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Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

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Rainer Mackensen (Hrsg.)

Bevolkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

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Rainer Mackensen (Hrsg.)

Bevolkerungs-forschung und Politik in Deutschland im 20.Jahrhundert

VS VERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografle; detail-lierte bibliografische Daten sind im Internet uber <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

LAuflage Juli 2006

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiir Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Monika Mulhausen / Marianne Schultheis

Der VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands

ISBN-10 3-531-15121-5 ISBN-13 978-3-531-15121-2

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Vorwort

Charlotte Hohn

Der vorliegende Band ist das Ergebnis der dritten Tagung der Deutschen Gesellschaft fur Demographic zum Thema des Verhaltnisses „der Bevolkerungswissenschaft" zur Politik des NS-Regimes^ im Dezember 2003. Alle drei Tagungen wurden von Rainer Mackensen, dem ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft fur Bevolkerungswissenschaft, die sich im Jahr 2000 mit der Johann-Peter-SuBmilch-Gesellschaft fur Demographic zur Deut-schen Gesellschaft fur Demographic (DGD) vereinigte, organisiert. Ich danke Rainer Ma-ckensen im Namen der DGD ausdriicklich fur sein anhaltendes Engagement bei der Aufar-beitung der Geschichte der Bevolkerungswissenschaft. Vor allem die Beteiligung von Histo-rikem an dieser Thematik war Rainer Mackensen ein wesentliches Anliegen, so dass wir es hier mit einem gelungenen Beispiel interdisziplinarer Zusammenarbeit zu tun haben.

Fur die Tagungen 2000 und 2001 waren Beitrage eingeworben und ohne Redaktion des Veranstalters oder des Herausgebers vorgetragen und publiziert worden, um jeder mogli-chen Vermutung einer Regie der Themen oder ihrer Auffassung und Darstellung vorzubau-en. Bei der ersten Tagung ging es um Beobachtungen aus der Zeit vor 1933 (Die Ergebnisse sind veroffentlicht in: „Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik vor 1933", Ma-ckensen, Red., Opladen: Leske und Budrich 2002), bei der zweiten um solche aus der Zeit der NS-Herrschaft (Die Ergebnisse sind veroffentlicht: in: „Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik im »Dritten Reich«", ed. R. Mackensen, Opladen: Leske und Budrich 2004). Bei diesen Tagungen kam jedoch der Bezug auf die Bevolkerungswissenschaft zu kurz; vielfach wurde stattdessen lediglich cine personelle, inhaltliche oder organisatorische Identifizierung zwischen der Bevolkerungspolitik des NS-Regimes und der thematischen Diskussion und Analyse von Bevolkerungsfragen in einem wissenschaftlichen Fachgebiet unterstellt. Deshalb erschien es notwendig, eine dritte Tagung zu veranstalten, in der von den Referenten der Nachweis eines unmittelbaren Bezugs zwischen Wissenschaft und Poli-tik erwartet wurde.

Der vorliegenden Veroffentlichung liegt diese dritte Tagung zugrunde. Sie wurde 2003 von der Deutschen Gesellschaft fur Demographic mit UnterstUtzung des Max Planck-Insti-tuts fur demographische Forschung, Rostock, und des Zentrums ftir Antisemitismusfor-schung an der Technischen Universitat Berlin durchgefuhrt. Die Deutsche Gesellschaft fur Demographic beauftragte emeut Rainer Mackensen mit der Durchfuhrung und mit der Ver-offentlichung der Ergebnisse. Namentlich ist des weiteren Reinhard Nuthmann vom Max Planck-Institut fur demographische Forschung, Rostock, fur seine stete und unverdrossene UnterstUtzung zu danken, die auch 2003 wieder den Zugang zu der Tagungsstatte der Max Planck-Gesellschaft, dem Hamackhaus, ermoglichte.

Das Thema wird ebenfalls in einem Forschungsschwerpunkt der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter dem Titel „Das Konstmkt »Bevolkerung« vor, im und nach dem »Dritten Reich«" behandelt. Die Arbeiten dieses Schwerpunkts wurden der wissenschaftlichen Offentlichkeit in einem Band mit dem Titel des Schwer-punktes (ed. R. Mackensen u. J. Reulecke; Wiesbaden: VS 2005) vorgestellt.

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VI Charlotte Hohn

Eine wichtige Rolle fiir diese Tagung hatte Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny tiber-nommen, den eine schwere Erkrankung dann leider von einer Teilnahme an der Tagung ab-gehalten hat. Am 14. Marz 2004 ist er in Zurich verstorben, unsere Genesungswiinsche hat-ten ihn gerade noch erreichen konnen. Unser warmes Andenken und unser bleibender Dank fur seine lebhafte Beteiligung an den Diskussionen zu unserem Thema, fur sein reichhaltiges wissenschaftliches Werk wie fur seine personliche Warmherzigkeit und Freundschaft wer-den dauem.

Im Interesse der Forderung durch die Volkswagen-Stifhing, ftir welche ich mich auch an dieser Stelle aufrichtig bedanken will, hatte sich Werner Bergmann freundlicherweise be-reit gefunden, sich und seine Stellung in der Technischen Universitat Berlin ftir diese Ta-gung einzusetzen. Ich freue mich sehr, dass dadurch auch die Verbindung unserer Arbeiten zum Zentrum fur Antisemitismusforschung hergestellt wurde. Sie ist dariiber hinaus durch die Verortung eines DFG-Projektes von Ingo Haar in diesem Institut gegeben. Ftir dessen schnelle Bereitschaft zu referieren, ist ein besonderer Dank angemessen; sein Referat soil an anderer Stelle veroffentlicht werden.

Von der Deutschen Gesellschafl fiir Demographic haben sich vor allem Matthias Fors-ter, Potsdam, und Rembrandt Scholz, Rostock, unter z. T. schwierigen Umstanden fiir die Realisierung der Tagung eingesetzt; dafiir ist ihnen zu danken. Die Endgestaltung des Ma-nuskripts fiir den Verlag hat Frau Heike Gorzig, Berlin, dankenswerterweise bearbeitet.

Ich wtinsche gerade dieser Veroffentlichung, die den Dialog zwischen Historikem, Be-volkerungsstatistikem und Bevolkerungswissenschaftlem liber die Politiknahe von Bevolke-rungsfragen und demographischen Methoden fortfiihrt und vertieft, eine breite Leserschaft.

j L . <nKvw

Charlotte Hohn

Prasidentin der Deutschen Gesellschaft fur Demographic

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Inhalt

Vorwort V

Charlotte Hohn

Inhalt VII

Zur Einfiihrung 1

Rainer Mackensen

Bevolkerung denken: Herausforderungen einer neueren Wissenschafts- und Mentalitatsgeschichte 13

Jtirgen Reulecke

„Assimilation" und „Dissimilation"

in der „Bev61kerungsgeschichte", ca. 1918 bis 1960 23

Alexander Pinwinkler

I. Einleitung 23

II. „Assimilation" und „Dissimilation" in deutschen „Volksforschungen" 25 III. „Umvolkung" in historiographischen Ordnungsentwiirfen zu „Europa" 41 IV. Resiimee 43

Zwischen Feindschaft und Familie -Eine Skizze zu Bevolkerungspolitiken in Frankreich vom Ende der III. Republik bis zur Vichy-Zeit - 49

Petra Overath

I. Einleitung und Fragestellung 49 II. Feindschaften und Rivalitaten 51 III. Die Familienpolitik 56 IV. Zusammenfassung und Ausblick 62

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VIII Inhalt

Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens

in Schulbiichern 67

Steffen Pappert und Regula Stucki

I. Einleitung 67

II. Materialbasis 67 III. Darstellungsweise bevolkerungswissenschafitlicher Inhalte 69 IV. Fazit 84

Defining Population by Statistics

c.1850-1939: German practice within a European context 89

Robert Lee

I. Introduction 89

II. The census and the construction of identity 90 III. Language as an identity marker 96 IV. NationaHty and citizenship 102 V. Race and ethnicity 105 VL Conclusion 109

The Dark Side of Numbers: Updated 119

William Seltzer

I. The Main Population Data Systems Involved 120

II. Reconceptualizing Population Data 122 III. Research Results on Targeting 124 IV. Safeguards Against Misuse 130 V. Discussion and Conclusions 132

Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich und die Erfassung

der osterreichischen Juden 137

Gudrun Exner und Peter Schimany

I. Einleitung 137

II. Begriffe und Zahlungen 139 III. Die Durchfuhrung und Auswertung der Volkszahlung 1939 im „Land Osterreich" 143 IV. Die „Erganzungskarte" der Volkszahlung vom Mai 1939 146 V. Die Erfassung der osterreichischen Juden 146

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Inhalt IX

VI. Die „Judenkartei" zur Erstellung der Transportlisten 151 VII. Resumee und Ausblick 153

Trend shift or Continuation? World War II and the Development of Population Forecasting and Planning in the Netherlands 161

Henk A. de Gans

I. Zusammenfassung Trendverlagerung oder Trendfortsetzung? Der Zweite Weltkrieg und die Entwicklung der demographischen Prognose und Planung in den Niederlanden 161

II. Introduction 162 III. Trend shift or continuation? 163 IV. Preliminary town planning research in the inter-war period:

Opting for the demographic or the economic approach in population forecasting? 165 V. Pre-World War II German influences on planning and forecasting in the

Netherlands 166 VI. Official national population forecasting: A shift of policy 168 VII. The statistical tradition and population forecasting before the war 171 VIII.The statistical tradition in the Netherlands 175 IX. Conclusion 176

Demographie, Statistik, Soziologie: Der Bedarf an empirischen Informationen und das Verhaltnis zur Politik 181

Rainer Mackensen

I. Einfiihrung 181 II. Demographic und Statistik 184 III. Soziologie und Statistik 188 IV. Bevolkerungswissenschaft, Statistik und Eugenik 195

Elisabeth Pfeil und das ,,Blaue Archiv"

Aspekte einer Bevolkerungssoziologie im Nationalsozialismus 203

Sonja Schnitzler

I. Einleitung: Der Stand der Forschung 203

II. Elisabeth Pfeils wissenschaftlicher Werdegang 204 III. Das „Archiv fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" 210 IV. Resumee: Ambivalenz von ideologischer Pragung und Wissenschaftlichkeit 217

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X Inhalt

Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkerungs-wissenschaft in ihiren Bezieliungen zu Raumforschung und Geopolitilc im Dritten Reicii 221

Carsten Klingemann

I. Politisch induzierte Kontroversen um Bevolkerungswissenschaft als „Volkskunde" 221

II. Bevolkerungswissenschaft und Raumforschung gehen getrennte Wege 231 III. Der Kampf der Geopolitik um die Anerkennung als Wissenschaft und die Rolle

der Bevolkerungswissenschaft und der Raumforschung 236 IV. Raumforschung ohne soziologische Bevolkerungswissenschaft 242 V. Fazit 247

Disziplinare Grenzen am Rande der Medizin: Soziale Hygiene, Demographie, Rassenhygiene 251

Ursula Ferdinand

I. Medicinische Policey - Anfange der Sozialmedizin und Demographic in den Staatswissenschaften 254

II. Entwicklungen im deutschsprachigen Raum 255 III. Soziale Hygiene - Alfred Grotjahn 259 IV. Die Beziehung von Sozialhygiene und Demographic 261 V. Soziale Hygiene und sexuelle und generative Hygiene 262 VI. Soziale Hygiene, Geburtenriickgang und Eugenik 263 VII. Grotj ahns bevolkerungspolitisches Wirken in den 1920er Jahren 266 Vlll.Psychiatrie und Bevolkemngspolitik - Ernst Riidin 268 IX. Rassenpolitik und wissenschaftliche Methode 269 X. Riidin auf bevolkerungswissenschaftlichen Konferenzen 272 XL Fazit 276

Medizin und Bevolkerungswissenseliaften im Nationalsozialismus 285

Wolfgang Woelk und Jorg Vogele 285

Disliussionsbericlit der Tagung „Bev61kerungsforschung und Politik in Deutscliland im 20. Jahrhundert" 299

Michael Engberding

I. Methodologische und methodische tjberlegungen 299

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Inhalt XI

II. Die quantitative Betrachtung 300 III. Zusammenfassung der Diskussionsertrage

- Es gilt das gesprochene Wort - 302 IV. Vergangenheit und Gegenwart 303 V. Begrifflichkeiten 306 VI. Deutschland im intemationalen Kontext 307 VII. Statistik, Bevolkemng und Individuen 308 VIII.Bevolkerungswissenschaft im Nationalsozialismus 312 IX. Formalien 314 X. Erganzungen und Nachfragen 315

Personenindex 319

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Zur Einfiihrung

Rainer Mackensen^

Das Thema des vorliegenden Bandes - wie schon der beiden vorhergehenden^ - besteht in der Erortenmg der Zusammenhange zwischen der deutschen Bevolkerungswissenschaft und der Bevolkerungspolitik des NS-Staates.

Es geht nicht um die Darstellung dieser Bevolkerungspolitik. Diese ist in der Literatur bereits vielfaltig vorgenommen worden, und fast taglich kommen neue Veroffentlichungen hinzu, die insbesondere aus den Jahren 1933 bis 1945 von der unterschiedlichen Bewertung und Behandlung der Menschen, von Umsiedlungen und Vertreibungen, von Aussonderun-gen und Entrechtungen, von Qualen und Ermordungen unter deutscher Anleitung und Durchfiihrung berichten. In den grolJen Umrissen sind diese Ereignisse heute bekannt, auch wenn immer weitere und neue Einzelheiten entdeckt werden.

In der historischen Literatur werden diese Vorkommnisse als »Bev6lkerungspolitik« zusammengefaBt.^ Dieser Wortgebrauch will auf eine Ubereinstimmung dieser Materie mit dem Gegenstandsbereich hindeuten, der in der Bevolkerungswissenschaft vor jener Zeit als »Bevolkerungspolitik« behandelt worden ist, weitet diesen Bereich jedoch bedeutend aus, um ihn fiir die gesamte bevolkerungsbezogene Aktivitat des NS-Staates anzuwenden; diese Anwendung findet sich bereits bei nationalsozialistischen Autoren in den 1940er Jahren. Davor jedoch wurde lediglich die Anwendung der Befunde und Thesen bevolkerungswis-senschaftlicher Autoren auf mogliche staatliche MaBnahmen so bezeichnet. Es ist dieser im Zeitverlauf veranderte Zusammenhang, der auch in dem vorliegenden Band behandelt wird.

Dazu ist eine detaillierte Untersuchung sowohl der vorausgehenden Bevolkerungswis-senschaft als auch insbesondere von deren Affmitat zur Politik erforderlich. Der wird von den Beitragen dieses Bandes ausschnitthaft an verschiedenen Punkten geleistet. Wenn dies in dem einen oder anderen Falle noch nicht offensichtlich genug ausgeRihrt werden kann, dann beruht das auf dem gegenwartigen Stand der Forschung, der noch viele Fragen offen lasst.

Das breite - offentliche wie gerade auch politische - Interesse an der demographischen Entwicklung, insbesondere seit dem Umschlag aus einer »Ubervolkerungs-« zu einer »Un-terv6lkerungsbesorgnis« nach der Jahrhundertwende, verbunden mit den verbreiteten Vor-stellungen der Eugenik flir Eingriffe in die Erbgange, veranlasste ausufemde Diskussionen in den Medien, in der Popularliteratur und auch in den verschiedenen interessierten Wissen-schaftsbereichen; Nationalokonomie und Medizin standen dabei im Vordergrund. Das Be-diirfnis nach Eingriffen in den Bevolkerungsprozess verstarkte sich, gerade auch angesichts der wirtschaftlich problematischen und nationalpolitisch gefahrdet erscheinenden Lage nach

Fiir sachdienliche Ratschlage und Erganzungen danke ich Ursula Ferdinand. Mackensen, R. ed. 2002, Bevolkerungslehre und Bevolkerungspolitik vor 1933, Opladen: Leske und Bud-rich; Mackensen, R. ed. 2004, Bevolkerungslehre und Bevolkerungspolitik im »Dritten Reich«, Opladen: Leske und Budrich. Wie dies bereits wahrend des »Dritten Reiches« der Fall war. Siehe dazu Josef Ehmer 2004, 2Iff.

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Rainer Mackensen

dem Ersten Weltkrieg. In der Folge wurde die Diskussion um Bevolkerungsfragen von un-terschiedlichen Interessen geleitet und vielfach von »Bevolkerungswissenschaftlem« unter-stiitzt. Es entstand damit ein offentliches und politisches Interesse an »Bevolkerungspoli-tik«, das sie durchzusetzen suchten, die jedoch mit der sich damals erst herausbildenden wis-senschaftlichen Disziplin einer »Bevolkerungswissenschaft« nicht deckungsgleich sein konnte.

Das akademische Interesse an der Untersuchung von Art und Verursachung der Bevol-kerungsstrukturen wurde von dem Bestreben tiberlagert, deren Prozesse im Interesse einer Optimierung von Bevolkerungsverteilungen im Verhaltnis zu ihren okonomischen Auswir-kungen und politischen Implikationen und von langfristigen Entwicklungen zu gestalten. Den (gro6-)machtpolitischen und rassistischen Zielsetzungen der nationalsozialistischen Fiihrung nach 1933 waren Bevolkerungsbegriffe und demographische Daten unterlegt, die nun spezifischen Ideologiediktaten unterworfen waren.

Das Wollen, in das demographische Geschehen einzugreifen, war juristisch legitimiert, so dass die NS-Bev6lkerungspolitik - zunachst pronataUstischer, dann promigratorischer Art (Massenumsiedlungen), von differenzierenden, uber entrechtender, bis zu vemichtender Handlungsweisen (Judenpohtik, Staatsfeinde, Gemeinschaftsunfahige) - als Versionen einer bevolkerungspohtischen Gesamtintention aufgefasst werden konnten. Untermauert war dies von der Vorstellung, die Bevolkerung insgesamt nach „rassischer Reinbliitigkeit" und „ge-sunden Siedlungsbedingungen" gestalten zu wollen und zu konnen. Das wurde als eine „vol-kische" Fortentwicklung der »Bevolkemngswissenschaft« angesehen und mit ihren Gedan-ken und Verfahren verkniipft, was auch von Vertretem dieser Fachrichtung (Burgdorfer, Korherr, Harmsen, Koller) aufgegriffen und umgesetzt worden ist. Ob und wie sich diese Verbindungen aus der Eigendynamik der Bevolkerungswissenschaft, ihren Interessen, Be-griffsapparaten und Verfahren ergaben, ist das anstehende und noch nicht ausreichend ge-klarte Thema.

Es geht hier um die Verbindung von Wissenschaft und Politik, ihre wechselseitige In-strumentalisierung,^ die beiden schaden sollte. Politik und Wissenschaft sind vielfach nicht eindeutig voneinander zu scheiden - gerade auf einem derart politiknahen Wissenschaftsge-biet wie dem der Bevolkerungswissenschaft. Wissenschaftliche Ambitionen werden nicht zuletzt von emotionalen, bewertenden Momenten gesteuert, welche - wenn offentliche An-gelegenheiten thematisiert werden - in partialpolitische Positionen mtinden. Das fiihrt zu wertenden Begriffsbildungen, die in der wissenschaftlichen Theoriebildung eigentlich ver-mieden werden sollten.

Auf dem Gebiet der Bevolkerungsforschung waren die bevolkerungspohtischen Inter-essen seit den Kameralisten zunachst auf die Menge der Einwohner gerichtet, die als wirt-schaftlicher und militarischer Vorteil eines Landes gait. Unter dem Einfluss der Uberlegun-gen von Thomas Robert Malthus (1766-1834) wurde diese Menge als wesentlich von der Nahrungsproduktion des Landes abhangig begriffen; in der Folge wurde die iibrige wirt-schaftliche Wertschopfung einbezogen. Jedoch wurde unter diesem Gesichtspunkt noch im-mer die Menge der Bevolkerung als Gesamtheit angesehen.

Diese Gesamtheit wurde zunachst gegen Ende des 19. Jahrhunderts einer differenzie-renden Betrachtung unterzogen, als Mediziner die Verbreitung von Krankheiten auch nach

Siehe hierzu Ash, Michael G. 2002, 25ff.

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Zur Einfiihrung

demographischen Merkmalen untersuchten. Die Hygienebewegungen in England, Frank-reich und Deutschland, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Diskussion der „sozialen Frage" vorantrieben, waren in der Bekampfung der Seuchen und „Volkskrankheiten" (bes. Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten) auf die Bedeutung der sozialen Milieus und mili-eubedingter Verhaltensweisen gestoBen und batten die demographischen Informationen ent-sprechend aufbereitet. Die Gliederung nach Wohlstandskriterien und nach Wohnungsbedin-gungen (und das hieB auch: nach Siedlungskriterien) stand dabei an erster Stelle. Dabei lag es nahe, diese Kriterien hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Bedeutung mit Bewertungen zu verkniipfen. Als dann zur Jahrhundertwende ein Rtickgang der Geburtenzahlen beobachtet wurde, der den bis dahin starken Bevolkerungszuwachs des 19. Jahrhunderts zu beenden schien, wurde die differenzierende Methode auch auf die Vorgange der naturlichen Bevol-kerungsentwicklung angewendet. Der Geburtenriickgang wurde als nachteilig angesehen; es wurde nach seinen Urspriingen gefahndet: Lagen diese in physiologischen oder demographi-schen Bedingungen, etwa dem Altersaufbau? Hingen sie mit der sozialen Schichtung zu-sammen? Oder waren sie in der geographischen Verteilung der Bevolkerung auf Stadt und Land zu suchen? Auch die ethnischen Unterschiede der Bevolkerungsentwicklung - etwa zwischen Deutschen und Polen - gerieten in den Blick.

Auf die gedanklichen Konventionen der Zeit wirkte das Werk von Charles Darwin (1809-1882) besonders tiefgreifend und breit ein; seine Gedanken verbanden sich mit den Reformbewegungen um den Jahrhundertwechsel. Sir Francis Galton (1822-1911) suchte die Einsichten Darwins in die Entwicklung der biologischen Arten durch die Erfahrungen mit der landwirtschaftlichen Artenztichtung zu belegen. Sein Interesse war aber auf die Ent-wicklung der Menschen gerichtet. Er meinte, dass die Nachteile der zivilisatorischen Ent-wicklung beim Menschen durch Ztichtung ausgeglichen werden konnten. Die Gliederung der Einwohner Londons in soziale Schichten, die Charles Booth (1840-1916) vorgenommen hatte, deutete er schlichtweg in somatische, vererbliche Eigenschaften um, die er den Ange-horigen dieser Schichten zuschrieb. Von hier aus bis zur Rassenlehre war es nur noch ein Schritt.

Mit diesen Entwicklungen drang die Beurteilung demographischer Teilbevolkerungen auch in die Bevolkerungsforschung ein. Wahrend die Statistiker als solche ihr Interesse auf die Beobachtung der Quantitaten der Bevolkerungsstrukturen gerichtet und mit den Verfah-ren empirisch-analytischer Analyse gearbeitet batten, waren die Mediziner und die Anthro-pologen nicht primar an der Beobachtung, sondem - in der Tradition ihres Berufes - vor al-lem an der „Behandlung" der Menschen interessiert, d.h. am Eingriff in ihre biologische Existenz, und zwar zur Beseitigung von schadlichen, von „auBen" stammenden Einwirkun-gen. Diese Intention iibertrugen sie auch auf die „Personengesamtheiten", auf die sie in der sozialen Medizin stieBen. Sie waren - im Gegensatz zu den Statistikem - „handlungsorien-tiert". Dazu waren sie auf die Beurteilung ihrer Beobachtungen angewiesen.

Das Eindringen qualitativer Aspekte, also der Beurteilung von Merkmalen der Beob-achtung, mit der Intention, auch „heilend" auf den „Volkskorper" einzuwirken, ist - aus wis-senschaftshistorischer Sicht - der eigentliche „Ungl{icksfaH" der demographischen Wissen-schaftsentwicklung. Diese Tendenz veranlasste zur Differenzierung der beobachteten Be-volkerung, zur Entwicklung von Unterscheidungsmerkmalen zwischen unterschiedlich zu bewertenden Teilbereichen - Siedlungsweisen, ethnischen Gruppierungen, „Rassen". Und die Unterscheidungen dienten vor allem dazu, „kontaminierte" Bevolkerungen durch Aus-

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Rainer Mackensen

scheidung der qualitativ abgewerteten Telle in - „rassisch", ethnisch - „reine" Bevolkerun-gen zu verwandeln. Der statistischen Exklusion aber folgte die pragmatische: In den Handen der handlungsfanatischen Politiker und Wissenschaftler wurde sie zur Exekution.

In seiner Rassenlehre von 1922, also noch vor den Katastrophen der Inflation und der Weltwirtschaftskrise, formulierte Hans Friedrich Karl Giinther (1869-1968)^:

„Die Menschheit ist keine wirkende Lebensform, wie dies die einzelnen Volkstiimer sind. »Menschheit« kann nie mehr bedeuten als die Summe aller einzelnen Lebewesen, die zur Gat-tung Mensch gehoren. Durch Zusammenzahlen aber all dieser Lebewesen entsteht eine bedeu-tungslose Zahl, die niemals zum Ausdmck eines einheitlich wirkenden Gebildes werden kann."

Damit lehnt Giinther Bevolkerungswissenschaft prinzipiell ab. Giinther hat keine Bevolke-rungswissenschaft betrieben, aber seine Rassenlehre wurde - gleich nach der Erblehre von Baur / Fischer / Lenz von 1921^ und ahnlich wie diese - zu einer nicht nur weit verbreiteten, sondem weithin wirksamen Schrift, die gerade auch auf die Unsicherheiten der Nachkriegs-stimmung in Deutschland eine Antwort zu geben schien. Vom Nationalsozialismus ist in diesen Schriften noch nicht die Rede, wohl aber von Unterschieden der Arten und „Rassen" - und von der Unvereinbarkeit der nordischen Art mit dem Judentum; sogar die Verurtei-lung einer art-ungemaUen Kunst und Literatur wird hier vorweggenommen. Diese u.a. Schriften wirkten ein Jahrzehnt lang auf die Offentlichkeit, ehe ihre Grundgedanken zur Leitlinie einer furchtbaren Politik werden soUten.

In der zitierten Passage spricht Giinther aus, was fur die Bevolkerungswissenschaft der 1930er Jahre zur Wasserscheide werden sollte: Die Verurteilung einer - wie es hieB: »indi-vidualistischen« - Fachrichtung, in welcher »die Summe aller einzelneTrLebewesen« als »Bevolkerung« behandelt wurde. Diese Bildung von Aggregaten von Informationen iiber Personen und ihre Merkmale, welche die Bevolkerungsstatistik und damit auch die Bevolke-rungswissenschaft konstituiert, flihrt nach Giinther zu »bedeutungslosen Zahlen«, denen das Konzept des »Volkstums« als »Ausdruck eines einheitlich wirkenden Gebildes« gegeniiber-gestellt werden sollte.

Damit verurteilte Gunther beabsichtigt und gezielt die Bevolkerungsstatistik und eine auf ihr aufbauende Bevolkerungsforschung als »unzeitgema6«, weil sie nicht auf die volki-sche Gemeinschaft bezogen war. Er bediente eine damals weit verbreitete Abneigung ge-geniiber niichtemen, sachlich bedingten Sozialbeziehungen, denen sowohl die »kapitalisti-sche Wirtschaft« wie die »demokratische Verfassung« zugeordnet wurden, und eine Sympa-thie fiir traditionsgeleitete, emotional betonte Sozialbeziehungen, die anscheinend in »bauer-lichen« Verhaltnissen anzutreffen war und die spater auch in der Propagierung von »Volks-gemeinschaft« und »Fiihrerprinzip« zum Zuge kommen sollte. Die deutliche Unterschei-dung dieser Typen von Sozialbeziehungen war von Ferdinand Tonnies (1855-1936) heraus-gearbeitet worden.

Tonnies hatte mit der Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« ein so-ziologisches Instrument zur Charakterisierung von Gesellschaftszustanden geschaffen, das in der Unterscheidung Giinthers von „Bevolkerung" und „Volk" genutzt werden konnte. Tonnies begriindete und erlauterte seine und diese Unterscheidung'^ spater im Verhaltnis zu

5 Giinther 1922, 21934, 341. ^ Baur, Fischer, Lenz 1921.

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Zur Einftihrung

dem damaligen politischen Kontext und zeigte dabei auf, dass man seinen Begriff der »Ge-meinschaft« nicht mit dem der »Volksgemeinschaft« verwechseln konne.

