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Über die Hoffnung auf das Heil für alle bei Hans Urs Kardinal von Balthasar Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister theologiae eingereicht von Thomas Franz Sudi bei Univ.-Prof. Mag. Dr. Bernhard Körner Institut für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz St. Lorenzen im Mürztal 2013

Über die Hoffnung auf das Heil für alle bei Hans Urs

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bei Hans Urs Kardinal von Balthasar
Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister theologiae
eingereicht von
Institut für Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät
der Karl-Franzens-Universität Graz
2
Inhaltsverzeichnis
1. Hans Urs Kardinal von Balthasars Leben und Werk ..................................................... 7
1.1. Biografisches .......................................................................................................... 7
1.1.1. Studium ............................................................................................................. 7
1.1.3.1. Die Begegnung mit Karl Barth (1886-1968) ............................................ 10
1.1.3.2. Adrienne von Speyr (1902-1967) ............................................................. 10
1.2. Sein theologisches Hauptwerk: die Trilogie ........................................................ 12
2. Origenes und die Apokatastasis ................................................................................... 14
2.1. Von Balthasars Nähe zu Origenes ........................................................................ 14
2.2. Apokatastasis ........................................................................................................ 15
2.2.1. In der Heiligen Schrift und im kirchlichen Lehramt ...................................... 15
2.2.2. Die Apokatastasis in der Theologiegeschichte ............................................... 17
2.2.2.1. Irenäus von Lyon ...................................................................................... 17
2.2.2.2. Klemens von Alexandrien ........................................................................ 19
2.2.2.3. Aufkommen in der Neuzeit ...................................................................... 19
2.3. Origenes von Alexandrien .................................................................................... 20
2.3.1. Hinführungen .................................................................................................. 20
2.3.2. „Peri archon“ (= „De principiis“) ................................................................... 22
2.3.2.1. Schöpfungslehre ....................................................................................... 22
3. Die eschatologischen Entwürfe im 20. Jahrhundert, die von Balthasars Heilshoffnung
für alle vorausgingen ............................................................................................................ 29
3.2. Ein eschatologisches Dreigespann: von Balthasar, Rahner und Ratzinger .......... 31
3.2.1. Die Hölle bei Karl Rahner .............................................................................. 32
3
3.2.2. Bei Joseph Ratzinger ...................................................................................... 33
4. Von Balthasars Theologie von der Hoffnung auf das Heil aller .................................. 35
4.1. Historische Anmerkungen zur eschatologischen Kontroverse in den 1980er
Jahren 35
Kontroverse von Balthasars ......................................................................................... 35
4.2.1. Jesu Abstieg in das Reich des Todes (Descensus) ......................................... 37
4.2.1.1. Der Descensus im „Mysterium paschale“ ................................................ 38
4.2.1.2. Der Karsamstag ........................................................................................ 39
4.2.1.3. Weitere Hinweise auf den Descensus in der Heiligen Schrift .................. 41
4.2.1.4. Adrienne von Speyrs mystische Erfahrungen .......................................... 43
4.2.1.5. Kritikpunkte an von Balthasars Karsamstagstheologie ............................ 44
4.2.1.5.1. Bezüglich der Notwendigkeit des Erlösungswerkes im Diesseits ..... 44
4.2.1.5.2. Bezüglich der Objektivierung der Sünde ........................................... 44
4.2.1.5.3. Bezüglich der Unterscheidung innerhalb der Scheol ........................ 45
4.2.1.5.4. Bezüglich der Einordnung in das Heilswerk ..................................... 45
4.2.1.5.5. Bezüglich der mystischen Erfahrungen von Speyrs als theologische
Quelle 46
4.2.1.6. Der Descensus im Bezug auf die Hoffnung für alle ................................. 48
4.2.1.6.1. Michael Greiner ................................................................................. 48
4.2.2. Weitere Grundlagen für die universale Heilshoffnung ................................... 50
4.2.2.1. Gericht und Hoffnung ............................................................................... 50
4.2.2.2. Die zwei Aussagereihen im Neuen Testament ......................................... 51
4.2.2.2.1. Die sogenannte vorösterliche Aussagenreihe .................................... 53
4.2.2.2.2. Die sogenannte nachösterliche Aussagenreihe .................................. 54
4.2.2.3. Augustinus und Origenes.......................................................................... 55
4.2.2.3.2. Die „Höllenprediger“ ......................................................................... 57
4
4.2.2.6. Pflicht zur Hoffnung ................................................................................. 61
5. Von Balthasars Hoffnungstheologie zwischen Annahme und Kritik .......................... 63
5.1. Die Positionen der „Infernalisten“ ....................................................................... 63
5.1.1. Grundthese ...................................................................................................... 63
5.1.3. Gerhard Hermes SAC (1909-1988) ................................................................ 64
5.1.4. Heribert Schauf (1910-1988) .......................................................................... 66
5.1.4.1. Konzilsschema .......................................................................................... 66
5.1.4.3. Antike und mittelalterliche Symbola ........................................................ 67
5.1.4.4. Conclusio .................................................................................................. 68
5.1.6. Zusammenschau ............................................................................................. 69
5.2.1. Leo Kardinal Scheffczyk (1920-2005) ........................................................... 70
5.2.2. Weitere Autoren und Aspekte ........................................................................ 71
5.2.3. Die Rezeption der Hoffnung von Balthasars in der „pro multis“-Diskussion 72
6. Ein Nachtrag: Die Dämonologie bei von Balthasar ..................................................... 73
6.1. Vorbemerkungen .................................................................................................. 73
Conclusio .................................................................................................................................. 76
Abkürzungsverzeichnis ............................................................................................................ 78
Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 80
5
Einleitung
In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entfachte sich eine Kontroverse um die eschato-
und soteriologischen Äußerungen des Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar. Er ver-
deutlichte, dass man auf die Erlösung aller hoffen kann und dass somit die Hölle auch leer
sein könnte. Da „weder in der Heiligen Schrift noch in der kirchlichen Glaubensüberlieferung
von irgendeinem Menschen mit Bestimmtheit gesagt [wird], er sei tatsächlich in der Hölle“ 1 ,
scheint eine leere Hölle möglich. Und doch muss von Balthasar in seinen letzten Lebensjah-
ren diesen Schluss heftig verteidigen, denn wozu existiere eine leere Hölle? Existiere die Höl-
le überhaupt, wenn sie niemand erleidet? Sagt Jesus in seiner großen Gerichtsrede nicht vo-
raus, dass jene „auf der linken Seite“ (vgl. Mt 25,41) für verflucht zu erklären sind? Und nur
weil man von keinem konkreten Menschen weiß, der verdammt ist, ist doch nicht auszu-
schließen, dass sich Jesu Worte an einer massa damnata erfüllen oder erfüllt haben. Und
scheitert andererseits dann nicht Gott in seinem Heilsplan, da er will, „dass alle Menschen
gerettet werden“ (1 Tim 2,4)?
Sachlich ist das Ziel der Hoffnung auf die Rettung aller mit jenem der Apokatastasis aller
ident: Alle sollen letztlich erlöst sein. Die Lehre von der Wiederherstellung aller, die Apoka-
tastasis, wurde 543 in Konstantinopel verurteilt. 2 Zugeschrieben wurde diese Lehre Origenes.
Auch wenn die Apokatastasis eng mit dem Namen Origenes verbunden ist, scheint diese Zu-
schreibung aufgrund jüngerer Forschungsergebnisse, die ich in dieser Arbeit auch darstelle,
nicht mehr gerechtfertigt. Das Anathem von Konstantinopel betrifft die Wiederversöhnung
der Verdammten und der gefallenen Engel. Selbst wenn man anerkennt, dass eine Ungewiss-
heit über Verdammte eine Möglichkeit der Rettung aller Menschen einschließt – auf die von
Balthasar hofft –, sind davon die gefallenen Engel nicht betroffen. Die Hoffnung auf das Heil
aller ist also auf den menschlichen Personenkreis beschränkt. In dieser Arbeit soll diese
Heilshoffnung von Balthasars für alle Menschen reflektiert werden und auch soll ihre Legiti-
mität geprüft werden.
1 Katholischer Erwachsenen-Katechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche. Herausgegeben von der Deut-
schen Bischofskonferenz, Kevelaer: Butzon & Bercker 1985, 423. 2 Vgl. DH 441.
6
Im ersten Teil soll die Biografie Hans Urs von Balthasars behandelt werden. Hier soll beson-
ders von Balthasars theologische Verbindung mit der französischen Nouvelle Théologie erläu-
tert werden. Dieser Teil schließt mit einem Überblick über von Balthasars Opus. Da von Bal-
thasars Hoffnung auf das Heil allermeist mit Origenes und ferner mit der Apokatastasis in
Verbindung gebracht wird, soll das Verhältnis zwischen Origenes’ Eschatologie und Allver-
söhnung geklärt sowie auch die Geschichte der Apokatastasis umrissen werden.
Einige Grundzüge der Eschatologie von Balthasars werden im zweiten Teil dargestellt. Zuerst
wird seine bedeutende Theologie vom Karfreitag erläutert und von kritischen Stimmen be-
urteilt. Dann folgen die anderen Grundlagen, bei denen ich mich am Büchlein „Was dürfen
wir hoffen?“ 3 orientieren werde. Dieses Büchlein ist die zentrale Schrift bezüglich der Hoff-
nung auf das Heil aller bei von Balthasar. Sie entstand im Zuge der Kontroverse in den
1980er Jahren. Im Anschluss werden von Balthasars Streitgegner analysiert. Ebenso kommen
auch Kritiker außerhalb der Kontroverse zu Wort. Am Ende reiche ich noch eine kurze Dar-
stellung Dämonologie von Balthasars nach.
Herzlich danke ich allen, die mich im Abschluss dieser Diplomarbeit unterstützt haben, allen
voran Herrn Univ.-Prof. Mag. Dr. Bernhard Körner für die umsichtige Betreuung. Ebenso
bekunde ich dem Herrn Regens, Msgr. Mag. Franz Josef Rauch, und meinen Praktikums- und
Diakonatspfarrern Konsistorialrat Mag. Alois Kowald und Mag. Herbert Kernstock für ihre
Geduld und ihr Verständnis besten Dank. Auch das Korrigieren dieser Arbeit möge der Herr
Mag. Dr. Gertraud Harb, MMag. Andrea Riedl und Prof. Mag. Herbert Manfred Peklar MSc.
vielfach vergelten.
3 Balthasar, Hans Urs von: Was dürfen wir hoffen?, Einsiedeln: Johannes
2 1989 (= Kriterien 75).
