übergeschicht-liches, auch für zukünftige Kulturarbeit ‚offenes System der Werte‘ an,das nicht streng erkenntnistheoretisch deduziert, aber heterothetischaufgebaut werden kann.

Die philosophische Wertlehre, d.h. der Sinnbegriff, der mit dem Sy-stem der Werte ausgestaltet ist, hat die Mannigfaltigkeit der historischenKulturgüter und das ihnen zugrundeliegende System der Werte zu ver-stehen, alle Werte in ihrer Verbindung mit der Wirklichkeit zu berück-sichtigen und einen einheitlichen Gesamtsinn des menschlichen Daseinszu gewinnen. Philosophie ist so die „allseitige Theorie des gesamten

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Einleitung XXV

Hier S. 188. Auch in Rickerts Philosophie sind zentrale Begriffe äquivok,39

wie ‚Weltanschauung‘ und ‚Leben‘. Es ist richtig, d.h. nach dem zuletzt Gesag-ten, zu verstehen, wenn Rickert (z.B. in: Die Philosophie des Lebens, S. III, 13f.)sagt, daß eine ‚Philosophie des Lebens‘ notwendig sei (eine des wertenden bzw.Kultur-Lebens nämlich, nicht eine des bloßen, d.h. vitalen Lebens) und auchPhilosophie eine Weltanschauung zu geben habe (eine philosophische nämlich,die weder eine vor- noch eine einzelwissenschaftliche, z.B. naturwissenschaftli-che ist), denn eine Sinndeutung des Gesamtlebens des Menschen ist das Wesender Weltanschauung wie auch Aufgabe der Philosophie. Mit dieser wird nichteine intuitive, auf vitalen Erlebnissen und Anschauungen aufgebaute und daraufabzielende Philosophie des vitalen Lebens angestrebt, sondern eine systemati-sche, an Begriff und Erkenntnis orientierte Philosophie des kulturellen Lebens.

Kant als Philosoph der modernen Kultur, 1924, S. 7; Die Internationalität40

der Kulturwissenschaften, 1923, S. 6.Hier S. 62. „In dem Lebenssumpf der Modephilosophie gibt es oft nur41

noch Froschperspektiven.“ (Psychologie der Weltanschauungen und Philosophieder Werte, 1921, S. 33; Die Philosophie des Lebens, S. 155)

Kulturlebens.“ Rickert bevorzugt einen engen, eigentlichen Begriff39

von ‚Kultur‘, die er von Zivilisation unterscheidet: Im Gegensatz zurbloßen Lebenserhaltung (wo man nur im uneigentlichen Sinne von ‚Le-benswerten‘ sprechen kann) und den Bedingungsgütern der Zivilisation(d.h. den reinen Lebens- und Zivilisationswerten und -gütern, die bloßeMittel zur Erfüllung von sinn- und wertvollen Zwecken sind) ist Kul-tur im engen, eigentlichen Sinn der „Inbegriff der Güter, die wir umihrer Werte willen pflegen“, d.h. der Güter mit überhistorischen auto-40

nomen bzw. Eigenwerten, die von unbedingter Allgemeingültigkeit undsomit allem, auch historistischem, Relativismus entzogen sind. Kulturvereinigt Wert und Geschichte, zeitloses Gelten und zeitlichen Wandelin der Deutung des irrealen Sinnes.

‚Kultur‘ im weiteren Sinne dagegen umfaßt zivilisatorische Bedin-gungs- und kulturelle Eigenwerte. Zwischen bloß vitalem Leben aberund Kultur gähnt ein theoretisch unüberwindlicher Abgrund; diesekann nicht aus jenem erklärt werden. Transzendental fundierte Kultur-philosophie ist sinnstiftend, biologisch abgestützte Lebensphilosophiedagegen ist theoretisch „kulturfeindlich“ und ein „Rückfall in Barba-rei.“ Bei den autonomen Eigenwerten der Kultur können die Werte41

des ‚diesseitigen‘ Kulturlebens (theoretische, ästhetische, ethische, eroti-sche) von denen des ‚jenseitigen‘ (metaphysische, religiöse) unterschie-den werden; sie spezifizieren sich weiter durch drei Wertarten-Ränge(un-endliche Totalität, voll-endliche Partikularität, voll-endliche Totali-

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XXVI Rainer A. Bast

Zu diesen sechs Wertgebieten in dem Aufsatz ‚Vom System der Werte‘ von42

1913 siehe auch die damit nicht ganz identische Übersicht in Teil 1 von Rickerts‚System der Philosophie‘ von 1921 (Faltblatt am Ende des Bandes).