Die Propagierung der „Volksgemeinschaft" war fur ihn danach die AbschaffUng des Rechts durch das Fuhrerprinzip. Es setzt an dessen Stelle die willkurliche Rechtsetzung durch Fuhrerwillen. Die Allgemeinheit wird der „gemeinschaftlichen" (blutsmaBigen, tradi-tionell-bauerlichen) Kommunikation in Sitte und Brauch (Volkswissenschaft) liberlassen, der Konflikt zwischen Fiihrung und Volk sowie zwischen Teilen davon jedoch der gesetzli-chen Regelung entzogen und der willkiirlichen »Gestaltung« in Richtung auf eine »Blutsge-meinschaft« (unter Ausschluss »Andersblutiger« oder auch nur »Andersdenkender«) geoff-net - eine »Ungesellschaft«. Demzufolge ist fur Tonnies die Entwicklung zum »Rechts-staat« und zum »Verfassungspatriotismus« die adaquate Antwort auf die verfehlte (falsche) Konstruktion der „Volksgemeinschaft". Er bezeichnet »die Beseitigung aller Ungleichheiten und Abhangigkeiten, soweit solche nicht in der Natur begrundet sind«, gerade auch diejeni-ge zwischen Mannem und Frauen, als den »naturUche[n] Gegenstand einer sozialen PoHtik« - ein Prinzip, das im diametralen Gegensatz zu demjenigen der NS-PoUtik stand.

»Diese [..] Gleichheit ist nicht ein Erzeugnis der Natur, die vielmehr immer nur Ungleichheiten schafft.«^

Die Kemideen des NationalsoziaUsmus standen bereit und waren weit verbreitet, ehe dieser die Machtinstrumente in seine Gewalt brachte, welche ihm die Umsetzung solcher Ideen in der praktischen PoUtik ermoglichten. Von ihnen bHeben auch Wissenschaftler, welche etwa Bevolkerungsforschung betrieben, nicht unberuhrt.

Von Giinther und Tonnies wurden die Gegensatze beispielhaft herausgearbeitet, die vor 1933 diskutiert wurden, die aber seit 1933 zur Entscheidung anstanden und die Grenze zwi-schen sowohl bevolkerungswissenschaftlicher Forschung und NS-Bevolkerungspolitik wie auch zwischen demokratischem und nationalsozialistischem Gesellschafts- und Politikver-standnis bilden sollten. Der Kontrast im Verstandnis der Datengrundlage aller Bevolke-rungswissenschaft, der statistischen Erfassung der Individuen und ihrer Merkmale sowie der Ereignisse von Geburt, Tod und Wanderung, besteht in der Wahmehmung einerseits der daraus gebildeten Aggregate (Zusammenfassungen) als der Indikation von Strukturen und Dynamiken aus den eigenen Wirkungszusammenhangen dieser beobachteten »Massener-scheinungen«, und andererseits lediglich als Ausdruck der in diesen Aggregaten enthaltenen Anteilen von „Rassen" und Volkem. Gtinther bezeichnet diese Aggregate als »bedeutungs-lose Zahlen«, weil er die demographische Dynamik - auf welche Louis-Adolphe Bertillon (1807-1883) hingewiesen hatte - nur als Konsequenz einer zugrunde liegenden genetischen Anlage oder einer historischen Pragung gelten lassen will. Erst dadurch erhalten die demo-graphischen Daten fiir ihn »Bedeutung« und zwar: politische Bedeutung. Denn seine Inter-pretationen sind auf (politische) Handlungen gerichtet; und das unterscheidet sie von denen einer allein erkenntnisorientierten, empirisch-analytischen Bevolkemngswissenschaft.

Tonnies sucht in seiner Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft die we-sentlichen Merkmale des Zusammenhalts und der Zusammenarbeit der Individuen herauszu-

7 Tonnies 1955. 8 Alle Zitate I.e., 466.

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Rainer Mackensen

arbeiten. Diese Merkmale sind in seiner Sicht entweder durch »Sitte« und »Brauch«, also durch erprobte Beziehungsarten, oder durch absichtliche Zwecksetzungen und Vereinbarun-gen begriindet und im Recht festgeschrieben. Er lehnt deshalb eine »Fuhrerschaft« ab, deren Merkmal vor allem die Willkur in den Entscheidungen des »Fuhrers« und deren Leitbegriff die Idee des »Volkes« ist. Eine nach diesem Prinzip gestaltete Gesellschaft steht daher im inhibitiven Gegensatz zu den von ihm entworfenen Gesellschaftstypen. Wenn »Volksge-meinschaft« ein Gesellschaftstyp sein solle, in dem »Fuhrerschaft« gilt, so kann ein solcher nicht nach den beobachtbaren Merkmalen gestaltet sein, die Tonnies fiir Gesellschaften fur ausschlaggebend halt, sondem nur nach denen einer willkurlichen Idee.

In der bevolkerungswissenschaftlichen Forschung schlagt sich dieser Gegensatz darin nieder, welche Bedeutung den empirischen Beobachtungen zugedacht wird. In der empi-risch-analytischen Forschung werden diese Beobachtungen als Kriterium fur die Geltung von Hypothesen - also von deduktiv gewonnenen Vermutungen uber Zusammenhange - be-griffen und verwendet. Wenn es jedoch nicht um die Einsicht in den Zusammenhang von Beobachtungen geht, sondem um den Aufbau einer »Volksgemeinschaft«, dann gehen die Untersuchungen anstelle von Hypothesen von gesetzten Axiomen (Ideen) aus, welche nicht zu beweisen sind; die empirischen Befunde mtissen dann zur Rechtfertigung solcher Axio-me herangezogen werden. Damit greift der Gesellschaftsbegriff unmittelbar in den Gang der Forschung ein. Und das ist tatsachlich im Zuge der nationalsozialistischen Wissenschafts-entwicklung geschehen.

Die Untersuchung des Verhaltnisses der Bevolkerungswissenschaft zur NS-Politik hat demnach insbesondere auf zwei Kriterien zu achten: ein methodisches und ein methodologi-sches. Das methodische betrifft die Verwendung der empirischen Daten als Prufungsmateri-al fur Hypothesen; das methodologische die Gedankenftihrung als Prufung solcher Hypothe-sen oder als Bestatigung vorgegebener Urteile (Vorurteile).

Die Frage, der in den nachfolgenden Beitragen nachgegangen wird, richtet sich auf die Handhabung dieser Gegensatze in Texten und Intentionen der Bevolkerungswissenschaftler. Die Frage ist, auf welche Art und wie unangefochten diese derlei Ideen in ihrer Forschung aufgegriffen und damit Vorarbeit fur die spatere NS-Politik geleistet haben.

Dem vorgeordnet ist die Intention der wissenschaftlichen Texte im Hinblick auf eine mogliche oder tatsachlich bereits eingeleitete Bevolkerungspolitik. Deren Zielsetzungen sind fiir eine Beurteilung ausschlaggebend. Diese spiegeln sich in den Hypothesen oder Ideen oder Axiomen der Untersuchungen.

Die beteiligten Autoren nahem sich dem Thema von verschiedenen Seiten; sie konnen, auch zusammengefasst, das Thema lediglich anreiBen. Die Beitrage stellen sich dem Thema jeweils an Beispielen. Weitere Studien stehen vor der Veroffentlichung.^

Die Reflektionen der Wissenschaftsgeschichte sind, nach Jiirgen Reulecke, nicht auf den »Fortschritt« ihrer Paradigmen gerichtet, sondem auf deren Wandel und Ablosungsfol-gen als Folge der Einbindung in wissenschaftliche und personliche Kontexte und deren zeit-gebundene Sichtweisen. Die modeme Wissenschaftsgeschichte, so pladiert er, beobachtet die Wechselwirkung von historischen Tatsachen und subjektiven Konstmktionen. Sie sucht

Aus dem o.g. DFG-Schwerpunkt wurde 2005 eine Ubersicht der Studien in Beispielen aus den einzelnen Pro-jekten (Mackensen ed.) und werden in absehbarer Zeit weitere Berichte aus den einzelnen Forschungsprojek-ten veroffentlicht.

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Zur Einfiihrung

die Grenzuberschreitungen der (z.B. Bevolkerungs-)Wissenschaft in Richtung der Politik nachzuvollziehen. Endlich fragt sie nach dem Selbstverstandnis der Wissenschaftler, bei de-ren Wissensproduktion, die nicht allein als Entdeckung anzusehen ist, sondem eben auch als Erfmdung sowohl der Gegenstande wie der Wissenschaflskultur selbst im eigenen Interesse. Er zeigt auf, wie diese Sichten im Programm des hiesigen Schwerpunktes zur Geltung kom-men und an den unterschiedlichen Themen umgesetzt werden. Dabei erlautert er insbeson-dere den wissenschaftshistorischen Generationenbegriff, in dem auch die Gestaltung des Verstandnisses der eigenen Generation seinen Platz fmdet. Dadurch wird die wechselhafte Deutung der Ereignisse und der wissenschaftlichen Befunde verdeutlicht.

Die Beobachtungen und Bewertungen der Bevolkerungsanalyse und der Bevolkerungs-politik pragten in den 1930er Jahren sowohl die auBenpolitischen wie die innenpolitischen Verhaltnisse. In der Bevolkerungsanalyse werden die untersuchten Aggregate als weitge-hend homogen unterstellt. Das fuhrt in der Volksforschung zur Problematisierung von Ab-grenzungsprozessen, die als Angleichung - »Assimilation« - oder Betonung der Unter-schiedlichkeit - »Dissimilation« - von Bevolkerungsteilen wahrgenommen und von der zeitgenossischen Historiographie beschrieben werden, wie Alexander Pinwinkler darlegt. In solchen Kennzeichnungen werden stets auch Wertungen geltend gemacht, die eine Bevorzu-gung der eigenen gegeniiber der fremden Zugehorigkeit betonen. Solche Unterscheidungen und unterschiedlichen Bewertungen waren vor allem in der Beschreibung der Grenz- und Auslandsprobleme im ostwartigen Grenzbereich des Deutschen Reiches virulent, wurden je-doch auch nach 1945 angesichts der Notwendigkeit der Eingliederung der Vertriebenen wie-der aktuell. Sie batten zu jeder Zeit auch ihre politischen Auswirkungen; in ihrem Mittel-punkt standen sowohl die Anspriiche auf Gewinnung und Bewahrung des deutschen Volks-tums wie auf Unterscheidung von slavischen Ethnien und judischen Einsprengseln.

Wahrend es im Osten um eine Analyse der in den Siedlungsgebieten ineinander ver-schrankten Bevolkerungsteilen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und um die Behaup-tung differenzierter Gebiete durch die eine oder andere Seite ging, pragte im Westen die Konkurrenz der Nationen Deutschland und Frankreich die Fragestellungen. Die Beobach-tung der eigenen Bevolkerungsentwicklung und ihrer Behandlung in der jeweiligen nationa-len Bevolkerungspolitik geschah stets mit dem vergleichenden Blick auf die des benachbar-ten Landes. Unter dem Eindruck der verzogerten franzosischen, der beschleunigten deut-schen Bevolkerungsentwicklung im fortschreitenden 19. Jahrhundert gewann die alte An-sicht, dass die Menge der Menschen auch iiber die wirtschaftliche und militarische Macht des Landes bestimme, wieder an Boden.

Die Entwicklung der Diskussion in Frankreich wurde stark von der Besorgnis um die schwindende militarische Starke Frankreichs gegentiber Deutschland beeinflusst, wie Petra Overath berichtet. Sogar die Formen der Bevolkerungspolitik wurden am deutschen Beispiel entwickelt, allerdings ohne die Komponenten negativer Eugenik, die in Deutschland eine wichtige RoUe spielten. Die Tradition reicht bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als aus der die Familienpolitik bis dahin tragenden »Fondation Carrell« das INED unter Alfred Sauvy (1898-1990) entstand.

Innenpolitisch wurden die wechselnden Ansichten uber die Entwicklung und die Struk-turmerkmale der Bevolkerung in Deutschland auch in den Schulen vermittelt. Regula Stucki und Steffen Pappert sind den Anderungen in den Formulierungen nachgegangen, mit denen in Schulbiichem sowohl Bevolkerungsverhaltnisse mitgeteilt wie Intentionen der Bevolke-

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Rainer Mackensen

rungspolitik vermittelt wurden. Das geschah vorwiegend in den Fachgebieten der Geogra-phic und der Geschichte. Diese Formulierungen wurden mit der Zeit immer eindeutiger werthaltig und immer deutlicher auf die diskriminierenden und machtbestimmten Absichten der NS-Politik ausgerichtet. In diesem padagogischen und propagandistischen Bereich ka-men weniger die analytischen Einsichten der Bevolkerungswissenschaft zum Zuge als die Richtlinien der parteilichen Handlungsorientierung.

Aber es waren nicht allein die propagandistischen Interessen der poUtischen Akteure, welche das Verstandnis der Bevolkerungsprozesse pragten. Bereits in der Erhebung und Aufbereitung der Urdaten wurden die Definitionen benotigt und benutzt, welche die spatere Verwendung der Daten determinierten. Dabei waren die operationalen Definitionen von Re-hgion, Sprache, NationaHtat und Rasse, die sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in den Landem herausbildeten, von besonderer Bedeutung und bestandig kontrovers. Robert Lee beschreibt diese Unterschiede der Indikationen von ethnischen Zugehorigkeiten mit dem iiberzeugenden Ergebnis, dass sie sich samtlich fur die verlassliche Begrenzung von Ethnien als ungeeignet erwiesen haben.

Mit dem Missbrauch von Erhebungsergebnissen durch die Unterwerfiing statistisch er-fasster Minderheiten unter besondere politische MaBnahmen hat sich William Seltzer be-fasst. Er weist zahlreiche Falle solchen Missbrauchs auch auBerhalb der Einflusssphare der NS-Politik und bis in die jiingste Gegenwart auf. Sein Bericht miindet in cine Reihe von Empfehlungen, wie solcher Missbrauch bereits bei der Erhebung oder Auswertung der Da-ten vermieden oder zumindest erschwert werden konne.

Finer der spektakularsten Falle solchen Missbrauchs war die Volkszahlung 1939 im „Dritten Reich", die parallel auch in der „Ostmark", dem dem „Reich" angeschlossenen Os-terreich, durchgefuhrt wurde. Uber die Auswertungen der Begleiterhebung auf einer in ver-schlossenem Umschlag eingezogenen „Erganzungskarte" zum Volkszahlungsbogen in Deutschland hatte Jutta Wietog 2001 berichtet; sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass Ergebnisse dieser Auswertungen bei der Identifizierung der Juden nicht mehr eingesetzt worden sein konnen, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Auswertung bereits veraltet waren. Fiir Osterreich berichten nun Gudrun Exner und Peter Schimany, dass auch dort die Listen far die tatsachliche Erfassung der Juden von anderen Institutionen als von der amtlichen Statis-tik aufgestellt worden sind. Unabhangig von dieser Frage einer unmittelbaren Verwendung von amtlich-statistischen Unterlagen fiir die Deportation der Juden bleibt das Verhalten der amtlichen Statistik zu Erhebung und Auswertung der Daten der Minderheiten in Deutsch-land wie in Osterreich fragwiirdig.

Ein anderer Fall des Einflusses deutscher Bevolkerungsforschung in anderen Landem ist derjenige der Entwicklung der praktischen Nutzung von Bevolkerungsprognosen in den Niederlanden, besonders als Folge der deutschen Verwaltung wahrend der Besetzung. Zwar hatte sich die niederlandische Stadtplanung, wie Henk de Gans berichtet, schon friiher an der deutschen Stadtplanung orientiert; eine Bevolkerungsprognose wurde unter deutscher Besat-zung nicht bearbeitet, wenngleich verlangt. Aber die Organisation der niederlandischen Stadt- und Regionalplanung in drei Ebenen wie die Bereitschaft einer Bearbeitung einer Be-volkerungsprognose nach Kriegsende zeigen den starken EinfluB der Besatzungsverwaltung auf diesen Gebieten.

Die enge Verbindung zwischen Statistik, Demographien und Soziologie stammte aus der fruhen Zeit ihrer Entwicklung um die Jahrhundertwende. Zeitweise wurden die Sachge-

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Zur Einftihrung

biete ftir deckungsgleich gehalten; um die Abgrenzungen wurde zwischen den Vertretem der Facher gerungen, wie Rainer Mackensen berichtet. Die Abgrenzung der Soziologie von der Statistik setzte sich durch, nachdem Ferdinand Tonnies - darin dem Historiker Karl Lamprecht (1856-1915) in Leipzig folgend - darauf hingewiesen hatte, dass die Soziologie zu ihren Analysen die Information benotige, wie die Individuen miteinander in Verbindung stiinden - eine Information, welche die Statistik nicht zu liefem vermochte. Die Soziologie musste deshalb eine eigene Methode der Beobachtung entwickeln, die Tonnies mit einem von dem Niederlander Sebald Rudolf Steinmetz (1862-1940) gebildeten Ausdruck als „So-ziographie" bezeichnete. Dieses Gebiet, das spater als „empirische Sozialforschung" be-zeichnet werden sollte, schloss die Bevolkerungsstatistik mit ein, wahrend sich zugleich die empirische Statistik auf weitere Sachgebiete ausdehnen sollte und sich dadurch iiber die Be-volkerungsstatistik hinaus entwickelte, mit der sie vormals fiir deckungsgleich gehalten wurde.

Wahrend der 1930er Jahre besann sich die Bevolkerungswissenschaft wieder auf diese Nahe zur Statistik und bildete ein soziologisches Verstandnis von demographischen Vorgan-gen aus, wie Sonja Schnitzler an einer Analyse der Schriften von Elisabeth Pfeil (1901-1975) meint nachweisen zu konnen. Wahrend sich andere Autoren an die Interpretations-grenzen der bevolkerungsstatischen Daten halten, weist Pfeil wiederholt auf die kommuni-kativen Eigenschaften der beschriebenen Erscheinungen hin.

Carsten Klingemann schildert, wie sich diese soziologischen Interpretationsmoglich-keiten demographischer Beobachtungen gerade auch in den neuen Sachgebieten der Raum-ordnung als niitzlich erweisen. Sie bilden damit ein Element dieses neuen Hybridfaches, dessen empirische Orientierung Klingemann als Kennzeichnung der „Modemisierung" der Sozialwissenschaften in dieser Zeit versteht. Es bleibt dabei noch offen, ob sich diese Mo-demisierungstendenz als spezifisch fur die Forschung unter den Bedingungen der NS-Herr-schaft erweisen wird oder ob sie als allgemeines Kennzeichen der Zeit anzusehen ware.

Von besonderer Bedeutung fiir die Entwicklung der Bevolkerungswissenschaft erweist sich deren Verhaltnis zur Medizin, iiber das Ursula Ferdinand und Wolfgang Woelk und Jorg Vogele berichten. Dieses Verhaltnis hat sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr-hunderts ausgebildet, als sich die Bevolkerungsstatistik als hilfreich fiir die Analyse der so-zialen Bedingungen der Ausbreitung der „Volkskrankheiten" (wie besonders Tuberkulose) envies. Es verstarkte sich in der Ausbildung von Randgebieten der Medizin, die sich dieser Bedingungen besonders annahmen. Wahrend sich die „Soziale Hygiene" hierauf beschrank-te, konzentrierte sich die „Rassenhygiene" auf die vorgeblich erblich bedingte Verbreitung von Leistungsdefiziten, deren Bekampfiing dann unter der NS-Herrschaft bis ins Groteske verstarkt wurde.

Im Anschluss an die Beitrage wird der Ertrag der Diskussionen zu den Referaten von Michael Engberding zusammengefasst. Damit soUen auch erganzende und abweichende Ge-sichtspunkte festgehalten werden.

Die angeschnittenen Themen zeigen auch, dass sich die Entwicklung der Bevolke-rungswissenschaft einerseits, deren Annaherung an die NS-Politik andererseits vor allem in der Verbindung mit verschiedenen anderen Fachgebieten vollzog. Es handelt sich dabei am wenigsten um die Leistungen oder Verfehlungen einzelner Personen, sondem vielmehr um die Verlagerung der Fokussierung der Politik auf bestimmte Handlungsfelder, an deren Aus-bildung unterschiedliche Fachgebiete beteiligt waren. Ob es sich hierbei um Fortschritte

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Oder um Fehlentwicklungen der einzelnen Forschungsrichtungen handelte, kann nur im ein-zelnen diskutiert werden. Die Fachverbindungen, die daraus entstanden sind, wurden zu-meist nach dem Zweiten Weltkriege weiterhin gepflegt; lediglich die Verbindung mit der Rassenlehre im weitesten Sinne wurde als ursachlich auch fur die Verbrechen der NS-Politik beurteilt und alsbald ganzlich eingestellt.

Die Beitrage veranschaulichen beispielhaft Merkmale und Varianten der bevolkerungs-bezogenen Forschung und ihrer Anwendung in der Untersuchungszeit. Daraus ergibt sich, dass der Begriff Bevolkerung sich einerseits auf eigentumliche Weise zur Interpretation eig-nete und damit zur Verwendung in den unterschiedlichsten Kontexten, andererseits aber we-gen seiner Verwurzelung in der Bevolkerungsstatistik in dem von ihm bezeichneten Materi-al als empirisch, prazise und quasinaturwissenschaftlich analysierbar gait. Diese Eigenschaft beruht auf der Entstehung der Bevolkerungszahlen durch Zahlung. Durch das Abzahlen der Falle von Sachverhalten oder Ereignissen entstehen aggregierte Zahlenwerte, die sich zur arithmetischen, sogar zur mathematischen Verarbeitung eignen. Diese Eigenschaft zu erken-nen, kann bereits den ersten „Bevolkerungswissenschaftlem" zugute gehalten werden; sie ist durchaus nicht banal. Sie eroffhet die Moglichkeit zur Bearbeitung mithilfe mathematischer Konstruktionssysteme wie der Statistik und der Demographic, die daraufhin entwickelt wer-den konnten. Diese Verrechnungssysteme haben mit dem Gegenstand, den sie behandeln und veranschaulichen sollen, nichts zu tun; dieser Gegenstand - die Masse der Gezahlten -verschwindet vielmehr hinter den Systemkonstruktionen. Das ermoglicht die Ubertragung der „Ergebnisse" auf vollig andere Gegenstandsbereiche sowie die Untersuchung mit nume-rischen und mathematischen Verfahren, welche kaum einen Bezug zu den dargestellten menschlichen Beobachtungen haben. So tragen Konstruktionen der Demographic wie auch der mathematischen Bevolkerungsanalyse eigene Bedeutungsgehalte, die keine Erinnerun-gen an solche Beobachtung mehr transportieren. Dieser Sachverhalt liegt gerade auch der Anwendung von Bevolkerungsdaten auf politische Themen zugrunde, die an sich mit „Be-volkerungen" - also mit den von ihnen dargestellten Menschenmengen und ihren Verhal-tensweisen - nichts zu tun haben.

Fur den Bevolkerungswissenschaftler heiBt das, dass er sich standig der Realitaten be-wusst sein muss, tiber die er, vermoge der sie reprasentierenden Daten, Aussagen zu formu-lieren beabsichtigt. Im Zuge der - im 19. Jahrhundert verbreiteten - Neigung, „naturwissen-schaftliche" Analyseverfahren auch auf soziale Verhaltnisse anzuwenden, konnte sich die-ses Bewusstsein verlieren, wie das namentlich in den 1920er und 1930er Jahren auch dann geschah, wenn bevolkerungswissenschaftliche Sachverhalte modellartig abgebildet und zur Losung politischer Aufgaben herangezogen wurden. Das geschah in eugenischen wie in ras-sen- und bevolkerungspolitischen Handlungsbereichen: Hinter der Logik der Modelle verlo-ren sich die menschlichen Gegenstande, welche den Inhalt der Daten ausmachten, vollstan-dig - so bei der Differenzierung der Mengen nach (ethnischen, religiosen oder) rassenhygie-nischen Merkmalen oder bei der Aufbereitung nach regionalen Mustermodellen.

Das kann nicht bedeuten, dass einerseits die demographischen Daten, andererseits die mathematischen Modelle zu verwerfen waren; aber sie bergen cine - humanitare, morali-sche - Gefahrdung, deren sich der Bevolkerungswissenschaftler bewusst bleiben muss.

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Zur Einfuhrung 11

Literaturnachweis

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Ehmer, Josef 2004: „Nationalsozialistische Bevolkerungspolitik" in der neueren historischen For-schung, in: Mackensen ed. 2004, 21-44.

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'Dritten Reich'. Wiesbaden: Verlag fiir Sozialwissenschaften. Tonnies, Ferdinand 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des

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Tonnies, Ferdinand 1955: Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie 7,463-468.

Wietog, Jutta 2001: Volkszahlungen unter dem Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zur Bevol-kerungsstatistik im Dritten Reich, Berlin.

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Bevolkerung denken: Herausforderungen einer neueren Wissenschafts- und Mentalitatsgeschichte

Jiirgen Reulecke

Es geht im Folgenden um die Vorstellung einiger LFberlegungen dariiber, wie sich Trends (um nicht zu sagen Provokationen) einer neueren Wissenschaftsgeschichtsforschung auf den wissenschaftlichen Umgang mit dem Phanomen „Bevolkerung" auswirken. Um diese Pro-vokation von vom herein ein wenig deutlicher zu machen: Die Bevolkerungswissenschaften - und besonders die Bevolkerungsgeschichte - haben m. E. (wenn sie sich auf die Anregun-gen einer kulturwissenschaftHch gewendeten Analyse ihres eigenen Tuns einzulassen bereit sind) in ganz erhebUchem AusmaB ihre kritische Selbstpriifung noch vor sich! Positiv ausge-driickt: Die sich selbst historisierenden Bevolkerungswissenschaften stehen, wenn sie sich entsprechend offhen, vor einer faszinierenden Fiille neuer Forschungsfelder, deren Abmes-sungen noch nicht absehbar sind.

Nach dieser zugegeben etwas zugespitzten Einstiegsbehauptung sollen holzschnittartig zunachst einige Hinweise auf die Entstehungsimpulse sowie auf drei Blickweisen einer neueren Wissenschaftsgeschichte und anschlieBend ein knapper Versuch, einen exemplari-schen Teilbereich vorzustellen, folgen. Vermutlich renne ich offene Tiiren ein, wenn ich ein-leitend sage, dass ein entscheidender Impuls zu einem dezidiert anderen Umgehen mit der Wissenschaftsgeschichte vor circa vierzig Jahren erfolgte, als der deutsch-amerikanische Physiker Thomas S. Kuhn (1922-1996) seinen Essay iiber „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" veroffentlichte.^ Die bisherige (und vielfach noch bis heute) in traditioneller Manier betriebene „Errungenschaftsgeschichte" der Wissenschaften, in erster Linie der Na-turwissenschaften, Medizin und Technik (weitgehend orientiert am Fortschrittsgedanken), war nach Kuhn letztlich bloB eine Anhaufung von Anekdoten und chronologischen Abfolge-konstruktionen angeblich aufeinander aufbauender Entwicklungsstufen des - wie man an-nahm - standig erfolgreicheren wissenschaftlichen Fortschreitens zu immer hoheren, besse-ren, rationaler begrtindeten wissenschaftlichen Erkenntnissen tiber die „Natur". Kuhn dage-gen betonte die Paradigmengebundenheit des gesamten wissenschaftlichen Tuns; er meinte damit vor allem zwei Aspekte:

1. das Eingebundensein aller Wissenschaftsdisziplinen in ihre jeweiligen „scientific com-munities", deren Mitglieder ein bestimmtes Ensemble an Wertungen, Meinungen und Methoden teilen, Abweichler ausscheiden, marginalisieren, nicht zum Zuge kommen lassen usw.

2. den Problembewusstseinsfilter, den Wissenschaftlergenerationen in ihrer jeweiligen Zeit vor ihrer Brille haben, d.h. die spezifische Art und Weise, wie und warum sie wel-che Probleme so und nicht anders wahmehmen, bewerten und zu losen versuchen,

Kuhn 1976. Zum Folgenden s. auch Daniel 2004, 361ff.

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H Jtirgen Reulecke

indem sie selektiv Problemlosungswege identifizieren und diese dann weitgehend gemeinsam beschreiten.

Daruber hinaus hat Kuhn aber auch auf die je zeittypischen Kommunikationsformen, auf die Formen der Schulenbildung und Wissensweitergabe, auf den Offentlichkeitsbezug, auf die mentalen und okonomischen Grundlagen wissenschaftlichen Tuns hingewiesen bzw. Nach-fragen nach solchen Einflussbedingungen nahe gelegt. Das, was bisher als ein ausschlieBlich von rationalen Grund-Folge-Verhaltnissen bestimmter und auf kontinuierlichem Fortschrei-ten beruhender Erkenntnisprozess angesehen worden ist, entpuppt sich aus diesem Blick-winkel oft als sozial konstruiert und von Kontingenzen, Irrationalitaten und spezifischer Hi-storizitat massiv beeinflusst. Neuere Forschungen z. B. zur Geschichte und Zeitgebunden-heit intellektueller Neugier haben das inzwischen deutlich gezeigt.