1.1. Biografisches
1.1.1. Studium
Hans Urs von Balthasar wurde am 12. August 1905 in Luzern geboren und entstammt einer
dortigen Patrizierfamilie. Nach dem Studium der deutschen Philologie in Berlin, Zürich und
Wien, das er mit der Dissertation „Geschichte des eschatologischen Problems in der moder-
nen deutschen Literatur“ abschloss, trat er 1929 in die Gesellschaft Jesu ein. Seine Ordensstu-
dien absolvierte von Balthasar in Pullach bei München und in Lyon-Fourvière. Beeinflusst
wurde er in dieser Zeit besonders von seinen älteren Mitbrüdern Erich Przywara und Henri de
Lubac. 4 Przywaras wirkte damals in München und de Lubac in Lyon. Nach dem Noviziat in
Feldkirch folgte in Pullach das Philosophicum, das damals wie üblich neuscholastisch im
Geiste des Ordensphilosophen Francisco Suárez betrieben wurde. Für den bereits universitär
gebildeten Balthasar war diese Zeit eine Wüstenerfahrung. Als Oasen dienten die Gespräche
mit Erich Przywara im nahen München, der in dieser Zeit sein Opus „Analogia entis“ veröf-
fentlichte, das im Bereich der Metaphysik eine Alternative zur neuscholastischen Literatur
darstellte. Die damaligen Begegnungen mit Przywara blieben für von Balthasars Denken
wegweisend. 5
In Lyon wurde die Ordensausbildung mit dem Theologiestudium fortgesetzt. Dort lernte von
Balthasar de Lubac kennen, mit dem er freundschaftlich verbunden blieb. Da de Lubac an der
Theologischen Fakultät und nicht im Scholastikat den ordenseigenen Priesteramtskandidaten
dozierte, war er an sich kein Lehrer von Balthasars. 6 Viele Bücher de Lubacs wurden von von
Balthasar ins Deutsche übersetzt, eingeleitet und bei weiteren hat er zu deren Veröffentli-
chung beigetragen. Von Balthasar hielt de Lubac auch in der Zeit, in der dem Franzosen vom
4 Vgl. Henrici, Peter: Art. Balthasar, Hans Urs v., in: LThK
3 1 (2009) 1375-1378, 1375.
5 Vgl. Löser, Werner: Kleine Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, Freiburg: Herder 2005, 70-72.
6 Vgl. Guerriero, Elio: Hans Urs von Balthasar. Eine Monographie, Einsiedeln: Johannes 1993, 48.
war, die Treue. 7
Das theologische Schaffen Henri de Lubacs wird einer theologischen Richtung zugerechnet,
die man seit den 1940ern nach Albert Raffelt eher kritisch und unbestimmt Nouvelle Théolo-
gie nennt. Zugeordnet werden ihr französische Theologen des Dominikanerorderns, Marie-
Dominique Chenu, Yves Congar et al., und der Gesellschaft Jesu, Henri Bouillard, Jean Da-
niélou et al. Auch der Theologe und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin SJ wird mit ihr
assoziiert und ebenso siedelt man Hans Urs von Balthasars Werk in besonderer Nähe zur
Nouvelle Théologie an. 8 Diese theologische Strömung fand in Rom viele Kritiker, die gegen
sie auch in den Kampf zogen. Dieser Streit gipfelte 1950 in Pius’ XII. Enzyklika „Humani
generis“, in der sich das päpstliche Lehramt kritisch mit neueren Tendenzen in Theologie und
Philosophie auseinandersetzte. Konkrete Verurteilungen folgten der Enzyklika nicht, doch
gingen Absetzungen von Professoren dieser voraus. Zu den Betroffenen gehörten damals in
Lyon-Fourvière u. a. de Lubac und Bouillard. Durch diese vorausgehenden Absetzungen
schien es offensichtlich, dass die wissenschaftliche Arbeit dieser Franzosen es war, gegen die
man die Theologie schützen wollte. 9 De Lubacs Verhalten in dieser für ihn schmerzlichen
Zeit, sein Sentire cum ecclesia, wurde für von Balthasar auch vorbildhaft. 10
Mit der Nouvelle Théologie teilte von Balthasar mehrere theologische Anliegen. Eines war die
Überwindung des gnadentheologischen Extrinsezismus, der die nachtridentinische Theologie
vom Verhältnis der Gnade zur Natur beherrschte. Der Extrinsezismus impliziert das Konzept
einer in sich geschlossenen Natur, einer natura pura, die der Gnade zur eigenen Vollendung
nicht bedarf. Der Vorzug dieser Entkoppelung von Natur und Gnade liegt darin, dass die
Freiheit und die Ungeschuldetheit der Gnade betont wird. Allerdings fehle dann der Natur die
Ausrichtung auf Gott, da er nicht das Ziel einer nur natürlich Vollendung ist. In dieser Kon-
zeption fehlt der Natur, dass sie auf Gott hin geschaffen wurde. 11
7 Vgl. Löser, Hinführung, 74.
8 Vgl. Raffelt, Albert: Art. Nouvelle Théologie, in: LThK
3 7 (2009) 935-937, 935f.
9 Vgl. Neufeld, Karl Heinz: Art. Humani generis, in: LThK
3 5 (2009) 318f., 318.
10 Vgl. Löser, Hinführung, 74; mit Verweis auf: Balthasar, Hans Urs von: Henri de Lubac. Sein organisches
Lebenswerk, Einsiedeln: Johannes 1976 (= Kriterien 38), 85f. 11
Vgl. Raffelt, Albert: Art. Extrinsezismus – Intrinsezismus, in: LThK 3 3 (2009) 1135-1137, 1135f.
9
Die Theologen der Nouvelle Théologie griffen bei der Überwindung des gnadentheologischen
Extrinsezismus auf Augustinus und Thomas von Aquin zurück. Der Aquinate lehrt von der
Natur, dass sie auf die visio beatifica hingeordnet ist. Da dieses Ziel eben die Natur übersteigt,
ist die Gnade zum Erlangen des Zieles nötig. Dies wurde von den französischen Theologen
für eine neue theologische Anthropologie rezipiert. 12
Dieser Anthropologie zufolge ist „der
Mensch nach Gottes Willen grundlegend auf die Begegnung mit dem gnädigen Gott ange-
legt“ 13
. De Lubac hat sich u. a. 1946 in seinem Opus „Surnaturel“ mit dieser Theologie be-
schäftigt. Von Balthasar hat seine Erkenntnisse diesbezüglich 1942 in „Présence et pensée“,
einem „Essai sur la philosophie de Grégoire de Nysse“, in Paris bei Beauchesne veröffent-
licht. 14
Eine weitere Lehre, die man überwinden wollte, war jene von der doppelten Prädestination,
die sich in Frankreich einst durch den Jansenismus ausgebreitet hatte und die Zeit über popu-
lär blieb. Die Nouvelle Théologie hob konträr dazu den universalen Heilswillen Gottes hervor.
Sowohl für Glaubensfragen als auch -praxis zog das einen Paradigmenwechsel mit sich, der
auch in eine neue Ekklesiologie mündete. Einer der wichtigsten Beiträge zu diesem Themen-
bereich war für von Balthasar und viele andere Theologen de Lubacs Werk „Catholicisme“ 15
aus dem Jahre 1938. Löser hält in seiner Hinführung zu von Balthasar abschließend fest, dass
„für von Balthasars eigenes Denken […] die Lehre von Gottes universalen Heilswillen ganz
und gar entscheidend werden und bleiben“ 16
sollte.
Nach den drei Jahren Theologiestudium kehrte von Balthasar in seine Ordensprovinz nach
München zurück. Am 26. Juli 1936 weihte ihn der dortige Erzbischof, Michael Kardinal von
Faulhaber, zum Priester. 17
Bis 1937 setzte von Balthasar noch das Studium fort, ehe er der
Redaktion der ordenseigenen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ zugewiesen wurde. 1939 begann
er das Terziat, das dritte und letzte Prüfungsjahr vor dem Ende der Ausbildung, in Pullach.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wollten ihn die Oberen der Gesellschaft Jesu von
12
Vgl. Faber, Eva-Maria: Art. Natur und Gnade. 3. Theologiegeschichtlich, in: LThK 3 7 (2009) 668-670, 669f;
Raffelt, Théologie, 936. 13
Löser, Hinführung, 74. 14
Vgl. Guerriero, Balthasar, 81f. 15
Auf Deutsch ediert unter dem Titel: Lubac, Henri de: Glauben aus der Liebe, Einsiedeln: Johannes 2 1992.
16 Löser, Hinführung, 75.
10
Deutschland abziehen und stellten ihm einen Lehrstuhl an der Gregoriana in Rom und die
Studentenseelsorge in Basel zur Wahl. Dass von Balthasar sich für die geistliche Betreuung
von Studenten entschied, liegt für Elio Guerriero daran, dass „ihm die Arbeit in der Pastoral,
die Seelsorge mehr am Herzen lag als das Dozieren.“ 18
1.1.3.1. Die Begegnung mit Karl Barth (1886-1968)
In Basel freundete er sich mit dem protestantischen Theologen Karl Barth an. Diese Freund-
schaft schlug sich auch in von Balthasars reichem Schaffen nieder. Von Balthasar hoffte auch
auf eine Konversion Barths. In diesem Anliegen wurde er auch besonders von Adrienne von
Speyr unterstützt, die auch mit einem Bruder Barths befreundet war. 19
Mit Karl Barth verband
ihn nicht nur der Wohnsitz und die tiefe Verehrung für Mozarts Musik, sondern auch die ge-
meinsame Auseinandersetzung mit theologischen Fragen. Ein Bereich der Theologie, in dem
Barth und von Balthasar viele Ähnlichkeiten und teilweise Übereinstimmungen aufweisen, ist
die Eschatologie. Für Werner Löser ist diesbezüglich Heilsuniversalismus das wichtigste
Stichwort. Ähnlich wie die nouveaux théologiens haderte auch Barth mit der doppelten Prä-
destination. Dieses Theologumenon, dass Gott für jeden Mensch das ewige Geschick – den
Himmel oder die Hölle – vorherbestimmte, ist Teil der calvinistischen Erwählungslehre. In
seiner „Kirchlichen Dogmatik“ konzipierte er eine Soteriologie von der Erwählung aller zum
Heil, die er mit der Schöpfungslehre verband. Von Balthasar geht mit Barth hier in vielen
Punkten d’accord, er distanziert sich aber auch von Barth ab dem Punkt, wo die Apokatastasis
Teil von Barths Soteriologie wurde. 20
Trotzdem schloss von Balthasar: Barths Neudeutung
der Erwählungslehre „konvergierte mit den Ansichten des Origenes und somit auch mit der
Karsamstagstheologie Adriennes.“ 21
1.1.3.2. Adrienne von Speyr (1902-1967)
Eine weitere Person, mit der von Balthasar ab seiner Zeit in Basel eng verbunden war, war die
oben erwähnte Adrienne von Speyr. Sie stammte aus einer alten evangelischen Familie und
war Ärztin in Basel. Schon 1940 lernte sie den Studentenseelsorger von Balthasar in Basel
kennen und konvertierte im selben Jahr zu Allerheiligen zum katholischen Glauben. Damit
18
Balthasar, Hans Urs von: Unser Auftrag. Bericht und Entwurf, Einsiedeln: Johannes 1984, 85.
11
begann eine geistliche Freundschaft, die sich in der großen geistlichen Tradition der Doppel-
sendungen wie Franz und Klara von Assisi oder Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila
verstand. 22
So hat von Balthasar auch immer darauf Wert gelegt, dass ihrer beider Lebens-
werk nicht von einander zu trennen ist. Damit diese Verbundenheit gesichert bleibt, verfasste
er 1984, siebzehn Jahre nach von Speyrs Tod, das Buch „Unser Auftrag“, in dem er erklärt:
„Dieses Buch hat vor allem einen Zweck: zu verhindern, daß nach meinem Tod der Versuch
unternommen wird, mein Werk von dem Adriennes von Speyr zu trennen. Es beweist, daß
dies in keiner Hinsicht möglich ist“ 23
. Das gemeinsame Lebenswerk beider umfasst neben der
gemeinsamen Theologie auch die Gründung der Johannesgemeinschaften. Erste Gründungs-
ideen entstanden schon 1940. 24
Vier Jahre später zu Immaculata beschlossen die beiden mit
Frauen die Gründung eines weiblichen Zweiges des geistlichen Instituts und im Sommer da-
rauf machte man die Gründungsexerzitien und die neue Gemeinschaft bezog ein gemeinsames
Haus. 25
Mit dieser Gründung nahmen sie auch bereits die Schaffung der Säkularinstitute vor-
weg, deren kanonische Grundlage Papst Pius XII. erst 1947 konstituiert hat. 26
Spätestens mit der Gründungsidee eines männliches Zweigs wurde es um von Balthasars Or-
densleben auch kompliziert. Da die Gesellschaft Jesu die Sendung von Speyrs nicht anerken-
nen konnte und von Balthasar auch nicht gleichzeitig Oberer der Johannesgemeinschaften
sein konnte, legte von Balthasar die letzte feierliche Profess nicht ab und verließ 1950 die
Gesellschaft Jesu. Als Kleriker verlor er aber damit auch seinen Inkardinationsverband und es
fand sich auch erst 1956 der Bischof von Chur, der von Balthasar in seine Diözese aufnahm.