Hier S. 396.43

Die Philosophie des Lebens, S. 49.44

System der Philosophie, Bd. 1, S. 36.45

tät) und drei Alternativen (persönlich/sachlich, aktiv/kontemplativ,sozial/asozial). Durch Kombination dieser Momente entsteht dann einSystem der Werte mit sechs Wertgebieten.42

Das Prinzip der Kultur ist das der Autonomie: das freie, Eigenwerteum ihrer selbst willen bejahende Verhalten, womit Rickert den Begriffder Autonomie über den Kantischen, bloß auf die Moral beschränktenAutonomiebegriff erweitert und sich gegen die einseitig moralistischeAuffassung der Gesamtkultur wendet. Die Kulturarbeit des Menschenist so ein von Werten bestimmtes und Werte verwirklichendes, freiesHandeln. Ausgehend von der Sicht des Menschen als zoon politikon istfür Rickert Ethik eo ipso Sozialethik. Die Wir-Gemeinschaft des sozia-len Wollens und Handelns ist eine Ganzheit von freien, letztlich nichtobjektivierbaren Subjekten. Das spezifische Merkmal der ethischen ge-genüber der theoretischen Autonomie ist also das soziale Moment, dieGemeinschaft; in der Ethik kommt es nicht auf das isoliert gedachte,einzelne Individuum, sondern auf die Gemeinschaft an. Das darf abernicht zu dem abstraktiven Gattungsbegriff des ‚Allgemein-Menschli-chen‘ und zu einer Maximenethik führen. Diese erschöpft nicht diekonkrete, historisch bedingte Wirklichkeit, denn „die Kultur ist niemalsdas Produkt rational-ethischer Überlegung, sondern stets das irrationaleErgebnis einer geschichtlichen Entwicklung.“43

Der Mensch ist nicht nur stets ein soziales, sondern immer auch eingeschichtlich bedingtes Wesen. Der Philosoph hat dies zu berücksichti-gen, obgleich er wesentlich und dem Ziele nach Systematiker ist: „DerHistorismus ist zu bekämpfen. Historische Philosophie gibt es nicht.“44

Ebenso aber gilt für Rickert auch, daß Philosophie gerade als systemati-sche Wissenschaft „ohne wissenschaftlich geklärtes geschichtliches Be-wußtsein nicht denkbar ist.“ Als Wissenschaft gibt es auch in ihr ei-45

nen Fortschritt, der aber nicht identisch ist mit der zeitlichen Abfolgeder Systeme (Philosophien). Der Einzelwissenschaftler verfährt doppeltpartikular: Er beschäftigt sich nur mit einem Teil der Welt und berück-sichtigt dabei nur die theoretische Seite seiner Person. Der Philosoph

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Einleitung XXVII

Hier S. 288 (vgl. S. 283 unten, 289 unten); Die Heidelberger Tradition in46

der deutschen Philosophie, S. 19; Die Grenzen der naturwissenschaftlichenBegriffsbildung, 1929, S. 736. „Gerade der, welcher die Geschichte endlich los5

werden möchte, muß sich also historisch zu orientieren suchen.“ (hier S. 161)