Drei Bereiche, in denen die inzwischen in diesem Fragerahmen in Gang gekommene Grenzverwischung bzw. Grenzverschiebung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften gut zu zeigen ist, seien kurz erwahnt:

Erstens geht es um die kritische Befragung der oft bis zum „science war" zugespitzten Konfrontation der beiden Kemkonzepte „Natur" und „Kultur" bzw. um die Moglichkeit, eine angebHch vom Menschen unberuhrte Welt des „Objektiven" durch naturwissenschaftli-che Experimente und durch wissenschaftliches Beobachten, Messen, insbesondere auch durch statistisches Erfassen erschlieBen zu konnen. Von den Schadelvermessungen des 19. Jahrhunderts bis zu den Intelligenztests des 20. Jahrhunderts, ganz abgesehen von den genu-in physikalischen, chemischen, biologischen und medizinischen Forschungen, reicht die Vorstellung, dass man durch Beobachtung und Messen die Natur objektiv erfassen konne. Die Rolle des Forschers dabei, so hat es z. B. Robert Koch einmal gesagt, sei letztlich ein entsagungsvolles, also von der Person des Forschers vollig absehendes Engagement in he-roischer Konfrontation mit der Natur und ihren Geheimnissen.^

Die neuere kulturwissenschaftlich argumentierende Wissenschaftsgeschichte verfolgt dagegen weder diese Linie noch jene krasse andere „postmodeme" Gegenposition, nach der alle Welterkenntnis letztlich nur auf Diskursen und diskursiven Konstruktionen (= „lingui-stic turn") beruht, sondem akzeptiert sowohl die gegebenen Fakten als auch die Vorannah-men und Fixierungen, die Konstrukte und Imaginationen der forschenden Zeitgenossen und fragt daruber hinaus intensiv nach den Wechselwirkungen zwischen beiden und den Men-schen, die diese Wechselwirkung zeittypisch reprasentieren.

T>Qxzweite Fragenkomplex bezieht sich auf eine weitere LFberschreitung von bisherigen Grenzen, hier den Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik: Vor allem die Beschaftigung mit dem besonders extremen Zusammenspiel zwischen beiden Handlungsfeldem in der NS-Zeit hat dazu provoziert! Unser Schwerpunktprogramm „Das Konstrukt ,Bevolkerung' vor, im und nach dem ,Dritten Reich'", gefordert von der DFG, untersucht in einer Reihe von Teilprojekten genau dieses Problemfeld!^ So hat nicht zuletzt ein bis ins 18. Jahrhundert ausgreifendes Forschungsinteresse insbesondere viele innovative Impulse fiir eine neue Me-dizingeschichtsschreibung geliefert: Die Versuche, Konstrukte wie die „Natur des Men-schen", „neuer Mensch", „Korperlichkeit" und auch „Jugend", „Generation" u.a. sowie die

2 Zit. nach Daniel 2004, 369. ^ siehe die Publikation von Zwischenergebnissen in Mackensen & Reulecke eds. 2005.

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Bevolkerung denken 15

Wechselwirkungen zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und offentlicher Nachfrage nach Problemlosungshilfen angesichts als krisenhaft diagnostizierter gesellschaftlicher Er-scheinungen zu untersuchen, sind nur einige Beispiele flir intensive Grenziiberschreitungen, welche die neuere Wissenschaftsgeschichte inzwischen untemimmt.

Der dritte hier zu erwahnende Bereich ist die Befragung der traditionellen Trennlinie zwischen Wissenschaftstheorie einerseits und wissenschaftlicher Alltagspraxis andererseits. Die Hinwendung zur Praxis zeigt sich z.B. in der Frage danach, wie fachwissenschaftliche Diskurse, Weltbilder und Praktiken etwa der Medizin, der Psychiatrie und der Biologie Menschen und menschliche Kollektive durchdringen und wie sie offentliche Welt- und Menschenbilder praformieren - dies mit alien kulturellen Folgen bis bin zur Produktwer-bung. Zu diesem Punkt gehort zudem die Beobachtung, dass in den Labors der groBen Fir-men und Forschungsinstitute die Anwendung wissenschaftlicher Methoden als produktives gemeinsames Handeln auch einen uniibersehbaren Eigensinn bekommt: in Form technolo-gisch-industrieller Umsetzung, als Laborgemeinschaft mit spezifischem Innenleben und als Tatigkeit, die unauswechselbare Spezialistenteams mit einem ausgepragten Binnenklima er-zeugt, wofiir Wernher von Braun mit seinen Leuten sowohl zunachst in Peenemiinde als auch dann in den USA ein besonders treffendes Beispiel ist."*

Die Braunschweiger Historikerin Ute Daniel hat es einmal zugespitzt folgendermaBen ausgedriickt:^ Die neuere Wissenschaftsgeschichte schicke gewissermaBen die Wissen-schaftshistoriker mit einem ethnologischen Blick in die Labors wie auch in die Fachzirkel und die Forschergruppen der Institute (z.B. an die Universitaten, in die Institute der Kaiser-Wilhelm- bzw. Max-Planck-Gesellschaft, in die Forderungsgremien der DFG usw.), die dann retrospektiv studieren, wie die „Eingeborenen" dort agierten und reagierten, wie sie ihr Tun und ihre Produkte fixiert und wie sie diese auf den Markt der Wissenschaften bzw. in die Offentlichkeit gebracht haben, wortiber die Forscher und Forscherinnen kommunizier-ten, wie sie sich selbst und ihr Handeln deuteten, was sie z. B. flir ihre Karriere getan haben Oder zu tun bereit waren usw. Daniels Fazit in Ubereinstimmung mit ihrem Braunschweiger Kollegen, dem Wissenschaftshistoriker Herbert Mehrtens, lautet:^

„Die neuere Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass der Blick darauf, wie historisch zustande ge-kommen ist, was bislang als gegeben erschien, nicht blind ist flir die ,faktischen' Grenzen, die der ,Konstruktion' von Tatsachen oder der ,Fabrikation' des Wissens gesetzt waren und sind. (...) Nicht die Tatsachen verschwinden also bei dieser Betrachtung. Was verschwindet, ist nur die vereinseitigende Denkgewohnheit, ausschliefilich eine einzige Interaktion zwischen Menschen und Tatsachen zuzulassen, namlich die des Entdeckens bzw. Entdecktwerdens."

Wie sind in diesem Kontext die Bevolkerungswissenschaften anzusiedeln? Anders gefragt: Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen den epochenspezifischen wissenschaftlichen Konstruktionen von „Bevolkerung" allgemein bzw. von Einzelphanomenen demographi-scher Entwicklung mit entsprechenden Grund-Folge-Annahmen einerseits und andererseits den zeittypischen kulturellen Denk- und Deutungsmustem, den Wahmehmungen, Reakti-onsformen, den Problembewaltigungsstrategien usw.? Dass sich in dieser Richtung inzwi-

4 Siehe dazu Weyer 2000. 5 Daniel 2004, 371. 6 Ebd., 378; Mehrtens 1999.

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schen die Fragehorizonte deutlich zu offhen begonnen haben, zeigen neuere Debatten unter den Fachleuten, die nicht mehr nur mit diffizilen Methoden etwa die statistisch signifikanten Erscheinungsformen des sog. „demographischen tjbergangs", der Wanderungsvorgange Oder der Veranderung von „Bevolkerungsweisen" konstatieren und diskutieren, sondem die verstarkt begonnen haben, die kulturelle Basis des demographisch relevanten Handelns von Individuen und von spezifischen Wertvorstellungen gepragten Altersgruppen, aber auch von familienpolitischen MaBnahmen u.a. zu befragen.'

Die interdisziplinar ausgerichteten Forschungsprojekte im Rahmen des oben genannten DFG-Schwerpunktprogramms (= SPP 1106) und der intensive Austausch der daran beteilig-ten Wissenschaftler aus drei Generationen in einer Reihe von Konferenzen haben hier - das zeigen nicht zuletzt die inzwischen vorHegenden Pubhkationen - einen erheblichen Schub in Richtung Einbeziehung kulturhistorischer DeutungsmogUchkeiten ausgelost.^ In unserem im Rahmen des SPP an der Universitat Siegen durchgeflihrten Projekt ging es z.B. insbeson-dere um zwei miteinander verbundene mentahtatsgeschichtUche Aspekte bevolkerungswis-senschaftlicher Entwicklung vom 19. zum 20. Jahrhundert: zum einen um die Frage nach den generationsgeschichtlichen Kontexten der Bevolkerungswissenschaft und ihrer Paradig-men und zum anderen um das Problem der popularen Verbreitung bevolkerungswissen-schaftlicher Erkenntnisse in der vor allem biirgerlichen Offentlichkeit. Beide Zugriffe ziel-ten darauf, am Beispiel der Wahrnehmung von aktuellen Bevolkerungsproblemen dem Wechselspiel zwischen dem Zustandekommen eines wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns und dessen Verbreitung auf der einen Seite und den zeittypischen Versuchen der Beeinflus-sung alltagspraktischen Handelns auf der anderen Seite auf die Spur zu kommen. Es ging also sowohl um das Herkommen und die mentalitatsgeschichtliche Einordnung der wichtig-sten Referenzpersonen als auch um das Verhaltnis zwischen dem innerwissenschaftlichen und dem biirgerlich-offentlichen Bevolkerungsdiskurs, der insbesondere um einige „Schar-nierbegriffe" mit hoher Affektaufladung wie „Geburtenruckgang", „Degeneration", „Volk ohne Raum", „Volk ohne Jugend" u.a. kreiste.^

Ein moglicherweise recht ergiebiges, bereits ansatzweise in dem erwahnten Siegener Projekt verfolgtes Thema, das in besonderer Weise eine Brucke zwischen den Bevolke-rungswissenschaften im engeren Sinn und der neueren Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zu schlagen verspricht, ist das der „Generationalitat".^^ Zwar haben die Demographen im-mer schon das Verhaltnis der Alterskohorten zueinander, in erster Linie aber nur quantifizie-rend, analysiert. Die Frage nach einer damit unter Umstanden zusammenhangenden Genera-tionentypik, d.h. nach generationellen Handlungsmustem, die sich mit einzelnen Kohorten aufgrund ihrer spezifischen „Generationslagerung" (Karl Mannheim) in der historischen

So besonders eindrucksvoll in einem Vortrag des Bevolkemngssoziologen Josef Schmid iiber die „Bev6lke-rungsdynamik und soziale Evolution im gegenwartigen Europa" im Mai 2005 in Bamberg zum Thema „Ver-gangeiiheit und Zukunft der deutschen Bevolkerungssoziologie" (demnachst im Druck). Siehe auch einige Passagen in dem Uberblickswerk von Ehmer 2004. Neben Demographen, Statistikem und Sozialwissenschaftlem, speziell Bevolkemngssoziologen, sind an die-sem Schwerpunktprogramm der DFG auch Medienwissenschaftler, Sozial-, Kultur-, Medizin- und Rechts-historiker - auch aus Osterreich und England - beteiligt. Siehe dazu Weipert 2004. Siehe demnachst die zur Zeit erst im Manuskript vorliegende Siegener Dissertation von Weipert 2005. Siehe zum Folgenden die Beitrage in dem von mir herausgegebenen Sammelband „Generationalitat und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert" 2003. Siehe auch Weisbrod 2005.

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Zeit und davon mitbestimmten „Pragung" in Verbindung bringen lassen, haben andere Dis-ziplinen gestellt und dabei allerdings zum Teil recht pauschale, insofem frag-wtirdige (im Sinne von kritisch zu befragende) Generationenabfolgen konstruiert, so etwa von der „Frontgeneration" des Ersten Weltkriegs iiber die im Jahrzehnt vor 1914 geborene „Kriegs-kindergeneration" und die nachfolgende „Hitlerjugendgeneration" bis bin zur „skeptischen Generation" a la Helmut Schelsky und schlieBlich zu den „68em" und einer angeblichen „Generation Golf. Der Begriff „Generationalitat" bezieht sich jedoch nicht auf solche aus der Riickschau gewonnene, „quasi-objektive" Charakterisierungen ganzer Altersgruppen, sondem meint die subjektive Selbstverortung von Menschen in ihrer Zeit - dies mit Blick auf ihren und ihrer Altersgenossen alterspezifischen Erfahrungs- und Erinnerungsschatz im Vergleich, oft auch in bewusster Abgrenzung von den Deutungshorizonten ihrer jiingeren und/oder alteren Zeitgenossen. Bei dem wohl bei den meisten Menschen vorhandenen Be-diirfnis, zusammen mit Gleichaltrigen eine gemeinsame „Zeitheimat" zu konstruieren und sich in Verbindung damit eine einigermaBen schliissige und durchgangige Biographic zuzu-schreiben, wirkt also die Zugehorigkeit zu einer demographisch identifizierbaren Kohorte identitatsstiftend und identitatssichemd^^ wobei dieses im Zusammenspiel mit diversen sonstigen Zugehorigkeiten schichten-, milieu-, nicht zuletzt auch geschlechtsspezifischer Art erfolgt, zudem mit der Art und Intensitat der fruhkindlichen Empathie- und Triangulie-rungserfahrungen (s.u.) und der Pragungen in der Jugendzeit, weiterhin u.U. auch mit der Verarbeitung oder Nichtverarbeitung von massiv beeindruckenden Erlebnissen in Kriegs-und Krisensituationen usw.

Ein exemplarisches Problemfeld, in dem aktuelle demographische Befunde und eine sich profilierende Generationalitat seit wenigen Jahren eng zusammenwirken, ist in unserer Gesellschaft - abgesehen von jener groBen sozialpolitischen wie okonomischen Herausfor-derung, auf die mit solch klingenden Etiketten wie „Altersfalle", „Krieg der Generationen", „Methusalem-Komplott" u.a. angespielt wird^^ _ jas offentliche Auftreten einer Altersgrup-pe, die bisher als „Generation" im engeren Sinn kaum in Erscheinung getreten ist: Gemeint sind die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs, geboren circa 1936 bis 1945, heute also etwa 65 Jahre alt und damit beschaftigt, den Ubergang in ihren definitiven Seniorenstatus zu be-waltigen. Wer sich die allbekannte, recht stark zerrupfte aktuelle Bevolkerungspyramide der deutschen Gesellschaft ansieht^^, entdeckt diese Altergruppe als deutliche zweite Ausbuch-tung neben der sogenannten „Baby-Boom-Generation" vom Anfang der 1960er Jahre, deren Eltem eben die Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs sind. Diese wiederum stehen ihrerseits in einem Kindschaftsverhaltnis zu jener insofern auffalligen Altersgruppe der Bevolke-rungspyramide, die weit iiber das wegen der verschiedenen geschlechtsspezifischen Lebens-erwartungen zu erwartende MaB hinaus von einem ganz erheblichen Fraueniiberschuss ge-pragt ist: die 85- bis 90jahrigen - zuriickzufiihren selbstverstandlich auf die mannlichen Kriegsverluste des Zweiten Weltkriegs. Nach Schatzungen kam von den 1940/45 25- bis 30jahrigen jeder zweite eingezogene Mann durch Kriegseinwirkungen um (56 %); in der jiingeren Kohorte der 20- bis 25jahrigen waren es 45 %, in der alteren der 30- bis 35jahrigen

Ji Siehe dazu Niethammer 2003, Iff. 2 Vgl. etwa Baltes 2004; Schirrmacher 2004. Siehe die knappen grundsatzlichen Hinweise zu dieser Herausfor-

derung in: Bundesinstitut fur Bevolkerungsforschung ed. 2004, bes. 64ff 13 Ebd., 57.

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J 8 Jtirgen Reulecke

36%. Sie hinterlieBen fast zwei Millionen Witwen mit iiber zweieinhalb Millionen Halb-waisen. Etwa ein Viertel der Kriegskinder wuchs auf Dauer ohne Vater auf, und nahezu je-des zweite Kriegskind hat auBerdem zum Teil intensive Erfahrungen mit den Nachten in Bunkem und dem Bombenkrieg, mit Flucht, Vertreibung, Evakuierung u.a. gemacht.^^ Die-se quantitativ recht groBe Altersgruppe, bisher als „unauffallige" oder „unbefangene" Gene-ration charakterisiert^^ und zwischen den sehr viel profilierteren Angehorigen der alteren so-genannten „skeptischen" und der jiingeren „68er" Generation „eingeklemmt"^^, beginnt jetzt beim Eintritt ins Rentenalter einen bisher weitgehend tabuisierten Erinnerungsbestand zu re-klamieren und als Ausgangsbasis der Deutung ihres Lebenslaufs und ihrer generationellen Pragung zu beanspruchen. Wenn der Satz stimmt, dass nur durch das Erzahlen der Mensch sich selbst zu verstehen beginnen kann, dann wollen diese Kriegskinder offenbar, wenn auch bereits im hoheren Lebensalter stehend, jetzt die bisher wohl noch nicht hinreichend genutz-te Chance ergreifen, ihre Biographie zu verstehen und so eine „Zeitheimat" zu finden. Wort-fiihrer dieser Altersgruppe betonen z.B. das Recht, sich offentlich uber ihre friihkindlichen, z.T. traumatischen Erfahrungen mit Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung erinnem zu diir-fen, ohne sich damit dem Vorwurf aussetzen zu mtissen, sie rechneten das eigene Schicksal mit dem von Hitlerdeutschland, also von ihrer Eltemgeneration anderen Volkem zugefiigten Leid auf und stilisiere sich bloB - selbstbemitleidend - ebenfalls zu „Opfem". Zugespitzt ausgedriickt: Die in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit als Kinder herangewach-senen Menschen, die sich selbst keine irgendwie geartete direkte Beteiligung oder gar Schuld am „Dritten Reich" zuschreiben miissen, aber aus Grtinden, die zu befragen sind, bisher zuriickgehalten haben, die in ihrem Gedachtnis gespeicherten, oft bedrtickenden eige-nen Bilder aus jener Zeit zu beschworen, melden sich jetzt zu Wort, tauschen sich aus und fordem, ihre bisher nicht thematisierten Erinnerungen offentlich - wie man mit Sigmund Freud sagen konnte - „durcharbeiten" zu konnen.^^ Kritiker einer jtingeren Generation, ge-boren um 1960, haben iibrigens solche Bestrebungen nach einem groBen Kongress in der Frankfurter Universitat Mitte April 2005 zum Thema „Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft fiir Europa sechzig Jahre nach Kriegsende" sogleich ironisch als Aktivitaten einer senioralen „Selbsthilfegruppe", als „Selbstbespiegelung", „Re-Viktimisierung" und „nervt6tende Erzahlungen" abgetan^^, was wiederum emporte Leserbriefe von Betroffenen zur Folge hatte. Hinter dieser Kontroverse lasst sich ansatzweise bereits so etwas wie eine neue zwischengenerationelle Konkurrenz um die Deutungshoheit mit Blick auf die Beurtei-lung der krass unterschiedlichen Generationenschicksale im 20. Jahrhundert vermuten, eine Konkurrenz, die inzwischen auch in einer Reihe weiterer offentlich verhandelter Brisanz-punkte unserer Erinnerungskultur sichtbar geworden ist, so z.B. bei der sog. „Wehrmachts-ausstellung", bei den Kontroversen iiber das Berliner Holocaust-Denkmal, bei der Debatte iiber die Art der Erinnerung an die Bombardements deutscher Stadte und an die Grauel bei Flucht und Vertreibung, bei den riickblickenden Bewertungen der deutschen Kapitulation vomMai 1945 u.a.^^

^"^ Siehe dazu jetzt Radebold 2005; sowie ders. ed. 2004; auBerdem Schulz, Radebold u. Reulecke 2004. 15 Siehe etwa Graf Bliicher 1966. 16 Dazu Herrmann 2003; vgl. auch Reulecke 2000. 17 Siehe dazu Schulz-Hageleit 2003. 18 So Duckers 2005; Welzer 2005.

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Bevolkerung denken 19

Um vor solchem Hintergrund aber wieder zu der Frage nach dem Anregungspotential einer neueren Wissenschaftsgeschichte fiir die Beziehungen zwischen bevolkemngswissenschaft-licher Forschung und kulturgeschichtlichen Deutungsmoglichkeiten zuruckzukommen: Auch wenn es falsch ware, ganz simpel (was immer wieder getan wird), demographisch fi-xierte Alterskohorten mit den historischen Qualitaten von „Generationseinheiten" mit einer ausgepragten „Generationalitat" im oben angesprochenen Sinn in eine allzu glatte Bezie-hung zu setzen, so lassen sich dennoch diverse Verbindungslinien zwischen dem vorgegebe-nen demographischen Metabolismus, den jeweiligen historisch bedingten „Generationslage-rungen" und manchen Verhaltensweisen, Selbststilisierungen und sonstigen Charakteristika von Angehorigen spezieller Altersgruppen herstellen. Identifizierbare, gerade auch quantita-tiv auffallige Verwerfungen in den Konstellationen zwischen einzelnen Kohorten, die z.B. im Eltem-/Kinderverhaltnis mit dessen u.U. sehr unterschiedhchen Geschlechterproportio-nen zueinander stehen, sich aber auch in Lehrer-Schiiler-, Ftihrer-Gefolgschafts-Verhaltnis-sen widerspiegeln mogen, konnen, wie neuere Forschungen zeigen, ganz erhebUche Auswir-kungen beispielsweise auf die Einstellung zur Ehe und zum individuellen Kinderwunsch, auf das Heiratsalter, auf das Alter bei der Geburt des ersten Kindes, auf die Prinzipien bei der Erziehung der eigenen Kinder, auf die Bereitschaft zur Akzeptanz einer „Generationen-gerechtigkeit"^^ beim Umgang mit der alteren Generation usw. haben. Nur ein Beispielbe-reich zur Illustration: Welche Auswirkungen hat etwa die zweimal im 20. Jahrhundert tat-sachlich vorfmdbare und gleichzeitig in spezifischer, aber eher metaphorischer Weise of-fentlich diskutierte „Vaterlosigkeit" gehabt: einerseits im Hinblick auf deren reale Folgen fur die in und nach den beiden Weltkriegen ohne - wie Fsychologen sagen - Triangulie-rungserfahrungen, also ohne einigermaBen ausgewogene MutterA^ater-Erfahrungen heran-gewachsenen Kinder und deren Lebenslauf, andererseits im Hinblick auf die offentliche Wirkung des Slogans von der „vaterlosen Gesellschaft" a la Paul Fedem (1919) und Alexan-der Mitscherlich (1963)^^ als eines medial breitgetretenen Deutungskonstrukts fur die jewei-lige Gesellschaft? Und weiter gefragt: 1st das Erlebnis reifer „Vaterlichkeit" von Sohnen nicht auch so etwas wie die Voraussetzung fur eine befriedigende „Sohnlichkeit", die wie-derum eine wichtige Voraussetzung fur den Wunsch nach eigenem Vatersein und die Basis einer gegluckten spateren Vaterlichkeit ist? Dass hier ein lebenslaufmitbestimmendes Pro-blem fur eine betrachtliche Zahl von Angehorigen der Kriegskindergeneration und fur deren Kinder, besonders Sohne besteht, haben wir bei einer ersten Umfrage feststellen konnen.^^ Gibt es vielleicht sogar so etwas wie eine kollektive „S6hnlichkeit", und was bedeutet es fur eine Gesellschaft, wenn diese „Sohnlichkeit" iiber Jahrzehnte hinweg defizient war? Zuge-spitzt gefragt: Welche Folgen hat es flir die Politik bis hin zur konkreten Sozial-, Familien-und Bildungspolitik, wenn bedeutsame Telle der politischen und sonstigen Ftihrungskreise der Gesellschaft keine iiberzeugende Vaterlichkeit kennengelemt haben?^^ Solche Fragen u.a. sind zu stellen, wenn man jener z.B. bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft

^ Besonders eindringlich hat m.E. Koselleck jiingst am Beispiel dieses Schliisselereignisses des 20. Jahrhun-derts die grundsatzlichen Ambivalenzen zwischen „Erinnemng und Geschichte" erortert und auf den Kemge-danken „Differenzen aushalten und die Toten betrauem" gebracht; siehe seinen Artikel dazu in der Neuen ZurcherZeitung2005.

2 Siehe dazu das Heft 8/2005 von „Aus Politik und Zeitgeschichte" zum Thema „Generationengerechtigkeit". 21 Fedem 1919; Mitscherlich 1963; vgl. auch Heim 1999. 22 Schulz, Radebold u. Reulecke 2004; vgl. auch Radebold 2002.

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ftir Demographic in Potsdam im Marz 2005 von dem englischen Zeithistoriker Jay Winter geauBerten Forderung nachkommen will, der im Hinblick auf eine adressatenspezifische Be-volkerungspolitik empfohlen hat: „Denken Sie in Zielgruppen, denken Sie altersspezi-fisch!"24

Mit dem bisher Gesagten sollten nur einige wenige exemplarische Fragerichtungen an-gedeutet werden, die sich aus Sicht einer neueren Wissenschaftsgeschichte im Hinblick auf die im Bevolkerungsaufbau der Bundesrepublik crkennbaren Ungleichgewichte und deren gencrationell bedingten und „Gcnerationalitat" erzeugenden Beziehungen zucinander erge-ben. Bin dariiber hinausgehendes Fazit mag in Anlehnung an Reinhart KoscUeck^^ folgen-dermaBen lauten: Wenn man davon ausgcht, dass aus der durch Geburt und Tod vorgegcbe-nen Endlichkeitsbestimmung der Menschen im Zusammenwirken mit ihrer je zeitgenossi-schen „Zeitigung" sowie ihrer Geschlechtlichkeit - Koselleck nennt diesen Zusammenhang „Generativitat"^^ - die jeweilige „Wirklichkeit und Wirksamkeit von Generationen in ihrer diachronen Sukzession" die Bedingung fur „mogliche Geschichten" schafft, dann lassen sich die oben angeftihrten Hinweise auf die aktuellen Debatten iiber den Lebenslauf und die historische Verortung der „Kriegskindergeneration" im Spannungsfeld zwischen bevolke-rungswissenschaftlicher Zuordnung und kulturgeschichtlicher Deutung als Exemplifizie-rung dieses Sachverhalts verstehen. Besonders auf die Kohorte der zwischen ca. 1936 und 1945 Geborenen mag zutreffen, dass die Generationenwechsel - so Koselleck - immer zeit-lich endliche Horizonte offhen, durch deren jeweilige „Verschiebung und generative Uber-lappung sich Geschichten ereignen". Diese endlichen Horizonte - so konnte man hinzufii-gen - machen konkrete Lebensgeschichten erst erzahlbar und somit individuelle wie kollek-tive historische Selbstverortungen erst moglich.

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2 In den Medien tauchen inzwischen zunehmend Deutungen auf, die in diese Richtung gehen: siehe etwa eine WDR 5-Sendung vom 8.5.2005 mit dem bezeichnenden Titel „German Angst. Uber heutige Mutlosigkeit und die langen Schatten des Krieges" von Sabine Bode.

24 Siehe den Bericht in der F A Z Nr. 66 vom 19.5.2005 tiber diese Jahrestagung unter dem Titel „Die ideologi-sche Temperatur senken. Jahrestagung der Demographie-Forscher".

25 Siehe zum Folgenden Koselleck 2000, hier 106, 2^ Er bezieht sich dabei auf Hannah Arendt, die fur hierfur den Begriff „Natalitat" favorisiert; siehe dazu Alt-

haus 2000, bes. 205f und 272f

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Bevolkerung denken 21

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^^Assimilation" und ^Dissimilation" in der „Bev61kerungsgeschichte"9 ca. 1918 bis 1960

Alexander Pinwinkler

I. Einleitung

,„Assimilation' ist [...] ein typisch modemes Phanomen. Sie erhalt ihren Charakter und ihre Be-deutung durch die modeme Nationalisierung des Staates, d.h. dessen Bestreben nach sprachli-cher, kultureller und ideologischer Vereinheitlichung der Bevolkerung, die das Territorium sei-nes Zustandigkeitsbereiches bewohnt."^

Der Kulturtheoretiker Zygmunt Baumann deutet mit diesen Worten die Assimilation - wort-lich „Ahnlichmachung" - als eine charakteristische Erscheinung der „Modeme", die dazu beitragen soil, die Bildung modemer Nationalstaaten seit dem 19. Jahrhundert zu erklaren. Im Gegensatz zur vormodemen Praxis, vorwiegend standische Differenzierungen als „eine Tatsache des Lebens" zu betrachten, die nicht geandert werden konnten, habe der modeme europaische Nationalstaat ein Denkmuster der Vereinheitlichung, somit der Assimilierung entwickelt, das es ihm ermoglichen sollte, steuemd in soziale Prozesse einzugreifen.