In seiner Zeit als presbyter vagans musste er als freier Schriftsteller und Vortragsredner sei-
nen Lebensunterhalt außerhalb Basels verdienen, da der dortige Ordinarius seine Anwesenheit
nicht wünschte. 27
Von Speyr war aber nicht nur Mitbegründerin der Johannesgemeinschaften, sondern nach von
Balthasar auch eine begnadete Mystikerin. „Sogleich nach der Konversion beginnt ein wahrer
Katarakt mystischer Gnaden sich über Adrienne zu ergießen, in einem scheinbar regellosen
Sturmwind, der sie nach allen Richtungen gleichzeitig wirbelt“ 28
, hält von Balthasar 1968
fest. Zu diesen mystischen Gnaden gehörten nicht nur zahllose Visionen, sondern auch Hei-
22
Vgl. Greshake, Gisbert: Art. Speyr, Adrienne v., in: LThK 3 9 (2009) 836f., 836.
23 Balthasar, Auftrag, 11.
24 Vgl. Greshake, Speyr, 836.
25 Vgl. Guerriero, Balthasar, 158f.
26 Vgl. Greshake, Speyr, 836.
27 Vgl. Guerriero, Speyr, 160-162.
28 Balthasar, Hans Urs von: Erster Blick auf Adrienne von Speyr, Einsiedeln: Johannes 1968, 29.
12
lungswunder bei ihren Patienten und sogar zeitweise die Stigmatisation. In den Kartagen 1941
und auch in den folgenden Jahren erlebte von Speyr auf mystische Weise die Leiden Jesu
Christi innerlich mit. 29
Diese Visionen hat von Balthasar im ersten Band von „Kreuz und Höl-
le“ veröffentlicht. 30
Von diesen Visionen geht die Theologie des Karsamstags aus und die
Entwicklung dieser Theologie von Balthasars beruht auf dem, was er von ihr gelernt hat. 31
Diesen Band wie auch viele andere Schriften, darunter auch mehrere Bibelkommentare, dik-
tierte sie von Balthasar, der ihn im vom ihn gegründeten Johannes Verlag edierte. 32
Sein eige-
nes immenses theologisches Opus habe von Balthasar hingegen nur als eine „Nebenarbeit“ 33
gesehen.
In Basel wirkte er weiterhin als freier Schriftsteller, Seelsorger und Exerzitienleiter. 1969
wurde er Mitglied der Internationalen Theologenkommission. 1973 begründete er die Interna-
tionale katholische Zeitschrift „Communio“ mit. In seinen letzten Lebensjahren wurden ihm
noch hohe Ehren zuteil: 1984 der Internationale Preis Paul VI. und kurz vor seinem Tod die
Aufnahme in das Kardinalskollegium. Die creatio erlebte er allerdings nicht mehr. Zwei Tage
vor dem feierlichen Konsistorium verstarb von Balthasar als Kardinal der Heiligen Römi-
schen Kirche am 26. Juni 1988. 34
1.2. Sein theologisches Hauptwerk: die Trilogie
Da von Balthasar nie im Vorlesungsbetrieb tätig war und seine großen Monografien in der
Studierstube verfasste, hatte er für Manfred Hauke wenig Anlass, sich von didaktischen oder
systematischen Vorgaben eingrenzen zu lassen. 35
Lehramtliche Rezeption fand von Balthasars
Theologie vom petrinischen und marianischen Prinzip der Kirche. Der selige Papst Johannes
Paul II. nahm 1988 im Apostolischen Schreiben „Mulieris Dignitatem“ darauf Bezug. Das
apostolisch-petrinische Profil meint die hierarchische Prägung der Kirche, während das ma-
rianische die laikale Prägung der Kirche bedeutet. Die hierarchische Struktur ist auf die Heili-
29
Vgl. ebd., 29-31. 30
Vgl. Speyr, Adrienne von: Kreuz und Hölle. 1. Die Passionen, Einsiedeln: Johannes 1966. 31
Vgl. Balthasar, Auftrag, 61. 32
Vgl. Greshake, Speyr, 836f. 33
Henrici, Balthasar, 1376. 34
Vgl. Henrici, Balthasar, 1375f. 35
Vgl. Hauke, Manfred: Auf den Spuren des Origenes. Größe und Grenzen Hans Urs von Balthasars, in: Theo-
logisches 35/9 (2005) 554-562, 556.
13
gung des Volkes Gottes hingeordnet, und gerade in der Heiligkeit steht die selige Jungfrau
Maria an erster Stelle. 36
Das opus magnum des Schweizer Theologen ist eine fünfzehnbändige Trilogie, die aus den
Teilen „Herrlichkeit“, „Theodramatik“ und „Theologik“ besteht. Bischof Kapellari bewertet
diese Trilogie als von Balthasars „ingens opus“, das „vom Sich-Zeigen, Sich-Geben und Sich-
Sagen des Wahren, Guten und Schönen [Hervorhebung von T. F. S.] im Ineinander von
menschlichem und göttlichem Sein“ 37
handelt. Auf diese drei transzendentalen Eigenschaften
Wahrheit, Gutheit und Schönheit habe von Balthasar die Trilogie verfasst. 38
Die Transzenden-
talie Einheit habe er sich nicht eigens angenommen, da er sie in den anderen Transzendenta-
lien gegeben sah. 39
Vom Schönen, von der „Herrlichkeit“ geht von Balthasar aus und kommt
zur Mitte seines Werkes, der „Theodramatik“, der die Gutheit zugeordnet werde. Von dieser
Mitte geht in die andere Richtung die „Theologik“ weg, der man die Wahrheit zuordne. Von
Balthasar wendet für die Trilogie das Bild eines „Triptychons“ 40
an, und die Mitte, das große
Zentralbild des Triptychons, ist die „Theodramatik“. Das Erblicken der Herrlichkeit Gottes
geht über zum Tun des Guten, die „Offenbarung an sich“ geht über in die „Offenbarung für
uns“ 41
. „Das Aufscheinen Gottes (Theophanie) ist nur der Auftakt zum Zentralen: der in
Schöpfung und Geschichte sich ereignenden Auseinandersetzung zwischen der göttlichen
unendlichen und der menschlichen endlichen Freiheit“ 42
, schreibt von Balthasar selbst. Das
Ziel der göttlichen wie auch der menschlichen Freiheit in dieser Auseinandersetzung ist das
Gute. Aus der Spannung dieser beiden freien Willen entsteht das Drama des göttlichen und
menschlichen Handelns. Für Hauke befinden sich in diesem zentralen Teil die „wichtigsten,
aber zugleich auch problematischsten Gedanken“ 43
der Trilogie. Die Eschatologie behandelt
von Balthasar im vierten und letzten Band dieses Trilogieteiles, der den Titel „Das End-
spiel“ 44
trägt.
36
Vgl. Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem (15. August 1988) Nr. 27; DH 4841. 37
Kapellari, Egon: Hans Urs von Balthasar, Lehrer und Wächter, in: NOrd 59/5 (2005) 349-353, 353. 38
Vgl. Guerriero, Balthasar, 371. 39
Vgl. Guerriero, Balthasar, 277. 40
Balthasar, Hans Urs von: Mein Werk. Durchblicke, Einsiedeln: Johannes 1990, 76. 41
Gibellini, Rosino: Handbuch der Theologie im 20. Jahrhundert, Regensburg: Pustet 1995, 237. 42
Balthasar, Werk, 77. 43
Hauke, Spuren, 555. 44
Vgl. Balthasar, Hans Urs von: Theodramatik. 4. Das Endspiel, Einsiedeln, Johannes 1983.
14
2.1. Von Balthasars Nähe zu Origenes
Von Balthasars Interesse galt vor allem der patristischen Theologie. Unter den frühen Theo-
logen, über die er arbeitete, sticht besonders der Alexandriner Origenes heraus. Origenes
wirkte im dritten Jahrhundert als Katechet in Alexandrien und als Presbyter und Prediger in
Caesarea. 45
worden. 46
Nach Hauke besteht Origenes’ theologisches Defizit darin, dass er das menschlich-
irdische Leben zu gering einschätze. Origenes siedle den Beginn eines personalen Lebens in
einem präexistenten Dasein an und durch eine persönliche Schuld stürze eine Person auf die
Erde. Demnach ist für Origenes, so Hauke, die Zeit der Entscheidung bzw. der Bekehrung
nicht auf das irdische Leben begrenzt. Die Entscheidungsfreiheit beginne nicht mit dem irdi-
schen Leben und ende auch nicht damit. Die Bekehrung sei damit auch nach dem Tode mög-
lich und damit auch die Wiederversöhnung aller, die sogenannte apokatastasis panton. 47
In seiner theologischen Arbeit verteidigt von Balthasar Origenes und folgt darin auch seinem
Mentor de Lubac. 48
Auch wenn von Balthasar sich an Origenes anlehnt, so stellt Hauke klar,
dass von Balthasar die „Präexistenztheorie des Origenes [nicht übernimmt], wohl aber die
‚Hoffnung auf die Rettung aller‘.“ 49
In den „Fragen der Theologie heute“, 1957, bekennt von
Balthasar „das Ende der Verdienstmöglichkeit mit dem Tode“ 50
. Dass von Balthasar sich an
Origenes orientiere, werde auch in Beiträgen zu anderen Bereichen der Theologie sichtbar, z.
B. in seiner Theologie vom Descensus Christi bzw. vom Karsamstag. 51
Auch bleibt die Keno-
sis Christi nicht auf die irdische Kreuzigung beschränkt, sondern er entäußert sich weiter, in-
45
Vgl. Vogt, Hermann-Josef: Art. Origenes, in: LThK 3 7 (2009) 1131-1135, 1131f.
46 Vgl. DH 403-411.
47 Vgl. Hauke, Spuren, 558.
48 Vgl. Balthasar, Hoffen, 47-49. Er bezieht sich dabei auf Lubac, Henri de: „Du hast mich betrogen, Herr!“,
Einsiedeln: Johannes 1984 (= Kriterien 69), 84f. 49
Hauke, Spuren, 558. 50
Balthasar, Hans Urs von: Eschatologie, in: FThH (1957) 403-421, 405. 51
Vgl. Hauke, Spuren, 559.
15
dem er in die Unterwelt hinabsteigt. Aus diesem Abstieg wachse die „Heilshoffnung auf eine
‚leere Hölle‘“ 52
mals 401 von Papst Anastasius verurteilt. 53
Erste Streitigkeiten um seine Theologie seien aber
schon zu Lebzeiten, also vor 254, anzunehmen und um 300 schlug sich dieser Streit auch in
der Literatur nieder. 54
Es wurde aber nicht die ganze Lehre des Origenes verworfen. Das „De-
cretum Gelasianum“ aus dem sechsten Jahrhundert enthält Erklärungen über einzelne Kir-
chenväter, darin werden auch „manche Werke des Origenes, die der seligste Hieronymus
nicht verwirft, als lesbar“ 55
aufgenommen. Aber eben jene theologischen Sätze, auf die sich
Hauke oben bezieht, wurden verurteilt.