dagegen verfährt doppelt universal: Er behandelt das Weltganze undmuß auch die nicht-theoretischen Seiten seines Gesamtlebens einbezie-hen; die außertheoretische Weltanschauung gehört mit zu seinem The-ma. Der Philosoph ist somit anders als der Einzelwissenschaftler in sei-ne einmalige historische Situation hineingezogen, die er berücksichtigenmuß. Der Einzelwissenschaftler kann die zeitlos gültigen Ergebnissefrüherer Forschung in Lehrbüchern zusammenfassen. Die bloßen, über-zeitlichen Gehalte sind darin aus dem ‚Steinbruch‘ der Vergangenheitherausgelöst; das Wahre, Gültige, der Vergangenheit ist aufbewahrt,ohne ein eigentlich Geschichtliches zu sein. Der Philosoph aber mußdie Systeme der Vergangenheit geschichtlich und universalgeschichtlichsehen. An Stelle einer einzelwissenschaftlichen Mediatisierung, die aufbloße Herauslösung und Akkumulation zeitloser Gehalte abgestellt ist,muß der Philosoph die Vergangenheit als Vergangenheit in ihrem histo-rischen Ambiente, und d.h. eben: geschichtlich, sehen.

Also „nur durch die Geschichte kommen wir von der Geschichtelos“. Der philosophische Historismus läßt sich vermeiden nur durch46

Berücksichtigung des Geschichtlichen. Der (systematische) Philosophbraucht die Philosophiegeschichte, um seine eigene historische Bedingt-heit zu erkennen und sie gerade durch diese geschichtliche Erkenntnis ingewisser Weise zu überwinden. Der Weg zur geforderten systemati-schen Universalität der Philosophie führt über die historische Universa-lität. Nur und gerade der historische Blick auf die Universalgeschichteder Philosophie verschafft jenen Zugriff auf die plurale Universalitätdes Ganzen, welche die jedem Philosophen eigene historische Bedingt-heit und sachliche Partikularität „unschädlich“ macht. Der Systematikerkann aus der Geschichte sowohl für seine Persönlichkeit wie für dieSache der Philosophie lernen: welche Einstellung bzw. Haltung einPhilosoph einzunehmen hat und was in früheren Philosophien sachlichschon geleistet wurde. Der systematische, aber aus der Geschichte ler-nende Philosoph soll sich weder auf eine einzige Epoche beschränken,noch in einem völlig geschichts- und zeitlosen Denken aufgehen, son-dern durch ein universalhistorisch orientiertes Denken die einem ge-schichtlich bedingten Kulturmenschen größtmögliche Universalitätanstreben. Die Einsicht, daß er das vollständige und reine System ‚nur‘

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XXVIII Rainer A. Bast

Die Heidelberger Tradition in der deutschen Philosophie, S. 20.47

Hier S. 398.48

Der Gegenstand der Erkenntnis, 1928, S. 379.49 6

anstreben, aber nie erreichen kann, weil er selbst nur ein einzelner,geschichtlich bedingter Mensch ist, nötigt den Systematiker zu histori-scher Arbeit, die mit dem Ziel einer Universalgeschichte selbst wieder-um systematisch orientiert und organisiert ist. „Die logische Grundle-gung verbürgt das Zeitlose, die historische Bildung das für alle ZeitenGültige.“ Nur so kann der Philosoph seiner Doppelaufgabe gerecht47

werden: Philosoph seiner eigenen Zeit und gleichzeitig Glied des über-individuellen, universalen Zusammenhangs der Philosophie zu sein;dieses kann er nur durch jenes.

Rickerts bevorzugter philosophiegeschichtlicher Anknüpfungspunktist Kant, dessen Philosophie ihm als Folie für die Entwicklung dereigenen dient. Da für Rickert das Gesamtleben des wollenden und han-delnden Menschen sich nicht im Sittlichen erschöpft, ist die praktischePhilosophie Kants „über die bloß ethische Pflichtmoral hinaus zu er-weitern“, denn auch jenseits von ihr gibt es Eigenwerte, die von derkritischen Philosophie zu behandeln sind. In der theoretischen Philo-48

sophie will Rickert mit der Ableitung der Gegebenheit und der logi-schen Priorität des Sollens vor dem Wirklichen „noch eine Stufe tieferhinab, als Kant es getan hat“: Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile,49