Der Begriff „Assimilation"2 wurde nicht erst im Zeitalter der Industriellen Revolution, sondem bereits seit dem 16. Jahrhundert verwendet, und zwar zuerst in biologischen Diskur-sen: „Assimilation" bezog sich dabei auf „Absorptions- und Inkorporierungsprozesse leben-der Organismen"; der Begriff stand fiir eine unzweideutig eingleisige „Umwandlung, nicht flir selbstgestalteten Wandel; eine Handlung, die lebende Organismen an ihrer passiven Um-welt vollzogen". Der Vorgang der „Assimilation" ftihrte dazu, dass die assimilierte Einheit sich in Form und Qualitat radikal wandelte, wahrend der assimilierende Korper konstant blieb.^ Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gewann der Assimilationsbegriff die Bedeu-tung eines unspezifischen „Gleichmachens"; die kulturelle und soziale „Angleichung" einer Bevolkerung, die territorial abgegrenzt war, gehorte mit zu den neuartigen Aufgabenberei-chen des Staates.^ „Angleichung" setzte „Abgrenzung" notwendig voraus, Sie beinhaltete nunmehr die Moglichkeit, soziale Differenz zu konstruieren und diese in hierarchisierender Weise auf ethnisch-soziale GroBgruppen, etwa auf „Volker" und „Nationen", zu beziehen.

Es war hierbei von entscheidender Bedeutung, dass die negative Abgrenzung vom „Fremden" eine wesentliche Voraussetzung begriindete, um das positive Gegenbild der An-gleichung an das „Eigene" entwerfen zu konnen. Die qualifizierende Unterscheidung des „Eigenen" vom „Fremden" kann somit als ein wesentlicher Aspekt des Assimilationsden-

^ Baumann 1991,41. 2 Heckmann 1992, 167, schlagt vor, statt „Assimilation" den Begriff der „Assimiliemng" zu verwenden, um

der Dynamik des zugmnde liegenden Vorgangs starker Ausdruck zu verleihen. Heckmann weist darauf hin, dass „Assimilierung" in der Literatur in unterschiedlichen, teils verwirrenden Begriffsbildungen vorkommt, und er zahlt einige der haufiger verwendeten Termini auf: „Assimilation, Assimilierung, Akkulturation, Akkomodation, Absorption, Adaptation, Integration, Amalgamation.".

3 Baumann 1991, 37. 4 Ebd., 38.

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kens gesehen werden. Die ihm von vomherein diskursiv eingeschriebene Kehrseite war die „Dissimilation" (=„Ungleichmachung") des „Fremden". Das Spannungsverhaltnis zwischen „Assimilation" und „Dissimilation" spitzte sich erst in den 1930er und 1940er Jahren zu, als deutsche „Volkstumsforscher" die Semantik von „Assimilation" und „Dissimilation" in ihre theoretischen Uberlegungen einbezogen und anhand „empirischer" Forschungen zu operati-onalisieren suchten. Sie diirften dabei nicht nur darauf abgezielt haben, Vorgange des „Volkstumswechsels" „bevolkerungsgeschichtlich" zu rekonstruieren und soziologisch zu typologisieren. Dariiber hinaus sollten genozidale Bevolkerungspolitiken des „Dritten Reichs" geschichtlich legitimiert und in einigen Fallen moglicherweise performativ ange-dacht werden. Welche „praktische" Bedeutung insbesondere die gutachterliche Tatigkeit von Historikem fur jene Diskurse batten, die der Umsetzung nationalsozialistischer Sied-lungs- und Bevolkerungspolitiken vorangingen und die diese begleiteten, kann nicht ab-schlieBend beurteilt werden. Sie zahlt daher auch nicht zu den Fragestellungen der vorlie-genden Studie.^

Die soeben skizzierten grundlegenden Konstellationen des Denkens in Kategorien der „Assimilation" und „Dissimilation" lassen sich in „bevolkerungsgeschichtlichen" Studien der 1920er bis 1950er Jahre immer wieder ausfmdig machen. „Bev6lkerungsgeschichte" spielte gerade in diesem Zeitraum innerhalb deutscher „Volksforschungen" eine wichtige Rolle. „Bev6lkerungsgeschichte" konnte nicht als eine ausgepragt eigenstandige, sowohl nach innen homogene als auch nach auBen hin fachlich klar abgrenzbare „Subdisziplin" der Geschichtswissenschaft gelten. Manche Historiker scheinen ihre rhetorischen Bezugnahmen auf „Volks-" Oder „Bevolkerungsgeschichte" dazu instrumentalisiert haben, um sich gegen-iiber anderen historiographischen Traditionslinien zu profilieren, die sie selbst - etwa weil sie diese als „liberal" oder „individualistisch" abwerteten - als nicht mehr zeitgemaB be-trachteten.^ Mit „Bevolkerungsgeschichte" wurden zudem in verschiedenen Kontexten von „Volksforschungen" unterschiedliche, teilweise auch miteinander konkurrierende konzeptu-elle Vorstellungen verbunden. Bisher konnte nicht in einem ausreichenden MaB geklart wer-den, wie und in welchem Umfang „Bevolkerungsgeschichte" den staatsbezogenen „Main-stream" der Geschichtswissenschaft beeinflusste. Umgekehrt sollte gepriift werden, wie sich „Bevolkerung" und „Staat" in der „Bevolkerungsgeschichte" selbst zueinander verhielten, und wie der mehr oder weniger deutlich erkennbare Anspruch von Historikem, mit „Bevol-kerung" methodisches Neuland zu betreten,'^ als berechtigt erscheinen konnte oder nicht.

Ingo Haar, Carsten Klingemann und Karl Heinz Roth haben Denkmuster und Theore-me von „Assimilation" und „Umvolkung" in ihren Publikationen iiber „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus", uber „Ostforschung und Soziologie wahrend des Nationalsozialis-mus" bzw. liber den Historiker Hans Joachim Beyer anhand einzelner Institutionen und Per-sonen bereits genauer ausgelotet.^ Es ist bislang jedoch kaum versucht worden, einen LFber-blick iiber Stellenwert und Funktionen derartiger Theoreme in deutschen „Volksforschun-gen" insgesamt und in der „Bevolkerungsgeschichte" im besonderen zu gewinnen. Auch die

^ Zur Interdependenz von Bevolkemngspolitik, Vemichtungskrieg und Planen zur ethnischen Flurbereinigung im „Dritten Reich" vgl. Mommsen 1994, 68ff.; Heinemann 2003.

6 Vgl. Keyser 1933, 2, 11; Vgl. auch ders. 1931. ' Vgl. hierzu kritisch Lausecker 2005; Pinwinkler 2005. 8 Haar ^2002, bes. 208ff.; Klingemann 2002; Roth 21999.

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„Assimilation" und „Dissimilation" in der „Bevolkerungsgeschichte" 25

vorliegende Studie kann die groBe Menge von einzelnen verstreuten Textstellen und ganzen Abhandlungen zur „Umvolkung" kaum annahemd erfassen.

Dennoch sollen im folgenden Reichweite und Richtung der auf „Assimilation" und „Umvolkung" bezogenen Diskurse fur den fraglichen Zeitraum gepriift und insbesondere „Umvolkungs"diskurse in der „Bevolkerungsgeschichte" genauer untersucht werden. Rela-tionen von „Assimilation" und „Dissimilation" in „bevolkerungsgeschichtlichen" Texten werde ich hierbei aus begriffs- und diskursgeschichtlicher Perspektive darstellen.^ In Umris-sen werde ich vor allem danach fragen, welche semantischen Verschiebungen und Neugewichtungen im Begriffsfeld „Assimilation" in historiographischen, insbesondere „be-volkerungsgeschichtlichen" Diskursen des genannten Zeitraums erkennbar sind. Ehe ich darauf eingehe, werde ich allerdings thematisch vergleichbare soziologische Theorieentwiir-fe mit in den Blick nehmen, um Analogien und Verkniipfungen historiographischer „Um-volkungs"diskurse zu ahnlichen Fragestellungen in benachbarten wissenschaftlichen For-schungsfeldem exemplarisch aufzuzeigen.^^

II. ^Assimilation" und ^Dissimilation" in deutschen „Volksforschungen"

Soziale Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen nahmen in deutschen „Volksforschun-gen" der 1920er bis 1950er Jahre einen wichtigen Stellenwert ein. An derartigen Forschun-gen waren Gelehrte aus unterschiedhchen DiszipHnen beteihgt, so z. B. Historiker, Geogra-phen, Philologen, Volkskundler, Soziologen, Statistiker und Psychologen.^^ Wenn Wissen-schaftler aus diesen Forschungsrichtungen Bedeutung und Umfang von „Assimilation" und „Dissimilation" erorterten, richtete sich ihr „empirischer" Bezugspunkt aus einer deutsch-zentrierten Perspektive heraus meist auf das sogenannte „Grenz- und Auslanddeutschum". Interethnische Angleichungsvorgange, die sich innerhalb des Deutschen Reiches, etwa zwi-schen deutschsprachigen Bewohnem des Ruhrgebiets und polnischen Zuwanderem, abspiel-ten, wurden in derartigen Diskursen ebenfalls erortert, wenn auch mogHcherweise in einer etwas geringeren IntensitatJ^ Soziologischen Theorieentwiirfen zur „Assimilation" und „be-volkerungsgeschichtHchen" Studien aus dem Bereich der deutschen Geschichtswissenschaf-ten soil im folgenden das Hauptaugenmerk meiner Untersuchung gelten.

II. 1 Soziologie/"Volkslehre" und Sozialpsychologie

Studien zur „Assimilation" oder „Umvolkung" batten durchwegs einen „volkischen" Hinter-grund. „Bev6lkerung", „Raum" und vorgeblich „seelische" und/oder „rassische" Dispositio-nen von Individuen und ganzen „Volksgruppen" standen, wie manche dieser Studien sugge-

9 Vgl. als theoretischen Hintergrund u.a. Bodeker 2002; Sarasin 2002. ^ Ftir fruchtbare Anregungen und konstruktive Kritik bei der Ausarbeitung dieses Artikels mochte ich Gudrun

Exner, Ingo Haar und Werner Lausecker herzlich danken. ^ Zur Statistik vgl. Kertzer& Arel eds. 2002, bes. Iff.; zur Geographie Fahlbusch 1994. Zu Relationen zwi-

schen „raumlichen" und „soziologischen" Konstruktionen von „Volksgrenzen" vgl. Lendl 1938. Zur Sprach-wissenschaft, insbesondere zu G. Schmidt-Rohrs Deutung der „Entvolkung" als „Ausl6schung durch Sprachverlust" vgl. Knobloch 2003, 147ff.

12 Vgl. u.a. Goch 2001.

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rierten, in einem ganz bestimmten Krafteverhaltnis zueinander. Wenn das Gleichgewicht zwischen diesen Kraften gestort werde, etwa aufgrund politischer oder wirtschaftlicher Wirkkrafte, komme es in ethnischen Mischgebieten zu zahlenmaBigen Verschiebungen zwi-schen den "Volkem". Hierdurch wiirden uberlieferte soziale Ordnungen in Frage gestellt, so dass neu interpretiert werden miissten. Soziologen/"Volksforscher" und Psychologen zielten darauf ab, jene sozialen, ethnischen und/oder „rassischen" Krafte zu erforschen, die Auf-schluss dariiber geben sollten, wie groB der „Halt" oder die „Widerstandsfahigkeit" eines „Volkstums" gegentiber Einfltissen anderer „Volkstumer" sei und wie diese begriindet wer-den konnten.

Geht man spezifischen Verwendungsweisen der „Assimilation" in deutschen „Volks-forschungen" nach, so lasst sich in terminologischer Hinsicht Folgendes feststellen: AuBer dem Begriff der „Assimilation" wurden auch „Aufsaugung", „Volkstumswechsel" oder „Umvolkung" herangezogen, um den Vorgang des Wechsels ethnischer Identitaten auf einer abstrakten Ebene zu beschreiben. Derartige Begriffe konnten je nach diskursiven Kontexten unterschiedhch verwendet und konnotiert werden. Die damit angedeuteten sozialen Vorgan-ge wurden je nach Standpunkt des einzelnen Autors als mehr durch sprachliche, wirtschaftli-che, staatliche oder durch „rassische" Bedingungen beeinflusst gesehen. Daneben lieBen sich auf der Ebene der „empirischen" Beschreibung „konkreter" Assimilierungsvorgange eine Vielzahl von Begriffen auffmden. Sie waren durchwegs auf unterschiedliche Objekte des historiographischen Interesses gerichtet, meist auf „Volker" oder „Nationen", und ent-sprachen einander doch in ihrer spezifisch wertenden StoBrichtung: „Germanisierung" oder „Eindeutschung" bildeten so entweder den - in der Kegel positiv bewerteten - Gegenpol zur negativ gesehenen „Entdeutschung", oder sie wurden als politische Zielsetzung konkret ge-gen „Polonisierung", „Tschechisierung", „Madjarisierung" usw. gestellt.

Im Vergleich zu „Assimilation" blickten Begriffe wie „Germanisierung" oder „Volks-tumswechsel" auf langere Traditionen zuriick. Sie batten bereits im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt, z. B. im „Deutschen Worterbuch" der Briider Grimm. „Entdeutschen" er-schien hier als ein Verbum, das mit „abalienare a genere germanico" (= der deutschen Art entfremden) umschrieben wurde. Es erhielt somit eine ausgesprochen negative Bedeutung.^^ Die Semantik des „Volkstumskampfs", der seit dem spaten 19. Jahrhundert apologetisch das Ringen um die Erhaltung des „Volkstums" deutscher Sprachgruppen im Ausland bezeich-nen sollte, stand dem Diskurs der „Umvolkung" nahe. Der Umvolkungsbegriff diirfte zwar erst seit den 1920er Jahren in politisch-wissenschaftliche Diskurse eingedrungen sein, ^ wo-bei er besonders im Nationalsozialismus eine ausgesprochen aggressive Bedeutungskompo-nente erhielt. ^ Er sollte das - wie auch immer begriindete - Aufgehen eines „Volks" oder Volksbestandteils in einem anderen „Volkstum" bezeichnen. Jenes „Volk", das als das bio-logisch vorgeblich Schwachere bloBes Objekt der „Umvolkung" war, erlitt diese mehr, als es sie beeinflussen konnte. Um die Passivitat der assimilierten Gruppe zu behaupten, wurden nicht zuletzt sozialdarwinistische Erklarungsmuster herangezogen, etwa jenes eines sozial, kulturell oder „rassisch" begriindeten „Gefalles" zwischen dem „umvolkenden" und dem „umgevolkten" „Volk" als notwendige Vorbedingung der Verschmelzung. „Umvolkung"

3 Grimm 1862, Bd. 3, Sp. 508. Vgl. hierzu auch Kessler ed. 1988. 1 Vgl. von Loesch 1925, bes. 213, 229. 5 Vgl. Schmitz-Beming 1998, 617f., s. v.; vgl. Brackmami & Birkenhauer 1988, 187, siehe v.a.

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schien also ein gleichsam natumotwendiger Vorgang zu sein. Der gleiche Vorgang wurde in Bezug auf einzelne Personen oder soziale Gruppen oft entschieden negativ bewertet, etwa wenn „Renegaten", „Uberlaufem" oder „Assimilanten" vorgeworfen wurde, dass sie ihrem angestammten „Volkstum" aufgrund ihres Verhaltens untreu geworden seien^^. Normative Erklarungsmuster der „Umvolkung", wie ich sie oben angesprochen habe, erfuhren durch derlei moralisierende Wertungen eine Relativierung.

Die „Dissimilation" sollte hingegen nicht die interethnische „Angleichung", sondem den Vorgang der Ab- oder Aussonderung einer sozialen GroBgruppe von einer anderen be-zeichnen. Die „Umvolkung" konnte also auch als negativer Prozess der „Herausl6sung" ei-nes „Volks" oder „Volksbestandteils" aus einem anderen „Volkstum" verstanden werden. Dieser Aspekt des Diskurses gewann bevolkerungspolitische Bedeutung, als bestimmten Gruppen, etwa Juden und Jiidinnen nach den Numberger „Rassengesetzen" (1935), die Zu-gehorigkeit zum deutschen „Volk" pauschal abgesprochen wurde. Andererseits konnte „Dissimilation" auch eine politische Handhabung zur „Wiedereindeutschung oder Wieder-gewinnung deutschen Blutes"^'^ sein, wenn z.B. darauf abgezielt wurde, im „Volkstums-kampf untergegangenes deutsches „Blut" in anderen, meist slawischen „Volkem" aufzu-sptiren und ftir das „Deutschtum" zuriickzugewinnen. Die Moglichkeit, eine teilweise oder abgeschlossene Assimilation in ihr Gegenteil zu verkehren, wurde im Nationalsozialismus vielfach erortert, so z.B. in der Akademie fiir Deutsches Recht, die 1933 von Hans Frank (1900-1946), der spatere Generalgouvereur des Generalgouvemements, 1933 ins Leben ge-rufen hatte. Der „Ausschui3 fur Nationalitatenrecht" der Akademie bestand aus vier Unter-ausschiissen, von denen sich einer mit „Fragen der Assimilation und Dissimilation" beschaf-tigte.i^

Einer jener Minderheitentheoretiker, die auBerhalb der Akademie fiir Deutsches Recht bereits vor 1939 offen fiir die „Dissimilation" als bevolkerungspolitische Option eintraten, war der sorbische Publizist Jan Skala (1889-1945). Dieser verstand unter „Dissimilation" verstand Skala ausdriicklich die „zwangsweise Ausscheidung fremden Volkstums aus einem anderen Volk". Er bezog sich hierbei auf den Europaischen Nationalitatenkongress in Bern 1933, an dem die jiidischen Delegierten aus Protest gegen die rassische Diskriminierung der deutschen Juden nicht mehr teilnahmen. Die „Dissimilation" sei als bevolkerungspolitischer Begriff erstmals und seither ausschlieBlich bei diesem Kongress aufgetaucht, und zwar unter Bezugnahme auf die sogenannte „Nichtariergesetzgebung" des Nationalsozialismus. Dieser wurde, so Skala, den Begriff als solchen allerdings nicht kennen.^^ Die Vertreter der deut-schen Minderheitengruppen stellten sich in Bern voll auf die Seite des NS-Regimes, wobei sie mit offiziosem Anspruch folgende Erklarung abgaben: „Die Ausgliederung voelkisch an-dersgearteter und besonders andersrassiger Menschen aus einem Volkskoerper halten wir fiir grundsaetzlich gerechtfertigt [...]". - Die „Dissimilation" soil in dieser Erklarung „wohl erstmalig im Umfeld der Minderheitenbewegung als Mittel eines Volkes gegen ein anderes Volk [...] zugelassen" worden sein. ^

16 Vgl.Boehm 1932, 131. 1" Das Zitat stammt aus dem Vortrag eines SS-Brigadefuhrers, der 1941 im 'Reichsministerium' des Innem'

gehalten wurde. Schmitz-Beming, 618. 1 Vgl. Schubert 2002 ed.,. An den Beratungen dieses Ausschusses, die von dem SS-Angehorigen Behrends

geleitet wurden, nahmen u.a. Max Hildebert Boehm, Werner Essen und Karl Christian von Loesch teil. 19 Skala 1934, 87, 79f.

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Der Assimilationsbegriff kam in volkstumspolitischen und soziologischen Diskursen seit dem spaten 19. Jahrhundert nicht nur als Schlagwort vor, sondem er wurde auch modell-haft zu beschreiben und begrifflich zu bestimmen versucht. Besonders „soziologisch" orien-tierte Studien untersuchten Ursachen, Verlaufsformen und Folgen des Ubergangs von einem „Volkstum" zu einem anderen, die typologisch herausgearbeitet und empirisch untersucht werden sollten.^^ Regionen, in denen sprachlich-kulturelle Mischzonen durch lineare staatli-che Grenzen durchschnitten wurden, standen im Zentrum des Interesses, wobei Soziologen sich haufig konkret auf die Ostgebiete des Deutschen Reiches bezogen: Max Weber (1864-1920) beispielsweise sah, als er in Freiburg 1895 seine akademische Antrittsrede „Der Nati-onalstaat und die Volkswirtschaftspolitik" hielt, grundsatzlich zwei Moglichkeiten, wie eine „Nationalitatengrenze" sich verschieben konne: „Einmal so, daB nationalen Minderheiten [...] Sprache und Sitte der Mehrheit allmahlich oktroyiert wird, daB sie ,aufgesogen' werden, andererseits in der wirtschaftlichen Verdrangung".^^ Der Volkstumsforscher und -politiker Karl C. von Loesch (1880-1951) dtirfle einer der ersten gewesen sein, der im Jahr 1925 fur „Entdeutschung" als Synonym den Begriff der „Umvolkung" verwendete. Er entwarf ein vierphasiges „Entdeutschungsschema", das die „Umvolkung" deutscher Auswanderer in den USA modellhaft als abgeschlossen bezeichnete, sobald die Kinder der dritten Einwan-derergeneration erwachsen wiirden.^^

Der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Adolf Gtinther (1881-1958) beschaftigte sich ebenfalls mit dem „raumlich-soziologischen" Aspekt der „Grenze". Gunther spitzte den Sachverhalt dialektisch zu, indem er eine thematisch vergleichbare Aussage seines Fachkol-legen Georg Simmel (1858-1918), der die „Grenze" allein von ihrer soziologischen Bedingt-heit her begrifflich gefasst hatte,^^ nur in diesem Sinn unterstutzte, sonst aber ihre Definition erweiterte. Gunther beriicksichtigte namlich gleichermaBen „raumliche" und „soziologi-sche" Aspekte der „Grenze", wobei er ihr wechselseitiges Bedingungsverhaltnis betonte: Die Grenze sei „ebenso eine raumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen wie eine so-ziologische Tatsache, die sich raumlich formt."^^ Willy Gierlichs (1900-1945), ein Kolner Soziologe, der seinen Sozialraumbegriff u.a. mit Bezugnahme auf Gunther herausgearbeitet hatte, charakterisierte „Umvolkung" als einen genuin sozialen Prozess, dessen „naturlicher und sozialer" Schauplatz Grenzen und Grenzraume seien.^^

In ahnlicher Weise befand Max Hildebert Boehm (1891-1968) fur Grenzregionen, „dass die geographisch-raumliche vielfach in eine soziale oder auch eine konfessionelle Grenze" umspringen wiirde. Die Grenze wiirde demnach „gewissermaBen nicht mehr am Boden [sc. haften], sondem den Bevolkerungskorper selber als stufenbildende Grenzflache" durchziehen. Der Volkstumstheoretiker Boehm war in der Weimarer Republik einer der Wortfuhrer der „Konservativen Revolution". Er wurde besonders mit seinem programmati-schen Buch „Das eigenstandige Volk" bekannt. Boehm verband seine antimodemistische

2 Bamberger-Stemmann 2000, 278f. Der Nationalitatenkongress nahm die deutsche Erklamng auch in seine Abschlussresolution auf.

21 Vgl. u.a. Miiller 1937; Schmidt-Rohr 1938. 22 Weber 1895, 25. 23 Vgl. von Loesch 1925, 229f. 2" „Die Grenze ist nicht eine raumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondem eine soziologische

Tatsache, die sich raumlich formt." Simmel 1992, 697. 25 Gunther 1927, 204. 26 Gierlichs 1939,2.

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Kritik an „Individualismus" und „Vermassung" mit der Wamung vor Verlust an „Bo<ien-standigkeit" des „Volkstums" und der daraus resultierenden Entnationalisierung.^^ Gunther Ipsen (1899-1984), der 1933-39 als Bevolkerungstheoretiker und Soziologe an der Universi-tat Konigsberg tatig war, sah den „deutschen Osten" 1933 einer moglichen „Entvolkerung" ausgesetzt. Aufgrund der ,3evolkerungspressung", die der Versailler Vertrag in Deutsch-land hervorgerufen habe, sei der rassische „Widerstandswillen" der Deutschen zusammen-gebrochen, und ihre Geburtenziffem seien abgesturzt. In jenem schmalen „Prellgurtel" zwi-schen West und Ost, „der das deutsche Volk in Mitteleuropa von der agrarischen Ubervolke-rung des slawischen Ostens" trenne, seien „Vorgange der Umvolkung" slawischer Zuwan-derer ins Deutschtum, die er von Migrationen aufgrund einer beschleunigten Industrialisie-rung hervorgerufen sah, beispielhaft nachweisbar.^^

Soziologen neigten dazu, „Assimilation" als einen mehrphasigen Vorgang zu begrei-fen, der im „seelischen" Bereich beginnen wiirde. Die Annahme, dass die sukzessive Her-auslosung des Einzelnen oder einer Gruppe aus dem eigenen „Volkstum" mit psychischen Vorgangen ursachlich zusammenhange, war weit verbreitet. Rudolf Heberle (1896-1991), der Ende der 1920er Jahre wahrend einer USA-Reise die dortigen soziologischen Studien uber die Einwanderergruppen kennen gelemt hatte, definierte die „Entvolkung" dementspre-chend als „die Herauslosung von Individuen aus einer willensmaBigen Verbundenheit". Die „Angleichung" beschrieb er als einen „Ubergang von der Muttersprache zur Landesspra-che". Sie weise typische Verlaufsformen uber drei Generationen hinweg auf und sei je nach sozialer Schichtung und je nach dem Verhaltnis von Stadt- und Landbevolkerung zu diffe-renzieren.^^ „Assimilation" erschien bei Heberle somit als ein Vorgang, der wesentlich an die willentliche Entscheidung des Einzelnen gebunden ist. Insgesamt gab es ein breites Spektrum von Zuschreibungen der „Assimilation" zu Erklarungsmustem, die weder allein auf den Willensentscheidungen des menschlichen Individuums abhoben, noch sich nur auf sprachliche, kulturelle oder wirtschaftliche Bedingungsverhaltnisse bezogen. Deutungen der „Umvolkung" als ein mehr oder weniger „rassisch" begnindeter Vorgang, der in der „Bega-bung" eines distinkten „Volkstums" begriindet sei, nahmen jedoch in den spaten 1920er und 1930er Jahren an Einfluss zu. Derartige stereotype Erklarungsmuster diirften von „Volksfor-schem" zunehmend starker aufgegriffen und eigenstandig verarbeitet worden sein.

Die „seelische" Problematik der „Assimilation", wie sie Heberle aus soziologischer Sicht beschrieben hatte, beschaftigte in einem besonderen MaB „volkisch" denkende Psy-chologen und Padagogen, die in diesen Kontext nicht nur Individuen, sondem vor allem so-ziale Kollektive einbezogen: Einflussreich war hierbei besonders die 1938 erschienene Dis-sertation des Psychologen Robert Beck.^^ Mit dem „Schwebenden Volkstum im Gesin-nungswandel" pragte Beck einen Schlusselbegriff, den „Volksforschem" unterschiedlicher Disziplinen in einem breiteren AusmaB rezipierten.^^ Das „Schwebende Volkstum" sollte sich auf alle Gruppen beziehen, die „zwischen den Volkem" stunden und die daher ethnisch

27 Boehm 1932, 89; vgl. ders. 1938. 28 Ipsen 1933, 459f. - Nach C. Klingemaiin spielte „Umvolkung" als rassenmystisches Argument in Ipsens

„Bev6lkerungslehre" jedoch keine RoUe. Klingemann 2004a, 197. 29 Heberle 1936, 33, 29. 30 Beck 1938. Becks Lebensdaten konnte ich nicht ausfindig machen. 3 Vgl. die Besprechungen von Loesch 1941; Stegmann von Pritzwald 1938; Weinelt 1939. Vgl. auch Kuhn

1941.

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nicht eindeutig identifizierbar zu sein schienen.^^ Hierin spiegelte sich das gestiegene Inter-esse nicht nur der Psychologen, sondem der „Volksforscher" aller Richtungen an Grauzonen und Ubergangen zwischen den „Volkstumem". Dabei standen allerdings nicht mehr aus-schlieBlich kleinere Nationen wie Kaschuben oder Masuren, deren ethnische Zuordnung zwischen polnischen und deutschen Wissenschaftlem strittig bheb, im Vordergrund des In-teresses. Daneben ging es besonders um das „Grenz- und Auslanddeutschtum" auBerhalb der deutschen Reichsgrenzen, das Ende der 1930er Jahre zunehmend in das BHckfeld der expansionistischen „Volksgruppen"poHtik des „Dritten Reiches" geriet.

