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In: Widerspruch Nr. 23 Markt und Gerechtigkeit (1992), S. 93-125 Bücher zum Thema Rezensionen Besprechungen Bücher zum Thema Elmar Altvater Die Zukunft des Marktes - Ein Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem Schei- tern des real existierenden Sozi- alismus Münster 1991 (Verlag Westflisches Dampfboot), 386 S., 38.- DM. Mit Die Zukunft des Marktes - Ein Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem Scheitern des ’real existierenden’ Sozialismus hat Elmar Altvater im vergangenen Jahr ein Forschungsprojekt zumindest vorlufig abgeschlossen, das er mit der Analyse der Zusammenhnge zwischen konomischen Krisenten- denzen des Weltmarktes, den politi- schen Interventionsmglichkeiten des Nationalstaates, materiellen Lebens- bedingungen und politischen Partizi- pationsmglichkeiten der Bevlke- rung und den Bedingungen einer komplizierten und fragilen kologie der Region (Elmar Altvater: Sach- zwang Weltmarkt - Verschuldungs- krise, blockierte Industrialisierung, kologische Gefhrdung - der Fall Brasilien, Hamburg 1987, Vorwort S.10) begonnen hat. Im gleichen Zu- sammenhang hat er ebenfalls 1987 mit Kurt Hübner, Jochen Lorentzen und Raul Rojas Die Armut der Na- tionen - Handbuch zur Schuldenkrise von Argentinien bis Zaire herausge- geben. Beide Bücher, insbesondere letzteres, sind unbedingt zur ergn- zenden Lektüre von Die Zukunft des Marktes zu empfehlen. Was Die Zukunft des Marktes auf ho- hem theoretischen Niveau auf den Begriff bringt, erlutert Sachzwang Weltmarkt konkret am Beispiel Bra- siliens und Die Armut der Natio- nen in einzelnen, einführenden und in sich abgeschlossenen Artikeln, so- wie in einer Reihe von Fallstudien. Elmar Altvaters Anspruch in Die Zukunft des Marktes ist zu umfas- send, als da ihn eine Rezension um- fassend würdigen knnte. Deshalb soll nur der Bauplan des Buches skiz- ziert und danach auf einzelne Schwerpunkte eingegangen werden. Die Zukunft des Marktes umfat drei groe Teile: Der erste liefert Bausteine zur Erklrung des Schei- terns des real existierenden Sozialis- mus (1. Kapitel, S.29ff). Das 2. Kapi- tel (S.69ff) zeigt die konomische berlegenheit der gesellschaftlichen

Besprechungen Bücher zum Thema - Widerspruch · sondern von der Methode. Als Er-gebnis dieses Prozesses diagnostizie-ren Biervert und Wieland mit großen Worten eine Krise der Ökonomie

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In: Widerspruch Nr. 23 Markt und Gerechtigkeit (1992), S. 93-125 Bücher zum Thema Rezensionen Besprechungen Bücher zum Thema

Elmar Altvater Die Zukunft des Marktes - Ein Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem Schei-tern des �real existierenden� Sozi-alismus Münster 1991 (Verlag Westfälisches Dampfboot), 386 S., 38.- DM. Mit �Die Zukunft des Marktes - Ein Essay über die Regulation von Geld und Natur nach dem Scheitern des 'real existierenden' Sozialismus� hat Elmar Altvater im vergangenen Jahr ein Forschungsprojekt zumindest vorläufig abgeschlossen, das er mit der Analyse der Zusammenhänge �zwischen ökonomischen Krisenten-denzen des Weltmarktes, den politi-schen Interventionsmöglichkeiten des Nationalstaates, materiellen Lebens-bedingungen und politischen Partizi-pationsmöglichkeiten der Bevölke-rung und den Bedingungen einer komplizierten und fragilen Ökologie der Region� (Elmar Altvater: Sach-zwang Weltmarkt - Verschuldungs-krise, blockierte Industrialisierung, ökologische Gefährdung - der Fall Brasilien, Hamburg 1987, Vorwort S.10) begonnen hat. Im gleichen Zu-

sammenhang hat er ebenfalls 1987 mit Kurt Hübner, Jochen Lorentzen und Raul Rojas �Die Armut der Na-tionen - Handbuch zur Schuldenkrise von Argentinien bis Zaire� herausge-geben. Beide Bücher, insbesondere letzteres, sind unbedingt zur ergän-zenden Lektüre von �Die Zukunft des Marktes� zu empfehlen. Was �Die Zukunft des Marktes� auf ho-hem theoretischen Niveau auf den Begriff bringt, erläutert �Sachzwang Weltmarkt� konkret am Beispiel Bra-siliens und �Die Armut der Natio-nen� in einzelnen, einführenden und in sich abgeschlossenen Artikeln, so-wie in einer Reihe von Fallstudien. Elmar Altvaters Anspruch in �Die Zukunft des Marktes� ist zu umfas-send, als daß ihn eine Rezension um-fassend würdigen könnte. Deshalb soll nur der Bauplan des Buches skiz-ziert und danach auf einzelne Schwerpunkte eingegangen werden. �Die Zukunft des Marktes� umfaßt drei große Teile: Der erste liefert Bausteine zur Erklärung des Schei-terns des real existierenden Sozialis-mus (1. Kapitel, S.29ff). Das 2. Kapi-tel (S.69ff) zeigt die ökonomische Überlegenheit der gesellschaftlichen

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Regulation durch marktwirtschaftli-che Selbststeuerung und schreitet als Überleitung zum zweiten und dritten Teil den Horizont der sich daraus er-gebenden ökonomischen und ökolo-gischen Krisen ab. Der zweite Teil (3. und 4. Kapitel S.103ff) liefert eine theoretische und historische Analyse der Funktion des Geldes auf dem Weltmarkt und dessen monetärer In-stitutionen. Teil drei wendet sich der bislang theoretisch vernachlässigten stofflichen und energetischen Seite des Marktes zu. Im fünften und sechste Kapitel (S.237ff) versucht Elmar Altvater Schnittstellen zwi-schen ökonomischen und ökologi-schen Diskurs herauszuarbeiten und damit ein theoretisches Instrumenta-rium für den Zusammenhang zwi-schen Weltmarktwirtschaft und der drohenden ökologischen Katastrophe aufzustellen. Das 7. Kapitel stellt noch einmal klar, daß Markt- und Planwirtschaften bislang mit unter-schiedlichen Mitteln gleiche Moderni-sierungsstrategien verfolgten. Inso-fern sei das Scheitern des realen Sozi-alismus weniger der Sieg der Marktwirtschaft, als Indiz für die Ra-tionalitätsgrenzen okzidentaler Welt-beherrschung. Das Scheitern des real existierenden Sozialismus führt Elmar Altvater dar-auf zurück, daß die Planwirtschaft immer als Machtquelle der Partei- und Staatsbürokratie instrumentali-siert worden ist. Der Primat des Poli-tischen habe die gesellschaftliche Selbstregulation und die reformisti-sche Anpassung an neue Verhältnisse verhindert (S.34ff). Da alle gesell-schaftliche und politische Kompetenz im Partei- und im Staatsapparat kon-zentriert gewesen sei, habe jenseits dieser Institutionen Verantwortungs-losigkeit geherrscht. Krisen, die in

marktwirtschaftlich organisierten Ge-sellschaften ökonomische und politi-sche Innovationspotentiale freisetzen, werden so in real existierenden sozia-listischen Gesellschaften zu System-krisen, die intern nicht mehr zu lösen sind. Moderne kapitalistische Gesellschaf-ten sind, so Elmar Altvater, immer Ensembles marktförmiger und nicht-marktförmiger Regulation (S.69ff.). In zugespitzter Formulierung: Gerade die marktwirtschaftliche Regulation erzwingt sowohl auf nationaler, wie auch auf internationaler Ebene politi-sche Regulation als Kompensation der eigenen Defizite. Auf national-staatlicher Ebene ermöglicht die poli-tische Regulation die Ausdifferenzie-rung, die Korrektur und die Eingren-zung der Marktmechanismen. Darin gründet sich das evolutionäre Poten-tial moderner Gesellschaften. Elmar Altvater verweist hier auf den For-dismus. In weltwirtschaftlicher Hinsicht stößt das Ensemble marktförmiger und po-litischer Regulationmechanismen da-gegen an seine Grenzen. Marktwirt-schaft ist schon seit langem Welt-marktwirtschaft (S.96ff). Es gibt aber bislang keine weltpolitischen Regula-tionsmechanismen, die den weltwirt-schaftlichen Herausforderungen ge-wachsen sind. Die weltpolitische Re-gulation folgt nach wie vor nationalstaatlichen Modellen, die an-gesichts der globalen Krise aber zum Scheitern verurteilt seien. Elmar Alt-vater belegt dies mit der Hegemoni-alkrise der USA und dem Scheitern des Bretton-Woods-Systems. An die Stelle weltpolitischer Regulati-on tritt das Zahlungsmittel Geld als steuernde Variable weltwirtschaftli-cher Prozesse. Die Dynamik der in-ternationalen Geld- und Kreditsphäre

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erzeugt Elmar Altvater zufolge ein ei-genes globales Krisenpotential. In seinen Worten: Monetäre und reale Akkumulation entkoppeln sich zu-nehmend (S.142ff.). Als Folge davon verkehrt sich seit den 70er Jahren die Hierarchie von Profit und Zins: spe-kulative Kapitalbewegungen treten an die Stelle produktiver Investitionen und Kredite werden zunehmend dazu benutzt, staatlichen und privaten Konsum zu decken. In der Dritten Welt dienen sie dazu immer neue Umschuldungen zu finanzieren, ohne daß ein Ende dieser Entwicklung ab-sehbar wäre. Der �Casino-Kapitalismus� (S.148ff) führt so zum Ausverkauf nationaler Ökonomien. Dies hat weltweit nicht nur sozial, sondern auch ökologisch desaströse Folgen. Die drohende ökologische Katastro-phe verdankt sich nach Elmar Altva-ter zwei einander verstärkenden Pro-zessen. Zum einen hat bereits Karl Marx die Ambivalenz der technischen Modernisierung beschrieben. Die Fe-tischisierung der Produktivkraftent-wicklung in Plan- und Marktwirt-schaften habe aber zu einer Ge-gens�tzlichkeit zwischen ökonomischer und ökologischer Ra-tionalität geführt, die mit traditionel-len Instrumentarien nicht mehr zu bewältigen sei (S.312). Zum anderen untergräbt, die Eigendynamik der Natur die menschlichen Produktions- und Lebensbedingungen. Alle Stoff- und Energietransformationen führen tendenziell zur Übernutzung der na-türlichen Ressourcen. Markt- und Planwirtschaften haben 'nur' durch ihr Entwicklungstempo eine Dyna-mik in Gang gesetzt, die historisch einmalig ist. Elmar Altvater begrün-det diese These mit den Entropie-

Sätzen der thermodynamischen Phy-sik (S.253ff). Bislang hat nur Henning Wasmus in Sozialismus 4/92 auf �Die Zukunft des Marktes� reagiert. Er diskutiert dort in erster Linie Elmar Altvaters �Thermodynamisierung von Ökolo-gie und Ökonomie� und wirft ihm vor, den naturwissenschaftlichen Sta-tus des Entropiesatzes nicht genü-gend zu reflektieren und sowohl Ö-kologie als auch Ökonomie in einem restriktiven, deshalb unangemessenen Sinne zu geschlossenen Systemen zu stilisieren. Außerdem berücksichtige Elmar Altvater die quantitativen und qualitativen Perspektiven der Produk-tivkraftentwicklung zu wenig. Laut Henning Wasmus hat die wirtschaft-liche Nutzung des interplanetarischen Raumes schon begonnen. Dadurch erweiteren sich sowohl die stofflichen als auch die energetischen Grundla-gen der zukünftigen Produktivkraft-entwicklung. Ebenso sei die qualitati-ve Dimension der Produktivkraft-entwicklung längst noch nicht ausgeschöpft. Moderne Energie- und Produktionstechnologien demonstrie-ren Henning Wasmus zufolge eine enorme Gebrauchswertelastizität von Rohstoffen wie bereits verwerteten Stoffen. Die künftige Debatte um die Ökologisierung der politischen Öko-nomie habe dies, so Henning Was-mus Forderung, stärker zu berück-sichtigen. Dennoch, so sein Fazit, �kann der von Elmar Altvater darge-botene Gesamtzusammenhang, die Analyse der 'Zivilisationskrise' als Po-larisierung von Armut und Reichtum, als Zerstörung der Natur im Zeichen der Überakkumulation von Geld- wie auch Realkapital, getrost als bahnbre-chende Bereicherung der sozialwis-senschaftlich-ökonomiekritischen Zukunftsdiskussion betrachtet wer-

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den�. Diesem Urteil kann man sich nur anschließen.