Synthesen a posteriori und a priori, stehen für Rickert in keinem prin-zipiellen logischen Gegensatz. Ein reines a posteriori Urteilen und eineWahrnehmung als der noch ungeformte Stoff oder bloße Inhalt gibt esfür ihn nicht mehr. Das ‚Denken‘ als ein das Sollen anerkennendesUrteil und damit die Kategorie geht schon jeder einzelnen besonderenWahrnehmung und aller Erfahrung logisch voran. Kant identifiziert(Rickert zufolge) die objektive Wirklichkeit mit der ‚Natur‘, seine Ka-tegorienlehre ist deshalb nicht umfassend genug: Sie enthält keine Kate-gorien für das Un- bzw. Übersinnliche. Erfahrungserkenntnis ist fürKant gleich Naturerkenntnis, womit der Begriff der ‚Erfahrung‘ zu enggefaßt ist. Wissenschaft ist für Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘Naturwissenschaft, und diesseits bzw. jenseits von ihr gibt es bei Kantkeine objektive Wirklichkeit; ihr Begriff fehlt bei ihm wie bei Windel-band, womit eine erkenntnistheoretische Begründung der historischenKulturwissenschaften, bes. der Geschichtswissenschaft selbst, unmög-lich ist. Der fälschlichen Identifizierung von objektiver Wirklichkeit

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Einleitung XXIX

und Natur entspricht die Vermengung von Kausalität und Gesetzlich-keit. Die Kausalitätskategorie bezieht sich auf Individuelles, die Ge-setzeskategorie dagegen auf Allgemeines. Die Kausalität als konstitutiveWirklichkeitsform des ‚Materials‘ muß also streng getrennt werden vonder Gesetzlichkeit als einer methodologischen Auffassungsform derWissenschaft. Daraus, daß der wissenschaftliche Begriff des Gesetzesnicht nur den einer allgemeinen Form, sondern auch den eines allgemei-nen Inhalts einschließt, zu folgern, daß ihm ein allgemeines Wirklichesentsprechen muß, ist ein Fehlschluß des ontologischen Denkens. Na-turgesetze sind aber keine allgemeinen Wirklichkeiten. Rickert unter-scheidet drei Arten von Kausalität: die objektiv wirkliche (als konsti-tutive Wirklichkeitsform), die naturgesetzliche und die historische (alsmethodologische Wissenschaftsformen). Den beiden letztgenannten ent-spricht das generalisierende und das individualisierende Verfahren. Nurwenn man die methodologischen Formen der wissenschaftlichen Be-griffe von den konstitutiven Kategorien ihres Materials unterscheidet,läßt sich verstehen, wie verschiedene Wissenschaftstypen (kulturwissen-schaftliche und naturwissenschaftliche) sich auf dieselbe objektiveWirklichkeit beziehen.

Mit seiner kritischen Methode und dem Autonomieprinzip sowiedadurch, daß er eine übertheoretische Basis für das Theoretische, einÜberlogisches im Logos selbst, aufzeigte, überwand Kant den (griechi-schen) Intellektualismus, den Theoretizismus und Logizismus undwurde mit seiner ‚kritischen Theorie des Atheoretischen‘ zum ‚Philoso-phen der modernen Kultur‘, der ihrer Pluralität und Differenziertheitphilosophisch-wissenschaftlich entsprechen konnte. Die Herstellungihrer letzten Einheit und die Heilung ihrer Zerrissenheit kann jedochzwar im Ausgang vom Kantischen Kritizismus, nicht aber mit Kantselbst und allein gelingen, dessen Moralismus und partieller Rationalis-mus zum Zwecke einer universalen Kulturphilosophie zu überwindensind. Die Größe Kants liegt für Rickert gerade darin, daß seine Philo-sophie nicht entweder gänzlich angenommen oder gänzlich abgelehntwerden muß, sondern die Grundlage für positive Weiterarbeit bildet.Nur der wirkt wahrhaft im Sinne Kants, der sich um die Ausgestaltungund Fortbildung des Kantischen Kritizismus bemüht, und in diesemSinne sieht Rickert sich selbst auch als ‚Kantianer‘, der gegen das zeit-genössische Gerede vom Untergang der Philosophie und gegen „diegroßen Worte der überwissenschaftlichen Weltanschauungsdilettan-