Dass „Umvolkungs"forschungen im „Dritten Reich" vor allem in Konigsberg, Posen und Prag betrieben wurden, wo „Reichsuniversitaten" deklamatorisch zu BoUwerken des „Grenz- und Auslanddeutschtums" ausgebaut werden sollten, dtirfte kaum tiberraschen. Nicht zuletzt Wissenschaftler dieser poHtisch auBerst exponierten Hochschulen beteiligten sich an den Entwiirfen des „Generalplans Ost", jener Gesamtkonzeption zur Germanisie-rungspoUtik in den besetzten und noch zu erobemden Ostgebieten, die von der SS und dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) maBgebhch zu verantworten war. Im Kontext derartiger Planungsszenarien stand beispielsweise ein Projekt iiber „Volkstum, Gesinnung und Cha-rakter" in Posen/Poznan, das unter der Leitung des Sozialpsychologen Rudolf Hippius (1905-1945) stand: „Seelisches Sein" sollte auf der Grundlage statistischer und erbbiologi-scher Erhebungen mit vorgeblichen „volkischen Pragungen" statistisch korreliert werden. Aus ihren Ergebnissen, die sie zwischen den Extrempolen slawischer „Flutung" und deut-scher „Kemhaftigkeit" skalierten, zogen die an den Forschungen beteiligten Wissenschaftler Schliisse fur eine potentielle „Riickvolkung" sogenannter deutsch-polnischer „Mischlin-ge".^^ Ahnliche Fragestellungen untersuchten auch die im Umfeld des „Sicherheitsdiensts des Reichsfuhrers SS" (SD) wirkenden Akademiker, die in der Prager Reinhard-Heydrich-Stiftung zusammengeschlossen waren.^^ Neben Hans Joachim Beyer (1908-1971), der diese Organisation aufbaute, profilierte sich dort vor allem Karl Valentin Miiller (1896-1963), der dem Institut fur Sozialanthropologie und Volksbiologie an der Karlsuniversitat Prag vor-stand, als Assimilationstheoretiker. Muller trat dafiir ein, das aus seiner Sicht bestehende verwaltungstechnische Problem ethnischer Vielfalt in den stidosteuropaischen Landem nicht durch groBe Umsiedlungen, sondem im Wege einer „tjberschichtung des gesamten Herr-schaftsraums" durch eine deutsche Elite zu bereinigen. Das lokale deutsche „Herrenvolk" sollte dort einem nicht deutschen „Vasallenvolkstum" gegeniiber gestellt werden, wobei Miiller Rassenmischungen zwischen diesen Gruppen offen in Kauf nahm. ^

Nach 1945 uberwog innerhalb der Sozial- und Geschichtswissenschaften die Praxis, „Assimilation" begrifflich weniger mit Aspekten des „Volkstumskampfs", sondem mehr mit interethnischem Austausch und Kontakt zu verkniipfen. Dies lasst sich z. B. anhand von lexikalischen Eintragungen veranschaulichen. Geschichtswissenschaftliche und soziologi-sche Texte und Speziallexika ersetzten „Umvolkung" nunmehr fast durchgehend zugunsten von „Assimilation" und „Anpassung".^^ Manche Begriffe, die vor und in der NS-Zeit dis-kursiv eine groBe Rolle gespielt batten, wurden durch scheinbar weniger belastete Termini

32 Vgl. auch Geifiler 1938a; Vasterling 1936; Kjoh 1937. 33 Vgl. Hippius ed. 1942, 72. Zu Hippius' Mitarbeitem zahlten u.a. die Professoren Kurt Stavenhagen (Posen)

und Konrad Lorenz (Konigsberg). 34 Vgl. Roth 21999, 303ff. 35 Zit. n. Klingemann 2002, 191.

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ersetzt. Bestimmte Traditionslinien des „Umvolkungs"diskurses lebten jedoch ungeachtet dieser teilweisen Briiche iiber 1945 hinweg fort, wenn auch teilweise in semantisch und in-haltlich oft neu akzentuierter Weise.

Max Hildebert Boehm reproduzierte Ende der 1950er Jahre gangige begriffliche Ver-satzstiicke von „Assimilation" und „Umvolkung", vor allem hinsichtlich des Drei-Generati-onenmodells der „Umvolkung" und des postulierten kulturellen Reifeunterschieds zwischen „Natur-" und „Kulturv6lkem" als notwendiger Voraussetzung der „Assimilation". Auffallig an Boehms Vorgehen ist, dass er ideologisch an die „volksdeutsche Bewegung" vor 1933 ankntipfte und jener hinsichtlich ihrer Bewertung des „Volkstumswechsels" „eine gesunde Mitte" „zwischen der Lassigkeit friiherer Zeiten und der tJberhitzung der jiingsten Gegen-wart" zuschrieb. Statt „Assimilation und Dissimilation" sollten jetzt „Assimilation und Re-assimilierung" in den Blick genommen werden. Jene ,jugendlichen Ostheimkehrer", die sich im Stadium einer sprachlichen und sozialen „Verzwitterung" befanden, miissten als ent-fremdete „Reassimilanten" mittels padagogischer Bemtihungen neuerlich fiir das deutsche „Volkstum" gewonnen werden.^^ Fiir das zahe Fortleben derartiger Denkmuster innerhalb der „Volkstumsforschung" spricht femer ein 1958 in „Europa Ethnica" erschienener Artikel des osterreichischen V5lkerrechtlers Theodor Veiter (1907-1994), der den „Volkstod durch Unterwanderung" aus soziologischer Sicht erorterte: Dem „Volkstod" wiirden, so Veiter, auf dem Wege der Assimilation jene autochthonen, d.h. in einer bestimmten Landschaft „stammlich" gebundenen „Volksgruppen" zum Opfer fallen, deren „Heimat" Zielgebiet „fremdvolkischer" Zuwanderer sei. Die „Umvolkung" einer fest gefiigten „Volkspersonlich-keit" erschien hier als die notwendige Folge einer ethnischen „Unterwanderung". Erzwun-gen Oder freiwillig veranlasst, erfolge diese stets als die Einwanderung einer im Verhaltnis zum jeweiligen „Aufnahmevolk" groBeren Zahl von Migranten.^^

Das mehr oder weniger offene Spannungsverhaltnis zwischen „Rasse" einerseits und sprachlichen bzw. kulturellen Faktoren als auslosende und bewegende Krafte der „Assimila-tion" andererseits, das Diskurse um die sogenannte „Umvolkung" vor 1945 stark gepragt hatte, wich in lexikalischen Eintragungen einer vergleichsweise niichtemeren Behandlung dieser Thematik. Auf der Ebene lexikalischer Konstruktionen von „Bedeutung" lasst sich in mancher Hinsicht ein - wenn auch begrenzter - „semantischer Umbau"^^ feststellen, wobei fiir jeden Lexikoneintrag im einzelnen gepriift werden muss, inwieweit die relative Persis-tenz „v6lkischer" Argumentationen von derartigen Strategien tatsachlich beriihrt war.

Wilhelm Brepohl (1893-1975) beschrieb im ersten „Worterbuch der Soziologie" der Nachkriegszeit, das im Jahr 1955 erschien, „Anpassung" als einen nie abgeschlossenen Vor-gang. Dieser sei mit der Geschichte von Einwandemngen stets verkniipft. Im Unterschied zu „Assimilation" und „Akkulturation", die „die kulturelle Angleichung an das Gastvolk"

Ahnliches gilt etwa auch fur den Duden: So war der Begriff „Umvolkung" erstmals in der 12. Auflage des Duden 1941, Rechtschreibung ..., gebucht worden, ehe er im Duden 1947, 13. Auflage, getilgt wurde. „Umvolkung" bildete im Duden ein Wortpaar mit „Entvolkung", das bereits in der 10. Auflage (1929) vor-handen gewesen war. „Entvolkung" wurde im Gegensatz zur „Umvolkung" im Duden 1947 wieder verzeich-net. Vgl. Miiller 1994, Sprachworterbuch, 157ff. Boehm 1957/58, bes. 282, 283f. Veiter 1958, bes. 12,15, 2If. Von „ganzheitlichen" Theoremen inspirierte Vorstellungen des „Volks"pragten Veiters Ausftihrungen ebenso unverkennbar wie ein teils apodiktisch vorgetragenes Festhalten an tradierten Theorien des „Volks- und Kulturbodens". Vgl. zu Veiter auch Salzbom 2005. Vgl. hierzu Klingemann 2004b.

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schlechtweg bedeuteten, erfolgten soziale Anpassungs- und Annaherungsvorgange neben dem Konnubium in erster Linie als Ubergange von einer zu einer anderen Sprache."^^ Das „Mehrsprachige Demographische Worterbuch" der Intemationalen Union fiir die Bevolke-rungswissenschaft, das vom Wiener Statistiker Wilhelm Winkler (1884-1984) redigiert wur-de, ordnete die „Assimilation" („Assimilierung", „Angleichung") gleichfalls der „Anpas-sung" zu. Diese wurde hier kulturell verstanden als eine gradmaBig erfolgende „Einwurze-lung der Einwanderer" in das auBere, aber auch in das geistige und „seelische" Leben der neuen Umwelt." ^ Wenigstens fur diese beiden Lexikoneintrage kann gelten, dass „Anpas-sung" als sprachlich-kulturelle Annaherung zwischen unterschiedlichen Ethnien verstanden werden sollte. Rassistische Deutungsmuster, wie sie im Hinblick auf „Umvolkung" verbrei-tet waren, spielten hierbei keine Rolle.

II. 2 „Bev61kerungsforschungeii" in den Geschichtswissenschaften

Deutschsprachige Historiker interessierten sich spatestens seit den 1880er Jahren nachweis-lich fur zahlenmaBige Relationen und Verschiebungen zwischen Gruppen, die sie als eth-nisch voneinander distinkt betrachten. Die zunehmende Ethnisierung politischer und sozia-ler Konflikte, wie sie besonders in den preuBischen Ostprovinzen und in der Habsburgermo-narchie erkennbar war, wurde in historiographischen Darstellungen kontinuierlich reprodu-ziert. Die Historiker konnten sich allerdings nicht daruber einigen, entlang welcher sozialer Kategorien „Grenzen" zwischen ethnischen Gruppen schliissig gezogen werden konnten. Derartige „Grenzen" normativ festzulegen und geschichtlich zu legitimieren, bildete den-noch eine ihrer zentralen und fortgesetzt anvisierten Zielsetzungen. Sie verkniipften quanti-fizierende Zuschreibungen von ethnischen Gruppen in vielfaltiger, mehrfach abgestufter Weise mit deren qualifizierender Wertung. „Abstammung", „Sprache", „Siedlungsweise", aber auch „Begabung", „Leistung", „Rasse" und „Blut" traten in „bev6lkerungsgeschichtli-chen" Diskursen als Zuschreibungskategorien sozialer Differenz in jeweils unterschiedli-chen begrifflichen Kombinationen und semantischen Gewichtungen auf. ^ Es kann grund-satzlich davon ausgegangen werden, dass historische Bevolkerungsforschungen nicht eine Domane der Geschichtswissenschaft waren. „Bevolkerung" wurde auch in anderen Diszipli-nen aus einer historischen Sicht heraus untersucht. „Bevolkerungsgeschichte" soil hier aber als ein spezifisches Forschungsfeld und Argumentationsmuster innerhalb der Geschichts-wissenschaften verstanden werden.

Schon die erste bevolkerungsgeschichtliche Buchreihe in Deutschland, die der Tiibin-ger Okonom Julius Neumann (1835-1910) in den Jahren 1883-1903 herausgab , lieferte fur diese Annahmen Beispiele."^^ „Bev6lkerungsgeschichte" war hier verwoben mit der Be-schreibung von „Germanisierung" und „Polonisierung" als konkurrierende Tendenzen in den als „deutsch" betrachteten Ostgebieten.'*' In seiner Monographic „Volk und Nation", die parallel zu der Buchreihe erschien, ging Neumann davon aus, dass der Germanisierungspro-

40 Brepohl 1955, 12. ^^ Union Internationale pour TEtude scientifique de la Population 1960, 92, Nr. 813. "2 Vgl. hierzu u.a. Pinwinkler 2003. ^^ Beitrage zur Geschichte der Bevolkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts. Tiibingen

1883-1903. 44 Vgl. Vallentin 1893.

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zess dort seit den 1860er Jahren ins Stocken geraten sei. In den preuBischen Ostprovinzen drohe eine Repolonisierung. In diesem Zusammenhang gewann auch die Frage an Gewicht, ob die preuBischen Juden als Polen oder als Deutsche zu zahlen seien oder ob sie eine eigene Nationalitat darstellten. Diese Frage sei von den zeitgenossischen Statistikem noch nicht ausreichend geklart worden. Neumann stellte jedoch fest, „dass angesehene deutsche Statis-tiker auch die Juden Posens nicht als Deutsche, sondem eher als besondere Nationalitat ne-ben Slaven und Deutschen angesehen haben [...l'" .

In vergleichbarer Weise, teils sogar in scharfer akzentuierter Auspragung beeinflussten Traditionen deutschnationaler „Schutzarbeit" historiographische „Grenzlandforschungen" in der Habsburgermonarchie und in der osterreichischen Ersten Republik."^^ Gerade in sied-lungs- und bevolkerungsgeschichtlichen Diskursen lassen sich in Osterreich, vor allem im Hinblick auf die Erorterung der Geschichte ethnischer Minderheiten, teils erstaunliche Kon-tinuitaten in der fortwahrend unhinterfragten Verwendung von Begriffen wie „Entdeut-schung" und „Umvolkung" beobachten.' '

Der Gedanke, dass Einzelne oder ganze Gruppen ihre Zugehorigkeit zu einer Nation etwa durch Sprachwechsel aufkiindigen und zu einer anderen ethnischen Gruppe iiberwech-seln konnten, war fur Historiker also grundsatzlich nicht etwas Neues. Begriffe wie „Entna-tionalisierung" und „Renationalisierung" diirften Geschichtsforschem bereits seit dem aus-gehenden 19. Jahrhundert bekannt gewesen sein. Ideologeme, die sich um diese Thematik rankten, lassen sich auch in popularen Geschichtsdarstellungen aufspiiren. So bedeutete „Eindeutschung" in der „Deutschen Geschichte von Einhart" des Alldeutschen Heinrich ClaB (1868-1953), die 1909 erstmals erschien, die Weitergabe von Sprache und Kultur an das Gastvolk, das von den Einwanderem assimiliert werden sollte.^^ Der historiographisch orientierte Part der „Volks- und Kulturbodenforschung" in der Weimarer Republik war hin-gegen uberwiegend siedlungs- und sprachgeschichtlich, volks- und landeskundlich orien-tiert."^^ In derartigen Zusammenhangen spielten „Assimilation" und „Dissimilation" mit wechselnden begrifflichen Zuschreibungen zwar eine RoUe, wenn es darum ging, Entwick-lung und Ausdehnung des deutschen „Volksbodens" zu untersuchen. Allerdings wurden sie nicht systematisch als soziale Prozesse untersucht.

Erst ab Mitte der 1930er Jahre erorterten Historiker diese Problematik unter dem Ein-fluss der NS-Volkstumspolitik von Historikem zunehmend intensiver. Bislang wenig beach-tete Dimensionen des Diskurses um „Umvolkung" wurden etwa im August 1934 im ostpreu-Bischen Kahlberg erkennbar, als Historiker, Bevolkerungswissenschaftler, Archivare und Minderheitenpolitiker dort zusammen kamen, um diese Fragen zu besprechen. Die Experten der „Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft" (NOFG) verbanden in Kahlberg den alteren Gedanken eines territorialen Revisionismus mit Planen einer bevolkerungspoliti-schen „Neuordnung Europas". Die Historiker schrieben sich die paradigmatische Aufgabe

45 Vgl. Neumann 1888. 46 Vgl. Oberkrome 1993, bes. 41ff; vgl. auch Pinwinkler 2002.

Vgl. beispielsweise Pickl 1974, hier 109, in Bezug auf die „Eindeutschung" und „Umvolkung" der Kroaten in Niederosterreich im 18. Jahrhundert. Als aktuellen politischen Bezug vgl. hierzu auch „In der FPO .. .", vom 8.4.2004.

48 Vgl. Class 1910, 58. Vgl. Fahlbusch 1994, 272ff.

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zu, „die Spuren des versunkenen deutschen ,Volksbodens' im ehemaligen deutschen Sied-lungsgebiet" aufzudecken.^^

In der Praxis derartiger Forschungen konnten sich Zuschreibungen einer Jahrhunderte iiberdauemden Kontinuitat „rassischer" Eigenschaften widerspruchsvoll mit „realen" Wand-lungen der Strukturen von Siedlung und Bevolkerung verknupfen. Einer der in Kahlberg an-wesenden Wissenschaftler, der Volkskundler, „Sprachinselforscher" und Siedlungshistori-ker Walter Kuhn (1903-1983), suchte z. B. die Reste mittelalterlicher deutscher Siedlungen in Galizien aufzudecken, die im 15. und 16. Jahrhundert untergegangen und seither weitge-hend an das „Polentum" assimiliert worden waren. Kuhn beschrieb die „Entdeutschung" in Galizien wesentlich als Folge einer „biologischen" Krise „im ganzen deutschen Volke", des-sen bauerliche „Lebens- und Siedlungskraft" am Ende des Mittelalters versagt habe, so dass die Verbindung zwischen den Siedlem und ihrem Mutterland abgerissen sei. Gleichwohl seien auBer deutsch codierten Tugenden wie „Reinlichkeit, Ordnung, Wirtschaftstuchtig-keit" und ebenfalls als spezifisch deutsch bewerteten Agrarstrukturen auch gewisse „nor-disch-rassische" Merkmale selbst noch in jenen Dorfbewohnem erkennbar, deren Vorfahren damals sprachlich entdeutscht worden seien. ^

Als einflussreicher Multiplikator der „Umvolkung" spielte der Historiker Hans Joach-im Beyer, der in Danzig, Berlin und Prag als Hochschullehrer tatig war, eine Schliisselrolle. Dank seiner Stellung als Vertrauensmann des „Sicherheitsdiensts des Reichsfiihrers SS" (SD), dank seiner fuhrenden Rolle in der „Reinhard-Heydrich-Stiftung" in Prag^^ und auf-grund seiner Tatigkeit als Herausgeber der Vierteljahrsschrift „Auslandsdeutsche Volksfor-schung"^^, des Organs der „Arbeitsstelle fiir auslandsdeutsche Volksforschung", verfiigte Beyer iiber ein hohes Mafi an institutionellem Riickhalt, das es ihm erlaubte, die methodi-sche Ausrichtung dieses Diskurses maBgeblich mit zu gestalten.

Die von Beyer geleitete „Arbeitsstelle fur auslandsdeutsche Volksforschung" sollte bei ihrer ersten Tagung im August 1937 „den Umfang und die Art der Umvolkungsvorgange im deutschen Raum" " besprechen. AuBer Beyer und dem Bundesleiter des Verbands fur das Deutschtum im Ausland (VDA), Hans Steinacher, nahmen an den Beratungen u.a. auch die Historiker Hans Koch (1894-1959) und Harold Steinacker (1875-1965) sowie der Psycholo-ge Oswald Kroh (1887-1955) teil. Letzterer vertrat den Ansatz einer „biologischen Psycho-logic", die danach fragen sollte, wie der „Einzelmensch und Volksgruppen in der Spannung, in der sie leben, ihr Volkstum erhalten und sichem". Um der „Umvolkung" entgegen zu wir-ken, sollten alle jene Faktoren, darunter die Sprache, „die gegeniiber den werbenden und zwingenden Kraften der fremden Volkswelt Halt verleihen", gestarkt werden. Beyers und Steinackers Wortmeldungen standen dagegen im Zeichen der Propagierung eines „gesamt-deutschen GeschichtsbewuBtseins", das die „Auslanddeutschen" mit einbezog. Da ein derar-

50 H a a r 22002, 212ff. 51 Kuhn 1938, 25f. 52 Vgl. Wiedemann 2000, bes. 55ff. 53 Diese Zeitschrift war 1936 auf Betreiben der 'Deutschen Akademie' Miinchen (DA) und des Stuttgarter 'Deut-

schen Auslandinstituts' (DAI) gegrundet wurde. 1939/40 schied Beyer aus der in „Volksforschung" umbe-nannten Schriftleitung der Vierteljahresschrift wieder aus. Vgl. Mitteilung an die Bezieher! 1939/40, Vorsatzblatt.

54 Beyer 1937b.

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tiges Bewusstsein lange Zeit gefehlt habe, seien die „Begabungen" des deutschen „Volkes" ins Ausland abgeflossen, wodurch die „Entvolkung" iiberhaupt erst ermoglicht worden sei. ^

Die heuristische Isolierung „rassisch" wertvoUer Bestandteile des „Grenz- und Aus-landdeutschtums" aus dem fremden „Umvolk" wurde erst gegen Ende der 1930er Jahre Be-standteil historiographischer Forschungsprogramme. Deren theoretischen Grundlagen radi-kalisierten sich dann aber zunehmend. Unter Beyers Regie wurde das Thema im Gefolge der Stuttgarter Tagung seiner „Arbeitsstelle" erstmals in einen interdisziplinaren Verbund ge-stellt. Jiingere, meist dreiBigjahrige Forscher, darunter Historiker, Soziologen und Psycholo-gen, handelten es in kleineren und grofieren Einzelstudien vielfach ab.^^

Im interdisziplinaren Diskurs iiber „Umvolkung" war Beyer trotz seiner prominenten Rolle allerdings nur eine von mehreren Stimmen, und er war auch nicht der erste Historiker, der diese Thematik untersuchte. Die historiographische Beschaftigung mit dem Vorgang des „Ubergangs" von einem „Volkstum" zu einem anderen reichte innerhalb der Geschichtswis-senschaft, wie ich oben angedeutet habe, bereits langer zuriick. ' Ob allgemein als „Um-volkung" Oder in Bezug auf „konkrete" soziale, politische oder kulturelle Prozesse als „Ger-manisierung", „Entdeutschung" oder auch „Polonisierung" bezeichnet, war diesen Begriffen vor allem gemeinsam, dass sie meist nationalistisch aufgeladen und politisch gegen als feindlich deklarierte ethnisch-soziale Gruppen instrumentalisierbar waren.

Hermann Aubin (1885-1968), Adolf Helbok (1883-1968) und Harold Steinacker (1875-1965), in den 1930er Jahren die Ordinarien der deutschen Volkstumshistorie, interes-sierten sich in einem hohen MaB fiir den „Volkstumskampf * der „Grenz- und Auslanddeut-schen", den sie als andauemden Kampf um ihren biologischen Bestand deuteten. Aber auch weiter zuriick liegende geschichtliche Themen schienen sich als Projektionsflache fur teil-weise phantasmagorische Spekulationen zu eignen, deren sozialdarwinistische und eugeni-sche, „Auslese" und „Blut" beschworende semantische Farbung ebenso wenig zu tibersehen war wie ihre mangelnde empirische Fundierung. Dass „Volker" sich infolge von Wanderun-gen und Eroberungsziigen vermischt hatten, dass aufgrund interethnischen Konnubiums und Elitenwechsels ihr soziales Geflige neu strukturiert worden sei und dass derartigen Prozes-sen meist eine enorme kulturelle und politische Bedeutung innegewohnt habe, war in der traditionellen, staatsbezogenen Historiographie nahezu ein Gemeinplatz. Besonders die zah-lenmaBig umfangreichen Wanderungsbewegungen, wie sie sich beispielsweise in der soge-nannten „germanischen Volkerwanderung"^^ abspielten, zogen in Verbindung mit oft kurz-lebigen germanischen Staatsbildungen das Interesse gerade der staats- und „volksgeschicht-lich" orientierten Geschichtsschreibung auf sich. Beide Prozesse - sozialer Wandel infolge von Migration und Akkulturation und (friihe) Staatenbildung - diirften aber die Ebene einer liberwiegend deskriptiven Darstellungsweise kaum jemals verlassen haben.

Nicht etwa spezifische soziologische Begriffssysteme, die er induktiv aus dem histori-schen Stoff gewonnen hatte, gaben beispielsweise Hermann Aubin die Grundlage fiir seine Darstellung von „Germanisierung" und „Romanisierung" in der Spatantike. Aubin verglich

55 Vgl. Melching 1937. 56 Vgl. u.a. Beyer 1937a; GeiBler 1938b; Hopf 1938; Koch 1937; Kroh 1937; Schmidt-Rohr 1938; Weinelt

1938; Gierlichs 1939. Beyer gab femer die psychologischen Monographien Becks und GeiBlers (vgl. Anm. 30 u. 32) heraus, die als Hefte 1 und 2 der „Schriftenreihe der Stadt der Auslandsdeutschen" erschienen.

5" Vgl. exemplarisch Schulze 1896. 58 Zur Kritik an Begriff und Forschungstraditionen zu diesem Thema vgl. Pohl 2002.

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derartige Prozesse der Assimilation vielmehr mit den Zellteilungen und -vereinigungen in der Biologie. Dies erschien ihm offenbar als umso angemessener fiir die Schilderung spatan-tiker Assimilierungen zu sein, als die sozialen Beziehungen damaliger „Volkerschaften" aus seiner Sicht unmittelbar mit jenen „primitiver Lebensformen", eben von Zellkulturen, ver-gleichbar zu sein schienen.^^ Auch der Innsbrucker Historiker Harold Steinacker ging in spezifischer Weise auf die politische und soziale Krise der Spatantike ein. Er bezeichnete diese pauschal als das Ergebnis einer tiefgreifenden „Rassenmischung", die zur „Ausrottung der Besten" gefiihrt habe. Auch in der „germanischen" Volkerwanderung hatte sich unter-schiedliches Erbgut so vermischt, dass dem „deutschen Volk" viel wertvolles „Blut" verlo-ren gegangen sei.^^ Steinacker unterlieB es jedoch ebenso wie Aubin oder Helbok, die Be-grifflichkeiten von „Volkstumskampf' und „Volkstumswechser' „soziologisch" zu typolo-gisieren und als Gmndlage bevolkerungspolitischer Ordnungsmodelle in den historiographi-schen Diskurs zu implementieren. Den Umvolkungsbegriff lieBen sie noch weithin offen.

In Beyers Schriften bildete hingegen die Klarung der Zusammenhange von „Um-volkung" und „Leistungsauslese" - als verdeckte „Rassenauslese" - jenes methodische In-strument, um im „Volkstumskampf' verschiittete, rassisch „wertvolle" Elemente des deut-schen „Volkstums" aus seinem „fremdvolkischen" Umfeld zu isolieren. „Umvolkung" be-ginne stets als „Gesinnungswandel". Sie verandere den Rassencharakter und vollziehe sich fiir die Auslandsdeutschen sozial als „Aufstiegsassimilation". Sobald „Mischehen", etwa zwischen „Deutschen" und „Juden", eingegangen wtirden, werde die „Umvolkung" unum-kehrbar.^^ Jene Gruppen, die nicht in der Lage seien, sich im „UmschmelzungsprozeB" in ei-nem biologischen Sinn „anzupassen", wiirden folgerichtig „ausgesondert". Da sie „unfahig" seien, „die neue und hohere Lebensform zu verwirklichen", wiirden sie zu „Schlacken", die wie das „Judentum" notwendigerweise dissimiliert werden mussten.^^

Beyers insgesamt kaum zu tibersehende Vorreiterrolle bei der Implementierung der „Umvolkung" in historiographische Diskurse erfuhr durchaus akademische Anerkennung.^^ Inwiefem andere Volksforscher seinen theoretischer Zugang zu dieser Thematik aufgriffen und weiter entwickelten, ist bisher allerdings kaum systematisch untersucht worden. Der Danziger Archivar und Historiker Erich Keyser (1893-1968) beispielsweise ging auf seinen zeitweiligen Danziger Kollegen ebenso wenig ein wie einige von Keysers Schiilem und Mit-arbeitem.^^ Keyser behandelte die „Umvolkung" mehr „historisch-empirisch" als „soziolo-gisch-analytisch".^^ Moglicherweise ist das auch ein Grund dafur, dass Keyser die For-schung von Beyer offenbar nicht rezipierte und dass umgekehrt auch Beyer auf seinen His-torikerkollegen kaum einging. Qualifizierende Wertungen sozial-ethnischer Gruppen waren

59 Aubin 1938, 4ff. ° Vgl. Schader 1997. Derartige sozialdarwinistische und rassistische Erklarungsansatze stieBen teilweise auch

in der Alten Geschichte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf Interesse. Vgl. Weber 1996, 848. 61 Vgl. Beyer 1942, bes.3ff. 62 Beyer 1937, 1. 63 Roth 21999, 286f. 64 So erorterte Keyser die Darlegungen Beyers zur „Umvolkung" weder in seiner „Bevolkerungsgeschichte"

(siehe dazu unten), noch erwahnte er ihn in seinen Forschungsberichten zur „Bev6lkerungsgeschichte" oder in seinem Beitrag fur die Brackmann-Festschrift: Vgl. Keyser 1934, 1936, 1939, 1941, Neue Forschungen; ders. 1942, Erforschung.