Christian Sebald B. Biervert, K. Held und J. Wieland (Hg) Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns Frankfurt 1990 (Suhrkamp-Verlag), 16.- DM. Der Band vereinigt sieben Arbeiten von Ökonomen, Philosophen und ei-nem �Zwitter�. Der einführende Bei-trag der Ökonomen B. Biervert und J. Wieland widmet sich dem Thema �Gegenstandsbereich und Rationali-tätsform in der Ökonomie und der Ökonomik�. Der Befund der Auto-ren bezüglich der heutigen Wirt-schaftstheorie läßt sich wie folgt zu-sammenfassen: 1. Sie reduziert sich selbst auf die Betrachtung der Bezie-hungen zwischen Dingen (Güter, Tauschbewegungen). 2. Sie definiert sich nicht mehr vom Gegenstand her, sondern von der Methode. Als Er-gebnis dieses Prozesses diagnostizie-ren Biervert und Wieland mit großen Worten eine Krise der Ökonomie und verlangen eine neue meta-ökonomische Fundierung ihrer Wis-senschaft. Genaueres über diese Ab-sichtserklärungen bleibt jedoch offen. G. Bien beschäftigt sich mit der �ak-tuellen Bedeutung der ökonomischen Theorie des Aristoteles�. Er stellt fest, daß die Wirtschaftswissenschaft ihre eigene �Geburt� im 18. Jahrhun-dert ansetzt und den Beiträgen aus der Antike oder dem Mittelalter kei-nen wissenschaftlichen Status bei-mißt. Bien versucht am Beispiel Aris-toteles' seine Gegenthese zu unter-mauern, nach der die Vorgänger der Klassik nicht keine, sondern eine an-

dere Theorie der Ökonomie formu-lierten. Hierzu resümiert er die �alt-europäische Lehre vom Hause�, ar-beitet die Unterschiede zur klassischen Denkweise heraus und kommt zu der These, daß die �mögli-che Aktualität� des Aristoteles vor al-lem seiner Theorie der menschlichen Praxis und Daseinsorientierung ent-springt. Entscheidend sei für ihn nämlich die Lebensformdiskussion: �ein Leben in freier Selbstbestim-mung mit dem Zweck einer Realisie-rung humaner Glückbedingungen oder eine auf die Produktion und Vermehrung von Gütern allein um ihrer selbst willen abzielende Arbeits-existenz?� (1) D. Birnbachers Aufsatz über das Verhältnis von Utilitarismus und Ö-konomie geht im ersten Teil auf die Berührungspunkte zwischen beiden in Form von Personalunion (Bentham, Mill, Sidgwick), Denkstil (Abbildung verschiedener Qualitäten auf eine Dimension) und Arbeitstei-lung in der konkreten Anwendung ein. Wie Sen (siehe Rezension) cha-rakterisiert er den Utilitarismus durch die Prinzipien �Konsequentialismus�, �summative Aggregation des Nut-zens� und �subjektivistische Wertleh-re�. Die Möglichkeit divergierender Interpretationen dieser drei Gemein-samkeiten erläutert Birnbacher durch eine Klassifikation verschiedener Uti-litarismus-Varianten. Er weist darauf hin, daß die utilitaristische Denkweise lange prägend für die �Wohlfahrts-ökonomik� war, interpretiert aber neuere Entwicklungen, wie die empi-rische Betrachtung des Nutzens (of-fenbarte Präferenzen), und die Theo-rie sozialer Wohlfahrtsfunktionen als Abkehr der Wirtschaftstheorie von dieser geistesgeschichtlichen Traditi-on.

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Unter dem Titel �Was ist vernünf-tig?� formuliert O. Schwemmer die These, daß Moral in erster Linie die Funktion sozialer Identitätssicherung erfüllt. Gerade diese Rolle gehe ihr aber durch den Versuch einer Umsti-lisierung zu logisch geschlossenen Prinzipien (�Prinzipienethik�) verlo-ren. Schwemmer warnt deshalb die Ökonomen vor philosophischen Konzepten einer �verwissenschaft-lichten Ethik� und empfiehlt ihnen den �rationalen Pluralismus�, d.h. die Nutzung notwendig widersprüchli-cher Regelsysteme als Entschei-dungsheuristik. Während die bisherigen Aufsätze prim�r ethische Konzepte analysie-ren, versuchen sich die folgenden Arbeiten selbst in moralischer Argu-mentation. Hierbei ist A. Pieper zwei-fellos die größte Konsequenz zuzu-schreiben: Während sie jegliche Ana-lyse auch nur der gewählten Grundbegriffe �moralisches und wirtschaftliches Handeln� vermissen läßt, kritisiert sie Aristoteles, die Utili-taristen und klassischen Ökonomen moralisch, fordert zum Moralisch-Sein auf und versucht sich letztend-lich selbst in drei (moralischen) �Bau-steinen zu einer zeitgenössischen Wirtschaftsethik�. K.-O. Apel stellt in seinem Aufsatz �Diskursethik als Verantwortungs-ethik und das Problem der ökonomi-schen Rationalität� zuerst die Grund-prinzipien der Diskursethik dar. Im zweiten Teil setzt er sich mit Beiträ-gen eines vorangegangenen Sammel-bandes der Herausgeber auseinander. Dies fördert zwar nicht gerade das Verständnis und die Lesbarkeit, ist aber im Sinne eines interdisziplinären Austausches begrüßenswert. Er kriti-siert hier den Utilitarismus und in seinem Gefolge die ökonomische

Wohlfahrtstheorie mit dem Vorwurf der �Konfusion, ... eine quasi-philosophische Begründung der Sozi-alethik ... allein auf das wohlverstan-dene Selbstinteresse der Individuen ... gründen zu können.� (128) Gegen dieses, das ökonomische Denken dominierende Programm schlägt er als �Orientierungspunkt für die kriti-schen Sozialwissenschaften� die Mitte zwischen rein moralischen Postulaten und einer �bloß ... systemtheoretisch funktionalistischen Perspektive� (149) vor. K. Homanns Beitrag über Buchanans Kritik an Rawls ist die überarbeitete Fassung eines erstmals 1984 erschie-nenen Aufsatzes. Der Autor stellt das Grundkonzept der Vertragstheorie und die aus ihm folgende (liberale) Kritik an Rawls' Gerechtigkeitskon-zept dar. Wenngleich er Buchanan zwar theoretisch zustimmt, hält er dessen �'Legitimationstransport' von der einstimmigen Verfassungsent-scheidung über die Gesetze und ihre Auslegung auf die Resultate� (165) jedoch für empirisch falsch. Homann zieht daraus den Schluß, daß die Bu-chanan'sche Demokratietheorie unter den Realitätsbedingungen knapper Ressourcen einer Ergänzung durch die normative Gerechtigkeitstheorie bedarf. Diese Aufsatzreihe ist offenbar Pro-dukt des Versuchs, Ökonomen und Philosophen zusammenzubringen. Wenngleich der �Diskurs� selbst nicht erfolgt, ist doch hervorzuheben, daß es den Philosophen Bien, Birn-bacher und Schwemmer immerhin gelingt, Ökonomen verschollene oder verdrängte Grundlagen ihrer Profes-sion vor Augen zu führen und deren Problematik klar zu machen. Der Bei-trag der beiden Ökonomen scheint mir hingegen eher kontraproduktiv

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zu sein: Biervert und Wieland vermit-teln Philosophen nichts von Ökono-mie und regen Ökonomen an, doch eher dem Rat F. Hahns zu folgen: �to ignore cries of 'economics in crisis', to avoid discussions of 'mathematics in economics' like the plague, and to give no thought at all to 'methodolo-gy'�. Der Sammelband zeigt auch, daß so-wohl der positiven ökonomischen Theorie als auch der Wohlfahrtstheo-rie bestimmte Moralvorstellungen zugrundeliegen. Ich glaube nicht, daß dies allen Ökonomen bewußt ist. Mehr als die Förderung eines solchen Bewußtseins kann (und sollte) die Diskussion über das Ethische in der Ökonomie nicht leisten. Demgegen-über scheint das Modethema �Ethik und Ökonomie� stark durch den An-spruch einer Harmonie von Wirt-schaft und Moral motiviert zu sein. Ob die damit verbundenen Wunsch-vorstellungen dem notwendigen Er-kenntnisfortschritt dienen ist zweifel-haft.

Thomas Gaube Frank Deppe Jenseits der Systemkonkurrenz. Überlegungen zur neuen Weltord-nung Marburg 1991 (Verlag Arbeit & Ge-sellschaft), 232 S., 22.- Wie einfach war die Welt vor 1989. Da gab es zwei Blöcke, die vorwie-gend an der Vernichtung des jeweils anderen arbeiteten, und selbst der letzte Winkel des Planeten war ver-dammt, Arena der epochalen Kon-frontation zu sein. Ob im Süden oder Norden - überall war Ost-West-Konflikt. Dann kam 1989, und zur Überraschung aller, besonders der

Experten, brach der eine Block ruhmlos und kläglich zusammen. Plötzlich stimmte nichts mehr, schon gar nicht die politische Theorie, die fast ausnahmslos die bipolare Ord-nung als stabiles Firmament betrach-tet hatte, unter dem sich die interna-tionale Politik der nächsten Jahrzehn-te mehr oder minder konfliktreich abspielen würde. Die Propheten hat-ten sich gründlich blamiert, worauf sie sofort die Konsequenzen zogen und neue Prophezeihungen vom Sta-pel ließen. Das nächste Jahrhundert werde ein amerikanisches sein oder eben gerade nicht, die Triade Japan-USA-EG werde die Welt beherr-schen, ach ja, auch Südostasien ist im Kommen, multipolar werde die neue Weltordnung sein und kapitalistisch, in jedem Fall kapitalistisch, das Ende der Geschichte ist erreicht. Jeder weiß, wo es lang geht, nur die Marxis-ten, die es schon immer gewußt ha-ben, sind still geworden. Frank Deppe, Politikwissenschaftler in Marburg, hat ebenfalls Überlegun-gen zur neuen Weltordnung ange-stellt. Wer die gut zweihundert Seiten seines Buches gelesen hat, weiß am Ende zwar auch nicht recht, wie es weitergeht mit der Menschheit, aber das ist verzeihlich. Von Genaube-scheidwissern in Sachen Zukunft soll-ten Linke erstmal die Nase voll ha-ben; für Heilserwartungen sind man-gels diesseitiger Perspektiven künftig wieder ausschließlich Priester und Prediger zuständig. Wenn es um irdi-sche Dinge geht, haben spröde Pragmatiker und trockene Bilanz-buchhalter derzeit die besseren Kar-ten. Frank Deppe ist so ein Buchhalter des Bestehenden. Er sichtet das Ma-terial, das ihm vorliegt, und zieht nur ganz vorsichtige Schlüsse. Die Zeit

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der emphatischen Geschichtsentwür-fe ist vorbei, nur noch Idioten glau-ben, daß alles seinen sozialistischen Gang geht in Richtung klassenlose Gesellschaft. Da hat Deppe schon recht: �Die Weltgeschichte wird nicht als der metaphysische Konstrukti-onsplan des Fortschreitens der Ver-nunft in der Menschheitsgeschichte begriffen, nach dessen Logik sowohl die Vervollkommnung der individuel-len Vernunft als auch die Rationalität der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Lebensverhältnisse der Menschheit sich ausrichten ... Mit dem Zusammenbruch des 'realen So-zialismus' sind nunmehr auch solche Lehren, die vom gesetzmäßigen Fort-schritt in der Abfolge der Gesell-schaftsformationen ausgingen (und sich dabei weniger auf Marx, als auf Kautsky und schließlich auf Stalins autoritative Interpretation des Leni-nismus stützten), von der Geschichte selbst überholt worden.� Wenn also die Geschichte den Regeln des Histo-Mat nicht folgen will, folgt sie dann anderen Regeln oder am Ende gar keinen? Was läßt sich sagen über die heraufdämmernde Epoche nach der �weltgeschichtlichen Zäsur 1989/90�? Laut Deppe wenigstens so viel, daß die neuen Ordnungen nicht - wie die �neorealistische Schule� der US-amerikanischen Politikwissen-schaft behauptet - aus der Kollision von Staaten entstehen, �die im inter-nationalen System um ihre Selbstbe-hauptung und dabei um die Erweite-rung ihrer militärisch-politischen und ökonomischen Macht kämpfen, son-dern aus der Dynamik des kapitalisti-schen Weltsystems, die durch die Kapitalakkumulation auf dem natio-nalen und dem Weltmarkt angetrie-ben wird�. Anders gesagt: Wer wissen will, wo es langgeht, muß sich die ö-

konomische Entwicklung der Staaten, Kontinente und des gesamten Glo-bus anschauen. Deppe tut das inso-fern, als er die Literatur darüber an-schaut. Für die jüngere politikwissen-schaftliche Literatur ist das zunächst eine peinliche Prozedur, weil heraus-kommt, daß ihre Autoren beinahe durch die Bank alles mögliche prog-nostiziert haben, nur nicht den Zu-sammenbruch der bipolaren Welt-ordnung. �Die herrschende Politik hat sich ebenso wie die Politikwissen-schaft ... vor der realen, politischen Entwicklung der vergangenen beiden Jahre gründlich blamiert.� Soviel zum Schnee von gestern, wie aber geht es weiter? In der aktuellen Diskussion dominieren zwei Ansätze: Die Anhänger der einen Variante rechnen mit zunehmender Interde-pendenz der Weltpolitik, die weltwirt-schaftlichen Verflechtungen würden immer enger bis hin zu einer globalen Umwelt- und Sozialpolitik, wogegen der Nationalstaat und aufgeblähte Mi-litärpotentiale an Bedeutung verlören. Die andere Seite rechnet hingegen mit einer mehr oder minder gewalt-samen Epoche des Konflikts um neue weltpolitische Hegemonialord-nungen, bei der �die ökonomische, technologische und schließlich auch militärische Macht der neuen 'Auf-steiger' in der internationalen Staa-tenordnung ... sich durchsetzen wird�. In jedem Fall kann die weltge-schichtliche Zäsur des Jahres 1989 laut Deppe kaum angemessen beur-teilt werden, ohne die Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Welt-systems zu berücksichtigen. Was in den Metropolen des Kapitals passiert, prägt den Lauf der Dinge mehr als al-les andere. Denn es sind die Sieger, die in der Regel Geschichte schrei-ben, nicht die Verlierer, wie bei-