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XXX Rainer A. Bast

Kant als Philosoph der modernen Kultur, S. X.50

Hier S. 351, 380, 383, 399.51

Cohen: Werke, Bd. 6, a.a.O., S. XI/XII, 610.52

Grundprobleme der Philosophie, S. 227, 233.53

ten“ neben dem Weltbegriff auch den Schulbegriff der Philosophie für50

wichtig hält, die als Wissenschaft auch heutzutage Fortschritte macht.Folgerichtig knüpft Rickerts ‚Systematische Selbstdarstellung‘ von 1934historisch an Kant an. Das kritische Prinzip soll beibehalten, aber aucheine „Kritik des Kritizismus“ gegeben werden. Ziel ist die (bei Kantnicht immer) ‚konsequente Durchführung‘, d.h. aber „Weiterbildungdes Kantischen Kritizismus“ und der Ausblick darauf, „in welcherRichtung die philosophische Arbeit auf kritischem Boden fortzuschrei-ten hat und über den ‚historischen‘ Kant hinauszukommen versuchenmuß“, hier vor allem durch Erweiterung des Autonomiebegriffs auch51

auf die theoretische Philosophie, die Erweiterung der praktischen Phi-losophie über das autonome Pflichtbewußtsein hinaus und die Revisiondes Kantischen Begriffs der Metaphysik und der Religionsphilosophie.Nicht nur „die Weiterbildung von Kant’s System“ eint Rickert dannauch mit Cohen, sondern auch deren Zweck im Begriff der ‚Kultur‘ „inihrer Gesamtheit und Einheitlichkeit“ als dem „Höhepunkt dermenschlichen Entwickelung. Die Darstellung dieser Entwickelung unddieser Einheit, als ihres Höhepunkts, das ist […] die höchste Aufgabedes systematischen Philosophen.“ Das sieht Rickert ebenso.52

Rickerts Denken vollzieht eine Entwicklung, in deren Verlauf derVorrang der Erkenntnistheorie abgelöst wird durch den einer transzen-dentalen Kulturphilosophie (in dessen Rahmen dann auch eine tran-szendentale Metaphysik angestrebt wird), da nur sie die ‚irrationaleFülle des konkret-geschichtlichen Lebens‘ zu umfassen vermag. Derspäte Rickert beschreibt seinen Standpunkt als „aktivistischen Idealis-mus der Freiheit“: Die Bedeutung der wissenschaftlichen Philosophie53

für den Sinn unseres Gesamtlebens liegt nicht so sehr in einer idealisti-schen Erkenntnistheorie, sondern mehr in einer werttheoretischen Kul-turphilosophie und der Anerkennung des idealistischen, antimonisti-schen und antinaturalistischen Postulats des Gegensatzes von Wertbzw. Sollen und Wirklichkeit, von „Ideal und Leben“. Dem Menschenist ein Sollen aufgegeben, dem er frei nachkommt. Das letzte Ziel allersinnvollen menschlichen Tätigkeit, d.h. aller Kulturarbeit, liegt nicht ineinem fertig gegebenen Realen, sondern in einem idealen Sein, in der

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Zur vorliegenden Edition XXXI

Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 6./7. Aufl., S. 143; vgl. hier S. 20f.54

Siehe hier in der Bibliographie die Nrn. 30, 33, 35, 57, 58, 67, 84, 88, 89, 91.55

Die ‚Kritik der reinen Vernunft‘ wird zitiert bzw. angegeben nach der 1.56

Aufl. (1781) und der 2. Aufl. (1787) ohne Seitenangaben der Akademie-Ausg., dasie (in Bd. 3 bzw. 4) die Seitenangaben der 1. u. 2. Aufl. des Werks angibt.

freien Verwirklichung von Eigenwerten in Kulturgütern. Insofern keinePhilosophie ein System der Kulturwerte aus bloßen Begriffen konstru-ieren kann, sondern sich nur „im Historischen dem Überhistorischenanzunähern“ vermag, bleibt Philosophie die unabschließbare Aufgabe54

des Menschen.

Zur vorliegenden Edition

Der Abdruck der 10 Aufsätze dieses Bandes erfolgt jeweils nach ihremErstdruck und diplomatisch, mit folg. Ausnahmen:55

1. ae, oe, ue sind zu ä, ö, ü (und den entsprechenden Großbuchsta-ben) vereinheitlicht.