65 Keyser riet der „Gesellschaftslehre", sich nicht „in unfruchtbare[n] Begriffsspaltereien" zu verlieren und stattdessen eine Sichtweise des Bevolkerungsprozesses zu entwickeln, die sich auf „die Fortpflanzung der Menschheit" konzentriere. Er grenzte sich dabei namentlich von Gunther Ipsen ab. Vgl. Keyser 1935,155f.

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bei Keyser vergleichsweise enger mit quantitativen, auch aus den Ergebnissen der amtlichen Statistik gewonnenen Daten verwoben als bei Beyer, der sich unerbittlich gegen die ver-meintliche „Statik" statistischer Auffassungen des „Volkstums" aussprach. Sowohl Beyer als auch Keyser war allerdings gemeinsam, dass sie die „Dynamik" des „Volkstums" aus rassistischer Sicht betonten. Die „Umvolkung" bildete gleichwohl einen integralen Bestand-teil von Keysers „Deutscher Bevolkerungsgeschichte", die als Buch in drei Auflagen 1938, 1941 und 1943 in standig erweiterten Fassungen erschien.

„Umvolkung" erschien in alien Auflagen dieser „Bev6lkerungsgeschichte" als eine Folge der Emanzipation der deutschen Juden im 19. Jahrhundert und verstarkter slawischer Einwanderung nach Deutschland. Diese habe die Zusammensetzung des deutschen „Vol-kes" grundlegend verandert: So sei etwa aufgrund der polnischen Migration ins Ruhrgebiet uber die Einheirat in deutsche Familien „viel nichtdeutsches Blut in den deutschen Volks-korper gelangt". Femer habe die zunehmende soziale Mobilitat eine engere verwandtschaft-liche Bindung von sozialen Schichten bewirkt, die sich vorher starker voneinander abge-grenzt hatten.^^ Keyser beschrieb die „Bevolkerungsgeschichte Deutschlands" als das „Fort-wirken altester Erbanlagen" unter den deutschen „Volksgenossen". Er betonte den Mythos der Bestandigkeit „deutscher Art", die umso „wunderbarer" sei, als es in der Geschichte zu einer vielfachen „Vermischung mit fremden Volksgruppen" gekommen sei. Stets seien da-bei jedoch gewisse soziale Grenzen beachtet worden. Heiraten zwischen „Deutschen" und „Juden" seien stets die Ausnahme gewesen. Diese Verhaltensweise, die im deutschen „Volk" seit urdenklichen Zeiten praktiziert worden sei, habe nur aufgrund staatlicher MaB-nahmen, etwa zur Forderung der Emanzipation der Juden, zeitweilig an Bedeutung einge-btiBt. ' In der dritten Auflage bezog sich Keyser unentwegt auf die Gefahrdung deutschen „Volkstums" aufgrund von „Umvolkung" und Zuzug von „Volksfremden". Aufgrund der „Versippung" von Deutschen mit Polen und Tschechen" seien viel „deutsches Blut und da-mit deutsche Erbanlagen und Eigenschaften verloren" gegangen".^^ In alien drei Auflagen des Buchs wurden qualifizierende Wertungen „deutschen" und „fremden Volkstums" auch aus quantitativen Angaben, insbesondere zur Wanderungsstatistik, abgeleitet. Die apologeti-sche Darstellung deutscher „Art" nahm zusammen mit der Darstellung vorgeblicher Erfolge „qualitativer", besonders antijiidischer staatlicher Bevolkerungspolitik an Gewicht zu. ^ Der logische Widerspruch zwischen Keysers Behauptung einer iiberzeitlichen „Bestandigkeit deutscher Art" und dem vorgeblichen Eindringen „fremder" Erbanlagen in das deutsche „Volkstum" liefi sich jedoch nicht auflosen, er verscharfte sich sogar.

Nach dem Ende des „Dritten Reiches" erlebte Keysers „Bev5lkerungsgeschichte" kei-ne weitere Auflage mehr. Ihr Verfasser beschaftigte sich gleichwohl weiterhin mit „Um-volkungen", die er „zu den bedeutsamsten Vorgangen der Bevolkerungsgeschichte" zahlte. Gerade auf dem Hintergrund der jungsten deutschen Geschichte musste es zumindest als fragwtirdig erscheinen, dass Keyser den Einfluss derartiger „Vorgange" auf „Veranderun-

66 Keyser 1938, 337f. 67 Ebd., 2. Aufl. 1941,455; 454. 68 Ebd., 3. Aufl. 1943, 555f. 69 Keyser nahm in die zweite Auflage seines Buchs ein Kapitel „Die Unsterblichkeit des deutschen Volkes"

(452ff) neu auf. In der dritten Auflage ist der Abschnitt „Die Gefahrdung des Volkstums durch Umvolkung und Zuzug von Volksfremden" (55Iff.) nahezu voUstandig umgearbeitet und das Kapitel „Die nationalsozia-listische Bevolkerungspolitik" (572ff) neu in das Buch aufgenommen.

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gen im Volkerleben" im Vergleich zu Praktiken des Genozids und der Vertreibung in der Geschichte in scheinbar „weltgeschichtlicher" Verallgemeinerung offen aufzuwerten suchte. In einem Artikel iiber den „Deutschtumsverlust in WestpreuBen", der auf seine Studien aus der Kriegszeit zuriickging^^ und 1961 im Druck erschien, versuchte er Abwanderung, wie-derholte „Um-" und „Ruckvolkungen" in dieser Region voneinander abzugrenzen und ihre Relationen statistisch zu bestimmen. Mittels vergleichender Auswertungen, die er anhand von zeitgenossischen Volkszahlungen vomahm, kam er dabei zu dem annaherungsweisen Ergebnis, dass der „Deutschtumsverlust" in WestpreuBen im fraglichen Zeitraum mit 75% auf Abwanderung und mit 25% auf „Umvolkung" zuriickzufiihren sei. ^

Wahrend Beyer sich darauf konzentrierte, Entstehungszusammenhange und Wirkkrafte der „Umvolkung" allgemein zu untersuchen, suchte Keyser das Verhaltnis zwischen „deut-schen" und „fremden" Anteilen im deutschen „Volk" anhand bevolkerungsstatistischer Da-ten empirisch aufzuschltisseln. Keyser wandte sich unmissverstandlich gegen solche ge-schichtswissenschaftlichen Studien, die diese Fragestellung „zu soziologisch" behandeln wurden.^^ Obwohl die beiden Historiker also durchaus unterschiedlich an ihre Thematik he-rangingen, war ihnen doch gemeinsam, dass sie sich dieser Fragestellung jeweils aus einem rassenkundlich determinierten, makroskopischen Blickwinkel widmeten, wobei sie dem Verhaltnis des deutschen „Volkstums" zu seinem slawischen „Umvolk" ihr groBtes Augen-merk zuwandten. Nicht zuletzt von Beyer geforderte Studien, meist Zeitschriftenartikel, die aus studentischen Qualifikations- oder Preisarbeiten hervorgangen waren, verfolgten hinge-gen haufig eine betont regionale oder lokale Fragestellung, oder sie neigten dazu „theoreti-sche" und „empirische" Perspektiven miteinander zu verbinden:

Eine regionale Fragestellung verfolgte beispielsweise eine bevolkerungsgeschichtlich und bevolkerungssoziologisch argumentierende Dissertation Dietrich von Oppens (geb. 1912) tiber „Die Umvolkung in WestpreuBen", die 1942 an der Universitat Innsbruck appro-biert wurde.' ^ Ihre Gutachter waren Theodor Schieder (1908-1984), der zu dieser Zeit in In-nsbruck eine Vertretungsprofessur innehatte, und Harold Steinacker. Als eigentlicher „Dok-torvater" von Oppens kann allerdings Gunther Ipsen gelten, der zur Zeit seiner Promotion gerade im „Fronteinsatz" stand7^

Von Oppen verkntipfte die „Umvolkung" kausal mit spezifischen Formen der west-preuBischen Siedlungsweise, die er gezielt nach ethnischen Gesichtspunkten darstellte: In WestpreuBen habe landliches Bevolkerungswachstum im spaten 19. Jahrhundert eine „Ver-dichtung im landwirtschaftlichen Lebensraum" hervorgerufen, auf die Deutsche und Polen jeweils anders reagiert hatten. Sie seien damit ihrem jeweiligen Volkscharakter gefolgt. Wahrend die Deutschen zunehmend in die Stadte abgewandert seien, sei der polnische Zu-wachs groBtenteils auf Landgemeinden entfallen. Die Polen hatten sich dort das Kleinge-werbe „erobert", wobei sie jiidische Handwerker verdrangt hatten. Polnische Versuche, auch in die Fuhrungsschichten der deutsch beherrschten stadtischen Industrie einzudringen, seien hingegen misslungen. Industriearbeit sei fiir sie namlich „nur ein Weg zur Erweiterung und

70 Keyser 1961, 25. 71 Ebd., bes. 65, 66, 78f.

So bewertete Keyser z. B. von Oppens Studie iiber „Umvolkung" (siehe dazu Anm. 73). Vgl. Klingemann 2002, 195f. Vgl. von Oppen 1942. Zur Frage der Promotion von Oppens vgl. Ahlheim 2000, 66ff.

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Verbesserung ihrer landlichen Existenz" gewesen. Dagegen sei „alle wirkliche Kultur" den Polen im Laufe ihrer Geschichte durch die Deutschen vermittelt worden. Erst jetzt, 1942, trete den Polen „ein liberlegener deutscher Gestaltungswille" entgegen. „Heute" sei es nicht mehr notwendig, den Polen gegenuber „ein Anrecht auf diesen Raum zu begriinden".' ^ Die-se Studie wurde erst 1955 unter dem Titel „Deutsche, Polen und Kaschuben in WestpreuBen 1871-1914"^^ gedruckt, wobei von Oppen Textstellen, die ihm kompromitierend zu sein schienen, beseitigte. Aus demselben empirischen Material zog er jetzt allerdings vollig an-dere Schltisse: Wahrend er 1942 den deutschen Anspruch auf Telle Polens mit dem deut-schen „Ordnungswillen" begriindet hatte, der unter der preuBischen Herrschaft lange zu ver-missen gewesen sei, stellte er dreizehn Jahre spater die preuBische Verwaltung Westpreu-Bens ins helle Licht der Toleranz, die die polnische Ausbreitung erst ermoglicht habe.^^

Von Oppen bekleidete nach dem Krieg wichtige akademische Amter. Seit 1950 in der „Sozialforschungsstelle der Universitat Miinster" in Dortmund tatig, war er 1960-1980 Pro-fessor am Seminar fur Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie der Universitat Marburg. In seiner aktiven Zeit gait von Oppen als ein „eher liberaler" Hochschulpolitiker und „Studienreformer"7^ Erst 1995 machte der Marburger Erziehungswissenschaftler Klaus Ahlheim auf die „verschwundene" Dissertation von Oppens aufmerksam. Ahlheim argu-mentierte, dass antisemitische und antipolnische Textstellen in dieser Doktorarbeit nicht bloB als ein Zugestandnis an den zeitgemaBen Ungeist zu werten sind, wie ihr Verfasser und dessen Verteidiger aus dem Marburger Kollegenkreis in Reaktion auf Ahlheim ins Treffen fuhrten, sondem im Gegenteil in dem von ihrem Autor spater so bezeichneten statistischen „Kem" dieser Arbeit selbst begriindet lagen.' ^

Neben von Oppen ist hier vor allem auf Max Aschkewitz (1901-1972) einzugehen, des-sen Forschungsschwerpunkt auf der Siedlungs- und Bevolkerungsgeschichte WestpreuBens lag. Aschkewitz stammte aus Dorpat in Estland. Er war Gymnasiallehrer im estlandischen Pemau, ehe er 1939 fur die deutsche Staatsangehorigkeit optierte und anscheinend in den Reichsgau Danzig iibersiedelte.^^ 1940-45 arbeitete Aschkewitz als Assistent Erich Keysers an der „Forschungsstelle fur westpreuBische Landesgeschichte" in Danzig-Oliva.^^ Er ver-fasste damals u.a. Studien zu den Themen „Die Juden in WestpreuBen", „Die Kaschuben" und zu „Abwanderung und Umvolkung von 1910-1931", die vor dem Kriegsende offenbar ungedruckt geblieben sind.^^ Gemeinsam mit Keyser arbeitete er femer an einem Manus-kript tiber „Die Volksgruppen im Reichsgau Danzig-WestpreuBen und ihre Veranderung in den Jahren 1910-1940". Der fur Keyser und Aschkewitz zentrale Begriff ihrer Studie, den

75 Vgl. von Oppen 1942, 18ff., 23, 26, 33, 40, 58, 91f, lOlf. 76 von Oppen 1955, 157ff. 77 Vgl. Ahlheim 2000, 53f. 78 Ebd.,53,31. 79 Von Oppen, der 1933 in die SS und 1937 in die NSDAP eingetreten war, entschuldigte sich 1995 offentlich

fur antisemitische AuBerungen in seiner Doktorarbeit. Zu den kritisierten Stellen seiner Dissertation vgl. ebd., 36f, 63f.

8 Bundesarchiv (BArch), Einwandererzentralstelle Gotenhafen, div. Dokumente zum Einbiirgerungsantrag Dr. Max Aschkewitz v. 27.10.1939.

8 In einer „Eidesstattlichen Erklamng", die Aschkewitz nach dem Krieg verfasste, hob er hervor, dass er damals „der engste Mitarbeiter von Prof. Dr. Erich Keyser" gewesen sei. Aschkewitz o.J., Herder-Institut. . . .

82 Aschkewitz durfte von Oppens Dissertation gekannt haben, da sie in der selben Liste von Keysers Schulerar-beiten zitiert wird, in der Aschkewitz' Studien erwahnt sind. J. G. Herder-Institut Marburg, Teilnachlass E. Keyser; Schreiben von Dr. Peter Worster an den Vf. vom 19.07.2002.

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sie in die vier Kategorien „freiwillige" oder „erzwungene", „scheinbare" oder „tatsachliche" „Umvolkung" aufgliederten, verwendeten sie synonym mit „Deutschtumsverlust". Diesen versuchten sie annaherungsweise zu schatzen, indem sie Abwanderung und Geburtennick-gang jeweils nach ethnischen Kriterien aufgliederten und als Variablen in ihren Berechnun-gen des zahlenmaBigen Zu- und Abflusses zu, von und zwischen den „Volkstumem" be-riicksichtigten.^^

Auch in Aschkewitz' veroffentlichten Studien, die in der NS-Zeit entstanden, spielte die Problematik des Ubergangs von einem zu einem anderen „Volkstum" jeweils im Kon-text der regionalen Siedlungsgeschichte eine Rolle. In seiner Arbeit „Die Bevolkerung im stidostlichen Pommerellen vom 13.-18. Jahrhundert" bezeichnete er die katholische Kirche als jene gesellschaftliche Kraft, die seit dem 16. Jahrhundert die Voraussetzungen fur die „Polonisierung der noch nicht angeglichenen pomoranischen und deutschen Bewohner des Landes" geschaffen habe. „Volkische Einheitlichkeit" sei somit durch die Zuriickdrangung der Evangelischen in der Gegenreformation, die zumeist mit den Deutschen identisch gewe-sen seien, erzielt worden. " In der „Geschichte des Dobriner Landes" seien die einst bevor-rechteten deutschen Siedler gleichfalls im 16. Jahrhundert stark dezimiert worden, wobei wirtschaftliche Grunde hierfiir ausschlaggebend gewesen seien. Die Deutschen seien von den lokalen GroBgrundbesitzem namlich so sehr ausgebeutet worden, dass viele von ihnen ihren Besitz aufgeben mussten und mit der „schollenpflichtigen polnischen Bauemschaft" verschmolzen seien.^^

Aschkewitz betatigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg neuerlich in Kreisen bundes-deutscher „Ostforscher".^^ 1963 veroffentlichte er eine Studie „Zur Frage der Umvolkung in WestpreuBen im 19. und 20. Jahrhundert", die in der Festschrift zu Erich Keysers 70. Ge-burtstag erschien. Sie wurde dort im Inhaltsverzeichnis unter der Rubrik „Zur Bevolke-rungsgeschichte" zitiert. Aschkewitz verwendete hier die Zahlen der Deutsch sprechenden Katholiken und der Zweisprachigen, die er aus der preuBischen Nationalitatenstatistik ge-wann, als entscheidende Indikatoren, um die Anzahl der „zwischen dem Deutschtum und Polentum Schwankenden" in WestpreuBen zu eruieren. Diese nationale „Zwischenschicht" grenzte er anhand der amtlichen Sprachenstatistik so von „Deutschen" und „Polen" ab, dass diese zunachst als homogen und in sich geschlossen erschien. Er vermutete jedoch, dass es sich bei den (landlichen) Deutsch sprechenden Katholiken um einen Personenkreis handeln wiirde, „der durchaus noch nicht vollstandig dem Deutschtum gewonnen war, der vielmehr erst im Begriff war, sich dieser Volksgruppe anzuschlieBen". Hingegen wiirde es sich bei den Zweisprachigen um „eine Art Vorstufe zu den im Anfangsstadium der Angleichung be-fmdlichen deutschsprechenden Katholiken" handeln. ' Seine Monographie „Zur Geschichte der Juden in WestpreuBen", die, von Keyser angeregt, im Jahr 1967 gedruckt wurde, war in ahnlicher Weise bevolkerungsstatistisch angelegt. Aschkewitz untersuchte hier die Wande-rungsbewegung der Juden, wobei er deren Ursachen in politischen MaBnahmen und wirt-schaftlichen Verhaltnisse erblickte.^^

^ Keyser u. M. Aschkewitz [o. J.], bes. 22f. ^ Aschkewitz 1942, 155ff., hier 170. 85 Aschkewitz 1943, 287. 8 Vgl. etwa Aschkewitz 1952, 567, in der er u.a. behauptete, dass „ini Weichsellande" „eine ununterbrochene

Linie deutschen Blutes seit dem Mittelalter" nachweisbar sei. 87 Aschkewitz 1963, 317, 323f.

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Im Gegensatz zur Dissertation von Oppens durften sich in den veroffentlichten Studien Aschkewitz' antisemitische Anspielungen und offene rassistische Aussagen kaum nachwei-sen lassen.^^ Der deutsche politische und kulturelle Fuhrungsanspruch gegenuber den Polen und die angebliche administrative „Unfahigkeit" des fruhmodemen polnischen Staates er-schienen hingegen als so selbstverstandlich,^^ dass Aschkewitz sie nicht eigens thematisier-te. Es lasst sich aber wohl mit Recht die Frage stellen, ob sich nicht schon hinter derartigen als „naturlich" wahrgenommenen Zuschreibungen ethnozentistisch motivierte Diskriminie-rung und somit deutschtiimelndes Uberheblichkeitsdenken verbargen. Was nun Aschkewitz' Studien zur „Assimilation" - in durchaus zeittypischer Weise - so statisch erscheinen lieB, war vor allem, dass er ethnisch festgeschriebene soziale Gruppen stets auf ein bestimmtes, nach auBen hin abgrenzbares „Volkstum" festzulegen suchte, gleichgiiltig, welche Identita-ten im zeitlichen Verlauf ihrer „Angleichung" gerade die Oberhand gewonnen zu haben schienen. Wohl erfasste er diese in diachroner Sicht; die „reale" historische Bandbreite des synchronen Nebeneinanders vielfaltig miteinander verwobener lokaler, regionaler, sozialer und ethnischer Identitaten, die er als solche auch nicht reflektierte, hatte Aschkewitz mit be-volkerungsstatistischen Mitteln allein wohl kaum sichtbar machen konnen.

III. „Umvolkung" in historiographischen Ordnungsentwiirfen zu „Europa"

Inwieweit „volkische" Wissenschaftler oder Historiker im „Dritten Reich" auf politische Entscheidungen einwirkten, kann hier - wie ich in der Einleitung betont habe - nicht genau-er ausgelotet werden. Es diirfte sich jedoch als unstrittig festhalten lassen, dass sich diskursi-ve Vemetzungen zwischen Wissenschaft und Politik bereits etabliert batten, ehe das Um-volkungsszenario im deutschen „Ostkrieg" 1939/41-45 groBe Telle Europas umspannende grausame Wirklichkeit wurde.^^ Wenn Historiker die deutsche Vorherrschaft in Europa ge-schichtlich und geopolitisch zu legitimieren trachteten, griffen sie haufig auf Versatzstucke von „Mitteleuropa"-Utopien zuruck, die ihrerseits auf eine langere Vorgeschichte zuriickbli-cken konnten.^^ Je verworrener und aussichtsloser die Lage an den Fronten im Verlauf des Krieges wurde, desto groBere politische Bedeutung wurde zudem „germanischen Stammes-verwandten" des deutschen „Volks", aber auch slawischen „Hilfsv6lker" wie den Ukrainem eingeraumt, die eigenthch als rassisch „minderwertig" gegolten batten.

Hans Joachim Beyer begriindete die semantische Aufwertung „slawischer" Bevolke-rungsgruppen mit dem Hinweis auf ihren seit dem 19. Jahrhundert wachsenden zahlenmaBi-gen Anteil an der europaischen Bevolkerung, der sich seit dem 19. Jahrhundert laufend er-hoht habe. Biologische „Dynamik" und machtpolitische Bedeutung einzelner „Volker" gin-gen in dieser Deutung der europaischen Bevolkerungsentwicklung Hand in Hand. Eine der-artige Sichtweise legitimierte unverkennbar aktuelle deutsche Machtinteressen, die ihrer-

88 Aschkewitz 1967, bes. 228ff. 8 Uber Aschkewitz' ungedmckte Manuskripte vermag ich aber umso weniger ein diesbeziigliches Urteil abzu-

geben, da sie zum GroBteil noch unbearbeitet im Herder-Institut Marburg liegen. ^ Vgl. Aschkewitz 1942, 162; ders. 1943, 300. 91 Vgl. Mommsen 1994, 68-8; Heinemann 2003, bes. 591ff. 92 Vgl. Le Rider 1994, bes. 12ff.

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seits aufgrund des Kriegsverlaufs in einen offenen Widerspruch zur nationalsozialistischen Rassedogmatik geraten waren. Das „groBere Mitteleuropa" bezog sich laut Beyer im we-sentlichen auf jenen geographischen Raum, der um 1941/42 im deutschen Machtbereich lag. Dieses Gebiet beziehe sein wachsendes politisches Gewicht aus seiner im europaischen Ver-gleich groBeren Bevolkerungsvermehrung, deren „starkste Kraftquelle" vom „deutschen Volke und seinen Stammesverwandten", die slawischen Ukrainer mit eingeschlossen, aus-gehe.^^ Um die mitteleuropaische Ordnung neu aufbauen zu konnen, miissten sowohl der „militante Katholizismus" als auch das „nationalliberale Judentum", die jene im 19. Jahr-hundert im Wege der „Umvolkung" deutscher Krafte zerstort hatten, iiberwunden werden. Sein forcierter Analogieschluss vom „Auflosungs- und tJberfremdungsvorgang" des 19. Jahrhunderts bin zu aktuellen Bedrohungsbildem, wie sie sich aus dem Kriegsverlauf ablei-ten lieBen, bewog ihn offensichtlich dazu, ein „groBeres Mitteleuropa" als einen „biolo-gisch" konstituierten Raum zu beschreiben. Dieser sei kulturell bereits im 18. Jahrhundert angelegt gewesen^"* und werde jetzt unter deutschen Vorzeichen politisch verwirklicht. Je starker „Anierikanismus" und „Bolschewismus" im Verlauf des Krieges dieses Konzept zu bedrohen schienen,^^ umso heftiger schrieb Beyer gegen die nordamerikanische Idee und Praxis des „Melting pot" unterschiedlicher Nationen und Kulturen an, die ihm als Beispiel einer wirren Vermengung rassisch heterogener ethnischer Gruppen gait. Beyer wollte die von ihm perhorreszierte Verschmelzung „Artverwandter" und „Artfremder" im Unterschied zur „Assimilation", die sich „im Umkreis artverwandter Volker" vollziehe, als „Amalgama-tion" bezeichnet wissen.^^

Szenarien einer politisch-kulturellen Gefahrdung des „abendlandischen" Europas, wie sie deutsche Historiker, Publizisten und Politiker schon im Zweiten Weltkrieg vielfach em-phatisch beschworen hatten, lebten in der Zeit des „Kalten ICrieges" in teils stark modifizier-ter Weise wieder auf. Prononcierter Antikommunismus und Amerikaskeptizismus konnten, obzwar die politischen Rahmenbedingungen sich grundlegend geandert hatten, auf mental teilweise tief verwurzelten Angsten aufbauen, die schon zuvor in Kreisen deutscher Gelehr-ter auf Resonanz gestoBen waren. "

Hans Herzfeld (1892-1982) etwa, der in der Nachkriegszeit einer der einflussreichsten bundesdeutschen Historiker war, beschrieb 1956 die politische Teilung Europas, wie sie durch die Ost-West-Konfrontation ausgelost worden war, wortlich als eine „brutale Enteuro-paisierung ganzer Volker". Die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs in Ostmittel-und Sudosteuropa habe zur Folge, dass der Weltfrieden „auf die Dauer unendlich schwerer" bedroht sei als seinerzeit „durch die Mangel und Schwachen des Systems von Versailles." Aber schon das Minderheitenrecht des Volkerbunds sei „nur eine Ubergangsstufe zur end-giiltigen Assimilation der Minderheiten an das Staatsvolk" gewesen. Assimilation und Inte-gration, „die in Konformitat des Volkstums endete wie in den groBen kontinentalen Flachen-staaten Nordamerikas und RuBlands", sei aber nicht jenes zu favorisierende Modell, das in der Lage sei die Grenzprobleme Ostmitteleuropas zu losen. Dort hatten sich die „verschiede-

93 Vgl. Beyer 1943b, 42f. 9 Vgl. ebd., 40ff, 15, u. Emstberger 1944, 114f. Beyer entnahm die statistischen Daten, die er ftir seine „demo-

graphische" Konstruktion „Mitteleuropas" heranzog, der Studie von Haufe 1936. 9 Vgl. hierzu auch Leibbrandt 1939. 96 Beyer 1943a, 204. 97 Vgl. hierzu auch Loth 1995.

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„Assimilation" und „Dissimilation" in der „Bevolkerungsgeschichte" 43

nen beteiligten Volksgruppen" zu vielschichtig gemischt, beriihrt und gegenseitig durch-drungen.^^ Ahnliche Worte fand Theodor Schieder schon 1951, als er die „Bolschewisie-rung" in Ostmitteleuropa unter AuBerachtlassung der nationalsozialistischen Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Vemichtungspolitik als die „gewaltsamste Assimilierung der modemen Geschichte" anprangerte, zugleich aber den amerikanischen Weg der Integration als in Eur-opa „ungangbar" bezeichnete.^^

Die raumliche und ethnische Mischungslage der Bevolkerung in Ostmitteleuropa schien bei Herzfeld und Schieder nicht mehr wie beispielsweise bei Hans Joachim Beyer eine soziologische Tatsache zu sein, die nur durch eine „rassische" Privilegierung des „deut-schen" Elements bei gleichzeitiger dissimilatorischer „Herauslosung" von Juden und Polen prolongiert. Ostmitteleuropa wurde hingegen als „Zwischeneuropa" gegen die rivalisieren-den politischen Blocke gestellt, seien sie sowjetisch oder US-amerikanisch dominiert. So-wohl der amerikanische „Melting pot" als auch das sowjetische Integrationsmodell ftihrten in dieser Sicht unweigerlich zu „Amalgamation" (Beyer) bzw. zu einer Unterschiede nivil-lierende Gleichmacherei der „Volker", die auBerst negativ bewertet wurde. Die Folge sei eine ungeliebte „Konformitat des Volkstums" (Herzfeld), wodurch wiederum die ethnische Spezifik des ostmitteleuropaischen Raums, die von der europaisch-abendlandischen Kultur nachhaltig gepragt sei, beschadigt oder gar unwiderruflich zerstort wiirde.