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spielsweise die ehemaligen sozialisti-schen Staaten. Und passiert ist einiges im goldenen Westen und im fernen Osten: Die US-amerikanische Hege-monie befindet sich nach Auffassung der meisten Interpreten im unaufhalt-samen Niedergang. Die Dauerkrise der amerikanischen Wirtschaft und das ökonomische Gewicht Japans und der Bundesrepublik lasten schwer auf den Säulen der Vorherr-schaft der Vereinigten Staaten. Zwei-tens hat sich die westeuropäische In-tegrationspolitik im Rahmen der EG in den letzten Jahren bedeutend be-schleunigt, und drittens ist da die deutsche Einheit, deren politische und wirtschaftliche Folgen noch gar nicht abzuschtzen sind. Generell sind die kapitalistischen Zentren einem Strukturwandel unterworfen, der sich seit den siebziger Jahren als Krise des �fordistischen� Nachkriegsmodells manifestiert. Die anfängliche Wachs-tumsdynamik ist gebremst, das Zu-sammenspiel von stetig steigenden Reallöhnen und prächtigen Profitra-ten unterbrochen. Die neuen Tech-nologien der �dritten industriellen Revolution� versetzten dem nationa-len Keynesianismus einen weiteren Schlag: High Tech erfordert die Exis-tenz globaler Märkte, sonst sind die extrem hohen Investitionen in den Sand gesetzt. Weil die Kapital- und Finanzmärkte zunehmend alle staatli-chen Grenzen sprengen, haben etli-che Politikwissenschaftler bereits vom Ende des Nationalstaats gefa-selt. Deppe ist demgegenüber skep-tisch, denn gleichzeitig haben sich die Tendenzen zu Regionalismus, Mer-kantilismus und sektoralen Protektio-nismus seit den siebziger Jahren ver-stärkt. �Alle Vorstellungen von der zunehmenden Tendenz einer Trans-nationalisierung der Ökonomie, die

sich von der Nationalökonomie ab-löst, sowie von einer daraus erwach-senden Supranationalisierung der Po-litik, die die Nationalstaaten ge-schichtlich 'überholt', haben sich als falsch erwiesen.� Vorbei sind die Träume der Politik des �Neuen Denkens� Gorbatschow-scher Prägung. Das Gattungsinteresse der Menschheit bestimmt weiß Gott nicht die internationale Politik; viel-mehr ist es der Weltmarkt als �Arena der Konkurrenz, des Kampfes um globale Marktanteile, dessen Subjekte die internationalen Konzerne sind�. Tragisch ist das besonders für die 3. Welt, wie Deppe am Golfkrieg deut-lich macht: �Nunmehr zeichnen sich die Konturen einer weltpolitischen Architektur ab, die die Regulation von multipolaren Machtbeziehungen innerhalb der Triade der kapitalisti-schen Zentren mit einer Kriegserklä-rung an die Dritte Welt verbindet. Die reichen Länder rücken - unter politisch-militärischer Führung der USA - zusammen, um ihre Ökono-mien, aber auch das Konsum- und Zivilisationsmodell der westlichen Welt mit Gewalt gegen alle Gefahren des Nationalismus, Fundamentalis-mus, Terrorismus etc. aus der Dritten Welt abzuschotten und zu verteidi-gen.� Vieles spreche dafür, daß dem Ende der bipolaren Ordnung eine multipolare Weltordnung folge, �für die die ökonomischen und politi-schen Machtkonstellationen inner-halb der Triade mit regionalen Füh-rungsmächten - Nordamerika/USA, Ostasien/Japan, Euro-pa/Deutschland - bestimmend sein werden�. Ob gegen diese Totalität des kapita-listischen Weltsystems ein Kraut ge-wachsen ist, scheint fraglich. Deppe versucht zum Ende seiner Untersu-

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chung zwar deutlich zu machen, daß es neben den Verwertungsinteressen und Akkumulationsstrategien der in-ternationalen Konzerne noch etwas anderes gibt, was den Kampf um neue Ordnungen prägt. Noch sind da die �Interessengegensätze über die Gestaltung der sozialökonomischen und ökologischen, der politischen und kulturellen Ordnungen ..., die ih-rerseits als geschichtliche Möglichkeit - den Horizont der Eindimensionali-tät des kapitalistischen Weltsystems überschreiten�. So recht überzeugend ist das aber nicht. Der Versuch, etwas jenseits des �kapitalistischen Weltsys-tems� zu sehen, ist aller Ehren Wert, doch derzeit ist nichts Ermutigendes in Sicht. Deppes Schuld ist das nicht. Zu allem übel dräut noch Schlimme-res am Horizont: Die �Energie des Nationalen� (Carl Schmitt) akkumu-liert in allen Ecken der Welt, und ge-legentlich entlädt sie sich mit tödli-chen Folgen. Was der wiedererstarkte Nationalismus für die internationale Politik bedeutet, ist noch keineswegs erfaßt. Auch Deppe streift das The-ma nur, wenn er von den �nationalis-tischen und rassistischen Verzweif-lungsstimmungen� spricht, die die verarmten Verlierer der Transforma-tion Osteuropas erfaßt hat. Es ist ein alter Fehler ökonomistischen Den-kens, mit der Antwort �Wo die Not wächst, wächst das Nationalistische auch� das Problem für erledigt zu halten. Es sind gewiß nicht nur die Underdogs, die für Rassismus, Nati-onalismus und Faschismus anfällig sind. Der Kapitalismus hat barbari-sche, aber auch zivilisatorische Seiten. Trotzdem laufen die Menschen ab und zu auch dem allmächtigen Kapi-tal aus dem Ruder, was nicht unbe-dingt ein progressiver Akt sein muß. Vielmehr äußert sich in ethnisch, reli-

giös oder politisch motivierten Met-zeleien - siehe Jugoslawien, siehe den Süden der ehemaligen Sowjetunion - die nackte Regression. Davor sind auch die reichen Länder nicht gefeit, zumal die modernen Zeiten genug Anlässe bieten, die Schranken der Zi-vilisation einzureissen und der Barba-rei zu verfallen. Es ist völlig offen, ob die neue Weltordnung auch nur einer zweckrationalen ökonomischen Logik folgt, geschweige denn der Vernunft im besten Sinn.

Wolfgang Görl Francis Fukujama Das Ende der Geschichte - Wo stehen wir? aus dem Amerik. von Helmut Dier-lamm, Ute Mihr und Karlheinz Dürr, München 1992 (Kindler-Verlag), geb., 511 S., 42.- DM. Lutz Niethammer schließt seine vor drei Jahren erschienene Studie �Posthistoire - Ist die Geschichte zu Ende?� (Reinbek bei Hamburg 1989) mit dem Urteil, daß die geschichts-philosophischen Diagnosennur die wichtigsten der behandelten Autoren aufzulisten, Alexandre Kojé-ve, Ernst Jüngers, Arnold Gehlens, Günther Anders' oder Peter Brück-ners �die Lernprobleme einer aktuel-len Verständigung über Weltge-schichte verfehlen und daß ihre in-haltlichen Deutungen der Gegenwart nur unter wesentlichen Korrekturen Sinn machen� (ebd. 170). Allen Posthistoire-Positionen sei �die er-starrte Phantasie eines zwar sinnlo-sen, aber unendlich weitergehenden Geschehens� (ebd. 165) als zivilisati-onskritische Absage an überkomme-ne geschichtsphilosophische Sinnho-rizonte gemeinsam. Was letzteres an-

eines, um

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belangt, muß Lutz Niethammer mit Blick auf die beiden jüngsten Publika-tionen, die breitere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, korrigiert werden. Zwar sprechen auch Joachim Fest in �Der zerstörte Traum - Vom Ende des utopischen Zeitalters� (Ber-lin 1991, siehe auch Widerspruch 22) und Francis Fukuyama in �Das Ende der Geschichte - Wo stehen wir?� von der Möglichkeit eines unendlich weitergehenden und geschichtsphilo-sophisch keinen Sinnhorizont mehr erkennen lassenden Prozesses. Dieser wird ihnen aber angesichts der über-einstimmend konstatierten internen Fragilität des demokratischen Kon-senses in den sogenannten �westli-chen Zivilisationen�, der äußeren Be-drohung dieser Gesellschaften durch globale Verteilungskämpfe und der vorhandenen militärischen Zerstö-rungspotentiale problematisch, wenn nicht gar unwahrscheinlich. Dennoch erscheint ihnen die Möglichkeit eines nachgeschichtlichen Prozesses wün-schenswerter als eine wie auch immer begründete, die bürgerliche Gesell-schaft und die liberale Demokratie transzendierende geschichtliche Per-spektive oder - angesichts der globa-len Probleme - sogar Notwendigkeit. Daß beide Autoren dabei als stramme Rechtskonservative in jedem Fall den Verlust vermeintlicher Tugenden und Werte beklagen, ist nur Begleitmusik. Francis Fukuyamas �Das Ende der Geschichte - Wo stehen wir?� ist die auf 511 Seiten aufgeblasene Fassung eines schon 1989 in der amerikani-schen Zeitschrift �The National Inte-rest� erschienenen Artikels gleichen Titels. In diesem, wie in seinem Buch konstatiert der ehemalige amerikani-sche Regierungsberater angesichts des Unterganges der realsozialisti-schen Staaten den endgültigen Tri-

umph des bürgerlichen Gesell-schaftsmodells und der liberalen Demokratie, der sich schon seit den 70er Jahren mit dem Sturz rechtsau-toritärer Regimes in Südeuropa, La-teinamerika, Ostasien und zuletzt in Südafrika angekündigt habe. Damit aber nicht genug: Diese in politischen Sonntagsreden und an Stammtischen immer selbstverständliche und jetzt vollends ausgekostete vermeintliche Überlegenheit des westlichen Zivilisa-tionsmodelles integriert Francis Fu-kuyama in einen groß angelegten ge-schichtsphilosophischen und zugleich anthropologischen Entwurf. Die Versatzstücke dafür holt er sich von Platon (Politeia), Kant (Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Ent-wurf, Idee zu einer allgemeinen Ge-schichte in weltbürgerlicher Absicht), Hegel (Phänomenologie des Geistes - Herrschaft und Knechtschaft), Nietz-sche (Also sprach Zaratustra) und, ohne ihn so ausführlich zu zitieren, wie es angesichts der sachlichen Ü-bereinstimmungen redlich wäre, von Alexandre Kojéve. Auf dessen 1933 in Paris an der �Ecole des Hautes Etudes� gehaltenen Vorlesungen ü-ber Hegel stützt er seine These vom Ende der Geschichte. �Das Ende der Geschichte� umfaßt fünf große Teile. Teil I (29ff) greift die Frage der Universalgeschichte auf. Francis Fukuyama verkündet, daß es am Ausgang des 20. Jahrhun-derts trotz zweier Weltkriege, der Shoa, des Scheitern des Realsozialis-mus und der globalen Probleme wie-der möglich sei, Geschichte als eine zielgerichtete Entwicklung zu verste-hen. In Teil II (93ff) setzt er den Fortschritt der Naturwissenschaften als die Grundlage für gesellschaftli-chen Fortschritt. Differenzen im na-turwissenschaftlichen Erkenntnis-

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stand sind ihm Ursache dafür, daß verschiedene Gesellschaften ein technologisches und ökonomisches Machtgefälle aufweisen, wobei er un-terstellt, daß sich die verschiedenen Gesellschaften stets zu übertreffen versuchen. Andererseits wohne Ge-sellschaften mit dem höchsten natur-wissenschaftlichen Erkenntnisstand und daher dem höchsten technologi-schen und ökonomischen Niveau ei-ne Tendenz zur internen Nivellierung inne. Da aber Geschichte nicht nur natur-wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Imperativen gehor-che, und diese vor allem nicht das Phänomen der liberalen Demokratie erklären können, verfolgt Teil III (203ff) eine andere, �komplementä-re� Argumentationsstrategie. Aus Pla-tons Seelenlehre wird der �Thymos� mit Hegels �Kampf um Anerken-nung� verschmolzen. Dabei unter-scheidet Fukuyama die �Megalothy-mia�, das ist das Verlangen, anderen Menschen gegenüber als überlegen anerkannt zu werden, von der �I-sothymia�, dem Verlangen als gleichwertig anerkannt zu werden (254). Beides sind von Fukuyama gepr�gte Termini. Liberale Demokra-tien können nur dann entstehen, wenn sich die auf einem bestimmten naturwissenschaftlichen, technologi-schen und ökonomischen Niveau die �Isothymia� durchsetzen könne. �Thymos�, �Megalothymia� und �I-sothymia� sind für Fukuyama irratio-nale Formen des Strebens nach An-erkennung und deshalb bei allen Dif-ferenzen strukturell vergleichbar mit ebenfalls irrationalen Ansprüchen, beispielsweise auf religiöse oder nati-onale Überlegenheit (Teil IV 291ff). Die einzige grundsätzliche Differenz, die die liberale Demokratie gegenüber

anderen politischen Regulationswei-sen auszeichnet, ist die Tatsache, daß ihre Mitglieder als gleiche anerkannt werden wollen. Dennoch muß man auch in Zukunft damit rechnen, so Francis Fukuyama, daß sich bei ein-zelnen oder in ganzen Bevölkerungs-kreisen, das Bestreben durchsetzt, als überlegen anerkannt zu werden. Ge-sellschaftliche Konflikte, Kriege und Diktaturen der einen oder der ande-ren Spielart wären die Konsequenzen. Genau deshalb sei der demokratische Konsens, obwohl Ziel und Ende der Geschichte, niemals universal gesi-chert. Andererseits produziere die bürgerliche Gesellschaft tendenziell �letzte Menschen� im Sinne Nietz-sches. Der fünfte Teil von �Das En-de der Geschichte� zeichnet als Zu-kunft der Menschheit einen posthis-torischen Spannungsbogen zwischen diesen beiden Polen. So erweist sich die eingangs an Lutz Niethammers Urteil über die grund-sätzliche Gleichartigkeit posthistori-scher Positionen vorgenommene Korrektur nur als zweitrangig. Grundsätzlich bleibt festzuhalten, daß auch Francis Fukuyama die Struktur weltgesellschaftlicher Wider-sprüche, der daraus resultierenden Konflikte und die möglichen Per-spektiven wenn überhaupt, dann nur ideologisch zu erfassen vermag. Das gleich gilt übrigens auch für Joachim Fest. Dessen Appell, daß man sich nach dem Ende des utopischen Zeit-alters mit einer Praxis abzufinden ha-be, die mehr 'Handwerk und Ingeni-eurwesen sei als metapolitische Für-sorge', verkennt die Dimensionen der Aufgaben, die zu lösen sind, soll es nicht zu der Weltkatastrophe kom-men, die auch hin und wieder in Leit-artikeln der von ihm herausgegebe-nen Zeitung beschworenen wird.