Die Theologie von Balthasars wird auch von anderen Autoren mit der Apokatastasis und mit
Origenes in Verbindung gebracht. 56
Von Balthasar selbst sieht sich auch mit dem Vorwurf
konfrontiert, mit seiner universalen Heilshoffnung lehre er die Allversöhnung. 57
Daher erach-
te ich es für sinnvoll, vor der Darstellung der Eschatologie von Balthasars den Blick auf die
Ursprünge und die Lehre der Apokatastasis zu werfen.
2.2. Apokatastasis
Der Jesuit Josef Loosen definiert Apokatastasis als „endl. Wiederherstellung der ganzen
Schöpfung einschließlich der Sünder, Verdammten u. Dämonen zu einem Zustand vollkom-
mener Glückseligkeit“ 58
52
DH 353. 56
Vgl. Laak, Werner van: Allversöhnung. Die Lehre von der Apokatastasis. Ihre Grundlegung durch Origenes
und ihre Bewertung in der gegenwärtigen Theologie bei Karl Barth und Hans Urs von Balthasar, Sinzig: Sankt
Meinrad Verlag für Theologie 1990 (= SthTSt 11); Ambaum, Jan: Hoffnung auf eine leere Hölle – Wiederher-
stellung aller Dinge? H. U. von Balthasars Konzept der Hoffnung auf das Heil, in: IKaZ 20 (1991) 33-46;
Schneider, Michael: Apokatastasis. Zur neueren dogmatischen Diskussion um die Lehre von der Allversöhnung,
Köln: Koinonia-Oriens 2003 (= Edition Cardo 98). 57
Vgl. Balthasar, Hans Urs von: Kleiner Diskurs über die Hölle, in: ders. Kleiner Diskurs über die Hölle. Apoka-
tastasis, Einsiedeln: Johannes 4 2007 (= Neue Kriterien 1), 7-70, 12.
58 Loosen, Josef: Art. Apokatastasis. II. Dogmatisch-dogmengeschichtlich, in: LThK
2 1 (1957) 709-712, 709.
16
einmal vor. 59
Der Apostel Petrus nennt sie in seiner Rede im Tempel: „Ihn [den Messias]
muss freilich der Himmel aufnehmen bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem
(ποκαταστσεως πντων), die Gott von jeher durch den Mund seiner heiligen Propheten ver-
kündet hat.“ (Apg 3,21)
Der Lehre der Apokatastasis an sich liegt eine zyklische Vorstellung zugrunde: die Wieder-
herstellung der alten Ordnung, der Wiederanfang einer Weltperiode, eines saeculum, in dem
alles wieder gleich beginnt. „Das Ziel ist die Wiedererreichung des Anfangs“ 60
. Auch in der
Heiligen Schrift kommt laut von Balthasar dieses zyklische Moment zum Ausdruck, denn die
Wiederherstellung, die die Propheten verkündet haben, meine auch die Wiedererrichtung Is-
raels und der Stämme Jakobs (vgl. Sir 48,10). Elija hat diese Wiedererrichtung vorzubereiten
(vgl. Mal 3,23f.), der dann von Johannes dem Täufer verkörpert wird (vgl. Mt 11,14). Auch
vor der Himmelfahrt Jesu fragen ihn die Jünger: „Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für
Israel wieder her (ποκαθιστνεις)?“ (Apg 1,6). Innerzeitlich verläuft die Heilsgeschichte
linear: Schöpfung, Erzväter, Mose … Jesus, Kirche und Wiederkunft. Je mehr allerdings die
lineare Heilsgeschichte reflektiert wurde, umso mehr wurde sie in ein zyklisches Denken ein-
gebettet. Davon zeugt auch die johanneische Theologie: Jesus kommt vom Vater und in die
Welt und kehrt von dort zu ihm zurück (vgl. Joh 16,28). 61
Das Theologumenon der Apokatastasis wurde 543 in Konstantinopel verurteilt, indem ein
Edikt des Kaisers Justinian auf der damaligen Synode proklamiert wurde. In seinem Edikt
führt Kaiser Justinian neun Anathematismen gegen Origenes an, 62
das letzte verwirft die
Apokatastasis: „Wer sagt oder daran festhält, die Strafe der Dämonen und gottlosen Men-
schen sei zeitlich und sie werde nach einer bestimmten Zeit ein Ende haben, bzw. es werde
eine Wiederherstellung [Hervorhebung T. F. S.] von Dämonen oder gottlosen Menschen ge-
ben, der sei mit dem Anathema belegt.“ 63
Indirekt verurteilt wurde die Apokatastasis auch
dadurch, dass lehramtliche Dokumente immer wieder die Ewigkeit der Höllenstrafen bekräf-
tigten, 64
z. B. das Vierte Lateranense 1215 in seinen Definitionen gegen die Albigenser und
59
Vgl. Balthasar, Hans Urs von: Apokatastasis, in: ders.: Kleiner Diskurs über die Hölle. Apokatastasis, Einsie-
deln: Johannes 4 2007 (= Neue Kriterien 1), 71-101, 73.
60 Ebd., 74.
63 Ebd. 411.
64 Vgl. Loosen, Apokatastasis, 709. Er führt hier neben den Definitionen des Vierten Lateranense (DH 801) auch
noch die entsprechenden Sätze der Bulle „Benedictus Deus“ Benedikts XII. und des Dekrets für die Griechen des
Florentinums (DH 1306) an. Allerdings fehlen in diesen beiden Sätzen den „Strafen“ (poenae) das Attribut
„ewig“ (aeternae oder perpetuae).
Katharer, 65
aus jüngerer Zeit das Schreiben der Glaubenskongregation zu einigen Fragen der
Eschatologie „Recentiores episcoporum synodi“ vom 17. Mai 1979 66
und zuletzt der Kate-
chismus der katholischen Kirche in 1990ern. 67
Josef Loosen stellt fest, dass unter Wiederherstellung im biblischen Sinne die der göttlichen
Ordnung zu verstehen sei, die anfangs gewollt war. Das betreffe aber nicht die individuelle
Person mit ihrem Leben. Die Zahl der Erlösten ist ungewiss und die Freiheit der Geschöpfe
gilt auch gegenüber Gott. Die Entscheidung, die im Diesseits gefällt wird, wirke sich auf die
Ewigkeit aus. 68
„Eine Bekehrung v. Dämonen od. v. Menschen nach dem Tod anzunehmen ist
nicht statthaft. Daß Menschen verlorengehen können, damit muß eindeutig gerechnet wer-
den“ 69
, schreibt Loosen. Für Joseph Ratzinger und Leo Scheffczyk kommt mit der Möglich-
keit der ewigen Verdammnis, aus der nichts wiederhergestellt werden kann, zum Ausdruck,
dass man in seiner Freiheit Gottes Liebe auch ablehnen kann, und somit auch, dass der
Mensch einen freien Willen hat. 70
2.2.2. Die Apokatastasis in der Theologiegeschichte
In diesem Abschnitt werden zwei mögliche Vorläufer der Apokatastasislehre, Irenäus von
Lyon und Klemens von Alexandrien, behandelt. Ebenso wird auch die Rezeption der Apoka-
tastasis in der sogenannten westlichen Welt kurz dargestellt. Dem Alexandriner Origenes wird
aufgrund seiner besonderen Stellung in diesem theologischen Gegenstand ein eigener Ab-
schnitt gewidmet.
Der Frankfurter Jesuit Michael Schneider findet in der Anakephalaiosis- oder Rekapitula-
tionslehre des heiligen Irenäus von Lyon aus dem zweiten Jahrhundert die Apokatastasislehre
angedeutet: „Christus selbst faßt die ganze Welt und alle Menschen zusammen und vollendet
alles durch die Wiederherstellung [Hervorhebung von T. F. S.] der Schöpfung und die Auf-
65
Ebd. 70
Vgl. Ratzinger, Joseph: Eschatologie – Tod und ewiges Leben, Regensburg: Pustet 1977 (= KKD 9), 177f.;
Scheffczyk, Leo: Scheidung oder Rettung aller? Die Lehre vom Endschicksal des Menschen, in: NOrd 37/6
(1983) 414-423, 414.
capitulatio bzw. instauratio bei Irenäus als „Allzusammenfassung“ 72
, die sich von der Allver-
söhnung unterscheidet. Thomas von Aquin verwende hierfür vor dem Hintergrund von Eph
1,10 – der Vater „hat beschlossen, […] in Christus alles zu vereinen (νακεφαλαισασθαι /
instaurare 73
/ recapitulare 74
. Mit redintegratio kommt
der Aspekt der Erneuerung hinzu, sie kann aber als „Wiederherstellung (in den alten Stand)“ 76
verstanden werden. So scheinen sich m. E. sachlich die Ansichten Schneiders über die Ana-
kephalaiosis von der Scheffczyks doch nicht wirklich zu unterscheiden.
Nach Rudolf Haubst vollzieht sich Anakephalaiosis real an der gefallenen Menschheit durch
deren „gnadenhafte Erneuerung u. Wiederherstellung u. schließlich durch die totale Voll-
endung bei der Auferstehung des Fleisches.“ 77
Diese Vollendung betreffe dann aber nur jene,
die Christus „im Gehorsam gefolgt sind.“ 78
Johann Auer sieht in Christus in seiner Rekapitu-
lation den Antitypus zu Adam, da Christus den Teufel besiegt hat, der mit Adams Fleisch in
der Welt Fuß gefasst hat. So konnte Christus nur durch die eigene Fleischwerdung und
Fleischhingabe am Kreuz die Erlösung erwirken („Caro salutis cardo“). 79
Irenäus selbst
schreibt, dass „sich [Christus] in den Dienst des väterlichen Willens [stellt], der reich und in
Fülle ist, wenn er der Erlöser aller ist, die gerettet werden, und der Herr derer, die unter seiner
Herrschaft sind“ 80
. Offen bleibt hier allerdings, ob alle zur Rettung bestimmt sind. Es ist al-
lerdings zu berücksichtigen, dass die Lehre von der Anakephalaiosis eine Reflexion im Lichte
71
Schneider, Michael: Apokatastasis. Zur neueren dogmatischen Diskussion um die Lehre von der Allversöh-
nung, Köln: Koinonia-Oriens 2003 (= Edition Cardo 98), 12. 72
Scheffczyk, Leo: Art. Anakephalaiosis, in: LThK 3 1 (2009) 572-574, 573.
73 Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft
4 1994. Diese Übersetzung ist
sicherlich jene, die diesbezüglich die abendländische Theologie geprägt hat, was auch am Wahlspruch des heili-
gen Papstes Pius X. deutlich wird: „Instaurare omnia in Christo“. 74
Nova Vulgata Bibliorum Sacrorum editio, Vatikanstadt: Libreria Editrice Vaticana 2 1986.
75 Vgl. ebd.
77 Haubst, Rudolf: Art. Anakephalaiosis, in: LThK
2 (1986) 466f., 467.
78 Ebd.
79 Auer, Johann: Jesus Christus – Heiland der Welt. Maria – Christi Mutter im Heilsplan Gottes, Regensburg:
Pustet 1988 (= KKD 4/2), 72f. 80
Iren., haer. 3, 17, 7; Harvey 2, 88 [übersetzt von und zitiert nach: Beinert, Wolfgang: Christus und der Kos-
mos. Perspektiven zu einer Theologie der Schöpfung, Freiburg: Herder 1974 (= ts), 57]. Sowohl in BKV 2 Reihe
1 Bd. 3 als auch in FC 8/3 hat das 17. Kapitel in haer. 3 nur vier Absätze.
19
Da sich aber Christo- und Soteriologie nicht
trennen lassen, findet die soteriologische Reflexion auch statt.