IV. Resiimee

Die in deutschen soziologischen, psychologischen oder volkskundlichen Forschungen im Untersuchungszeitraum des vorliegenden Artikels weit verbreitete Praxis, zwischen Grup-pen, die normativ als ethnisch voneinander distinkt beschrieben wurden, anhand sozio-de-mographischer Zuschreibungen zu differenzieren, lasst sich auch in deutschen historiogra-phischen Texten kontinuierlich beobachten. Das besondere Interesse von Historikem gait in der Regel nicht in erster Linie theoretischen Erklarungsmodellen zur „Assimilation", son-dem mehr „empirisch" angelegten Untersuchungen der Stabilitat bzw. Transzendierung so-zialer oder kultureller Grenzen zwischen „Deutschen", „Slawen" und „Juden". Vorgange der „Assimilation", des „Volkstumswechsels" oder der „Umvolkung", die sich ursachlich mit Migrationen und familialer Vemetzung verkntipfen lieBen, entwickelten sich innerhalb der Historiographie seit den 1930er Jahren zu einem intensiv und mit groBem personellen Aufwand betriebenen, sukzessive weiter entwickelten Untersuchungsfeld.

Die von Soziologen und Psychologen thematisierte Genese ethno-sozialer Gruppen, die zwischen den „Volkem" stunden („Schwebendes Volkstum"), bewog auch Historiker, For-schungsfragen zu formulieren, die damals vielfach als neuartig erachtet wurden. Fur die „re-ale" Transzendierung sozial-ethnischer Grenzen schien das dichotomische Konzept von „Umvolkung" und „Entvolkung" bzw. von „Assimilation" und „Dissimilation" ein hinrei-chendes Erklarungsmodell zu bieten. Dieses sollte es erlauben, Praktiken sozialer Verflech-tung theoretisch zu reflektieren, statistisch-empirisch zu belegen und zudem in Kontexten angewandter Wissenschaften fiir bevolkerungspolitische Zwecke nutzbar zu machen.

98 Herzfeld 1962, 227, 226, 223. 99 Vgl. Schieder 1952, bes. 179ff.

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War die soziale Differenzierung zwischen ethnischen Gruppen noch um 1900 iiberwie-gend sprachlich-kulturell konnotiert, so wandelte sich dieser Zugang in historiographischen Diskursen spatestens im Lauf der 1920er und 1930er Jahre grundlegend: „Rasse", „Blut" und „Leistung" beanspmchten nunmehr jene qualitativen Kategorien zu sein, anhand derer distinkte Bevolkerungsgruppen hierarchisch voneinander abgegrenzt werden sollten. „Be-volkerungsgeschichtlich" gestutztes Bin- und Ausgrenzen des „Eigenen" und des „Frem-den" trug nicht zuletzt dazu bei, „dissimilatorische" Varianten von Bevolkerungspolitik dis-kursiv vorzubereiten, die sich im deutschen „Ostkrieg" 1939-45 real durchsetzten und in der Vemichtung der europaischen Juden kulminierten.

Nach 1945 verlor die „Rasse" in historiographischen Erklarungsmodellen der „Assimi-lation" in Ostmittel- und Stidosteuropa zwar weitgehend an Bedeutung, und auch das Ideo-logem „Umvolkung" wurde in derartigen Zusammenhangen in einem geringeren Mafi ver-wendet. Aufbauend auf antikommunistischen, amerikaskeptischen und zivilisationskriti-schen Ideen, die deutsche Historiker wahrend der nationalsozialistischen Ara weiter entwi-ckelt batten, lebte aber im „Kalten Krieg" neuerlich ein Diskurs zu dieser Thematik auf. Die-ser wurde freilich in spezifischer Weise modifiziert und an aktuelle politische Gegebenhei-ten angepasst. Westdeutsche Historiker richteten sich damals haufig gegen bestimmte Ten-denzen in der zeitgenossischen sowjetischen AuBenpolitik, der sie die Untergrabung einer geschichtlich gewachsenen „Ordnung", insbesondere in Ostmitteleuropa, vorwarfen. Als Projektionsflache historiographisch begriindeter Bilder des „Ostens" kam diese Region inso-fem diskursiv neuerlich ins Spiel, auch wenn sich „Deutschland" kaum mehr emphatisch als kiinftige (mittel-) europaische Ordnungsmacht beschworen liefi. Stattdessen sollte das euro-paische „Abendland" zu einer geistesgeschichtlichen Leitmetapher werden, deren Imple-mentierung in geschichtspolitische Diskurse es erlauben sollte, der behaupteten politisch-kulturellen „Bolschewisierung" Ostmitteleuropas ideologisch entgegen zu wirken.

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Zwischen Feindschaft und Familie - Eine Skizze zu Bevolkerungspolitiken in Frankreich vom Ende der III. Republik bis zur Vichy-Zeit -

Petra Overath

I. Einleitung und Fragestellung

Im Dezember 1933 analysierte Femand Boverat in einem Zeitungsartikel eine Reihe von be-volkerungspolitischen Gesetzen, welche die nationalsozialistische Regierung Hitlers seit Ja-nuar desselben Jahres in Kraft gesetzt hatte.^ Der Nationalist Boverat stand der franzosi-schen privaten, einflussreichen Vereinigung Alliance nationale pour I 'accroissement de la population als Generalsekretar vor. Die Mitglieder der Alliance beobachteten seit der Ver-einsgriindung im Jahre 1896 sorgenvoU die quantitative demographische Entwicklung Frankreichs und engagierten sich durch Propaganda sowie politische Lobbyarbeit fiir MaB-nahmen zur Steigerung der Geburtenrate in Frankreich.^ Diesem Interesse der Alliance ent-sprechend diskutierte Boverat in seinem Artikel jene Gesetze und Verordnungen in Deutsch-land, die aus seiner Sicht zu einem Anstieg der Geburtenziffem fiihren konnten. In diesem Sinne erfolgversprechend hob er etwa das Gesetz vom 5. Juli 1933 hervor, das Ledige durch die Erteilung eines zinslosen Darlehens bei Heirat zur EheschlieBung ermuntern sollte. Kommentarlos verwies er auf die Bedingungen, die an ein solches Darlehen gekntipft wa-ren: Die zukunftigen Eheleute mussten - um ein Anrecht auf das staatliche Darlehen zu er-halten - unter anderem „arischer Rasse" sein sowie durch ein arztliches Attest nachweisen, dass sie weder an einer physischen noch geistigen Erbkrankheit litten. Fiir auBerst sinnvoll erachtete Boverat auch jene nationalsozialistischen MaBnahmen, die darauf abzielten, Frau-en aus der Erwerbsarbeit abzuziehen, damit sie ihre Aktivitaten auf den Familienhaushalt konzentrierten. Dazu zahlte etwa die nationalsozialistische Initiative den Arbeitsinspektoren aufzutragen, all' jenen Frauen den Ausstieg aus dem Arbeitsleben nahe zu legen, die dann von einem arbeitslosen Mann ersetzt sowie vom eigenen Ehegatten emahrt werden konn-ten.^

Obwohl Boverat genau wie die meisten Mitglieder der erwahnten Alliance nationale Deutschland seit Jahrzehnten als politischen Feind sah, fiel seine Bilanz zur NS-„Geburten-politik" - so betitelte er die bevolkerungspolitischen MaBnahmen der Nazis - , durchaus po-sitiv aus: „Die Regierung Hitlers hat sich nicht nur mit Propaganda begniigt. Sie hat viel-mehr dariiber hinaus auch konkrete MaBnahmen ergriffen, um Anreize zur Heirat, zur Ge-burt und zur Riickkehr der Frau in den Haushalt zu schaffen."^ Offensichtlich kamen die in Bezug auf Frauen, Ehe sowie Familie eugenisch-rassistischen Politiken der NS-Regierung

^ Boverat im Bulletin der Alliance nationale pour I 'accroissement de la population frangaise, Dezember 1933, in: Ronsin 1980, 206.

2 Zu Aktivitaten und Mitgliedem der Alliance, siehe Thebaud 1985. 3 Boverat, Bulletin, in: Ronsin 1980, 206. ^ Ebd.

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den sozialen Ordnungsvorstellungen des Vorstands dor Alliance in vielen Punkten entgegen. Vor allem aber versprachen diese Politiken transferierbare MaBnahmen zur Losung des -aus Boverats Sicht - schon seit vielen Jahren zentralen politischen Problems Frankreichs zu liefem: dem Problem des Geburtenrtickgangs.

Als Boverat im Jahre 1933 den Geburtenriickgang in Deutschland und Frankreich im Vergleich reflektierte, benutzte er zum Teil altere, im politischen und wissenschaftlichen Diskurs seit langem verbreitete Argumentationsmuster. So interessierten sich franzosische Wissenschaftler und Politiker schon seit Jahrzehnten fur die demographische Entwicklung in Deutschland, verglichen Geburten- und Sterberaten und hoben immer wieder die quanti-tative Uberlegenheit der Deutschen gegeniiber den Franzosen hervor. Eher ungewohnlich war in Boverats Artikel aber die detaillierte Diskussion von gesetzlichen MaBnahmen zur Bevolkerungspolitik, die man in Deutschland ergriffen hatte: Bis zur Machtergreifung Hit-lers batten bevolkerungspolitische Gesetze kaum Beachtung bei Wissenschaftlem und Poli-tikem in Frankreich gefiinden. Vielmehr meinten letztere, dass Gesetze zur Anhebung der Geburtenrate vor allem in ihrem eigenen Staat notwendig seien, weniger aber in Deutsch-land.5

Das Interesse in Frankreich an einer spezifischen Ebene deutscher Innenpolitik, eben an den MaBnahmen gegen den Geburtenriickgang, mochte ich im folgenden genauer analysie-ren. Dazu gehe ich im anschlieBenden zweiten Abschnitt der Frage nach, in welchen Kon-texten der Geburtenriickgang in Frankreich auf die politische Agenda geriickt war, wie das Untersuchungsobjekt und politisch-soziale Problem des Geburtenruckgangs somit konfigu-riert war, und welche Rolle Deutschland dabei als militarischer Feind spielte. Vor diesem Hintergrund untersuche ich exemplarisch drittens einige zentrale bevolkerungspolitische Gesetze in Frankreich von der spaten III. Republik bis zur Vichy-Regierung, die zum Teil unter Bezugnahme auf NS-Gesetze diskutiert wurden. Unter Ankniipfung an die jiingere franzosische Forschungsliteratur^ argumentiere ich dabei, dass die weit verbreitete Sorge um den Geburtenriickgang in Frankreich die Ausrichtung zahlreicher bevolkerungspolitischer MaBnahmen maBgeblich pragte. Dariiber hinaus werde ich zeigen, dass Wissenschaftler und Politiker bei der Legitimation bevolkerungspolitischer MaBnahmen an altere Denkmuster ankniipften: Auf einer auBenpolitischen Ebene an Denkmuster der Feindschaft und Rivalitat mit Deutschland, auf einer innenpolitischen Ebene an Denkmuster der (katholischen) Fami-lie. Letztlich implementierten Politiker in Frankreich, selbst in der Vichy-Periode, bis auf eine Ausnahme keine direkt anwendungsorientierten eugenischen Gesetze.

Eugenik wird in der Untersuchung, ausgehend von der klassischen Definition Francis Galtons, im folgenden bewusst sehr allgemein gefasst, und verstanden als „interdisziplinares Vorhaben zur wissenschaftlichen Beschreibung, Erklarung und Losung einer zeitgenossi-schen empfundenen, aber auch durch die eugenische, wissenschaftliche Betrachtungsweise geschaffenen gesellschaftlichen Problemlage" (Doris Kaufmann). Somit geraten zum einen Disziplinen und Organisationen in den Blick, in denen eugenisches Denken zentral war. Fer-ner liegt der Fokus demnach zum anderen auf der Frage, welche spezifischen Probleme sich in eugenisch orientierten Disziplinen oder Organisationen konstituierten.

^ Siehe dazu unter anderem Overath 2003. ^ Bei Abfassung des Manuskripts lag das Buch von Paul-Andre Rosental, 2003 leider noch nicht vor.

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Obwohl eugenisches Denken in Frankreich eine zentralere RoUe spielte als lange Zeit von Historikerlnnen vermutet, blieb dessen Vordringen in die Politik sowie dessen prakti-sche Umsetzung dennoch eher begrenzt7 In der Forschungsliteratur liegen dazu verschiede-ne Erklarungen vor. Der Demograph Herve Le Bras etwa distanziert sich von den Positionen der Forschung, die argumentieren, der in Frankreich lange verbreite Lamarckismus - also die theoretische Stromung, die von einer Vererbung erworbener Eigenschaften ausgeht - , Oder gar das demokratische Bewusstsein batten die Implementierung eugenischer MaBnah-men verhindert. Zwar batten all' diese Erklarungen einen „wahren Kern". Im wesentlichen jedoch babe die Eugenik sich in Frankreich nicht durchsetzen konnen, weil der Natalismus beim Aufkommen der Eugenik bereits in Wissenschaft und Politik etabliert gewesen sei. Auch wenn Eugenik und Natalismus erhebliche theoretische Differenzen aufweisen, so Le Bras, besetzten sie doch den gleichen Platz im sozialen Feld, so dass ihre Koexistenz nahezu ausgeschlossen gewesen sei.^ Andere Wissenschaftler favorisieren die These, dass in Frank-reich die Hygiene liber die Eugenik „gesiegt" babe. Der amerikanische Historiker William H. Schneider ist iiberzeugt davon, dass die Eugenik in Frankreich tiber mehrere Jahrzehnte einen theoretischen Rahmen bot, der viele, hochst unterschiedliche Bewegungen verband, die ftir eine biologische Reform der Gesellschaft eintraten. Anders ausgedriickt: Schneider fasst die Eugenik als eine breite Sammelbewegung auf. Allerdings loste sich, so Schneider, in den 1920er Jahren das Biindnis von Natalismus und negativer Eugenik wegen unverein-barer Gegensatze: Eingefleischte Natalisten konnten die von den Eugenikern geforderten „geburtenhemmenden" MaBnahmen nicht mittragen. Zu diesem Zeitpunkt babe dann die so-ziale Hygiene die Eugenik „uberholt".^ Unter Beriicksichtigung dieser verschiedenen For-schungspositionen restimiere ich im vierten Abschnitt abschlieBend die Ergebnisse.

II. Feindschaften und Rivalitaten

Im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachteten Statistiker in Frank-reich einen aus ihrer Sicht bemerkenswerten - und im europaischen Vergleich einzigartigen - Geburtenruckgang, der zu einem nur maBigen Wachstum der Gesamtbevolkerung fuhrte. Der Ruckgang der Geburtenrate wurde vor allem auf die umfassende Kenntnis und Anwen-dung von nicht reproduktionsorientierten Formen der Sexualitat zuriickgefiihrt. Die Bevol-kerungsstatistiken machten Entwicklungen sichtbar und stellten Kausalitaten her, die sich in politischen Diskursen widerspiegelten. Ein Vergleich der europaischen Bevolkerungsent-wicklungen zeigte, wie die sinkende Geburtenrate dazu fiihrte, dass sich im Verlauf des 19.

Diesen Definitionen von Eugenik folgt Kaufmann 1999, 348. Vor allem das Buch von Anne Carol 1995, hat offensichtlich dazu beigetragen, die Rolle eugenischen Denkens in Frankreich, aufgrund einer systematischen Untersuchung, neu zu beurteilen. Allerdings lag bereits zuvor die differenzierte Analyse von Schneider vor (siehe Anm. 8). Zu dem einzigen implementierten eugenischen Gesetz in Frankreich siehe Abschnitt drei des Artikels. Le Bras 1991, 207ff. Schneider 1990, 8ff, 268ff; Ohayon 2001, 350. Ohayon fiihrt den „Sieg der Hygiene tiber die Eugenik" vor allem auf den Widerstand der Kirche gegen eugenisches Denken zuruck. Andre Pichot 2000, 220, geht sogar soweit vorzuschlagen, jenes Phanomen, das man in der Literatur als Eugenik in Frankreich bezeichnet, ganz-lich als „hygienisme social" zu bezeichnen. Zur Hygienebewegung in Frankreich siehe Murard & Zylber-mann 1996.

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Jahrhunderts das Verhaltnis der Gesamtbevolkerungsziffem von Deutschland und Frank-reich nachhaltig wandelte: Nach diesen Statistiken gehorte Frankreich (ca. 28 Millionen Einwohner) am Ende des 18. Jahrhunderts zu den bevolkerungsstarksten Landem Europas. Vor dem Ersten Weltkrieg verschob sich, so die Interpretation der Statistiker, die Stellung Frankreichs im europaischen Vergleich: Mit etwa 40 Milhonen Einwohnem lag es deutlich hinter dem „deutschen Erzfeind" (68 Millionen Einwohner). ^ Diese Verschiebung beunru-higte nicht nur die Statistiker. Nachdem Frankreich im Krieg von 1870/71 dem PreuBen un-terlegen war, vertraten Mediziner und Politiker die These, dass die Niederlage eng mit dem seit Jahren konstatierten Geburtenriickgang verkniipft sei. Es schien, als habe Frankreich zu wenig kraftige Soldaten in den Kampf schicken konnen. Mediziner und Politiker erklarten in Zeitungsartikeln und offentlichen Reden die Steigerung der Geburtenrate zu einer individu-ellen Pflicht, die jede und jeder Einzelne fur die Nation zu erfullen habe. Die Bevolkerungs-groBe wurde in diesen Argumentationen gleichgesetzt mit militarischer Starke: Zahlreiche Soldaten galten als Schutz gegen eine deutsche Invasion. Manche Wissenschaftler machten den Schutz vor einer „deutschen Invasion" zeitweise sogar zum Ausgangspunkt ihrer For-schung. Dazu zahlte etwa der Chef des statistischen Biiros der Stadt Paris, Jacques Bertillon, der 1875 ein Buch tiber die Kolonisierung Europas durch die Deutschen schrieb. In der pole-mischen Schrift prognostizierte Bertillon, dass Deutschland die Franzosen nicht nur im Kampf um die Kolonien iiberholen, sondem iiberhaupt ganz Europa unter seine Herrschaft bringen wtirde.^^ Das Untersuchungsobjekt „Geburtenruckgang" nahmen Wissenschaftler und spater auch Politiker demnach durch das „Prisma" der militarischen Niederlage sowie durch das eines Praventions- und Sicherheitsdenkens wahr.

Parallel zur Entwicklung dieser quantitativen Perspektive auf die Bevolkerung setzte sich nach 1870/71 auch eine spezifische qualitative Sichtweise auf die Bevolkerung durch. Mit der preuBischen Annektion ElsaB-Lothringens im Krieg entbrannte eine intensive Dis-kussion zwischen deutschen und franzosischen Historikem. Deutsche Historiker versuchten, die Annektion zu legitimieren, indem sie den Nachweis fuhrten, dass die ElsaB-Lothringer dem „deutschen Stamm" angehorten. Franzosische Historiker versuchten genau das Gegen-teil, also die UnrechtmaBigkeit der Annektion, zu belegen. Dabei setzte sich in Frankreich die Position des Historikers Ernest Renans durch, nach dem weder die Rasse noch die Reli-gion, noch die Sprache oder Geographic Kriterien seien, um eine nationale Gemeinschaft zu defmieren. Nach dessen Auffassung bestand das franzosische Volk aus verschiedenen Ras-sen, deren Koharenz sich durch den Willen ergab, der Nation angehoren zu wollen. Sozi-aldarwinistische Stromungen diskreditierte Renan als eine „deutsche Theorie", die im Ge-gensatz zum republikanischen Denken stehe. Die Positionen Renans setzten sich durch und wurden von den Politikern der III. Republik quasi zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben. Auch wenn Renan im Grunde selbst ein organizistisches Modell der Nation vertrat, so dach-te er nicht in biologischen Dimensionen der Vererbung, sondem in historischen Kategori-en. ^ Der Begriff der „Rasse" blieb folglich in wissenschaftlichen Diskursen existent, aller-dings mit einer starkeren Referenz an die Geschichte als an die Biologic. Die Vorstellungen von einer deutschen militarischen Ubermacht sowie von einer „feindlichen deutschen Wis-

10 Dienel 1995,24ff. 11 Bertillon 1875, 155f. Vgl. Overath 2003, 67f. Vgl. Le Bras 1994, 15ff 12 Noiriel 1999, 228f. Siehe auch Geulen 2004, 54.

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senschaft" blieben lange Zeit wirkmachtig: Franzosische Wissenschaftler und Politiker mo-bilisierten sowohl in Friedens- und als auch in Konfliktphasen das Rivalitatsdenken mit dem deutschen Erzfeind, das sich auch in bevolkerungspolitischen Diskursen niederschlug.

Um vor diesem Hintergrund das eingangs zitierte Interesse Boverats an bevolkerungs-politischen Mafinahmen in Deutschland genauer erklaren zu konnen, mochte ich kurz und exemplarisch bevolkerungspolitische Diskurse in Deutschland skizzieren. Ich werde zeigen, dass sich die deutsch-franzosische Rivalitat auf wissenschaftlicher Ebene vor allem in einem Wettlauf um die Verstaatlichung von Bevolkerungspolitiken manifestierte, der seinen Aus-gangspunkt in Deutschland hatte. Auch in Deutschland stellte man Kausalitaten zwischen BevolkerungsgroBe und militarischer Macht her - ahnlich wie in Frankreich. Allerdings be-schaftigte das Problem des Geburtenriickgangs Wissenschaftler und Politiker nicht so fruh wie in Frankreich. Erst im 20. Jahrhundert, um etwa 1910/1911, begann in Deutschland die Diskussion iiber den Geburtenriickgang.^^ Nach dem Sieg tiber Frankreich und der Reichs-griindung im Jahre 1870/71 hatten zunachst Abhandlungen zum Thema „Uberbevolkerung" in der deutschen Nationalokonomie vorgeherrscht. In dem zunehmend konfliktreichen Kli-ma der Vorkriegszeit fand dann die seit 1900 rasch sinkende Geburtenrate auch in Deutsch-land die Aufmerksamkeit von Wissenschaftlem und Politikem. Letztere interpretierten den Geburtenruckgang als beginnende „Entvolkung" und damit existentielle Bedrohung fur Volk und Nation. Gleichwohl trostete man sich immer wieder mit der vergleichsweise we-sentlich dramatischeren Lage Frankreichs. Vor allem aber nutzten Wissenschaftler und Poli-tiker Frankreich als abschreckendes Beispiel und Argumentationsgrundlage. Um sich vor den „katastrophalen franzosischen Verhaltnissen" zu schiitzen, beobachteten vor allem Wis-senschaftler die dortigen demographischen Entwicklungen und die damit in Verbindung ste-henden gesetzlichen MaBnahmen. In Deutschland laBt sich auf Regierungsebene vor allem wahrend des Ersten Weltkriegs eine neue StoBrichtung in bevolkerungspolitischen Uberle-gungen nachweisen: In dieser Zeit entwickelten das preuBische Innenministerium sowie der Nationalokonom Julius Wolf- teilweise in Kooperation, teilweise in Konkurrenz miteinan-der - , Konzepte fur eine umfassende, systematische Bevolkerungspolitik. In einer Denk-schrift, die Wolf dem Innenministerium im Januar 1916 iiberreichte, fanden sich bevolke-rungspolitische Vorschlage, die auf Familie, Frauen sowie Jugendliche abzielten. Ziel war eine legislative Absicherung der MaBnahmen. "*

In der Zeit der Weimarer Republik kam es - trotz der Durchsetzung wichtiger Einzel-maBnahmen - noch nicht zur Implementierung einer umfangreichen, systematischen Bevol-kerungspolitik; gleichwohl blieb die Forderung nach einer alle Lebensbereiche umspannen-den Bevolkerungspolitik sehr lebhaft in der Diskussion.^^ Oftmals wurde die franzosische Sozial- und Familiengesetzgebung, die in weiten Teilen gegen den Geburtenruckgang ge-richtet war, als eine systematische allumfassende „Bevolkerungspolitik" gedeutet und damit als vorbildlich und anregend interpretiert. In diese Richtung argumentierte zum Beispiel der Mediziner und Nationalokonom Hans Harmsen. Letzterer hatte sich wahrend seines Studi-ums auf sozialhygienische Themen spezialisiert. Spater arbeitete er oftmals international vergleichend und besonders haufig liber Frankreich. Zu Bevolkerungsfragen in Frankreich

13 Dienel 1995, 93f. Allgemeiner Schroeder-Gudehus 1990. 14 Overath 2003, 73. Vor allem aber Weindling 1989. 1 Vgl. dazu die einschlagigen Aufsatze in Mackensen ed. 2002. Einen hilfreichen Uberblick gibt Usbome 1994.

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verfasste Harmsen zwei Dissertationen: Zunachst wurde er 1924 am Hygienischen Institut der Berliner Medizinischen Fakultat promoviert. Dann wechselte er im Jahre 1926 an die Universitat Marburg, schrieb sich dort fiir Volkswirtschaft und Philosophie ein, und promo-vierte 1927 wiederum - diesmal mit einer umfangreicheren Dissertation - iiber Bevolke-rungsfragen in Frankreich zum Doktor phil.^^ Harmsen analysierte in beiden Arbeiten die in Frankreich implementierten MaBnahmen zur Hebung der Geburtenrate, interpretierte diese als ein umfangreiches bevolkerungspolitisches Programm und pladierte auf subtile Weise fur „die Formung des Volkskorpers" durch Gesetze. Er zahlte somit zu jenen Wissenschaft-lem, die fiir eine umfassende Bevolkerungspolitik eintraten, deren Legitimation auf der ge-setzlichen Verankerung beruhte. '

Genau wie in Deutschland beobachteten auch in Frankreich Wissenschaftler und Politi-ker die demographischen Entwicklungen jenseits des Rheins. Dieser Umstand ist zum Bei-spiel anhand der Diskussionen iiber die natalistisch orientierten Gesetze der zwanziger Jah-ren nachweisbar. Nach dem Ersten Weltkrieg beschaftigte das sogenannte „demographische Problem", das sich durch die Kriegsopfer verscharft habe, nahezu alle politischen Funktio-nare. Gestiitzt auf die Ziele und MaBnahmen der seit langem tatigen privaten Vereine zur Bekampfung des Geburtenriickgangs folgte die Einrichtung eines Hohen Rates der Natalitat im Jahre 1920, der Plane zur Eindammung des Geburtenriickgangs und zur „nationalen Re-generation" entwickeln soUte. ^ Diese neue Institution schrieb sich in ein breiteres politi-sches Projekt ein, wonach Geburten und gezielte Immigration zu befordem sowie die soge-nannten „sozialen tjbel" wie Alkoholismus oder Geschlechtskrankheiten durch Hygiene-maBnahmen zu unterdriicken seien. Allgemeiner formuliert: Offensichtlich bevorzugten Wissenschaftler und Politiker mehrheitlich die Losung sozialer Probleme der franzosischen Gesellschaft durch HygienemaBnahmen sowie positive Forderung.^^ Diese Tendenz iiber-wog in Wissenschaft und Politik. Entsprechend waren jene eugenischen Stromungen eher marginal, die in der Tradition von George Vacher de Lapouge, eine (todliche) Selektion der „Schwachsten" forderten.^^ Dagegen zeichneten sich die dominanten eugenischen Stromun-gen, die quer durch alle politischen Lager liefen, durch das Programm einer Politik der Nata-litat aus, die flankiert durch hygienische MaBnahmen eher auf eine Forderung der als wert-voll oder stark angesehenen Menschen (oder Rassen) als durch die negative Auslese der als schwach angesehenen Menschen hinausliefen. Es bleibt dennoch festzuhalten, dass positiv-eugenische MaBnahmen in Frankreich durchaus eine zentrale Rolle spielten.

In den 20er Jahren nahm diese natalistisch orientierte Politik in Frankreich, die im Kern auf die Starke der Nation und auf die Optimierung des Lebens hinauslief, starker repressive Ziige an. Ein im Jahre 1920 verabschiedetes Gesetz verbot zum Beispiel Abtreibungen so-wie die Werbung fiir Verhiitungsmittel sowie Kontrazeptiva selbst. ^ Zur Durchsetzung der Gesetze im Parlament wurde die aus der franzosischen Perspektive vergleichsweise giinstige

16 Schleiermacher 1998, 59ff. 1 Ausftihrlicher zu Harmsens Interpretationen franzosischer Bevolkerungspolitik siehe Overath 2004. 18 Reggiani 1993, 728, wertet den Hohen Rat der Natalitat allerdings - im Vergleich mit den staatlichen bevol-

kerungspolitischen Institutionen der Vichy Zeit - als eher „schwache" Einrichtung. 1 An dieser Stelle konnte man auch von der spezifischen Variante der franzosischen Eugenik sprechen. Zu den

Spezifika und der inhaltlichen Breite franzosischer eugenischer Bewegungen: Schneider 1990, 8 ff. Femer Bourdelais 1999, 18.