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Christian Sebald Hans Lenk / Matthias Maring Wirtschaft und Ethik Stuttgart 1992 (Reclam-Verlag), 411 S., 15.- DM. �Wirtschafts - und Unternehmens-ethik haben Konjunktur�, schreiben die Herausgeber in ihrer Einführung. Während sich diese neue Disziplin in Europa noch weitgehend außeruni-versitär auf Kongressen und Sympo-sien von eigens gegründeten Gesell-schaften abspielt, hat die Wirtschafts-ethik in den amerikanischen Universitäten bereits einen festen Platz in Form von eigens eingerichte-ten Lehrstühlen. Springen wir Euro-päer also wieder einmal auf einen fah-renden Zug, den die Amerikaner, als Manager des Up-to-date in Gang ge-setzt haben? Haben wir wieder ein-mal den wichtigen Anschluß verpaßt? Man kann sich beim Lesen einiger Aufsätze dieses Gefühls nicht erweh-ren, doch seien hiesige Wirtschafts-wissenschaftler und solche, die es werden wollen, erst einmal beruhigt: diese junge Disziplin ist noch völlig offen und lebt noch weitgehend von den Ansätzen, die an sie von Öko-nomen. Philosophen und Soziologen herangetragen werden. Doch was ist eigentlich Unterneh-mensethik? Richard George gibt in seinem Aufsatz einen Überblick über Geschichte und Inhalt dieser Diszip-lin (für die USA). Bis ca. 1960 spiel-ten sich ethische Fragen der Ökono-mie fast nur in theologischen Kreisen ab. Mit dem Aufflammen der Studen-tenunruhen reagierten auch die Wirt-schaftswissenschaftler durch Behand-lung sozialer Fragen in den Semina-ren. Erst ab 1970 kann man von einer

Unternehmensethik sprechen. Zu-nächst auf interdisziplinäre Tagungen von Professoren und Gründungen von Vereinen (�Better Business Bu-reau�) beschränkt, wurde Unterneh-mensethik �um 1985� zu einer eige-nen Universitätsdisziplin. Ihre Auf-gaben sieht die Unternehmensethik in fünf Teilgebieten: 1. �Entwicklung und Analyse von Fällen unmoralischen Verhaltens in der Wirtschaft�, 2. �Empirische Untersuchung von Wirtschafts- und Geschäftsprakti-ken�, 3. �Klärung grundlegender Begriffe und Aufdecken ethischer Vorgaben in der Wirtschaft�, 4. Metaethische Fragen, wie etwa der moralische Status von Korporationen und die Verantwortung von Mana-gern und Angestellten in Korporatio-nen, 5. Lösung von ethischen Problemen, die Wirtschaftsprozesse betreffen. In der Regel beschäftigt sich Unter-nehmensethik damit, �die ethische Kompetenz von Führungskräften� (Ladd) zu erforschen und zu schulen und läuft auf eine Verantwortungs-ethik hinaus. Erklärtes Ziel ist es, die praktischen Probleme des Marktes durch deskriptive und normative e-thische Konzepte zu lösen. Während sich Unternehmensethik mehr mit ei-ner Ethik des Wirtschaftens befaßt, geht es der Wirtschaftsethik mehr um eine Ethik eines wirtschaftlichen Sys-tems. Der Sammelband teilt sich in einen theoretischen und einen mehr prakti-schen Teil, der die �eigentlichen� Probleme der Unternehmensethik behandelt. Zu empfehlen ist der Arti-kel von Josef Meran, der einen her-vorragenden und mit großem Sach-verstand geschriebenen historischen

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Überblick über die Ethiken der Wirt-schaft von Aristoteles bis zur ökolo-gischen Ethik gibt. Aus soziologi-scher Perspektive behandeln Hans Albert und Georges Enderle den Problemkreis Ethik und Wirtschaft. Während Albert sein Steckenpferd der Wertfreiheitsproblematik reitet, geht es Enderle um �ethische und ökonomische Aspekte der Armuts-problematik�. Enderles Aufsatz zeigt, wie sich trotz ihrer Offensichtlichkeit das Phänomen der Armut einer theo-retischen Operationalisierung entzie-hen kann. Es geht dabei im wesentli-chen um die Frage, wie ein Recht auf Existenz oder das Recht auf Exis-tenzminimum gerechtfertigt werden kann. Enderle beantwortet die Frage dahingehend, daß Rechte nicht bloß instrumenteller Natur sind, sondern ihre Erfüllung auch �zu den Zielen selber� gehören. Darüberhinaus stellt das Recht auf Existenz die Bedingung der Möglichkeit aller anderen Grund-rechte dar und kann ethisch durch das Recht auf Würde gerechtfertigt werden. Enderles plausible Argumen-tation drückt sich allerdings um eine Erklärung des Armutsphänomens. Dort wo eindeutige Erklärungsansät-ze gefragt wären, versteckt er sich hinter der lakonischen Abfertigung von Erklärungsansätzen als �mono-kausal� oder verschanzt sich hinter einem Apparat von soziologischen Operationalisierungsmöglichkeiten. Herauszuheben sind zwei Aufsätze zur Spieltheorie, in denen Lösungsan-sätze des Gefangenendilemmas dis-kutiert werden. Beide kommen zu dem Schluß, daß es für einen Egois-ten, der sich nur selbstorientiert nut-zenmaximierend verhält, in gewissen Situationen rational (im Sinne von für ihn nützlich) sein kann, sich koopera-tiv zu verhalten. Das wird aber durch

das zweite Ergebnis eingeschränkt, daß Kooperation kein hinreichender Handlungsgrund für moralischen Nutzen (Vossenkuhl) darstellt. Ko-operatives, moralisches Verhalten müsse nach Vossenkuhl stets von au-ßen gestützt und gefördert werden. �Ein System, in dem Individuen rechtlos sind, zwingt sie, dem Selbst-interesse zu folgen, und macht die Chancen für moralischen Nutzen zu-nichte� (210). Ein System, das für alle Kooperation zwingend motiviert, ist immer noch das nützlichste. Dort fal-len nützlichstes (egoistisches auf Ei-gennutz bedachtes) und kooperatives (moralisches) Handeln zusammen. In einer Wirtschaftsethik ganz eigener Art versucht sich Otfried Höffe. In seinem Aufsatz �Gerechtigkeit als Tausch?� geht es um die Begründung einer Gesellschaftsethik der Tausch-gerechtigkeit. Die Idee dabei ist, daß Rechte nur durch ein �Geben und Nehmen� Bestand haben können. Den größten Teil des Bandes nehmen Probleme zur eigentlichen Unter-nehmensethik ein. Drei Themen-komplexe zeichnen sich dabei ab: einmal die Frage nach der morali-schen Verantwortung von Korpora-tionen (Aufsätze im letzten Teil �Die angloamerikanische �business ethics�, Jäger, Ladd), dann das Thema der e-thischen Relevanz wirtschaftlicher Handlungen (Steinmann/Löhr) und schließlich Ziel und Motivation einer Unternehmensethik. Was den letzten Punkt anbelangt, so erinnern sich Au-toren dankbar der ethischen �Ur-sprünge� der Nationalökonomie, ei-nem Gedanken, dem sich auch solch ein �Vollblutökonom� wie Amartya Sen in seinem 1987 veröffentlichten Buch �On Ethics and Economics� verschrieben hat. Offenbar strebt man wieder die Einheit von ökono-

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mischer Theorie und Moralphiloso-phie an, wie einst die großen Schot-ten. Dementsprechend hoch sind auch die Ansprüche an eine Unter-nehmensethik. Sie soll als �Ergän-zung und Korrektiv zum Markt und zum Recht wirtschaftsordnungsim-manent angelegt� sein (Gerum) und die drängenden Probleme unserer Zeit (Armut, ökologische Krise) lö-sen. Durch Implementierung morali-scher Prinzipien in die Köpfe der Wirtschaftenden soll sanktioniertes Recht einerseits überflüssig, anderer-seits erst richtig wirksam werden. Ge-setze sollen zunehmend sog. �Unter-nehmensverfassungen� weichen, in denen sich Korporationen an morali-sche Pflichten binden. Die im An-hang des Bandes aufgeführten Un-ternehmensverfassungen sind nicht gerade geeignet, Vertrauen in die mo-ralische Standhaftigkeit der Unter-nehmen zu gewinnen. Zu floskelhaft und glatt klingen dort die Grundsät-ze, als daß sie irgend verbindlich werden könnten. Oberste Priorität haben in allen �Verfassungen� nach wie vor Effizienz und Gewinnmaxi-mierung. Der gesamte Anhang hätte sich so besser auf Hochglanzwerbe-broschüren ausgenommen.

Wolfgang Melchior Lothar Mayer Ein System siegt sich zu Tode. Der Kapitalismus frißt seine Kin-der, (Zur Diskussion gestellt von der E.-F.-Schumacher-Gesellschaft für Poli-tische Ökologie), Publik-Forum Do-kumentation, Oberursel 1992, Publik-Forum, 271 S., brosch., 25.- DM. Es ist bezeichnend, daß eine der schärfsten und deutlichsten Kapita-

lismuskritiken heute von linken Christen veröffentlicht wird. Das Pu-blik-Forum hat mit dem Buch von Lothar Mayer einen bedeutenden Bei-trag für die Diskussion globaler öko-logischer und gesellschaftlicher Per-spektiven geleistet. Lothar Mayers grundlegender Aus-gangspunkt ist die Zusammenschau von von Politischer Ökonomie und Thermodynamik. Aus dem dialekti-schen Zusammenhang dieser beiden Welten des Menschen ergeben sich alle wesentlichen Aussagen seines Beitrages zur Diskussion des Ver-hältnisses von Ökonomie und Öko-logie. Die Analyse des Wirtschafts-prozesses von der physikalischen Sei-te baut auf Nicolas Georgescu-Roegen und ist nicht mehr gerade neu. Während jedoch der Ansatz von Georgescu-Roegen nur einem kleinen akademischen Publikum zugänglich war, popularisiert Mayer dessen The-oreme und verbindet sie mit wichti-gen Ergebnissen und Begriffen aus der Kritik der Politischen Ökonomie, wie wir sie von Karl Marx kennen. Von zentraler Bedeutung ist der zwei-te Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, daß der Zustand der Un-ordnung die größte Wahrscheinlich-keit hat und deshalb die Entropie in allen geschlossenen Systemen wach-sen muß. Entropie ist dabei das Maß der nicht arbeitsfähigen oder nicht mehr verfügbaren Energie. Mayer gibt anschauliche praktische Beispie-le, wie bei den Energieumwandlun-gen verschiedener Prozesse immer große Teile verloren gehen und in unbrauchbare Formen (z.B. Abwär-me) übergehen. Leben und auch die von Mayer nach dem Gaia-Prinzip betrachtete Erde funktionieren nach einem diesem u-niversalen Prinzip entgegengesetzten

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Modus, erhöhen die Ordnung und wirken damit negentropisch innerhalb des entropischen Systems. Die Grundkritik Mayers am Kapitalismus ist nun, daß dieser durch seine gewal-tige Entropievermehrung ständig und in wachsendem Ausmaß wertvolle Natursubstanz bzw. Energie in Abfall verwandelt und damit als dynami-scher Konterpart von Leben und funktionierendem Ökosystem Erde fungiert. Die Funktionsprinzipien, die den modernen Industriekapitalismus bestimmen (Mehrwert, Akkumulati-on, Verwertungszwang, Markt, Wett-bewerb und Allokation) bewirken in der Verbindung mit Naturwissen-schaft und Technik und negativen Rückkoppelungseffekten dynamisch wachsenden Verzehr von Naturstof-fen und sind deshalb prinzipiell un-vereinbar mit der Erhaltung der Bio-sphäre. Erfrischend ist nicht nur die Erklä-rungskraft praktischer Beispiele (�Wenn man ein Schwein in 180 statt in 365 Tagen schlachtreif mästen kann, bringt das eingesetzte Kapital doppelten Ertrag�, S.22), sondern auch die Geradlinigkeit, mit der die gesellschaftlich-ökonomische Dyna-mik das ihr zustehende Gewicht er-hält. Die Ethik des Kapitalismus wird mit den Worten �Markt statt Moral� ein-deutig gekennzeichnet, wobei hier je-der Einzelne mit gemeint ist, weil primär der Geldbeutel das wesentli-che Regulativ des Tuns in ökono-misch-ökologischer Hinsicht ist. Die Entscheidungsverantwortung wird an den Markt abgetreten und Mayer sieht das sich aus dem Markt erge-bende Handlungsrecht nicht wesent-lich von dem selbsternannter Herren-rassen unterschieden.

Von Bedeutung sind die Ausführun-gen zur ökologischen Marktwirt-schaft, die als kosmetische Verände-rung und Anpassungsleistung inter-pretiert werden, damit der Industriekapitalismus �ungestört von allzu schreienden Symptomen des Umweltverfalls� (S.31) sein Zerstö-rungswerk vollenden könne. Das Ge-setz der sinkenden Erträge (z.B. im-mer höherer Aufwand für immer ge-ringer werdende Zuwächse an Energieeffizienz) und die Überkom-pensation von Reduktion durch Wachstum verweisen wiederum auf die Relevanz des Entropiegesetzes. In diese Zusammenhänge ist auch die systemimmanente ökologische Re-formpolitik eingespannt, deren Mit-tragen für Mayer ein notwendiges Pa-radoxon ökologischer Grundsatzkri-tik ist. Die Perspektiven für Mensch und Biosphäre beurteilt er skeptisch, und der kleine Funke Hoffnung be-steht in der Entwicklung eines Be-wußtseins, das vom �Sich-eins-fühlen mit dem Ganzen� getragen ist. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, in einen relativ kurzen Analyseteil (80 Seiten), in dem die Argumentation eine stringente Abfolge erkennen läßt und in ein �Lesebuch�, in dem ein-zelne Stichworte und Elemente aus dem ersten Teil noch einmal genauer und in ihrem inneren Zusammenhang aufbereitet werden. Durch diesen Aufbau und die klare, thesenhafte Zuspitzung der Standpunkte eignet es sich gut als handliche Diskussions-grundlage. Erwähnenswert ist auch die gelungene Titelzeichnung von Tomaschoff. Eindeutig negativ für den anspruchsvolleren Gebrauch ist die komplizierte Technik der Litera-turverweise mit einem Kürzelsystem, das die Handhabung des Buches er-schwert.

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Die Thesenform der Arbeit bringt es mit sich, daß vieles noch ausgearbei-tet und differenziert werden müßte. Auch Einzelheiten, wie die Zuge-ständnisse an Silvio Gesells Zinsver-botstheorie wären grundsätzlicher Kritik zu unterziehen, insgesamt gibt das Buch aber gerade durch die Ver-bindung von stofflich-natürlicher Welt und Kritik der Politischen Öko-nomie einen klaren Diskussionsrah-men für die Zukunft kapitalistischer Marktwirtschaft ab. Und seine Aus-sagen lassen es an Deutlichkeit nicht fehlen: �Die Ausschaltung der kapita-listischen Wirtschaftsdynamik allein kann uns nicht retten. Aber ohne ihre Ausschaltung ist keine Rettung denk-bar� (S.49).