2.2.2.2. Klemens von Alexandrien
Wie schon beim heiligen Irenäus sieht Schneider auch im Opus des Kirchenschriftstellers
Klemens von Alexandrien die Apokatastasis belegt bzw. angedeutet. Klemens betrachte
Christus als einen Erzieher aller, der seiner Tätigkeit auch in der Unterwelt nachkommt. Das
Gericht diene dabei zur Purifikation aller und ermögliche so die Allversöhnung. Nur ist es
hier nicht die Wiederherstellung des Anfangs, sondern eine bessere Wiederherstellung. Kle-
mens postuliere, dass es aufgrund dieses allgemeinen Erzieherungs- und Läuterungsprozesses
lediglich zeitliche Strafen gäbe und dass somit einst alle bei Gott Wohnung finden werden. 82
Dieses pädagogische Konzept von der göttliche Strafe rezipiert auch Origenes. 83
2.2.2.3. Aufkommen in der Neuzeit
Im Abendland war die Apokatastasis weder im Mittelalter noch in und nach der Reforma-
tionszeit von großer Bedeutung. Einzelne Vertreter wie die Wiedertäufer gab es zur Zeit der
Reformation. Aber die reformatorische Christenheit lehnte in der Confessio Augustana, Arti-
kel 17, die Allversöhnung ab. 84
Im 17. Jahrhundert fand die Allversöhungslehre ausgehend
von den mystisch-theosophischen Bewegungen in England Eingang in die evangelischen Ge-
meinden Württembergs. U. a. vertraten damals Johann Albrecht Bengel und Friedrich Chris-
toph Oetinger die Apokatastasis. 85
Beide waren auch bedeutende Vertreter des württembergi-
schen Pietismus. 86
Während der Pietismus als Bewegung sich an der (übernatürlichen) Offen-
barung orientierte, 87
haben auch die theologischen Rationalisten des 17. Jahrhunderts über die
natürliche Offenbarung den Weg zur Apokatastasis gefunden. „Ihre Gründe“, so Loosen,
81
Vgl. Auer, Jesus, 72f.; Beinert, Wolfgang: Christus und der Kosmos. Perspektiven zu einer Theologie der
Schöpfung, Freiburg: Herder 1974 (= ts), 55-58; Ziegenaus, Anton: Jesus Christus. Die Fülle des Heils, Aachen:
MM Verlag 2000 (= Katholische Dogmatik 4), 195f. 82
Vgl. Schneider, Apokatastasis, 12f. 83
Vgl. Breuning, Wilhelm: Art. Apokatastasis. II. A. als Problem der Dogmengeschichte, in: LThK 3 1 (2009)
823f., 823. 84
Vgl. ebd. 86
Vgl. Peters, Christian: Art. Pietismus. I. Begriff u. Geschichte, in: LThK 3 (2009) 291-294, 292.
87 Vgl. ebd., 291.
Aus dieser Richtung
In den noch jungen USA des späten 18. Jahrhunderts ent-
standen universalistische Gemeinden, die einen Heilsuniversalismus annahmen. Nach Charles
H. Lippy lehnen sie eine ewige Strafe sowie die Existenz einer entsprechenden Verdorben-
heit, die eine ewige Strafe nach sich ziehen würde, ab und stellen dem die grenzenlose Liebe
Gottes sowie die gute Natur des Menschen gegenüber. Die Grundlage ihrer Theologie sei
ebenso die Vernunft. 90
dem 19. Jahrhundert die Apokatastasis immer wieder vertreten. Den Ansätzen Friedrich
Schleiermachers folgten Otto Riemann, Hans Lietzmann et al. Paul Althaus traue sich nur mit
den Augen des Glaubens eine Apokatastasis anzunehmen. Ethelbert Stauffer sehe aufgrund
des biblischen Befunds noch eine Bekehrungsmöglichkeit jenseits des Todes vor dem Jüngs-
ten Gericht, da die doppelte Prädestination als göttlichen Plan das universale Heil zum Ziel
habe. Karl Barth nehme im Rahmen der Lehre von der doppelten Prädestination an, dass die
Zahl der Erwählten auf alle ausgedehnt werde, da dies sonst zum Widerspruch zur Barmher-
zigkeit Gottes führe. 91
2.3. Origenes von Alexandrien
2.3.1. Hinführungen
Nachdem ich in dieser Arbeit den Weg zu Origenes über die Erörterung der Apokatastasis
gehe, gehen der positiven Wiedergabe der Lehre des Alexandriners Hinführungen voraus, die
Origenes im der Rahmen der Darstellung der Apokatastasislehre behandeln.
2.3.1.1. Origenes und Apokatastasis nach Josef Loosen
Origenes von Alexandrien gilt allgemein als der erste Lehrer der Apokatastasis zur Zeit der
frühen Christenheit. Nach Loosen sieht Origenes in der Apokatastasis den Beginn der Univer-
88
Vgl. ebd. 90
Vgl. Lippy, Charles H.: Art. Universalismus/Universalisten, in: RGG 4 8 (2005) 778f.
91 Vgl. Loosen, Apokatastasis, 710f.
21
salherrschaft Christi und das Einswerden aller, worum der Herr selbst betete (vgl. Joh 17,21-
23). Die endgültige Unterwerfung aller Kreaturen durch den Sohn unter den Vater, von der
Paulus an die Korinther schreibt (vgl. 1 Kor 15,25-28), bedeutet für Loosen auch, dass sie
dadurch erlöst und selig werden. Von der Sünde wider den Heiligen Geist spricht Christus,
dass sie „weder in dieser noch in der zukünftigen (ν τ μλλοντι) Welt“ (Mt 12,32) vergeben
wird. Doch lese Origenes diesen Vers nicht so. Nur weil die Sünde wider den Heiligen Geist
nicht im kommenden Äon verziehen werde, hieße das nicht, dass die Vergebung absolut und
endgültig auszuschließen sei. Da aber nach Loosen von Origenes auch Texte überliefert sind,
in denen er sich gegen eine Erlösung der Verdammten ausspricht, ist Origenes’ tatsächliche
Meinung über die Apokatastasis ungewiss. Ob Origenes seine Apokatastasislehre von der
platonischen oder neuplatonischen Philosophie kommend aus der Heiligen Schrift heraus
entwickelt hat oder ob er sie als biblische Lehre in die philosophische Sprache übertrug, bleibt
für Loosen offen. Viele bedeutende Theologen der frühen Christenheit haben Origenes’ Ideen
von der Apokatastasis angenommen: die zwei Kappadozier Gregor von Nazianz und Gregor
von Nyssa, Didymus der Blinde, Diodor von Tarsus und sein Schüler Theodor von Mopsues-
tia et al. 92
Der emeritierte Dogmatiker von Bonn, Wilhelm Breuning, bemängelt, dass inhaltlich in der
Apokatastasislehre meist die Erlösung der Verlorenen – der Verdammten und Dämonen –
fokussiert worden ist. 93
Dies wird auch in der Verurteilung von 543 ersichtlich. 94
Diese Fo-
kussierung auf die Verlorenen habe dazu geführt, dass das eigentliche Anliegen des Origenes
und das Ziel seiner Theologie verdrängt wurden: das Heil aller, das durch Gottes Liebe, Füh-
rung und Erziehung in Freiheit erreicht werden soll. Dass dabei auch die verlorene Schöpfung
gerettet werde, habe der Alexandriner nur mehr angedacht. 95
Nur christologische Mitte ver-
misst Breuning im Erziehungskonzept der Erlösungslehre des Origenes, wo doch Christus
gerade in der Menschwerdung der Welt die Erlösung gebracht hat. Daran schwächle auch
Gregor von Nyssa in seiner Allversöhnungstheologie. 96
92
Vgl. DH 411. 95
Vgl. Breuning, Apokatastasis, 823. 96
Vgl. Breuning, Wilhelm: Zur Lehre von der Apokatastasis, in: IKaZ 10 (1981) 19-31, 22-24.
22
2.3.2. „Peri archon“ (= „De principiis“)
Das Werk des Origenes, auf das bezüglich der Apokatastasis am häufigsten verwiesen wird,
ist „Peri archon“ oder „De principiis“. 97
Mit diesem Opus versuche Origenes einerseits in die
Grundlagen einzuführen, ohne aber andererseits auf darin aufkommende Fragen definitive
Antworten zu geben. Als eine besondere Leistung dürfe gelten, dass Origenes sich auf das
Wagnis einließ, sich bei der Darlegung dieser Materie von der platonischen Philosophie hel-
fen zu lassen. An den theologischen Defiziten, die dieses Werk auch aufweise, hatten die
Gegner des Origenismus entsprechend Anstoß genommen. Rufin hatte „Peri archon“ ins La-
teinische übertragen, er versuchte auch, es von theologischen Mängeln zu reinigen. Lediglich
in dieser Übersetzung ist das Werk vollständig erhalten. 98
2.3.2.1. Schöpfungslehre
Nach Lothar Lies’ Werkinterpretation zu Origenes’ „Peri archon“ baut der Alexandriner auf
der Überzeugung auf, dass die sichtbare Welt, die einen Anfang hat, auch ein Ende haben
wird. Da aber Gott ewig ist, ist er auch als Schöpfer ewig. So muss schon vor der sichtbaren
die unsichtbare Schöpfung existiert haben, insofern muss sie sozusagen immer existieren bzw.
existiert haben. Origenes nehme daher an, dass alle sichtbaren Wesen durch die Schöpfung
der sichtbaren Welt in diese von der unsichtbaren Welt herunterversetzt worden sind. Alle
Wesen, die in der sichtbaren Welt existieren, haben also auch vorher in der unsichtbaren exis-
tiert. Das Ende der sichtbaren Welt ist somit auch die Rücküberführung der Wesen in die un-
sichtbare. 99
Am Anfang – vor der sichtbaren Welt – war alles Christus unterworfen. Damit
dieser Zustand auch am Ende wieder gegeben ist, fällt nach Origenes das Ende auch mit den
jeweils verdienten Bestrafungen der einzelnen Sünder zusammen. 100
In der sichtbaren Welt können sich die Geschöpfe ihrer Freiheit wegen von ihrem Ursprung
entfernen. Manche entfernten sich in derartiger Weise vom Guten, dass sie zu Widersachern
97
Vgl. Scheffczyk, Leo: Allversöhnung oder endgültige Scheidung? Zum Glauben an den doppelten Ausgang
der Menschheitsgeschichte, in: Breid, Franz (Hg.): Die Letzten Dinge. Referate der „Internationalen Theologi-
schen Sommerakademie 1992“ des Linzer Priesterkreises in Aigen/M., Steyr: Ennsthaler 1992, 95-132, 104;
Balthasar, Hoffen, 41-48; Schneider, Apokatastasis, 15-23. 98
Altaner, Berthold / Stuiber, Alfred: Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter, Freiburg: Herder 8 1980, 204.
99 Lies, Lothar: Origenes’ ‚Peri Archon‘. Eine undogmatische Dogmatik. Einführung und Erläuterung, Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992 (= Werkinterpretationen), 81f. Er bezieht sich auf aus Orig.,
princ. 3, 5, 1-5; TzF 24, 623-633. 100
Vgl. Orig., princ. 1, 6, 1; TzF 24, 215.