2. Hervorhebung ist hier durch Kursivierung wiedergegeben.3. Die generelle doppelte Apostrophierung: „ “ ist nur bei Zitaten

übernommen, ansonsten zur einfachen: , ‘ vereinheitlicht (auchinnerhalb von Zitaten).

4. Völlig eindeutige Druckfehler wurden stillschweigend verbessert.Eingefügter Text des Herausgebers steht in eckigen Klammern: [ ].

Die Seitenzahlen des jeweiligen Erstdruckes stehen kursiv am oberenSeitenrand innen; im Text selbst sind die Seitenbrüche des jeweiligenErstdruckes durch einen senkrechten Strich: ! markiert.

Rickerts Anmerkungen stehen als Fußnoten und sind im Text mithochgestellten Ziffern markiert. Die im Rickert-Text mit tiefgestelltenZiffern markierten Herausgeber-Anmerkungen folgen den Rickert-Tex-ten hier ab S. 413 und enthalten neben Quellenangaben gekennzeichne-ter wie ungekennzeichneter Zitate ggf. Querverweise zu RickertsŒuvre und einige sachliche Erläuterungen auch für den Nichtfach-mann, geben aber keine Kommentare zu Rickerts Text. Kants Werkewerden darin nach der ‚Akademie-Ausgabe‘ (Ges. Schriften, Berlin1902ff.) zitiert bzw. angegeben, Nietzsches Werke nach der ‚Kriti-56

schen Studienausgabe‘ von Colli/Montinari (Sämtl. Werke, 15 Bde.,

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XXXII Zur vorliegenden Edition

München u.a. 1980), Goethes Werke in der ‚Gedenkausgabe‘ (Zürich1948-71) und der ‚Klassiker-Ausgabe‘ (Sämtl. Werke, Frankfurt/Main1985ff.); Goethes ‚Maximen und Reflexionen‘ werden nach den Num-mern von Max Hecker (Weimar 1907) und Harald Fricke (Klassiker-Ausg., Abt. I, Bd. 13, Frankfurt/Main 1993) angegeben. HermannDiels’ ‚Die Fragmente der Vorsokratiker‘ (11. Aufl., hrsg. von WaltherKranz, 3 Bde., Zürich u.a. 1964) sind mit ‚VS‘ angegeben, das ‚Histori-sche Wörterbuch der Philosophie‘ (hrsg. von J. Ritter und K. Gründer,Basel bzw. Darmstadt 1971ff.) mit ‚HWP‘.

Bei den ‚Thesen zum System der Philosophie‘ weicht der Lexikon-Abdruck von 1950 in einigen Fällen vom Erstdruck 1932 ab: Der Lexi-kon-Abdruck hat die textlichen Hervorhebungen generell nicht über-nommen; andere Texteingriffe sind hier in Herausgeber-Anmerkungenvermerkt.

Bei dem 10. Aufsatz (‚Die Heidelberger Tradition und Kants Kritizis-mus‘) ist der Titel der Separatausgabe hier als Haupttitel übernommen;Rickert selbst zitiert ihn auch so. Den Seiten 237-301 des Erstdruckesentsprechen die Seiten 6-69 der Separatausgabe, die satz- aber nichtdruckidentisch sind.

Für Hilfen danke ich herzlich Junko Ando M.A. (Düsseldorf), Dr.Heinrich P. Delfosse (Trier), Prof. Dr. Walter Eisermann (Braun-schweig), PD Dr. Eva-Maria Faber (Freiburg i.Br.), Prof. Dr. LotharGall (Frankfurt/Main), Dr. Sven K. Knebel (Berlin), PD Dr. ReinhardMay (Düsseldorf), Prof. Dr. Ulrich Muhlack (Frankfurt/Main), Prof.Dr. Norbert Oellers (Bonn), Prof. Dr. Günter Schulte (Köln). Ganzbesonders danke ich Herrn Dietrich Rickert, Bielefeld, und der FamilieRecht-Rickert in München für ihre Hilfe sowie Herrn Dr. JochenLechner (Düsseldorf) für Hilfe bei der Satzerstellung.