Gerhard Nagl Oskar Negt / Alexander Kluge Maßverhältnisse des Politischen 15 Vorschläge zum Unterscheidungs-vermögen, Frankfurt/Main 1992 (S.Fischer Verlag), Ln., 29.80 DM. �Soviel Anfang war nie� - mit diesem Hölderlin-Satz ist eine Nachbemer-kung des Buches von Oskar Negt und Alexander Kluge überschrieben. �Soviel Ende war nie� - so beginnt das Buch �Der Kollaps der Moderni-sierung� von Robert Kurz. Der Null-punkt für Anfang und Ende ist die geschichtliche �Knotenlinie der Maß-verhältnisse� der �Wende� von 1989 (19). Während Kurz den sogenannten Sieg des Kapitalismus als den Anfang seines Endes deutet, versuchen Negt/ Kluge im politischen Handeln ein Rettendes noch zu finden. Politisches Handeln ist für sie �kol-lektives Handeln ... wenn es seinen Gebrauchswert gewinnt aus der Bil-dung von Gemeinwesen, wenn es

dem Schutz dieses Gemeinwesens dient und dessen Entwicklungsmög-lichkeiten befördert� (16). Das pro-fessionell Politische, die �Realpoli-tik�, muß scheitern und hat als �dau-erhaftes Resultat ... nur die katastrophalen Folgen� (16), weil die richtigen Maßverhältnisse verloren gegangen sind: die Maßverhältnisse der Zeit und des Raumes, das den ge-sellschaftlichen Prozessen angemes-sene Sensorium autonomiefähiger Subjekte. Die �rasante Entwicklung� bei der �Vereinigung Deutschlands� (10), die alle Grenzen überschreiten-de Fernwirkung der Katastrophe von Tschernobyl und der Wirklichkeits-entzug durch die synthetische und ge-fälschte Bilderwelt Während des Golfkrieges sind Beispiele für falsche Maßverhältnisse des Politischen. Eine �radikale Kritik der sogenannten Re-alpolitik� (so der Klappentext) ist da-her Suche nach richtigen, d.h. menschlichen Maßverhältnissen, die das notwendige Unterscheidungs-vermögen erst begründen. In ihren �15 Vorschlägen zum Unter-scheidungsvermögen� geben Negt/ Kluge an, wo die rechten Maßver-hältnisse zu finden sind: in den Randbereichen, den �politischen Halbprodukten� (96) vergangener Revolutionen, �dort, wo sich Ge-meinwesen andeutet, wo die Men-schen anfangen, sich selber nach ih-ren Lebensinteressen zu organisie-ren� (17), dort, wo �Hunderte von Visionen bürgerlicher Verkehrsfor-men am Werk sind� (144), in �Bezie-hungsnetzen ..., in denen die Wieder-herstellung von verlorenem Glück versucht wird� (36). Dort kann sich, gegen die �Zeittakte der industriell-technischen Produktion� (59), richti-ges Zeitmaß einstellen: Muße, Inne-halten, �Verweigerung gegenüber der

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vorwärtsdrängenden Zeit� (225), Eingedenken und Trauer. Dort kön-nen sich, gegen die �abstrakten Raumeinteilungen des Herrschafts-systems� (59), Denk- und Gefühls-welten entwickeln, in denen die �Rohstoffe des Politischen ... Maße und Formen vorfinden, in denen sie sich öffentlich äußern können� - dies �ist die Bedingung der Möglichkeit al-ler Praxis� (10 f). Fern von jedem Wendezeit-Opportunismus beharren Negt/Kluge bei ihren Vorschlägen auf der �Selbstaufklärung der Aufklä-rung� (88). Sie beziehen klare Positi-on gegen die Schreibtischbellizisten des Golfkrieges und für Marx, den dringend benötigten �Zeitgenossen� (264), den sie vor seinen Mördern, Hinterbliebenen und Rettern schüt-zen. Erinnern gehört �nach Ausch-witz und Hiroshima ... zu den Bedin-gungen von Zivilität� (160). Das Buch dient diesem Erinnern. Unbehagen beschleicht aber vielleicht auch die Autoren, wenn die �Zeit� ihr Buch als �höchst anregend� emp-fiehlt und sogar der Rekurs auf Marx verziehen wird. �Höchst anregend� ist es in der Tat, aber niemand wird sich über das Buch aufregen: Alles bleibt im Rahmen. Dieser Rahmen ist die Form der Vergesellschaftung: der universelle Tauschzusammenhang. Daß im Tauschzusammenhang die entscheidende Wurzel für das not-wendige Scheitern aller Versuche liegt, humane Verhältnisse herzustel-len, daß im Tauschzusammenhang das Maßverhältnis allemal vom Tauschwert bestimmt wird, bleibt nicht unerwähnt: Emanzipation ge-bietet, die �Realisierung der Arbeits-kraft ... aus den Kategorien der Kapi-tallogik zu befreien� (110) - aber die befreite Arbeitskraft feiert im neuge-

ordneten �Gesamtarbeiter� Wieder-auferstehung, der neben der nunmehr voll gesellschaftlich organisierten Produktion auch �Spuren einer Ge-samtarbeit [enthalten soll], die nicht unter dem Kommando des Kapitals steht� (113): Sprachvermögen, Logik, Liebesvermögen, Gerechtigkeitssinn, Erkenntnismotive. Die ökonomische Begrifflichkeit (Arbeitskraft, Zirkula-tion, Rohstoffe, Preis) wird von Negt/Kluge über alle Bereiche von Sein und Bewußtsein ausgedehnt und dabei diffus. So kann man dann bei-spielsweise lesen, daß der Entstehung der �Kategorie der Preise das Be-dürfnis zugrunde [liegt], das ein Mensch nach dem anderen Menschen hat� (129). Gerade die Entwicklung nach der �jüngsten der Revolutionen� (sic!) (83) vom November 1989 zeigt, wie es den Bedürfnissen der Menschen ergeht, wenn sich ihrer die heilenden Kräfte des Marktes annehmen: �Eine Landschaft, über die die Gewerbe-freiheit hinging, ist nicht wiederzuer-kennen� (39). Wo die Differenz of-fenzuhalten wäre zwischen dem �fal-schen Ganzen� und dem, was in ihm bestenfalls möglich ist - der �ab-gespaltenen und apokryphen Exis-tenz� dessen, was �immer [die] Herr-schaft [des Tauschwerts] zu akzeptie-ren sich weigert� (Adorno) -, wirkt der Optimismus Negt/Kluges, im re-alen Hospitalismus könne noch �Hospitalität� (149) sich entwickeln, wie der verzweifelte Wunsch, die Welt möge doch, 10 vor 11, in ihrer alten Gestalt noch zu retten sein. Negt/Kluge fallen damit in ihrer Kri-tik zurück hinter Adornos geschärfte Analyse des Eindringens von Tauschkategorien in alle Lebenszu-sammenhänge (etwa in den �Minima Moralia�, denen im übrigen

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Negt/Kluge eine Vielzahl ihrer Denkfiguren verdanken). Sie fallen zurück hinter Sohn-Rethel, der den Zusammenhang von Warenform und Denkform aufzeigt und damit das Adornosche Erschrecken in den Nie-derungen des ökonomischen Seins erst gründet und sie fallen zurück hinter eine Radikalkritik, wie sie Kurz am Tauschzusammenhang von der ökonomischen Seite her vornimmt. Der erhoffte �Massenstart von Glücksfällen� (298) geht ins Leere. Für die �Glücksfälle� gibt es kein Ziel, solange die Welt noch weit da-von entfernt ist �im stetigen Licht ih-res Feiertages� zu erscheinen und �nicht mehr unter dem Gesetz der Arbeit zu stehen�, solange nicht �dem Heimkehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in den Ferien war� (Adorno). Die Aufgabe mag unlösbar erschei-nen: richtiges Leben aus dem fal-schen heraus zu entwerfen oder mit den Mitteln warenförmigen Denkens das nicht-warenförmige oder auch nur �das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll� (Adorno) zu erreichen. Die Unlösbarkeit der Aufgabe dis-pensiert nicht davon, sie weiter zu stellen.

Carl Freytag Kurt Salamun (Hg) Moral und Politik aus der Sicht des Kritischen Rationalismus Amsterdam 1991 (Rodopi-Verlag), 294 S., 34.20 DM. Der Band umfaßt Aufsätze von Sozi-alwissenschaftlern, Wissenschaftsthe-oretikern und Philosophen, die aus einem internationalen Kurs zur Phi-losophie des Kritischen Rationalis-mus hervorgegangen sind, der

Sept./Okt. 1989 in Dubrovnik statt-fand. Geplant ist er als erster Band einer Schriftenreihe, die sich �mit der von Karl Popper begründeten Philo-sophie des Kritischen Rationalismus� befassen will. Der Band behandelt das Thema �Moral und Politik� unter den drei Teilaspekten �Freiheit, Mo-ral und Ethos der Aufklärung�. �Zur Idee der offenen Gesellschaft� und �Demokratie, Souveränität und So-ziale Marktwirtschaft�. Was alle Autoren beschäftigt, ist die von Popper in seinen zwei sozial- und geschichtsphilosophischen Hauptwerken �The Poverty of Histo-rism� (1960) und �The Open Society and Its Enemies� (1944) initiierten Idee von der offenen Gesellschaft. Dabei haben die Aufsätze teils exege-tischen, teils interpretatorischen, lei-der selten kritischen Charakter. Letz-teres mag verwundern, nachdem Popper selbst in seiner Auffassung von Wissenschaft als Falsifikation postuliert hatte, Wissensfortschritt resultiere allein aus der Kritik und Falsifizierung bestehender Theorien. Der Band macht ein Dilemma des Kritischen Rationalismus deutlich: entweder müssen die Popperianer zugeben, daß Wissenschaft nicht nur aus Falsifikationen von Theorien, sondern auch in deren Ausarbeitung unter bestimmten Paradigmen be-steht (wie der Poppergegner Kuhn behauptet und die Autoren es selbst beweisen, indem sie ein vorliegendes Paradigma fruchtbar anwenden); da-mit wäre Poppers Kriterium aller-dings �nur� empirisch widerlegt; oder sie nehmen das Falsifikationskriteri-um als eine Art Metatheorie von jeder Kritik und Falsifizierbarkeit aus; da-mit würde sich dann das erfüllen, was Kuhn mit dem Verdikt belegt: �Statt einer Logik hat uns Sir Karl eine I-

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deologie gegeben; statt methodologi-schen Regeln hat er uns mit Verfah-rensvorschriften versehen� (T.S. Kuhn: Entstehung des Neuen). Ein Rückzugsgefecht in der Ausei-nandersetzung mit diesem Dilemma führt Kurt Salamun in seinem Auf-satz �Das Ethos der Aufklärung im Kritischen Rationalismus�. Er ver-sucht dort einen Plausibilitätsbeweis dafür zu führen, daß der Kritische Rationalismus als �kritische Meta-Reflexion auf Selbstüberschätzungen der Vernunft� fruchtbar ist. Ausge-hend von Poppers Fallibilismusthese (�Alles Wissen ist fehlbar�) begeht er einen klassischen naturalistischen Fehlschluß: Weil unser menschliches Wissen fehlbar ist, müssen/sollen wir unsere Theorien in diesem Sinne konstruieren. Das bedeute aber nichts anderes, als sich verantwortungsethi-sche Prinzipien wie die der �intellek-tuellen Bescheidenheit� und Kritikfä-higkeit zu eigen zu machen. Dadurch hätte der Kritischen Rationalismus mit einigen �Selbstüberschätzungen� der Vernunft aufräumen können: dem Holismus (der Überzeugung, ei-ne Theorie von einer Gesellschaft als Ganzes geben zu können), Histori-zismus (dem Glauben, Geschichte werde durch Gesetze bestimmt), Sprachessentialismus (dem Glauben, Begriffe hätten eine eigentliche und wesentliche Bedeutung). Welche Grenzen allerdings das Pos-tulat der dauernden Kritik hat, zeigt der Artikel von Gräbl-Seinbach �Von der offenen zur postmodernen Ge-sellschaft�. Er weist auf die Gefahren einer �Universalisierung der Kritik� hin, die sich im Rahmen unserer heu-tigen postmodernen Gesellschaft ausbreiten. So werden für die De-zentrierungs-, Auflösungs- und �Ero-sions�-Tendenzen sozialer Normen

(an erster Stelle Demokratie) die uni-versalisierte Kritik haftbar gemacht. Im Zustand der �Dauerrevision� schlägt der Pluralismus der offenen Gesellschaft in die Auflösung institu-tionalisierter Kritik überhaupt um. Die Kritik, die für Popper ohne ei-gens dafür geschaffene Institutionen nicht möglich war, frißt sich selbst auf. Interessanterweise zieht die Au-torin aus diesem Paradox die Konse-quenz, die falsifikationistische Me-thodologie �nicht strikt� auf den �Bereich des Sozialen bzw. Politi-schen� zu übertragen. Für sie bedarf es zusätzlicher, vom Kritischen Rati-onalismus nahegelegter �Wertideen�, um Kritik (allg. Falsifikation) in einer offenen Gesellschaft fruchtbar wer-den zu lassen. Die grundsätzliche Stellung des Kriti-schen Rationalismus zum Problem wissenschaftlicher Wertheorien liefert der Beitrag von Hans Albert. Er macht auf drastische Weise den �en-gineering-approach� des Kritischen Rationalismus deutlich. Werte werden nicht mehr gerechtfertigt, sondern es werden für bestimmte gesellschaftli-che Probleme alternative Lösungen formuliert �auf der Grundlage regula-tiver Ideen, das heißt bestimmter Wertegesichtspunkte� (25). Werte sind Teile von Hypothesen zur Lö-sung von sozialen Problemen. Sie werden �hypothetisch vorausgesetzt� als �Leistungsmerkmale�, die die Lö-sung erfüllen muß. Historisch-kontextgebundene Aussagen, die Begriffe wie Fortschritt, Entwicklung u.�. behandeln, werden durch deduk-tive Ableitungszusammenhänge er-setzt nach dem Schema: Werthypothesen/Leistungsmerkmale Randbedingungen: Kausalstruktur in einem gegebenen Gesellschaftssystem