23
der Geschöpfe wurden, wie der Teufel und seine Engel. Diese Entfernung der Bösen vom
göttlichen Ursprung, vom Guten, könnte sich wiederum in der nachfolgenden Welt auswir-
ken. 101
„Die Wesen“ wurden „von dem einen Anfang her durch ihre jeweiligen eigenen Be-
wegungen auf verschiedene Wege gebracht“ und erhielten „nach ihrem Verdienst in den ver-
schiedenen Seins-Ordnungen ihren Platz“ 102
, so Origenes. Gemäß Sünde und Verdienst wür-
den dann die Wesen in der darauffolgenden Welt den jeweils entsprechenden Engelchören
zugeordnet werden. Die Wesen könnten aber auch den Engelstatus verlieren und zu Menschen
herabgestuft werden oder noch tiefer fallen. Daher kann sich Origenes eine Wiedererschaf-
fung des Menschen innerhalb dieses Systems vorstellen. Die endgültige Aufnahme der sicht-
baren Menschen in den Himmel, also der Heimführung der Wesen in die unsichtbare Welt,
kann sich daher auch um eine Welt, um ein Äon, verschieben. 103
Sowie nun Wesen aber von den Engelchören in die Menschheit hinabfallen können, so kön-
nen sie durch Bosheit noch weiter fallen und sich weiter von Gott abwenden. So weit können
sie sich abwenden, dass sie sich verkehren und zu Feinden der Geschöpfe werden, zu gefalle-
nen Engeln und Dämonen, zu Wesen, „qui sub principatu diaboli agunt“ 104
. Origenes lässt die
zu, dass jene, die in das Reich Satans hinabgestürzt sind,
ihren gefallenen Zustand in zukünftigen Welten durch guten Willen wieder verlassen können.
Lediglich rhetorisch scheint die Frage zu sein, ob jemand so abfallen kann, dass er verdammt
wäre, sofern man die Prämisse annehme, „daß auf jeden Fall weder in diesen ‚zeitlichen Wel-
ten, die wir sehen‘ noch in den ‚ewigen, die wir nicht sehen‘ (vgl. 2 Kor. 4, 18) jener Teil
gänzlich aus der Einheit und Harmonie des Endzustandes herausfallen wird.“ 106
Durch Erziehung der höheren Engel soll so jedes Wesen nach oben gelangen. Nach Strafen,
die auch mehrere Äonen dauern können, können so auch die Dämonen über den Menschen
zum Engel werden, wobei die Vernunftwesen aber auch immer die andere Richtung einschla-
gen können. Die Sünden und Verdienste gründen im freien Willen eines jeden Individu-
ums. 107
Wenn dann das Ende der Welt eingetreten ist und alle Wesen bei Gott gleich gewor-
den sind und nur noch der Teufel alleine übrig ist, werde dieser vernichtet. Diese Vernichtung
101
Lies, Origenes, 82f. Er bezieht sich dabei auf Orig., princ. 1, 6, 1-3; TzF 24, 215-227 und auf princ. 2, 1, 3;
TzF 24, 291. 102
Orig. princ. 1, 6, 2; TzF 24, 219 u. 221. 103
Vgl. ebd., 1, 6, 2; TzF 24, 221 u. 223. 104
Ebd. 1, 6, 3; TzF 24, 226. 105
Schneider, Apokatastasis, 15. 106
Vgl. ebd. 1, 6, 3; TzF 24, 225-229.
24
ist aber nicht im Sinne einer Annihilation zu verstehen, da dies laut Lies mit Origenes’ Kon-
zept und Gottesbild nicht in Einklang zu bringen wäre. 108
„Wenn Gott alles in allem ist, muß
Gott auch in Satan alles in allem sein“ 109
. Insofern kann am Teufel nur das vernichtet werden,
was widergöttlich ist und was an ihm nicht von Gott geschaffen wurde: seine feindliche Ab-
sicht und sein perfides Streben. Seine Substanz werde nicht angerührt. Daher würde er dann
nicht mehr als Feind existieren. 110
2.3.2.2. Der Teufel
Lies fragt aber hier nach, inwieweit die Feindschaft des Teufels zu Gott und Mensch zum
Sein des Teufels gehört, inwieweit diese Feindschaft mit dem Teufel verbunden ist. Bezüglich
Schöpfungslehre geht Origenes prinzipiell davon aus, dass Gott allgemein zwei naturae ge-
schaffen hat: die geistige und die körperliche natura. Die geistige Natur eines jeden Wesens
ändert sich durch Willen und Gesinnung. Die körperliche Natur erhält von Gott ihre Form, die
er für einen bestimmten Zweck vorsieht. 111
Der moralische Zustand der geistigen Natur hängt
ergo von dieser selbst ab. Und nur über diese geistige Natur kann das Geschöpf selbst verfü-
gen. Die Feindschaft, wie sie der Teufel hat, gehört demnach in den geistigen Bereich, da sie
eine Sache des Willens und der Gesinnung ist. Eine feindliche Gesinnung hört dann auch auf,
wenn man sie aufgibt. Wenn nun Lies eine Annihilation des Teufels bei Origenes ausschließt
und der Teufel ein Wesen bleibt, muss er sich, damit die böse Wesenseigenschaft aufhört zu
sein, in seiner geistigen Natur verändern. Die körperliche Natur war erstens ohnehin immer
Gott unterworfen, und der moralische Zustand, beim Teufel die Bosheit, ist zweitens der geis-
tigen Natur zugeordnet. Der Teufel muss sich also bekehren. 112
Wie Lies allerdings herausgearbeitet hat, scheint eine Bekehrung Satans realiter nicht mög-
lich, und zwar auch für Origenes nicht! Um das nachzuweisen, zieht Lies eine Analogie zwi-
schen dem Teufel und Jesus Christus. 113
Wie bei allen Vernunftwesen ist auch die geistige
Natur Jesu Christi, seine Seele, durch Willen und Gesinnung veränderbar. Sowie bei allen
Vernunftwesen ist auch bei Christus die Seele in der Entscheidung frei. Christus, der sich für
die Welt hingegeben hat, hat sich für die Liebe entschieden. Diese Entscheidung zur Liebe
108
Ebd., 162. 110
Vgl. Lies, Origenes, 163. 113
Vgl. ebd., 164.
25
war so stark, dass die Liebe von ihm untrennbar wurde: „Was ursprünglich von freier Ent-
scheidung abhing, ist durch die Wirkung langer Gewohnheit jetzt zur Natur geworden.“ 114
Die
Liebe ist Christus zur Natur geworden. Dies gelte aber in umgekehrter Weise auch für den
Teufel. Origenes schreibt in seinem Kapitel über die Angelologie, dass sich die Dämonen „so
rückhaltlos in die Bosheit gestürzt haben, daß ihnen für die Rückkehr mehr der Wille als die
Möglichkeit fehlt, solange ihnen die Wut der Untaten noch Lust bereitet.“ 115
Darum schließt
Lies: „Theoretisch hat Satan die Möglichkeit der Bekehrung, faktisch jedoch nicht.“ 116
Dass sich nun der Teufel aber de facto nicht bekehren kann, widerspricht der Meinung Orige-
nes’, „daß auf jeden Fall weder in diesen ‚zeitlichen Welten, die wir sehen‘ noch in den ‚ewi-
gen, die wir nicht sehen‘ (vgl. 2 Kor. 4, 18) jener Teil gänzlich aus der Einheit und Harmonie
des Endzustandes herausfallen wird.“ 117
Da Gott nun die Freiheit zulasse, sich für das Böse so
zu entscheiden, lasse er auch zu, dass jemand die boshafte Entschiedenheit zu seiner Natur
macht, der immer von Gott angebotenen Liebe entsagt und sich somit verdammt. 118
„Es ist
nicht bei Origenes belegt“, so Lies, „aber in sich denkbar, daß die Liebe Gottes gegenüber
seinem Geschöpf, auch wenn es der Satan ist, bleibend angeboten ist.“ 119
Nur würde sie der
Teufel in seiner frei gewählten Bosheit nicht annehmen. Das Reich Gottes umfasst für Orige-
nes alle Vernunftwesen, die der Bekehrung fähig sind. 120
Lies interpretiert das so – und er
folgt darin Henri Crouzel –, dass der Teufel als de facto bekehrungsunfähiges Wesen nicht zu
diesen Vernunftwesen gehöre und somit auch nicht Teil des Reiches Gottes bzw. der Einheit
sei. Die Apokatastasis des Gottesreichs betreffe demnach nicht den Teufel. 121
Dies stimmt
auch mit Kardinal de Lubacs Erkenntnis überein, dass, wenn nun Origenes in seinem umfang-
reichen Gesamtwerk den Begriff Apokatastasis verwendet, er ihn nicht auch im Sinne der
Allversöhnung gebrauche. 122
Mit der Interpretation, dass der Teufel aufgrund seiner Unfähigkeit zur Bekehrung vom Reich
Gottes ausgeschlossen ist, scheint einerseits das entsprechende Anathem von Konstantinopel
ungerechtfertigt, andererseits verliert damit Origenes’ Soteriologie m. E. jegliche Spannung.
114
Ebd. 1, 8, 4; TzF 24, 261. 116
Lies, Origenes, 164. 117
Vgl. Lies, Origenes, 166f. 119
Ebd., 167. 120
Vgl. Orig. 1, 7, 5; TzF 24, 241 u. 243. 121
Vgl. Lies, Origenes, 167. Er bezieht sich dabei auf Crouzel, Henri: «Quand le Fils transmet le Royaume à
Dieu son Père»: L’interprétation d’Origène, in: ders.: Les fins dernières selon Origène, Aldershot 1990, XIII,
359-384, 369f. 122
Vgl. Lubac, Henri de: „Du hast mich betrogen, Herr!“, Einsiedeln: Johannes 1984 (= Kriterien 69), 84.
26
Auch wenn der gefallene Engelsfürst unter den Geschöpfen Gottes ein Sonderfall ist, darf
man nicht übersehen, dass innerhalb des Systems des Origenes jedes Vernunftwesen aufgrund
seiner moralischen Entscheidungen die Möglichkeit hat, sich vom Engel über den Menschen
zum verdammten Dämon zu entwickeln, und die Freiheit hat, die Bösartigkeit auch zu seiner
Natur werden zu lassen. Von der soteriologischen Perspektive aus betrachtet scheint sich dann
Origenes’ Apokatastasis nicht wesentlich von der Anakephalaiosis, wie Haubst sie auslegt, zu
unterscheiden: Die Wiederherstellung bzw. Widererneuerung betrifft nur jene, die Christus
gehorsam waren. 123
Auch bei Origenes müssen die Vernunftwesen irgendwann einmal den
Ruf zur Bekehrung gehört haben, wenn sie sich nicht dauerhaft von Gott abgekehrt haben.
Offengeblieben ist die Frage, inwieweit das Zum-Reich-Gottes-Gehören bei Origenes und das
Christus-Gehorsam-Sein bei Irenäus ident sind. Dabei ist auch die Erbsündenlehre zu berück-
sichtigen, nach der eine Taufe, und somit ein Bekenntnis zu Christus, nötig ist, um zu Chris-
tus zu gehören. Aber auch wenn man die Erbsündenlehre ausklammert, bleibt konsequenter-
weise die Möglichkeit eines doppelten Ausganges des Gerichtes auch bei Origenes gewahrt.
Die Hoffnung auf das Heil aller Geschöpfe ist dann aber bei Origenes bloß eine begrenzte
Hoffnung, denn der Teufel ist als Geschöpf Gottes bereits verloren.
2.4. Exkurs: Judas Iskariot
Der Erwachsenen-Katechismus lehrt, dass „weder in der Heiligen Schrift noch in der kirchli-
chen Glaubensüberlieferung von irgendeinem Menschen mit Bestimmtheit gesagt [wird], er
sei tatsächlich in der Hölle.“ 124
Und doch scheint Christus selbst dem zu widersprechen. So ist
zumindest im Evangelium nach Johannes überliefert, dass Christus Judas Iskariot indirekt für
verdammt erklärt. Im hohepriesterlichen Gebet spricht der Sohn zum Vater: „Und ich habe sie
behütet und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die
Schrift erfüllt.“ (Joh 17,12b) Die Entlarvung des Judas beim Mahl (Joh 13,21-30) geht dem
langen Abschnitt der Abschiedsworte und dem Gebet Jesu unmittelbar voraus. Der Neutesta-
mentler Hans-Josef Klauck sieht für Judas in dieser Aussage Jesu „nicht mehr und nicht we-
niger als endgültigen Heilsverlust, Versinken ins Nichts, in ewige Finsternis. Das wird nir-
gends sonst so unzweideutig ins Wort gefaßt wie hier.“ 125
Die sich erfüllende Schrift ist der
beim Abschiedsmahl in Joh 13,18 zitierte Ps 41,10: Ein Freund, der mit ihm esse, werde ihn
123
Erwachsenen-Katechismus, 423. 125
Klauck, Hans-Josef: Judas – ein Jünger des Herrn, Freiburg: Herder 1987 (= QD 111), 87.
27
hintergehen. Aber die Prophezeiung entbinde ihn nicht von der Verantwortung für diese Mis-
setat. 126
Dass mit dem „Sohn des Verderbens“ kein anderer als Judas gemeint ist, und dass das
die Verdammnis des Judas bedeutet, vertreten auch Johannes Schneider 127
und Rudolf Schna-
.
So konnte auch schon so mancher Bibliker wie Carl Daub, den Klauck stellvertretend für vie-
le anführt, feststellen, dass Judas „der einzige [ist], über welchen das Urtheil der Verdammniß
… ausgesprochen werden kann, und sogar muß“ 129
. Allerdings schließt sich Klauck in seiner
Studie zu Judas nicht einer traditionellen Meinung von der ewigen Verdammung des Judas
an, denn „keine menschliche Instanz kann verbindlich festlegen, wo das Erbarmen und der
universale Heilswillen Gottes […] an ihre endgültige Grenze stoßen.“ 130
Auch Schnacken-
burg, der – wie oben angeführt – Joh 17,12b gleich wie Klauck interpretiert, sieht Judas unter
der Prämisse von Gottes universalem Heilswillen (vgl. 1 Tim 2,4) nicht explizit zum Ver-
dammten erklärt. 131
dass Joh 17,12 „nicht eindeutig“ 132
ist. V 12b könnte also von der Redaktion oder von jemand
anderem ergänzt worden sein. 133
Wenn man aber diese historischen Spekulationen nicht berücksichtigt, bleibt der Widerspruch
zwischen der Verdammung des Judas in Joh 17,12 und dem universalen Heilswillen Gottes
(vgl. 1 Tim 2,4 etc.). Die Aussagen vom universalen Heilswillen beziehen sich allgemein auf
alle Menschen, während Joh 17,12 lediglich Judas betrifft. Gälte es hier, das Recht statt die
Heilige Schrift auszulegen, würde der Jurist schließen: Lex specialis derogat legi generali.
Auch Origenes hat sich nach Martin Meiser in seiner Streitschrift „Contra Celsum“ mit der
Person des Judas Iskariot auseinandergesetzt. Origenes habe gegen Celsus die These vertei-
digt, dass der Verrat eine freie Willensentscheidung des Judas war. Judas habe frei von sich
126
ThHK Sonderband), 288. 128
Vgl. Schnackenburg, Rudolf: Das Johannesevangelium. 3. Kommentar zu Kap. 13-21, Freiburg: Herder 1975
(= HThK 4/3), 207. 129
Daub, Carl: Judas Ischariot oder das Böse im Verhältniß zum Guten. 1., Heidelberg 1816, 20 [zitiert nach:
Klauck, Judas, 147]. 130
Klauck, Judas, 147. 131
Vgl. Schnackenburg, Rudolf: Art. Prädestination. 1. Aussagen der Schrift, in: LThK 2 8 (1963) 661-662, 662.
132 Ebd.
28
Ein ursprünglich-boshaftes Wesen wäre aber
nach der Schöpfungslehre des Origenes ohnehin nicht denkbar, wie oben gezeigt wurde. Dass
Origenes dem Judas weder den Himmel noch die Hölle zuschreibe, verwenden Henri de Lu-
bac, Henri Crouzel und Samuel Laeuchli als ein Argument dafür, dass Origenes die Versöh-
nung Gottes mit den Verdammten und Dämonen nicht gelehrt habe. Sonst hätte er zur Unter-
mauerung der Allversöhnung auch die Erlösung des Judas annehmen müssen. 135
Das Verhal-
ten des Judas Iskariot, seine Reue und sein Suizid aus Verzweiflung deuten für Origenes al-
lerdings doch darauf hin, dass Judas nicht ganz außer Jesu Einfluss gewesen ist. „Denn er
verurteilte sich selbst und zeigte dadurch, wie viel selbst in einem Sünder wie Judas, dem
Dieb und Verräter, die Unterweisung Jesu vermochte, gelang es ihm doch nicht völlig zu
missachten, was er von Jesus gelernt hatte.“ 136
134
kon/details/quelle/WIBI/referenz/51880/cache/686ae6f3e4b592cb880bd0e21c675c5e/ [abgerufen am 12. No-
vember 2012]. 135
Vgl. Laeuchli, Samuel: Origin’s Interpretation of Judas Iscariot, in: ChH 22 (1953) 253-268 [zitiert nach:
Crouzel, Henri: Origène est-il un systématique?, in: BLE (1967) 102 {zitiert nach: Lubac, Betrogen, 85}]. 136
Orig., Cels. 2, 11; FC 50/2, 377.
29
3. Die eschatologischen Entwürfe im 20. Jahrhundert, die von Baltha-
sars Heilshoffnung für alle vorausgingen
Im Handbuch der Dogmengeschichte stellt Ignacio Escribano-Alberca allgemein fest, dass die
Umwälzungen der zwei Weltkriege die katholische Theologie auch im eschatologischen Be-
reich nicht wahrnehmbar berührt haben. Als Ausnahme führt Escribano-Alberca Michael
Schmaus und Romano Guardini an, die doch Stellung bezogen haben. Umso mehr erstaune
es, dass die Eschatologie in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Fokus der theologischen
Reflexion gewandert ist. Einerseits wurden Versuche unternommen, für die Eschatologie neue
Strukturen zu finden, und andererseits setzte man sich mit den ungeklärten Einzelfragen aus-
einander. 137
Mehrere dieser Einzelfragen habe Yves Congar in seiner Abhandlung über das Fegefeuer auf-
geworfen. Congar werfe in seinem Werk der scholastischen Theologie vor, dass sie von ihrer
Methode her so ontologisch denke, dass dabei sowohl die Dynamik als auch der Telos der
Eschatologie aus dem Blick zu geraten drohen. Ebenso würden anthropologische Faktoren
beiseite gelassen. Ein Anliegen Congars sei es auch, im Bereich der Eschatologie das Kollek-
tiv wieder zu bedenken. In der Hochscholastik des zwölften Jahrhunderts habe mit Thomas
und Bonaventura eine Individualisierung der Soteriologie eingesetzt. Das Heil der anima se-
parata rückte in den Vordergrund. 138
Diese Individualisierung auf die einzelne Seele werde
von anderen Theologen wie Herbert Vorgrimler zeitlich erst später angesetzt, und zwar mit
der Ausfertigung der Bulle „Benedictus Deus“ von Papst Benedikt XII. im 14. Jahrhundert. 139
Entscheidend an den Diskussionen über Einzelfragen hat sich auch Karl Rahner beteiligt.
Eine Hauptaussage Rahners war, wie Escribano-Alberca zusammenfasst: „Die Vollendung
der Menschheit stellt sich als Ziel dar.“ 140
Diese Formel entstand teilweise auch im Dialog
Rahners mit dem Neomarxismus. Da eine immanente Utopie, eine innerweltliche Vollendung,
wie der Neomarxismus sie anstrebe, nicht Ziel des christlichen Glaubens sei, bilde der Neo-
137
1987 (= HDG IV, 7d), 229. 138
Vgl. ebd., 229f. Er bezieht sich dabei auf Congar, Yves: Le Purgatoire. Le Mystère de la Mort et sa Célébra-
tion, Paris: Éditions du Cerf 1951 (= Lex orandi 12), 279-336. 139
Vgl. ebd., 330. 140
Ebd., 232. Er bezieht sich dabei auf Rahner, Karl: Zur Theologie der Zukunft, München: Dtv 1971 (= Wis-
senschaftliche Reihe).
marxismus auch keine Konkurrenz zum Christentum. Eine innerweltliche Utopie würde ver-
suchen, jene Zukunft zu antizipieren, die doch nur Gott geben kann. Auch wäre eine imma-
nente Utopie der Vergänglichkeit unterworfen, da die Welt nur endlich ist. „Die Vollendung
der Menschheit kommt durch eine Zukunft zustande, die das Nichtevolutive, Nichtgeplante,
Unverfügbare ist, nämlich durch ‚absolute Zukunft‘“ 141
, also durch Gott. Da Gott durch die
Menschen handle, passiere auch die Vollendung vor dem Hintergrund der menschlichen Ge-
schichte. Die Vollendung der Geschichte „wird bei Rahner durch die Einbeziehung der reellen
Geschichte der Menschheit neu artikuliert.“ 142
Neben Karl Rahner, auf den ich nochmals zurückkomme, haben für Escribano-Alberca auch
Johann Baptist Metz und Pierre Teilhard de Chardin die Eschatologie im 20. Jahrhundert qua-
litativ bereichert. Ihr Fokus lag auf der Vollendung der Menschheit, deren Allgemeinheit sie
mit der reellen Geschichte zusammenzudenken versuchten. 143
3.1. Von Balthasars Konzept der Reduktion
Unter den neuen eschatologischen Entwürfen im 20. Jahrhundert zählt Escribano-Alberca
auch den Reduktionsentwurf von Balthasars auf, der auch kongenial neben den eschatologi-
schen Konzepten Barths und Bultmanns stehe. 144
Auf dem Weg zur von Balthasars Hoffnung
für alle bildet dieses Konzept eine wichtige Station. 145
Publiziert wurde der Entwurf von Bal-
thasars erstmals im Sammelband „Fragen der Theologie heute“. 146
Der ecuadorianische Jesuit
Pedro Escobar kommt zum Schluss, dass die theologische Reduktion als Methode sinnvoll ist,
da sie „befähigt, den Offenbarungskern freizulegen.“ 147
In der herkömmlichen Lehre wurde
die Eschatologie zu einem Kosmos, der mit verschiedenen Behältern ausgestattet ist: Himmel,
Hölle, Fegefeuer und Limbus. Von Balthasar strebe dabei an, die Eschatologie zu entkosmo-
logisieren. Von Balthasar reduziere diese Orte auf Zustände Christi selbst, die er in seinem
Menschsein, in seinem qualvollen Tod und auch in seiner Gottverlassenheit selbst erlebte
141
Vgl. Balthasar, Eschatologie. 147
Escobar, Pedro: Das universale Concretum Jesu Christi und die „eschatologische Reduktion“ bei Hans Urs
von Balthasar, in: ZKTh 100 (1978) 560-595, 571.