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Bereits bestehende Institutionen (�in-stitutionelles Apriori�) ----------------------------------------------- => Fällige Reformen und politische Maßnahmen Weiten Raum nimmt die Frage nach der politischen Theorie innerhalb des Konzepts der offenen Gesellschaft ein. Vergleiche mit Poppers geistigem �Ziehvater� Hayek versuchen he-rauszufinden, ob Poppers Gesell-schaftstheorie (noch) neoliberal zu nennen ist. Einig ist man sich darin, daß das Konzept der offenen Gesell-schaft insofern liberale Züge trägt, als es auf dem Prinzip der freien Kon-kurrenz von Individuen fußt. Pop-pers Idee dabei war, daß je mehr Meinungen vorhanden sind, desto eher Fehler gefunden werden (ähn-lich werden im ökonomischen Be-reich die Unproduktivsten ausge-schieden). Das soll(te) für gesell-schaftliche wie für wissenschaftliche Problemlösungen gelten. Leider un-terstellt eine solche Auffassung be-reits die kritische Rationalität den Mitgliedern der Gesellschaft, die am Ende die Gesamtgesellschaft prägen soll. Diese Schwäche versucht der Kritischen Rationalismus zu beheben durch die Forderung nach Institutio-nen der Kritik, in denen jeder 'ohne Ansehen der Person' seine Meinung kundtun darf. Wie solche Institutio-nen auszusehen haben, das identifi-zieren die meisten AutorInnen mit jenen der parlamentarischen Demo-kratie. Fred Eidlin weist allerdings darauf hin, daß Popper mit seinem Demokratiebegriff weniger ein politi-sches Modell ausarbeitete, als eine bestimmte Gesellschaftsform im Kopf hatte. Im Gegensatz zum Tota-litarismus soll Demokratie gerade die Staatsform sein, in der Reformen so-wie das Auswechseln der Regierung

ohne Blutvergießen möglich ist. De-mokratie zeichnet sich also durch Veränderbarkeit, Flexibilität, Kon-trolle der Herrschaft und Friedlich-keit aus. Trotzdem braucht auch eine Popper'sche Gesellschaft einen Staat. Dessen Aufgaben liegen hauptsäch-lich in der Sicherung der Freiheit (Schutzfunktion), der Sicherung des Existenzminimums und der Schaf-fung von �Kritikinstitutionen� (Plät-zen öffentlicher Kritik). Kontrovers behandeln die AutorInnen die Frage weiterer Staatsaufgaben, allen voran die Wohlfahrtsfunktion. Während Gerard Radnitky vom Wohlfahrtstaat als �schleichendem Sozialismus� re-det, vertritt Hagiwara die Ansicht, der �soziale Popper� habe immer wieder die ausbeuterischen Wirkungen des Kapitalismus kritisiert und daher re-gulative und präventive Maßnahmen des Staates zugelassen. Die Meinungsverschiedenheiten, die über die Frage nach den Aufgaben und der Rolle des Staates unter den AutorInnen bestehen, lassen sich größtenteils auf eine zentrale Idee Poppers in seiner �Offenen Gesell-schaft� zurückführen. Dort hatte er versucht, die Mängel aller Ge-schichts- und Gesellschaftstheorien daran festzumachen, daß diese sich primär mit der Frage �Wer soll herr-schen?/Wer ist der legitime Souve-rän?� beschäftigt hatten. Stattdessen solle das entscheidende Problem lau-ten: �Wie kann Herrschaft kontrol-liert werden?�. Mit diesem Wechsel von der Legitimitätstheorie zu einer Theorie der Herrschaftskontrolle sollte die methodische Basis für eine Theorie der offenen Gesellschaft ge-legt werden. Andreas Pickel weist in einer historischen und systematischen Analyse allerdings nach, daß sich Le-gitimitätsproblem und das Problem

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der Herrschaftskontrolle nicht von-einander trennen lassen. Als unlesbar erschien dem Rezensen-ten der Artikel von Claus Mühlfeld. Er verfällt dem Verdikt Adornos ei-nes �Bindestrich-Soziologen�, der seine Wahrheiten hinter einem Jargon von ausgefeilten Unverständlichkei-ten versteckt. Der Sammelband gibt einen guten Überblick über den momentanen Stand der Sozialphilosophie des Kri-tischen Rationalismus. Er zeigt über-raschend, daß sich der Kritische Ra-tionalismus heute zu einer relativ ge-schlossenen Schule entwickelt hat, ohne dabei ausdrücklich auf eigene Ideologeme oder Dogmen zurück-greifen zu müssen. Das Kriterium der Kritisierbarkeit in der Gesellschafts-theorie läßt die meisten AutorInnen die offene Gesellschaft mit (heutiger) Demokratie identifizieren. Ob das Kriterium dazu ausreicht, bleibt zu fragen.

Wolfgang Melchior Stephan Schmidheiny mit dem Busi-ness Council for Sustainable Development, Kurswechsel. Glo-bale unternehmerische Perspekti-ven für Entwicklung und Umwelt (am. Original: Changing Course - A Global Perspective on Development and the Environment, Massachusetts Institute of Technology 1992), München 1992 (Artemis und Winkler Verlag), 448 S., geb., 48.- DM. Ein Buch kommt mit großem An-spruch daher. Im Klappentext des Verlages heißt es: �Wenn sich als Folge des UN-Umweltgipfels von Rio im Juni 1992 ökologisches Denken in der Wirtschaft durchsetzt, so ist es nicht zuletzt dem Schweizer Unter-

nehmer Stephan Schmidheiny zu verdanken.� Dieser Großindustrielle hat im Auftrag des Generalsekretärs der UN-Konferenz über Entwicklung und Umwelt (UNCED), Maurice Strong, zusammen mit rund 50 Un-ternehmern versucht, zur Vorberei-tung des Welt-Umweltgipfels von Rio Konzepte für eine nach ökologischen Prinzipien arbeitende Wirtschaft zu entwickeln. Der neue Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses von Ökonomie und Ökologie ist gegliedert in einen Ana-lyseteil und einen umfangreichen Teil von über 30 Fallstudien, die ökologi-sches Wirtschaften demonstrieren sollen. Ausgehend von einer sehr po-sitiven Grundhaltung zur kapitalisti-schen Marktwirtschaft untersucht Schmidheiny volks- und betriebswirt-schaftlich verschiedene Bereiche ö-konomischen Handelns. Nachdem er das Ziel einer nachhalti-gen Entwicklung als langfristig ange-legtes Wirtschaften, ohne das Öko-system der Erde zu überlasten, defi-niert hat, wird als Generalrezept für dessen Erreichung die Internalisie-rung der sog. �externen Kosten�, die Zumessung eines Preises für die Umwelt empfohlen. In weiteren Ka-piteln werden �komarktwirtschaftli-che Lösungen für das Energieprob-lem und Vorschläge für die Finanzie-rung einer nachhaltigen Entwicklung untersucht. Die Rolle des Handels, der Land- und Forstwirtschaft und der Entwicklungsländer wird ebenso dargestellt, wie die Seite der Unter-nehmensplanung, des Innovations-prozesses und der technologischen Kooperation. Ist das Versprechen des Buchtitels, einen grundlegenden Kurswechsel der kapitalistischen Marktwirtschaft hin zu einer dauerhaften, ökologisch

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verträglichen Beziehung zur Natur zu antizipieren und in seiner Möglichkeit beweisen, einzulösen? Skepsis stellt sich ein, wenn es in der vorangestell-ten Erklärung des Business Council for Sustainable Development (BCSD) heißt, Wirtschaftswachstum und Umweltschutz seien untrennbar mit-einander verbunden (13), wenn Schmidheiny zur Erklärung des Titels bemerkt, das grundlegende Ziel un-ternehmerischen Handelns, �das Streben nach stetigem Wachstum� gelte weiterhin, die Ziele und Maß-stäbe des Fortschritts würden sich je-doch �ndern. �Qualitative Indikato-ren werden die quantitativen Maße ergänzen� [Hervorh. G.N.], (25). Als Begründung für die Notwendigkeit weiteren Wirtschaftswachstums wird die starke Zunahme der Weltbevölke-rung und die Notwendigkeit ihrer Versorgung herangezogen. Letzteres zeigt die Tendenz, objektive Gesetze von Kapital und Konkurrenz mit moralischen Notwendigkeiten zu verschleiern und, wo es ins wirt-schaftspolitische Konzept paßt, nega-tive ökologische Fakten vorschnell zur unvermeidlichen Grundlage der anzustrebenden Gesamtentwicklung zu machen. Das Buch läßt mit Aus-nahme der zitierten Stelle kaum er-kennen, daß das wesentliche Element der kapitalistischen Markt- und Wachstumswirtschaft die primär na-turblinde Vermehrung investierten Kapitals und Naturvernutzung auf wachsender Stufenleiter ist, und der Schutz der Umwelt sekundär diesem Prozeß vermittelt ist. Schmidheinys Ziel sind Strategien, die �eine Maximierung der Wertschöp-fung bei minimalem Verbrauch der Ressourcen und vor allem von Ener-gie ermöglichen� (36). Die entspre-chenden Schlagworte heißen Effi-

zienzerhöhung und Recycling. Beides ist natürlich ein Schritt in die richtige Richtung, kann aber in Verbindung mit Wachstum nicht ökologisch not-wendige Dimensionen erreichen, ab-gesehen davon, daß energetisch und kostenmäßig die Spielräume keines-wegs so groß sind, wie Schmidheiny vermitteln möchte. Einen Beleg für den sorglosen Umgang mit der ener-getischen Seite ist es auch, wenn der Export von Obst und Gemüse von Chile nach Westeuropa als positives Beispiel für die Entwicklungsländer angeführt wird (195). Im Zentrum der Theorie der Öko-marktwirtschaft steht die Preiszumes-sung an bisher kostenlose Naturele-mente: �Weil natürliche Ressourcen wie die Atmosphäre oder die Ozeane niemandem gehören, ist auch nie-mand an der Verbesserung dieser Systeme finanziell interessiert� (98). Abgesehen davon, daß vor der um-fassenden Entfaltung des industriell-kapitalistischen Systems dieser Res-sourcenschutz unnötig war, liegt der ökonomische Schwachpunkt dieser Argumentation darin, daß Waren als verwertungsfähige Einheiten von Tausch- und Gebrauchswert nicht einfach mit festgesetzten Kosten in Quasi-Warenform gleichgesetzt wer-den können, sondern erstere Aus-gangspunkt und Grenze für letztere, nicht für sich verwertbare, darstellen. Die Anwendungsbeispiele ökologi-scher Wirtschaft im zweiten Teil des Buches lassen z.T. deutlich erkennen, daß es den Unternehmen bei ihren Ökoprojekten primär um Imagever-besserung oder Überwindung von Hindernissen der Ressourcennutzung geht. Um nur die auf den Waldbau bezogenen Beispiele anzuführen, wird Mitsubishi gelobt, wenn es auf einigen Dutzend Hektar Bäume

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pflanzt, ein brasilianisches Zellulose-unternehmen, wenn es auf hundert-tausenden Hektar mit nichteinheimi-schen, geklonten, d.h. extrem schäd-lingsanfälligen, Eukalyptusbäumen aufforstet, oder es wird als ökologi-sche Großtat gefeiert, wenn großflä-chiger Tagebau in einem australi-schen Naturschutzgebiet mit Wieder-aufforstung durchgesetzt werden kann und dabei nur ein kleinerer Teil der Arten ausgerottet wird. Stephan Schmidheinys Buch ist wich-tig für alle, die sich mit Ökonomie und Ökologie, mit Zukunftsperspek-tiven der Weltwirtschaft und Ent-wicklungspolitik befassen. Es ist wichtig, weil es einen modernen kapi-talistischen Standpunkt mit ökologi-schem Anspruch einnimmt und das Terrain künftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzung absteckt. Seinem Titel wird es jedoch nicht gerecht. Kein wirklicher Kurswechsel steht zur Debatte, sondern mit der These erfolgreich möglicher Kombination von maximaler Wertschöpfung, schnellem Wachstum und ökologisch nachhaltiger Entwicklung kann nur eine Beruhigung der Passagiere auf dem imaginären Schiff und höchstens eine Verlangsamung der Fahrt zu den Klippen erreicht werden.

Gerhard Nagl Amartya Sen On Ethics and Economics Cambridge 1987 (University Press) Innerhalb der inflationär anwachsen-den Literatur zum Thema �Ethik und Ökonomie� zeichnet sich das Buch des Ökonomen Amartya Sen sowohl durch die Art der Fragestellung als auch durch seine Qualität aus. Sens Thema ist nicht das Problem, inwie-

weit ökonomische Prozesse bestimm-ten, von außen herangetragenen ethi-schen Normen widersprechen; sein primäres Interesse ist theorieimma-nent: Kommt eine auf der Analyse individueller Entscheidungen basie-rende (positive) Wirtschaftstheorie ohne Aussagen bezüglich der das Verhalten beeinflussenden ethischen Normen aus? Das Buch entstand aus einer Vorle-sungsreihe 1986 in Berkeley und ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Ka-pitel, dessen Titel �Economic beha-viour and moral sentiments� Erinne-rungen an A. Smiths Werk wecken soll, versucht Sen zuerst zwei ver-schiedene Traditionen der ökonomi-schen Wissenschaft herauszuarbeiten - die ethische und die ingenieur-orientierte Herangehensweise. Wäh-rend sich erstere mit den Motiven menschlichen Handelns und der Be-wertung sozialer Prozesse beschäftigt, ist das Denken des Ingenieur-Ökonomen rein instrumentell durch ein Ziel-Mittel-Schema geprägt. Sen stellt fest, daß die zeitgenössische Ökonomie im Gegensatz zur Klassik durch letzteren Ansatz dominiert wird und durch die angewachsene Distanz zur Ethik �verarmt� ist. Der zweite Teil dieses Kapitel be-schäftigt sich mit dem für die Wirt-schaftstheorie fundamentalen Postu-lat des rationalen Verhaltens von In-dividuen. Die Probleme bestehen hier einerseits in der Definition von Rati-onalität und andererseits in der Ge-genüberstellung von rationalem und realem Verhalten. Bezüglich der De-finition liegen zwei Konzepte vor: Konsistenz und Maximierung des Ei-geninteresses. Da nun das Rationali-tätskriterium sich nach Sen nur auf die Differenz zwischen Ziel und des-sen Erreichbarkeit beziehen kann, sei

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Konsistenz keine hinreichende Rati-onalitätsbedingung, und die Annah-me einer Maximierung des Eigeninte-resses kann zwar empirisch richtig oder falsch, keinesfalls aber ein Krite-rium für Rationalität sein: �Universal selfishness as actuality may well be false, but universal selfishness as a requirement of rationality is patently absurd� (16). Das zweite Kapitel des Buches geht näher auf die �Verarmungsdiagnose� ein. Hierzu wird erst das zentrale Be-wertungsinstrument der modernen Wohlfahrtstheorie - das Pareto-Kriterium - untersucht: Ein sozialer Zustand heißt dann pareto-optimal, wenn es keine Möglichkeit gibt, den Nutzen eines Individuums zu erhö-hen, ohne gleichzeitig den eines ande-ren zu verringern. Dieses Kriterium entstand historisch aus dem einfa-chen utilitaristischen Prinzip: �maxi-miere die Nutzensumme� in Verbin-dung mit der These, daß interperso-nelle Nutzenvergleiche inhaltsleer sind (30). Das Pareto-Kriterium ist jedoch mit einigen logischen Schwie-rigkeiten verbunden. Erstens mußte man erkennen, daß mit der Ableh-nung des interpersonellen Nutzen-vergleichs nicht lediglich das Bewer-tungsproblem aus der Ökonomie verbannt wird, sondern daß ein solch konsequenter Individualismus im All-gemeinen auch die Unmöglichkeit konsistenter und vollständiger sozia-ler Entscheidungsmechanismen imp-liziert. Dieses Problem hat seit Ar-rows �Unmöglichkeitstheorem� (1951) viele Seiten einschlägiger Jour-nale gefüllt und Sen hat dazu einige wegweisende Beiträge geliefert. Unabhängig davon ist aber auch das Kalkül individueller Nutzenmaximie-rung (und das aus ihm folgende Pos-tulat �rationalen Verhaltens�) selbst

fragwürdig. Diesem Thema wendet sich Sen im Weiteren durch eine Ana-lyse des utilitaristischen Fundaments des Pareto-Kriteriums zu. Er betrach-tet den Utilitarismus als Kombination folgender Prinzipien: 1. �Welfarism� - die Idee, daß nur individueller Nut-zen für ethische Erwägungen heran-gezogen werden kann; 2. Maximie-rung der Nutzensumme; und 3. Kon-sequentialismus: nur die Folgen einer Aktion werden bewertet. Da sich der zweite Punkt durch die Abkehr vom Nutzenvergleich gleich-sam von selbst erledigt hat, richtet sich Sen's Kritik nur gegen �welfa-rism� und Konsequentialismus. Das welfarism-Prinzip ist mit zwei Prob-lemen behaftet. Die erste Schwierig-keit besteht darin, daß der �Vorteil� (success) einer Person zwar auch das individuelle Wohlbefinden (well being aspect) reflektiert, aber nicht darauf reduziert werden kann, da Individuen in ihren Handlungen auch gesell-schaftliche Ziele, Wertungen etc. be-rücksichtigen (agency aspect). Für Sen gibt es daher keinen Grund für die Annahme des �selfishness as ac-tuality�. Zweitens ist nicht klar, ob das individuelle Wohlbefinden aus-schließlich �in the metric of happi-ness and desire-fulfillment� (45) be-wertet werden kann. Die Probleme liegen also in der Unterschiedlichkeit der Kategorien �Wohlbefinden�, �Nutzen� und �Vorteil�. Sen's zweite Argumentationslinie wendet sich gegen den Konsequentia-lismus. Es ist typisch für die Wohl-fahrtstheorie, daß sie ausschließlich die Ergebnisse ökonomischen Han-delns in Form von Gütermengen be-trachtet. Es bleibt damit gleichgültig, durch welche Form der Koordination (Markt, Plan o.�.) dies erreicht wird. Sen stellt diese konsequentialistische

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Tradition in Frage und betrachtet im dritten Kapitel des Buches am Bei-spiel der �Freiheit� die Möglichkeit, daß auch die Mittel der Koordination selbst einer Bewertung unterliegen. Mögliche Wege der Abkehr von der traditionellen Theorie bestehen für ihn somit darin, Kategorien wie �Freiheit�, �Rechte� etc. einerseits nicht instrumentell und andererseits nicht nur unter dem �well being aspect� zu betrachten. Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Problemen be-züglich der Pluralität von Zielen, der Unvollständigkeit von Entschei-dungsregeln und dem Verhältnis von Mittel- und Zielbewertung. Die von Sen gemachten Vorschläge laufen alle darauf hinaus, den sozialen Einfluß auf individuelles Handeln hervorzuheben bzw. überhaupt erst in das Kalkül der ökonomischen Theorie einzuführen. Das Ziel eines solchen Forschungsprogramms be-steht jedoch nicht darin, die �Öko-nomie� mit der �Gerechtigkeit� zu versöhnen, sondern die ökonomische Prozesse besser zu verstehen. Als Ausblick hierzu werden am Ende des dritten Kapitels einige Hinweise ge-geben, wie solch modifizierte Verhal-tenshypothesen als Erklärung für ei-nige �unangenehme� Ergebnisse in der experimentellen Spieltheorie nützlich sein können. Das Buch hat den großen Vorzug, daß der Autor in einfacher Sprache und aus erster Hand die Grundideen einiger Forschungsrichtungen dar-stellt, die aufgrund ihres formalen Apparats nicht leicht erschließbar sind. Vieles des Geschriebenen geht auf eigene Arbeiten Sen's zurück und seine Darstellung verdeutlicht sehr gut das aktuelle Denken vieler Öko-nomen über Probleme der Rationali-

tät und der Motivation ökonomi-schen Verhaltens.

Thomas Gaube Barbara Sichtermann Der tote Hund beißt. Karl Marx, neu gelesen 2. Aufl., Berlin 1991 (Wagenbach), Taschenbuch, 171 S., 16.- DM. Als Einladung zu einer unvoreinge-nommenen Marx-Lektüre versteht sich die von Barbara Sichtermann be-sorgte und mit einem Einführungs-kapitel versehene kleine Auswahl von Marx-Texten, die der Wagenbach-Verlag in einem ansprechend gestalte-ten und sorgfältig redigierten Ta-schenbuch vorlegt. Barbara Sichtermann setzt in ihrer Einleitung zwei Schwerpunkte. Zum einen geht es ihr um eine korrekte historische Einordnung und damit auch Bedeutungsrelativierung der Marxschen Schriften. Marxisten und Anti-Marxisten wirft sie gleicherma-ßen eine �groteske Fehleinschätzung der Reichweite und Wirkungsmacht von Theorien� vor. Mit dem Nieder-gang des real existierenden Sozialis-mus biete sich nun endlich die Mög-lichkeit einer unbefangenen Beschäf-tigung mit einem Denker, der lange Zeit von der einen Seite als 'Beweis' und von der anderen Seite als (falsch gewähltes) Feindbild mißbraucht wurde. Zweitens möchte Sichtermann die Aktualität der Marxschen Analysen in den Vordergrund stellen. Sie sollen �weiterhelfen und anstoßen auch bei dem Unterfangen, die heutigen Zu-stände der kapitalistischen Zentren in ihrer politischen Lebenskraft und a-pokalyptischen Furcht, in ihrer öko-nomischen Blüte und ihrer ökologi-

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schen Fäulnis, in ihrem stolzen Reichtum und ihrer verschämten Armut, in ihren sozialen Ausdifferen-zierungs- und Nivellierungstendenzen besser zu verstehen�. Zweifellos ist Marx' Kritik der Politi-schen Ökonomie, seine Analyse des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft das Kernstück seines Denkens, das heute noch jede(r) mit Gewinn rezipieren kann. Insofern wird sie von Sichtermann zu Recht in den Mittelpunkt gerückt. Doch er-scheint ihre Argumentation, mit der sie die naturgesetzlichen Analogien bei Marx begründet, in denen eine deterministische Auslegung seiner Geschichtsprognose angelegt war, teilweise allzu apologetisch. Diese möchte sie nahezu ausschließlich dem Geist des 19. Jhs. und insbesondere dem Einfluß Darwins zuschreiben; doch wurde gerade Darwin wegen des Zufallselementes in seiner Selek-tionstheorie heftig angegriffen, weil es einer teleologischen Evolutionsin-terpretation im Wege stand. Die An-wendung naturwissenschaftlich inspi-rierter Methoden und Analogien stand auch bei den Systembeschrei-bungen der sich gleichzeitig konstitu-ierenden positivistisch-empiristischen Soziologie im Vordergrund. Der ent-scheidende Unterschied liegt wohl doch in der Tatsache, daß Marx das-selbe System als empörend ungerecht wahrgenommen hat, so daß der Wunsch nach seiner Ablösung eine eben nur scheinbar wissenschaftlich fundierte Entwicklungsprognose in-spirierte. Allerdings braucht man diesem Be-reich auch nicht allzu viel Gewicht beizumessen. Barbara Sichtermann führt mit Recht ins Feld, daß die von Marx nicht vorhergesehenen sozial-staatlichen Linderungen der Auswir-

kungen kapitalistischer Produktions-weisen kein Widerspruch zu seiner brillianten Analyse der kapitalisti-schen Ökonomie sind, sondern eine ihrer Folgen. �Die Kapitalanalyse ist der Biß des toten Hundes, und er geht immer noch durch bis auf die Knochen.� Die ausgewählten Texte ordnet Sich-termann fünf großen kritischen Li-nien des Marxschen Werkes zu, die ihr als Kapiteleinteilung dienen: 1) Betonung der Geschichtlichkeit der bürgerlichen Gesellschaftsord-nung; 2) Analyse des tatsächlichen gesell-schaftlichen Zusammenhangs der In-dividuen und Antizipation eines Ge-meinwesens, in dem sich der Mensch sein �Gattungswesen� aneignen kann; 3) Lebenssituation des Proletariats; 4) Theoretische Darstellung des Ka-pitals als Produktionsverhältnis; 5) Internationale Entwicklung des Kapitalismus. Barbara Sichtermann hat ihre Inten-tionen bei der Auswahl der Texte konsequent verwirklicht. Sie präsen-tiert Marx hauptsächlich von seinen stärksten Seiten: grundlegend in der Analyse, präzise und stringent in der Argumentation, unterhaltend und schriftstellerisch überzeugend. Dabei trägt das Kapitel über die Lage der arbeitenden Klassen wesentlich dazu bei, die theoretischen Arbeiten einer-seits im historischen Kontext zu situ-ieren und andererseits ihre immer noch bestehende Relevanz ins Ge-dächtnis zu rufen - Kapitalismus und Ausbeutung gehen nach wie vor Hand in Hand. Die Briefe, die jeweils den Kapitelabschluß bilden, verge-genwärtigen zudem den politisch täti-gen, auf praktische Veränderung hinwirkenden Menschen Karl Marx.

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Insgesamt also ein liebevolles und le-bendiges Textarrangement, das Dank der deutlichen Akzentsetzung bei der Auswahl niemals einen Zweifel daran läßt, daß keine 'Zusammenfassung' Marxschen Denkens beabsichtigt ist. Ein angenehmerer Einstieg in die Marx-Lektüre dürfte sich schwerlich finden lassen; und für alle, die sich haben begeistern lassen, weist eine kommentierte Bibliographie im An-hang den weiteren Weg.

Claudia Streit Michael Walzer Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (Original: Spheres of Justice, New York 1983), Frankfurt/Main 1992 (Campus-Verlag), 471 S., ca. 88.- DM. Nach 9 Jahren liegt - nach �Kritik und Eigensinn� und �Zweifel und Einmischung� (siehe Widerspruch Nr.22) - nun auch das Hauptwerk des amerikanischen Sozialphilosophen in deutscher Sprache vor. Dieser Zeit-verzug ist bedauerlich, weil heute der Diskussionszusammenhang nicht mehr deutlich wird, aus dem und in dem die Arbeit entstanden ist, näm-lich als Gegenentwurf zu J. Rawls' �Theory of Justice� und der utilitaris-tischen Ethik-Debatte. Für Walzer gibt es das autonome, nutzengeleitete Individuum, das Hät-schelkind der Utilitaristen, und den Rawls'schen �unparteiischen Beob-achter�, der interesselos die Prinzi-pien der Gerechtigkeit generiert, schlichtweg nicht. Und damit interes-siert ihn auch nicht das Problem, wie

denn nun beide, Nutzen und Ver-nunft, zusammenzubringen sind. Sie sind für ihn Kopfgeburten der Philo-sophen. Statt nach abstrakten Regeln möchte er den realen Kriterien nach-gehen, nach denen die sozialen Güter verteilt worden sind bzw. verteilt werden sollten. In manchem, so mag es aus der Distanz scheinen, erinnern Walzers Invektiven gegen Rawls der aristotelischen Kritik an Platons Staatsideal und den süffisanten Ein-sprüchen Hegels gegen Kants abs-trakte Moral zugunsten einer �kon-kreten Sittlichkeit�. Gerechtigkeitsfragen sind auch für Walzer Verteilungsfragen. Über diese läßt sich jedoch nicht ein für alle Mal entscheiden, sondern ist je schon ent-schieden worden. Was zur Verteilung ansteht, sind �soziale Güter�, die im jeweiligen kulturellen Kontext erson-nen, erzeugt und in der Gemeinschaft verteilt werden. �Alle Verteilungen sind gerecht oder ungerecht in Rela-tion zur gesellschaftlichen Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Gü-ter� (34). Was �gerecht� ist, entschei-det nicht der Philosoph, sondern ana-lysiert je der Historiker und Anthro-pologe. Auf diesen Kulturrelativismus hat sich denn auch die Fachdiskussion des Buches in den USA bezogen, und es stimmt, wenn Walzer im Vorwort zur deutschen Ausgabe darauf hin-weist, daß dies nicht sein zentraler Gedanke ist; denn der ist ja in der Tat nicht aufregend neu. Zentral ist das, was er meint, aus der historischen Analyse gewonnen zu haben, und was er als �komplexe Gleichheit� be-zeichnet. Er grenzt diese zunächst von einem Gerechtigkeitsverständnis ab, das er �einfache Gleichheit� nennt. Diese bestehe darin, daß ein soziales Gut zum dominanten Gut