31
Und „der Kyrios [ist] zum
einzigen Letzten Ding geworden“ 149
, zum Eschaton des Einzelnen und der Welt. In ihm wer-
de die Vollendung von allem sein. Das Fegefeuer werde bei von Balthasar auf das Gericht
reduziert und das Gericht sei die endgültige, aber auch die letzte Begegnung mit Christus. Da
Hölle in diesem System nicht gedacht werde, spekuliert Escobar auch, dass die Höllenstrafen
auf das Fegefeuer reduziert werden könnten. 150
Von Balthasar selbst bezieht aber in seiner
Entkosmologisierung doch die Hölle mit ein. Aufgrund des biblischen Befundes werden die
eschatologischen Orte auf Gott reduziert, der demzufolge gleichsam der eine letzte Ort sei. 151
Die eschatologischen „Behälter“ werden zu Relationen des Geschöpfes zu diesem einzigen
letzten Ort. Gott, das Letzte Ding, „ist als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prü-
fender Gericht, als Reinigender Fegfeuer.“ 152
3.2. Ein eschatologisches Dreigespann: von Balthasar, Rahner und Ratzinger
Wenn von Balthasar in seinen beiden Schriften „Was dürfen wir hoffen?“ und „Kleiner Dis-
kurs über die Hölle“ eben auf die Hölle zu sprechen kommt, verweist er gerne auf Joseph
Ratzinger und Karl Rahner. 153
Rahner zitiert in seinem „Sacramentum Mundi“-Artikel Rat-
zinger. 154
In seiner späteren Eschatologie führt Ratzinger zum Abschnitt über die Hölle groß-
teils Literatur von von Balthasar an. 155
Immer angeführt, aber nie explizit zitiert ist bei Rahner
und Ratzinger der eschatologische Beitrag von Balthasars zu den „Fragen der Theologie heu-
te“ 156
. Darin zitiert von Balthasar auch wiederum verschiedene Artikel Rahners. 157
Man kann
also in der Eschatologie m. E. von einer gewissen gegenseitigen Wechselwirkung dieser drei
Theologen sprechen. Für von Balthasar geben Rahner und Ratzinger mit ihren lexikalen und
148
Vgl. ebd., 573f. Er bezieht sich dabei auf Balthasar, Hans Urs von: Umrisse der Eschatologie, in: ders.: Ver-
bum Caro. Skizzen zur Theologie I, Einsiedeln: Johannes 1960, 276-300 [= Balthasar, Eschatologie], 280-292. 149
Ebd., 579. 150
Vgl. ebd., 587. 151
Vgl. Balthasar, Umrisse, 282. Er bezieht sich dabei auf Aug., enarr. in Ps. 30, 8; PL 36, 252; und in Ps.70, 5;
PL 36, 878. 152
Ebd. 153
Auf Rahner, Karl: Art. Hölle, in: SM 2 (1968) 735-739, 737f. bezieht sich Balthasar, Hoffen, 26 und Baltha-
sar, Diskurs, 60f. Auf Ratzinger, Joseph: Art. Hölle. 5. Systematik, in: LThK 2 5 (1960) 448f., 448 bezieht sich
Balthasar, Diskurs, 46f. Auf Ratzinger, Eschatologie, 169 bezieht sich Balthasar, Hoffen, 45 u. 74 und Balthasar,
Hans Urs von: Kleine Katechese über die Hölle, in: OR(D) 14/38 (21. September 1984) 1f., 1. 154
Vgl. Rahner, Hölle, 737. Er bezieht sich dabei auf Ratzinger, Hölle, 448. 155
Vgl. Ratzinger, Eschatologie, 175. 156
Auf Balthasar, Eschatologie beziehen sich Rahner, Hölle, 738; Ratzinger, Hölle, 449 und Ratzinger, Eschato-
logie, 175. 157
32
systematischen Beitragen gewissermaßen den Rahmen vor. Von Balthasar zitiert sie, um zu
zeigen, dass er mit seinen Thesen noch im Rahmen der konventionellen Theologie ist. So er-
achte ich es für angemessen, die Beiträge Rahners und Ratzingers über die Hölle, auf die von
Balthasar so häufig rekurriert hat, zu behandeln.
3.2.1. Die Hölle bei Karl Rahner
Rahner stuft die Herrenworte über die Hölle aufgrund ihres eschatologischen Charakters als
Drohrede ein. Demzufolge sind sie nicht zu verstehen „als eine antizipierende Reportage über
etwas, was einmal sein wird, sondern als Enthüllung der Situation, in welcher der angeredete
Mensch jetzt wahrhaft ist.“ 158
Der Mensch steht vor einer Entscheidung, deren Folgen unab-
änderlich sein werden. Das reichhaltige Bildprogramm, dessen sich Christus in diesen Reden
bedient, verdeutliche „die Möglichkeit endgültiger Verlorenheit und Gottesferne des Men-
schen in allen Dimensionen seiner Existenz.“ 159
Da aber die Hölle ein jenseitiges Ding ist,
kann man ohnehin von ihr auch nur in Bildern sprechen, wie das alles Jenseitige betrifft. Da-
her erübrigen sich Spekulationen wie über die Art des Feuers etc. Aber die Aufgabe der Theo-
logie soll es in erster Linie nicht sein – und hier übernimmt Rahner Ratzingers Ansatz –, über
die jenseitige Verfasstheit der Hölle zu spekulieren, sondern den Ernst der ewigen Verdamm-
nis bewusst zu machen. Dadurch, dass es die Möglichkeit eines ewigen Scheiterns des Men-
schen gibt, wird die Ernsthaftigkeit der göttlichen Offenbarung eindeutig. Hierin liege der
Sinn dieses Dogmas und dies sei auch der Rahmen jeglicher Spekulation über die ewige Ver-
dammnis. 160
Wenn es nun die Intention dieser Herrenworte sei, zur Entscheidung zu drängen, so seien sie
auch nicht deskriptiver Natur und sagen daher nicht aus, inwieweit sich die Verdammung
verwirklicht. Diese eschatologische Nichtaussage sei auch in lehramtlichen Dokumenten
übernommen worden. Deswegen appelliert Rahner auch: „Die Kanzelverkündigung sollte
sich deshalb nicht auf Visionen der Heiligen und auf Privatoffenbarungen oder auf theologi-
sche Meinungen in dieser Frage berufen.“ 161
Es sei offen zu lassen, ob es Verdammte geben
oder nicht geben wird. Daneben gäbe es noch den allgemeinen Heilswillen Gottes und somit
auch die Pflicht, das Heil für alle zu erhoffen. Aber die Predigt müsse die Realität der Mög-
158
Ebd. 160
Ebd., 736f. Rahner bezieht sich dabei auf Ratzinger, Hölle, 448. 161
Ebd.
33
lichkeit der Verdammnis klar darlegen, „ohne jedes schielende Rechnen mit einer Apokatas-
tasis.“ 162
Beachtung fanden auch die Beitrage des damaligen Universitätsprofessors bzw. Münchner
Erzbischofs Joseph Ratzinger. Für die zweite Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche
verfasste er einen Artikel, 163
auf den Rahner oben bereits zurückgegriffen hat. Auch im letzten
Band der „Kleinen katholischen Dogmatik“ von Johann Auer und Joseph Ratzinger über die
Eschatologie behandelt Ratzinger das Dogma von der Hölle. Zur damaligen Zeit war dieses
Dogma eine umstrittene Lehre, zu der Ratzinger auch Stellung bezog: „Alles Deuteln nützt
nichts: Der Gedanke ewiger Verdammnis, der sich im Judentum der beiden letzten vorchrist-
lichen Jahrhunderte zusehends ausgebildet hatte, […] hat seinen festen Platz sowohl in der
Lehre Jesu […] wie in den Schriften der Apostel […]. Insofern steht das Dogma auf festem
Grund, wenn es von der Existenz der Hölle […] und von der Ewigkeit ihrer Strafen […]
spricht.“ 164
Origenes habe unter hypothetischer Klammer den Gedanken entwickelt, dass es gemäß der
göttlichen Logik am Ende zu einer Allversöhnung kommen müsse. Ratzinger stellt bei Orige-
nes zwei Zugänge zu dieser Hypothese fest: Einerseits die neuplatonische Vorstellung, dass
das Böse nichts ist und Gott allein Wirklichkeit, und andererseits die Realität des Bösen, die
auch das Kreuz bewirkte, „die Gott leiden machen, ja, töten kann“ 165
. Der Tod am Kreuz
nährte aber die Hoffnung, dass das Böse eingeholt und überholt und somit seiner Endgültig-
keit beraubt wurde. Origenes war mit dieser Hoffnung nicht allein, so folgten ihm Gregor von
Nyssa, Theodor von Mopsuestia, Evagrius Ponticus et al. – zeitweise auch Hieronymus. Das
theologische System und verschiedene eschatologische Reflexionen legen gewissermaßen die
Annahme einer Apokatastasis nahe, aber nicht der biblische Befund. So nahm auch die kirch-
liche Tradition einen anderen Weg. In verschiedenen Abwandlungen der Lehre von der
Barmherzigkeit Gottes klangen die Gedanken des Origenes still werdender nach. Einzelne
162
Variationen der Apokatastasis laufen darauf hinaus, die Möglichkeit der Hölle für Christen
auszuschließen oder eine gewisse Entschärfung der ewigen Strafen auszusprechen. 166
Das irdische Leben ist für jeden Menschen der Ernstfall, da Gott dieses Leben und auch die
Entscheidung, die der Mensch mit seinem Leben trifft, unbedingt achtet. Gott kommt mit sei-
ner Liebe zuvor, auch die Zusage zu dieser Liebe ermöglicht die Liebe selbst, aber der
Mensch muss diese Zusage nicht aussprechen, er kann sie verweigern. Dieses Ja zur Liebe,
das dem Menschen schon gegeben ist und das er nur auszusprechen braucht, ist unwiderruf-
lich. Ebenso kann er aber durch die Ablehnung, durch die Verweigerung der Annahme, unwi-
derruflich alles für sich zerstören. In Inkarnation und Kreuz hat sich Gott in Jesus selbst der
Ernsthaftigkeit des Menschlichen preisgegeben und hat das Leid und den Tod wirklich erlebt.
„Er tritt selbst in die Freiheit der Sündigenden ein und überbietet sie durch die Freiheit seiner
in den Abgrund gehenden Liebe“ 167
, so Ratzinger. Wenn Christus mit seiner Freiheit so die
negative freie Entscheidung des Menschen in ihrer vollsten Ausprägung einhält, stellt sich die
Frage, ob Christus nicht die menschliche Freiheit in die seinige integriert, „als Freiheit zu sich
zu wandeln vermag.“ 168
Der Zugang zur Hölle könne ein mystischer sein, und zwar in dem Maße, in dem der Mensch
sich als leidender Gläubiger in das Dunkel der Verdammnis hinversenken lässt. Die großen
Heiligen des Karmeliterordens, Johannes vom Kreuz, die kleine Theresia et al., haben auf den
Weg verwiesen, in Gemeinschaft mit Christus diese dunkle Nacht zu durchleiden. Damit ver-
sucht man auch paradoxerweise dem Licht Christi dadurch nahekommen, dass man die Dun-
kelheit erstrebt und für das Heil der Welt sein Heil aufopfert. Gerade das Moment der vollen
und furchtbaren Wirklichkeit der Verdammnis im Mitleiden an der Seite Christi in diesem
Dunkel erwecke die Hoffnung, dass Gott alle Gebete erhören wird. Ratzinger fasst abschlie-
ßend zusammen, dass „der Gedanke der Barmherzigkeit […] nicht zur Theorie [wird], son-
dern zum Gebet des leidenden und hoffenden Glaubens.“ 169
166
35
4. Von Balthasars Theologie von der Hoffnung auf das Heil aller
4.1. Historische Anmerkungen zur eschatologischen Kontroverse in de