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wird und die Verteilung aller anderen Güter beherrscht. Im Kapitalismus sei dies das Geld, und daher werde al-les vermarktet; im Totalitarismus sei es die politische Macht. Geld und Staat seien die großen Gleichmacher, die alles nach ihrer Art 'kontrollieren'. �Komplexe Gleichheit� setzt hinge-gen die Anerkennung voraus, daß die sozialen Güter eine je eigene Sphäre bilden und daß jedes Gut �nach den Geltungskriterien seiner eigenen Sphäre zugeteilt werden soll� (12). Der Hauptinhalt des Buches ist es, die Sphäre des jeweiligen Gutes zu bestimmen und nach den Vertei-lungskriterien zu suchen, die ihm ent-sprechen. So sei das �erste und wich-tigste Gut� (65) die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft; denn da Zutei-lungen immer in Gemeinschaften ge-schehen, bilden diese das Fundament aller anderen Güterdistributionen und prägen diese. Bei seiner Diskussion einer sphärengerechten Verteilungs-regel dieser Mitgliedschaft wider-spricht Walzer einerseits dem Prinzip der Offenheit, weil dadurch der kon-krete Charakter der jeweiligen Ge-meinschaft verloren ginge. Für ihn folgt daraus, daß die Weltbürger-schaft kein konkretes Gemeinwesen sei, da hier die Mitgliedschaft nicht verteilt werden kann, sondern �be-reits verteilt (ist), und zwar gleichmä-ßig� (69). Andererseits wendet er sich gegen jedes Metöken- oder �Gastar-beiter�-tum. Wer arbeitet und von den Gesetzen der Gemeinschaft be-troffen ist, muß das Recht erhalten, ihr anzugehören; alles andere seien �sphärenfremde� Kriterien. In ähnlich abwägender Weise disku-tiert Walzer anhand historischer Fälle die Verteilungskriterien der anderen sozialen Güter: die Sphären der Wohlfahrt und der �Geld- und Wa-

renwelt�, der Ämter und der politi-schen Macht, den Bereich und die angemessenen Zuteilungsregeln von Liebe, Freundschaft, Gnade und so-zialer Anerkennung. Das zentrale An-liegen dieser historisch-kritischen A-nalyse ist es, zu zeigen, daß es 1) sol-che eigenständigen Sphären tatsächlich gibt, daß es 2) Vertei-lungsregeln gibt, die aus der �Natur� des jeweiligen sozialen Gutes folgen, und daß 3) �komplexe Gleichheit� heißt, diesen Verteilungsregeln gemeinschaftlich zu entsprechen. Eben dieses Vorhaben bleibt ambiva-lent. Man weiß nicht recht, ob Walzer die realen kultur-historischen Vertei-lungsregeln nur beschreibt, analysiert und diskutiert, oder ob er die �kom-plexe Gleichheit� selbst als Norm aufstellen will, die es zu beachten gel-te. Er bringt kenntnisreich eine Viel-zahl historischer Beispiele, Zutei-lungsregeln etwa des indischen Kas-tensystems, des aztekischen Erziehungswesens oder der chinesi-schen Ämtervergabe. Aber bei nähe-rem Hinsehen belegen diese Beispiele eigentlich das gerade Gegenteil von dem, was er �komplexe Gleichheit� nennt. Es fanden fortlaufend Über-griffe von einer Sphäre in die anderen statt, sodaß man sagen kann, daß die Art, in der ein dominantes Gut sich in ein anderes umwandeln ließ, die jeweilige Kultur geprägt hat. So kennzeichnet eben die Dominanz des sozialen Gutes �religiöse Reinheit� und seine Transformation in andere außerreligiöse Güter, der Wohlfahrt, Liebe usw. das indische Kastenwesen, der Übergriff des Grund- und Bo-denbesitzes aufs Sexualleben (Recht der ersten Nacht) das Feudalsystem, oder die Umwandlung des Kapitalbe-sitzes in politische Macht den Kapita-lismus.

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Walzer betreibt m.E. einen zu großen Aufwand, um sein Hauptanliegen zu verdeutlichen. Er möchte ein Be-wußtsein für jene �komplexe Gleich-heit� schaffen. Dies solle einen Schutz und ein Widerstandspotential gegen die illegitimen Übergriffe und imperialistischen Usurpationen bil-den, die heute Kapital und Staat voll-ziehen. Sie erstrecken sich in Sphä-ren, die sie nichts angehen, und die �sphärengerecht� zu verteilen sind. Wohlfahrtspflege und Gesundheits-fürsorge, Arbeitsverteilung und Äm-tervergabe dürften nicht nach den abstrakten Regeln der Profitmaximie-rung oder der politischen Machtaus-übung, sondern müßten im Sinne der �komplexen Gleichheit� nach den inneren Kriterien der Gemeinschaft ausgestaltet werden. Das �ideale Subjekt� dieser Gerech-tigkeitstheorie ist für Walzer nicht der �interesselose Schiedsrichter�, son-dern der �sich selbstachtende Bür-ger� (395) selbst, der im demokrati-schen Willensbildungsprozeß über die �Gerechtigkeiten� in seinem Ge-meinwesen angemessen zu entschei-den vermag. Hinter diesem mora-lisch-politischen Anliegen tritt m.E. die Frage zurück, ob es diesen Bürger je gegeben hat (vielleicht im demo-kratischen Athen, auf das Walzer immer wieder zurückgreift). Interes-santer ist seine These, daß heute nicht mehr die �Klassenzugehörig-keit� und auch nicht �die Vernunft� das Widerstandspotential gegen die Dampfwalzen Kapital und Staat be-zeichnen, sondern die gelebte Moral, die Selbstachtung und der Respekt vor den Bedürfnissen, Interessen und Vorstellungen der MitbürgerInnen im je konkreten Gemeinwesen. Eine lebhafte Diskussion darüber ist zu erwarten.

Alexander von Pechmann WIDERSPRUCH � Beiträge zur sozialistischen Poli-tik, Nr.22: Neo-Kolonialismus Zürich 1991 (Widerspruch, Postfach 652, 8026 Zürich), 188 S., 15.- Fr. Seit geraumer Zeit hat sich die Züri-cher Zeitschrift �Widerspruch� dem Themenkomplex neuer �Europa�-Konzeptionen zugewandt. Nr.13 ging den rechtspopulistischen Parolen von �Nation, Volk & Rasse� nach, Nr.20 hatte das Thema �Schweiz - Europa - Strategien� und Nr.21 �Neuer Ras-sismus�. Im Zentrum stand dabei die Analyse und Kritik von neueren ideo-logischen Modellen, die auf suprana-tionaler Ebene eine �europäische I-dentität� stiften, die �Festung Euro-pa� errichten und die Ausgrenzung anderer Kulturen vornehmen wollen. Das Heft 22 �Neo-Kolonialismus� erweitert nun dieses Thema. Es nimmt Europa (und Nordamerika) nicht nur als Festung in den Blick, sondern quasi als Zentrum eines weltweiten ökonomischen, politisch-militärischen und ideologischen Feld-zugs. Der mexikanische Philosoph und Be-freiungstheologe Enrique Dussel be-ginnt mit einem leider manchmal zu gerafften Überblick über den Beginn dieses Feldzugs vor 500 Jahren. Nicht das �cogito, ergo sum� des Philoso-phen, sondern das �conquero, ergo sum� des spanischen Königs stehe am Beginn. Das christliche Europa, bis dahin am Rande einer islamisch geprägten Welt vom Atlantik bis zum Pazifik, sei nahtlos von der Recon-quista Spaniens zur Conquista Ame-rikas übergegangen. Die dort geraub-

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ten Gold- und Siberschätze haben dann die �große Wende� eingeleitet, die die islamische Hegemonie ver-drängte und schließlich Europa aus der kulturellen Peripherie zum �Ziel der Geschichte� und zum �Dasein der Freiheit� (Hegel) hochstilisieren ließ. Die �Mauer�, die seit 1492 er-richtet wurde, sei, so Dussel, �unend-lich größer und höher� als die in Ber-lin. Und sie steht immer noch. Dussel weist dabei auf die Eigenart dieses ersten Eroberungszugs des �christlichen Spaniens� hin. In ihm habe sich noch ein vor-säkulares Gemisch von christlichem Auftrag, absolutem Machtanspruch und mer-kantilistischer Bereicherung gefun-den, der ihn von den späteren Erobe-rungszügen des protestantischen Hol-lands und Englands unterscheidet. Zwischen nackter Ausplünderung der amerikanischen Kulturen, der Besitz-nahme des Landes durch die spani-sche Krone und der Missionierung durch die Kirche bestand noch eine weitgehend ungebrochene Einheit. Die Schritte zur Errichtung dieses neuen Herrschaftssystems galten ge-rechtfertigt als �'zivilisierende, heute würden wir sagen, 'moderne Prozes-se'� (14), die nicht nur den �Wilden� die rechte Gesinnung vermitteln und von der Majestät des Christengottes künden, sondern zugleich auch der �Sekte Muhammads� eins auswischen sollte. Dabei versäumten es die Spa-nier jedoch, über die Ausplünderung und Versklavung der Indios und Schwarzen hinaus den Schritt zur produktiven Kapitalanlage und zur freien Lohnarbeit zu schaffen, und wurden von den clevereren Hollän-dern und Engländern als �Super-macht� verdrängt. Den �Bildern Afrikas in Europa� geht Christian Neugebauer in seinem

Beitrag nach. Zuerst habe das Bild des �Barbaren und Heiden� im Vor-dergrund gestanden. �Afrika war im christlichen Mittelalter der exklusive Ort der Fabelvölker bizarrer Tierwel-ten und des Teufels� (105). Der Schwarze galt als der, der von Gott verstoßen und mit seiner Hautfarbe bestraft worden sei. Dieses religiös-grobschlächtige Bild ergänzte dann das subtilere Bild vom �Exoten und Opfer�. Afrikanisches Recht und Sit-te wurde zum Brauchtum, Kunst und Religion zur Folklore, die heute dem Afrika-Touristen den schönen-schaurigen Grusel eines exotischen Abenteuerurlaubs verspricht. In sei-ner Opferrolle dagegen sei der Afri-kaner das Objekt wahlweise �christli-cher�, �demokratischer� oder �sozia-listischer� Gesinnung und Seelenlagen geworden. Dieses humanistische Engagement erschwerte es der europäischen Lin-ken, wie Gerhard Hauck, Reinhart Kässler und Hennig Melber ausfüh-ren, die kolonisierten Völker als Sub-jekte ihrer eigenen Geschichte zu ak-zeptieren. Zwar distanzierte sich die Linke, selbstverständlich, von der Brutalität der Kolonisierungspraxis, sah sich dennoch unter der schweren �Bürde des weißen Mannes� als �Er-zieher� und �Zivilisierer der Wilden�. Diese Haltung habe sich erst mit Le-nin geändert, der am Beginn der An-ti-Kolonialkriege wohl am sensibels-ten den Subjektcharakter der Koloni-alvölker hervorhob und anerkannte, sie aber dann doch wieder in eine �globale revolutionäre Strategie� ein-band, deren Zentrum dann mehr und mehr Moskau wurde. Welche antikolonialistische Perspek-tive besteht nun heute, nachdem die sozialdemokratischen �Erziehungs-� bzw. �Entwicklungs�-Modelle und

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das bolschewistische Bündniskonzept gescheitert sind wie auch das Nehru-Tito-Konzept der �Blockfreien� ob-solet geworden ist? Hauck, Kässler und Melber weisen zu Recht darauf hin, daß es für die Trikont-Länder tatsächlich einen gewaltigen Unter-schied macht, ob sie direkt militä-risch-physisch niedergehalten werden, oder ob sie, wie heute, meist nur dem �stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse� (Marx) ausgeliefert sind. Aber diese neo-kolonialistischen Herrschaftsmethoden ändern weder ihre katastrophalen Lage noch geben sie Anhaltspunkte für eine Gegenstra-tegie. Mag sein, daß Toni Locher und Hans Furrer recht haben, wenn sie von den alten großen Entwicklungs- und Bündniskonzepten Abschied nehmen und am Fall Eritrea zeigen, wie dort unter dem Stichwort �Self-Reliance� versucht wird, eine eigen-ständige �Dialektik von ökonomi-scher Unabhängigkeit und (politisch-kulturellem) Selbstbewußtsein� (91) einzuleiten, die �quer zur welter-obernden IWF-Weltbank-Strategie� (94) steht. Es ist sicher gut, wenn Co-rinne Wacker in ihrem Beitrag den Blick schärft für die vielen autono-men Aktivitäten in der III. Welt, hier: den Kampf der kenianischen Landar-beiterinnen um Land. Oder wenn Christian Scherrer grundsätzlich der �Selbstbestimmung für indigene Na-tionalitäten� nachgeht. Doch bei manchem der Beiträge kann man sich der Assoziation nicht erwehren, daß hinter dem Plädoyer für Autonomie sich eine tiefe Liebe des Schweizers zu seiner kantonalen Eigenart verbirgt. Und wenn dann gar Guido Hielscher noch das Recht auf Langsamkeit zum Menschenrecht erhoben wissen will, dann befällt den Nicht-Eidgenossen ein unwillkürli-

ches Schmunzeln. Wenn heute ca. 3-5000 Ethnien weltweit in 170 Staaten zusammengezwungen sind, wie Scherrer feststellt, - wie soll da eine ethnisch-kulturelle Autonomie in po-litische und ökonomische Institutio-nen eingebracht werden können? Leistet ein derartiger Prozeß zu bald atomarer Zerplitterung nicht eher der alten Herrschaftsmaxime des �divide et impera� Vorschub? Auf der einen Seite ein in G7, IWF und Weltbank organisierter Block kapitalverfügen-der Staaten, auf der anderen Seite ei-ne bald unabzählbare Vielzahl von �Habenichtsen�. Nr.23 bietet dem Leser eine anregen-de Fülle von Informationen zur Ge-schichte und zur Gegenwart sowohl der alltäglichen Kolonialisierungspra-xis als auch der Widerstandsformen. Wenn es die Frage nach Ansätzen re-alistischen Gegenstrategien m.E. un-beantwortet läßt, dann ist dies kein Vorwurf an die Autoren, sondern spiegelt wohl unsere �neue Weltord-nung� wider.

Alexander von Pechmann