20 Noiriel 1999, 233ff. Mit anderem Akzent Mucchielli 1998, 284ff.

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demographische Entwicklung Deutschlands argumentativ herangezogen. Bevolkerungspoli-tisch orientierte Gesetze aus Deutschland diskutierten franzosische Wissenschaftler und Po-litiker dagegen eher selten.

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und deren legislativen Aktivitaten an-derte sich die Blickrichtung: Nun schauten franzosische Wissenschaftler und Pohtiker expH-zit auf die „Geburtenpolitik" Deutschlands. Der eingangs bereits zitierte Femand Boverat hatte seit seinem Eintritt in die Alliance nationale das Schlagwort „Geburtenruckgang - das ist der Krieg" gepragt.^^ In diesem Sinne interpretierte er die in Deutschland nach 1933 er-griffenen MaBnahmen gegen den Geburtenriickgang: Er ordnete sie als umfassend, als staat-lich gelenkt und damit als vorbildlich und fur Frankreich gefahrlich ein. Wahrend er selbst mit seiner Alliance nationale aufwendige politische Lobbyarbeit leisten musste - die auch oftmals ins Leere lief- hatte sich in Deutschland die Regierung selbst, wie er meinte, der „Geburtenpolitik" verschrieben: „Nichts ist von Doktor Goebbels ausgespart geblieben: (...) Die Zeitungen, die ihm unterstehen, publizieren alle, ohne Ausnahme, seinem Geiste ent-sprechend (...). Das Radio sendet ohne Unterlass Sendungen zu diesem Thema, alle Beam-ten des Innenministeriums haben den Auftrag, die Propaganda mit all ihren Kraften zu un-terstiitzen."^^

Auffallig ist an Boverats Analyse der „selektive Blick", beziehungsweise genauer ge-sagt, die strategische Auswahl und Interpretation der nationalsozialistischen MaBnahmen. Zum einen behandelte er ausschlieBlich jene Gesetze, die er als geburtenfordemd einordne-te. Weitere MaBnahmen, wie zum Beispiel das Sterilisationsgesetz vom Juli 1933, gerieten nicht als vorbildliche MaBnahme in sein Blickfeld. Zum anderen reduzierte er die national-sozialistischen Schritte der politischen Gleichschaltung, in diesem Fall der Medien, auf eine Politik der Geburtenforderung. Aus seiner Sicht liefen samtliche Aktivitaten der Nazis auf eine „Geburtenpolitik" hinaus - den Begriff der Bevolkerungspolitik verwendete er iibrigens nie. Diese Befunde legen die Vermutung nahe, dass es Boverat - ausgehend von einem langst gepragten Rivalitatsdenken mit Deutschland - , sicher zum einen um eine Untersu-chung der Nazi-Politik ging, um deren Bedrohungspotential abzuschatzen. Zum anderen war es ihm offensichtlich an einer Analyse der prekaren franzosischen Situation gelegen, die sich aus seiner Sicht durch Untatigkeit des Staates in der Frage des Geburtenriickgangs aus-zeichnete. Wiederum bildete sich das „Denken iiber die Bevolkerung" unter dem Eindruck des zwischenstaatlichen Konkurrenzdenkens heraus.

Der Wunsch nach einer systematischen Verstaatlichung der „Geburtenpolitik" in Frankreich verstarkte sich nochmals durch Boverats Teilnahme am Intemationalen Bevolke-rungskongress von 1935 in Berlin, an dessen Organisation auch Hans Harmsen maBgeblich mitwirkte. In Berlin hatte Boverat unter anderem den Vortrag von Arthur Giitt liber „Bev6l-kerungspolitik als Aufgabe des Staates" gehort, indem Giitt seine auf erbbiologischen Pra-missen aufbauenden Visionen einer „reinbliitigen gesunden Rasse" als Staatsziel darlegte. Nach seiner Riickkehr nach Paris driickte Boverat seine Bewunderung aus fur die natalisti-sche Politik der Nazis und fur „die immensen Anstrengungen der Deutschen, um schon den

21 Um zu zeigen, dass die Familien- und Frauenpolitik der Vichy-Zeit im Vergleich zu den Jahrzehnten davor eine neue Qualitat aufwies - vor allem wurde sie namlich systematisch verstaatlicht - , nehmen die Autoren des folgenden Werkes auch immer wieder die „Vorgescbichte" in den Blick: Azema & Bedarida ^2000, 488.

22 Thebaud 1985, 279. 23 Boverat, Bulletin, in: Ronsin 1980.

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jungen Generationen ein tiefes Geftihl der Pflicht einzubrennen, bereit zu sein, alle mogli-chen Opfer fur das Vaterland zu erbringen."^'^. Skeptisch auBerte er sich allerdings iiber die deutsche Rassenhygiene und vor allem iiber die Zwangssterilisationen, die deutsche Arzte seit dem 1. Januar 1934 an iiber 56.000 Personen durchgefuhrt hatten.^^

Diese Position Boverats ordnete sich in die drei dominanten bevolkerungspolitischen Forschungsparadigmen der Zeit ein: Forschungsrichtungen, die sich auf Rasse und Verer-bung konzentrierten, spielten in den Institutionen der III. Republik eine marginale Rolle. Auch Boverat lehnte vererbungsbiologisch orientierte Rassebegriffe ab. Wichtiger war die schon erwahnte Stromung von Historikem (und Geographen), die die Geschichte als Kriteri-um fur die Zugehorigkeit zum „wahren Frankreich" defmierte. Sie bot die Grundlage, um fiir die Nation - wie Boverat es tat - als eine „spirituelle Gemeinschaft" zu argumentieren. Die dritte Forschungsrichtung, die von Durkheim gepragte Soziologie, verwarf samtliche es-sentialistischen Kategorien zur Beschreibung der Bevolkerung und leistete damit aktiven Widerstand gegen vererbungsbiologische Stromungen. ^

In Reaktion auf den Kongress in Berlin bezog Boverat zusammen mit der Alliance nati-onale Position: Sie forderten nach amerikanischem Vorbild eine Eindammung der Immigra-tion bzw. eine Selektion der Migranten an der Grenze - unter anderem nach dem Kriterium der vermeintlichen Assimilationsfahigkeit - , um die franzosische Bevolkerung nicht durch negative fremde Elemente nachhaltig zu belasten. Sie stiitzten sich dabei auf die vor allem in anthropologischen Diskursen entwickelten Klassifikationen der „nationalen Assimilation" von Volkem. Die Zwangssterilisation lehnte die Alliance nationale aber ab - sie schien der positiven Entwicklung der Geburtenrate abtraglich.^^ Deshalb konkretisierten sie die Forde-rung nach einer systematischen, allerdings ausschlieBlich natalistisch ausgerichteten staatli-chen Politik am Vorbild des politischen Feindes Deutschland, dem Frankreich durch eine gezielte Geburtenpolitik militarisch ebenbiirtig sein sollte. Offensichtlich waren dabei nata-listische Stromungen, wie oben gesehen, eng mit eugenischem Denken verbunden. Vor al-lem aber erfiillten Geburtenriickgang und Natalismus zwei nicht unbedingt intentionale Funktionen: Auf der einen Seite deuteten Wissenschaftler und Politiker den Geburtenriick-gang als gesellschaftliches Krisenphanomen, zu dessen Behebung sie gleichzeitig Instru-mentarien zur Verfiigung stellten. Auf der anderen Seite produzierten sowohl die Diskussio-nen als auch die Untersuchungen iiber den Geburtenriickgang die Neuordnung gesellschaft-licher Felder.

III. Die Familienpolitik

In ihrem Vereinsstatut von 1896 formulierten die Griindungsmitglieder dor Alliance natio-nale, darunter auch Femand Boverat und der Statistiker Jacques Bertillon, das zentrale Ziel der privaten Vereinigung: Sie wollte die gesellschaftliche und politische Offentlichkeit we-gen des Geburtenriickgangs in Frankreich alarmieren sowie zu GegenmaBnahmen animie-

24 Thebaud 1985, 296. 25 Ebd., 297. 26 Noiriel 1999, 242f. Die Vorstellungen iiber das „wahre Frankreich" bzw. uber die „Frenchness" untersucht

Lebovics 1992. 27 Thebaud 1985, 297.

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ren. Der Verein konstituierte sich parallel zu anderen privaten Zusammenschliissen mit ahn-lichen Zielen, wie zum Beispiel die katholische Gruppe Pour la VieP Im Jahre 1913 erhielt die Alliance die Anerkennung als gemeinniitziger Verein. In der Zwischenkriegszeit zahlte sie zu den einflussreichsten privaten Vereinen, die sich fiir Geburtenpolitik engagierten. Ihre Mitglieder gehorten oftmals dem politischen Establishment an, so dass es direkte Kontakte zu verschiedenen staatlichen Einrichtungen gab. Ihr Generalsekretar Femand Boverat war zum Beispiel Vizeprasident des Hohen Rates der Natalitat, der seit 1920 dem Ministerium fur Hygiene, Fiirsorge (assistance) und soziale Wohlfahrt untergeordnet war. Dartiber hin-aus verzeichnete die Alliance nach 1913 stetig ansteigende Mitgliederzahlen: Im Juni 1913 zahlte sie 230, im Janaur 1914 bereits 1.321 Mitglieder. Bis zum Juni 1939 stieg die Mitglie-derzahl auf 25.335 Personen an. Der Verein entwickelte ein breites Spektrum an Aktivitaten. Das jahrliche Budget belief sich auf rund 500.000 Francs, womit die Vereinigung durch ein Pariser Biiro koordinierte PropagandamaBnahmen zur Hebung der Geburtenrate, eine wo-chentlich erscheinende Zeitschrift sowie direkte Ausschiittungen fur kinderreiche Familien fmanzierte. Femer etablierten ihre Mitglieder Kontakte zu Schulen und Geistlichen, um de-ren padagogischen EinfluB zu verstarken. Sie polemisierten gegen die Milde der Gerichte, die auf der Grundlage der Gesetze von 1920 und 1923 Abtreibungen vermeintlich milde be-straften.^^

Zweimal erteilte die Alliance an Alfred Sauvy, zu dieser Zeit Mitarbeiter des staatli-chen statistischen Biiros Frankreichs, den Auftrag, Studien zur zukunftigen Bevolkerungs-entwicklung zu erstellen. Die Resultate der beiden Studien von 1932 und 1936 schienen alarmierend, indem sie eine Bevolkerungsabnahme katastrophalen Ausmasses prognosti-zierten. Die Alliance nutzte die Ergebnisse, um unter dem Eindruck des dokumentierten Be-volkerungsrtickgangs des Jahres 1935 ihre Propaganda zu verstarken: Sie lieB zum Beispiel in hoher Auflage Plakate drucken, auf denen eine blonde, deutsche Walkiire zu sehen war, die in einer Sprechblase sagte: „ Selbst wenn alle Waffen unterdriickt werden, wir sind mehr als 60 Millionen gegen nur 40 Millionen ". LFber die Erfolge solcher Aktionen ist keine si-chere Aussage moglich. Es lasst sich aber begriindet vermuten, dass die transportierten In-halte weithin bekannt waren.^^

Das gesellschaftliche Ordnungsmodell der Alliance riickte Familie und Frauen in den Mittelpunkt. Damit verstarkte sie eine Tendenz, die sich bereits seit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Frankreich, auch aus wohlfahrtsstaatlichen Motivationen heraus, abgezeichnet hatte: 1892 wurde ein Arbeitsschutzgesetz fiir Frauen erlassen, 1914 eine breite staatliche Unterstiitzung fiir Familien eingefiihrt und 1928 der Mutterschutz in der Erwerbsarbeit.^^ Gleichwohl verpaBte die Alliance dieser Tendenz ein hochst reaktionar-konservatives Profil, indem sie sich die Frau als mehrfache Mutter wunschte und in den Haushalt verbannte. Die Forderungen nach einer Forderung der Familien folgte der Logik der ..regeneration nationa-le'\ Im Jahre 1920 setzte sie einen jahrlichen staatlich anerkannten Feiertag zugunsten von

28 Ebd. , 277 . 29 Ebd. , 277ff; Jennings 2002 , 108ff. 30 Thebaudl985,284ff. 3* Ausfuhrlich zu den Auswirkungen dieser Frauenpolitik: Bordeaux 2002, v.a. 129ff. Vgl. auch Azema &

Bedarida 22000, 488ff; Muel-Dreyfuss 1996, 15 Iff, verweist explizit auf die Frauenpolitik der Kirchen. Zu den wohlfahrtsstaatlichen MaBnahmen, die natalistisch ausgerichtet waren siehe auch: Capdevila et al. 2003, 116f

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Miittem durch. Das von der Alliance propagierte Frauenbild fasste das aktive Mitglied, Paul Haury, im Jahre 1934 wie folgt zusammen:

„die Mutterschaft und alle die Entbehmngen, Leiden und Sorgen, die sie umfasst, vereinte die schon immer wichtigsten Ztige der weiblichen Psychologic, bis sic vom Individualismus dcfor-miert wurde". ^

Es ist deutlich: Frauen sollten aus dem politischen Leben entfemt und in der Mutterrolle auf-gehen. Gestutzt wurden diese Argumentationen durch die weithin verbreiteten konservativ-katholischen Weltbilder: Eine „richtige" oder legitime Familie setzte sich aus verheirateten Mannem und Frauen sowie deren - moglichst mindestens drei - Kindem zusammen. Dabei soUte der Mann einer Erwerbsarbeit nachgehen und die Frau Haus sowie Kinder versorgen. Nach der gesetzlichen Trennung von Staat und Kirche im Jahre 1905 hing die Finanzierung der Kirchen mehr als je zuvor von industriellen Zusammenschltissen ab, denen nicht selten eine Industriellenfamilie vorstand. In dieser Situation predigten zahlreiche Kirchenvertreter uber Wert und Wirkung der „richtigen" Familienmoral. Remi Lenoir wertet diesen Befund wie folgt: Auf der einen Seite war der Familialismus eine ordnende, religiose Vision der so-zialen Welt. Auf der anderen Seite stellte der Familialismus ein Instrument dar, um eine -durch den vermeintlichen Aufstieg der Arbeiterschaft - geschwachte soziale Ordnung lang-fristig und an den eigenen Interessen orientiert, zu stabilisieren. Unter dem Eindruck der „Geburtenruckgangshysterie" verzeichnete der Familialismus zahlreiche Anhanger. Ein konservatives Familienmodell gait als Bollwerk gegen sozialistische bzw. kommunistische Einfliisse.^^

Parallel dazu warfen die Alliance und andere natalistische Vereine den mehrfach wech-selnden Regierungen - vor allem bis zum Jahre 1939 - vor, nicht ausreichend systematische Familienpolitik zu betreiben. Umso begeisterter begriiBten sie die Einrichtung eines Hohen Komitees der Bevolkerung am 23.2.1939 und des Code de la familie am 29. Juli desselben Jahres durch die Regierung Daladier, wodurch Familien mit mindestens drei Kindem und die Mutter im Haushalt durch ein Ensemble von MaBnahmen unterstiitzt wurde. Der letzte Regierungschef der III. Republik emannte am 5. Juni 1939 Georges Pemot zum ersten Fa-milienminister Frankreichs und brachte damit zum Ausdruck, wie wichtig die Familie von der Politik genommen wurde.^^

Mit dem Eintritt Frankreichs in den Zweiten Weltkrieg, mit der Niederlage gegen Deutschland und der Besetzung der sogenannten Nordzone Frankreichs im Jahre 1940 trat die Familienpolitik in eine neue Phase. Allerdings konnte sie auf den jahrelang mobilisierten Strukturen des Rivalitatsdenkens und der Familienbilder aufbauen, was zu einer spontanen breiten Anerkennung der MaBnahmen fuhrte. Im Juni 1940 legte General Petain den Nukle-us seiner Propaganda fest, die in Broschiiren fiir Lehrer und andere Personen des offentli-chen Lebens abgedruckt war: „ Zu wenig Kinder, zu wenige Waffen, zu wenige VerbUndete. Voild. Das sind die GrUndefur unsere militarische Niederlage. "

32 In: Thebaud 1985, 300; Zitat iibersetzt von der Autorin. 33 Lenoir 2003, 237ff. Siehe auch Jennings 2002, 113. 3* Azema & Bedarida ^2000, 489ff. Ausfiihrlicher zu den familienpolitischen Mafinahmen der Vichy-Regie-

rung: Bordeaux 2002, 56ff, 77ff.

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Damit kniipfte er an ein Erklarungsmodell an, das seit dem Krieg von 1870/71 allge-mein bekannt war.^^ Differenzierte Analysen der Niederlagen, wie jene Marc Blochs aus dem Jahre 1940, setzten sich nicht durch.^^

Petain deklarierte die Familie zur „ersten Zelle der Gesellschaft", den Haushalt „als spirituelle Gemeinschaft", deren Chefin die Mutter sei. Petain libemahm die Idee eines Fa-milienministeriums der III. Republik und setzte sie mit der Griindung des Allgemeinen Kommissariats der Familie im Jahre 1941 um. Es folgten zahlreiche familien-, frauen- und jugendpolitische Gesetze, die die autoritare Regierung Petain bis 1942 ausarbeitete und imp-lementierte. Diese koordinierten und verstarkten in bislang nicht gekannter Weise die finan-ziellen Unterstiitzungen ftir kinderreiche Famihen - vor allem verheiratete Paare mit min-destens drei Kindem genossen eine groBziigige fmanzielle Unterstiitzung. Femer diskrimi-nierten sie (nicht nur erwerbstatige) Frauen und banden Jugendliche in eine Reihe von Orga-nisationen ein. Allerdings untersagte die deutsche Besatzungsmacht im Jahre 1942 sowohl die zunehmende fmanzielle Unterstiitzung fur kinderreiche Familien sowie den Ausbau von Frauen- und Jugendorganisationen. Als Begriindung ftihrten die Besatzer die Furcht vor dem Ausbau einer paramilitarischen Struktur an. Das Spektrum der Geburtenpolitik der Regie-rung Petain umfasste neben wohlfahrtsstaatHch-famiUaHstischen MaBnahmen auch ein gau-zes Ensemble von repressiven Gesetzen, die der EtabUerung - in den Worten Petains - „ei-ner einzigen, moralischen, verpflichtenden Ordnung" dienten: So verscharfte zum Beispiel das Gesetz vom 2. April 1941 die Auflagen, um eine Scheidung durchfiihren zu dtirfen. Mit dem Gesetz vom 15. Februar 1942 avancierte die Abtreibung zu einem „Verbrechen gegen die Staatssicherheit".^'^

Die Vereine wie die Alliance nationale, die die natalistische und familialistische Vision Petains teilten, begruBten diese Politik. Nach dem unifikatorischen Prinzip der Vichy-Regie-rung wurde 1942 ein Koordinationszentrum zwischen den Vereinen und dem Familienmi-nisterium eingerichtet. Von nun an musste in jeder Gemeinde oder in jedem Kanton ein Ver-ein zur Representation der Famihen eingerichtet werden. Damit war eine Verbindung zwi-schen Staat, Vereinen und Famihen institutionahsiert. Bis 1942 etablierte die Regierung des General Petain - basierend auf den Ideen natalistischer Bewegungen der III. Republik - eine systematische autoritare Familienpolitik, die gesellschaftliche Krafte geschickt einband. An-ders formuliert: Die seit langem von den privaten Vereinen geforderten MaBnahmen wurden vom Staat teilweise implementiert und genossen somit eine breite Legitimationsbasis.^^

Diese Familienpolitik wies eine explizit ordnungspolitische Dimension auf. Im Kern diente sie als Mittel, um eine allumfassende Vision General Petains zum Erfolg zu fiihren: Mit der Propaganda fiir eine Starkung des (reaktionaren) Familiengedankens ging die Vor-stellung von einer neuen sozialen Ordnung einher. Jungere Forschungen zur Vichy-Zeit ha-ben gezeigt, dass Petain ein korporatistisches und organizistisches Gesellschaftsbild vertrat und zu realisieren versuchte. Demnach sollte eine Gesellschaft entstehen, die frei von alien Klassenkampfen war. Die natalistische Propaganda und die verstaatlichte Familienpolitik

3 Azema & Bedarida ^2000, 489ff. (Ubersetzung von der Autorin). Ein Klassiker zur Vichy-Zeit mit einschla-gigen Kapiteln ist Paxton ^1997, 215ff.

36 Bloch 1990, 56ff. 37 Hesse & Le Crom 2001, 86ff. Zu den Pramien fur die Geburt eines Kindes siehe ebd., 92ff., 360.- Azema &

Bedarida ^2000, 489ff. Zur Jugendpolitik siehe Yagil 1997,43ff. 38 Zur positiven Einschatzung faschistischer Regime durch die Alliance siehe Bourdelais 1993, 493 f.

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gingen unterstiitzend mit dieser Vision einher: Durch die Etablierung der „Geburtenpolitik" versuchte der Vichy-Staat, erstens die Kontolle iiber die Bevolkerung zu gewinnen. Zwei-tens zielte er darauf, eine mystische idyllische Vision der Familie zu etablieren, die als Grundlage diente, um im sozialen Frieden, ohne Gegensatze zu leben. Innerhalb dieser Fa-milienordnung als soziale Ordnung, so die Vision, existierten „naturliche Eliten". In einer Familienordnung, in der jeder Mensch seinen naturgegebenen Platz einnahm, sollte es keine sozialen Gegensatze mehr geben. Die Familienpolitik entpuppte sich dabei als Vehikel, das in diesem Modell eine diffuse soziale Dimension an die Familien iibertrug. Letztlich veran-kerte der Staat die Verantwortung fur das Soziale in der Familie selbst.^^ Es liegt auf der Hand, dass die Vertreter dieses korporatistischen antisozialistischen Modells ungehindert auf die natalistischen und familienorientierten Stromungen der III. Republik zuriickgreifen konnten. Man konnte fast sagen: Auf der Ebene der Geburtenpolitik sah sich die Vichy-Re-gierung ahnlichen Problemen ausgesetzt wie die Regierungen der III. Republik. Aber die Losungen, die die Vichy-Regierung ausarbeitete, waren - wie die reaktionare Familien- und Frauenpolitik - weitaus radikaler."^^

Diese radikale Tendenz brachte auch die Einrichtung einer neuen Forschungsinstitution mit sich, und zwar der Fondation 4lexis Carrel im November 1941 ."^ Es handelte sich dabei um einen ftir Frankreich neuen Typus von Forschungseinrichtung. Die sogenannte Stiftung fiir das Studium menschlicher Probleme war interdisziplinar angelegt, auBeruniversitar und wurde von der Regierung finanziert. Vor allem aber war sie, inspiriert durch ihren in die USA immigrierten und Anfang der 1940er Jahre remigrierten Chef, eugenisch ausgerichtet. Die amerikanische Rockefeller Stiftung fmanzierte das Vorhaben grossziigig. Unter Vichy lebten Diskussionen iiber eugenische MaBnahmen verstarkt auf Zwar batten die Vichy-Poli-tiker kein ausgearbeitetes eugenisches Programm, aber die Vorschlage Carrels zur Forde-rung, wie es hieB, der „biologischen Regeneration" eine Reihe von Untersuchungen durch-zufiihren, stieBen auf breite Unterstiitzung. Auch die deutschen Besatzer begrixBten eine eu-genisch ausgerichtete Anstalt."*^

Das Forschungsdesign der Einrichtung war in weiten Teilen von Carrel und dessen In-teressen beeinflusst. In „Der unbekannte Mensch","*^ ein erfolgreiches, in hohen Auflagen verkauftes Buch, hatte Carrel seine Forschungsinteressen ausgefiihrt: Es handelte von dem vermeintlichen Niedergang der Zivilisation sowie der Degeneration der menschlichen Ras-se. In diesem Buch entwickelte er auBerdem ein eugenisches Programm, das vor allem auf der Forderung der Starksten beruhte. Femer favorisierte Carrel die Einfiihrung von Ehetaug-lichkeitszeugnissen sowie einer umfassenden Gesundheitserziehung. Carrel hatte zwar in der Vorkriegszeit, als er noch in den USA lebte und forschte, eine Reihe extremer eugeni-scher MaBnahmen vertreten - wie etwa die Sterilisation aus erbbiologischen Grtinden - , sie spielten aber in der Stiftung kaum mehr eine RoUe. Im Wesentlichen widmeten sich die For-scherteams, wie es hieB, dem Studium sowie der Verbesserung von Quantitat und Qualitat

39 Jennings 2002, 102, 111, 113ff. 40 Noiriel 1999, 63 ff. 4 Die Literatur iiber die Fondation Alexis Carrel ist inzwischen umfangreich. Grundlegend ist unter anderem

Drouard 1992, 222ff. "^ Vor allem Noiriel 1999, 269, weist darauf hin, dass mit der Fondation Carrel das Ideal der Unabhangigkeit

der Forschung, wie es in der III. Republique postuliert und realisiert worden war, in den Hintergrund trat. 43 Carrel 1935; ders. 1935, Zu weiteren Veroffentlichungen Carrels siehe Drouard 1992, 25.

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der franzosischen Bevolkerung. Darunter fielen breite hygienisch ausgerichtete Forschun-gen liber Anzahl und Gesundheit der Kinder in Frankreich, die durchaus eugenische Dimen-sionen - im Sinne der Forderung der als „wertvoH" klassifizierten - hatten." " Im zweiten Jahresbericht der Stiftung fand sich in einer Zusammenfassung folgender Hinweis:

„Die praktische Umsetzung eugenischer Konzepte ist im Moment nur cine zunkiinftige, mehr Oder weniger naheliegende, Domane. Wissenschaftliche Forschung mu6 noch in standigem Fort-schritt sein, ohne sich dabei um ihre direkte praktische Anwendung zu kiimmem." ^^

Diese AuBerungen belegen ein Kompromissdenken: Noch im 19. und friihen 20. Jahrhun-dert hatten eugenisch orientierte Gruppen mit natalistischen kooperiert, gemeinsam traten sie fiir eine Erhohung der Geburtenrate und teilweise auch fur eine Forderung „der Starks-ten" ein. In den dreiBiger und fruhen vierziger Jahren hatten die Eugeniker - auch unter dem Eindruck der Implementierung radikaler Gesetze in Deutschland - , die Forderungen nach negativen MaBnahmen verstarkt, was ein weiteres Zusammengehen der ohnehin ungleichen Partner von Eugenikem und Natalisten unmoglich gemacht hatte. Gleichwohl entwickelte sich Anfang der 1940er Jahren eine breitere, wissenschaftlich legitimierte eugenische Bewe-gung, die allerdings von der kathoHschen Kirche sowie von den NataHsten bekampft wurde. Auch wenn mit Ausbruch des Krieges und der Okkupation Frankreichs die poUtische Ord-nung der ehemaUgen RepubHk durcheinandergewirbelt wurde, so bHeb die Forderung nach sogenannten negativen eugenische MaBnahmen von der Sorge um die quantitative GroBe der Bevolkerung liberschattet.^^ Das hing nicht zuletzt mit der weiten Verbreitung natalisti-schen Denkens sowie dem militanten Engagement der privaten Vereine, wie etwa der Alli-ance nationale, zuammen. Vor diesem Hintergrund war es nur folgerichtig, dass die Repra-sentanten der Fondation Carrel einen Kompromiss eingingen, da sie zu dieser Zeit ohnehin kaum in die praktische Politik einzugreifen vermochten. Offen ist allerdings, ob die Stiftung nicht moglicherweise aus strategischen Grunden zuriickhaltend war. Vielleicht hatte sie, so-fem sie langer existiert hatte, mehr Einfluss auf die Politik gewonnen.' ' Uber diesen Punkt kann allerdings lediglich spekuliert werden. Fest steht, dass nach der sogenannten Befreiung im Jahre 1945 zentrale Telle der Stiftung in dem neuen staatlichen demographischen Insti-tut, dem Institut nationale des etudes demographiques, unter der Leitung von Alfred Sauvy aufgingen.^^

Festzuhalten bleibt, dass auch ohne direkten EinfluB der Stiftung Carrel auf die Vichy-Gesetzgebung, am 16. Dezember 1942 ein eugenisch orientiertes Gesetz verabschiedet wur-de: das Gesetz zur Einfuhrung einer Ehetauglichkeitsbescheinigung. Das Gesetz sah vor, dass sich die zukiinftigen Eheleute einen Monat vor der geplanten Hochzeit medizinisch un-tersuchen lassen mussten. Die Art der Untersuchung und die eine Heirat ausschlieBenden Krankheiten spezifizierte das Gesetz nicht. Damit blieb es hochst vage und von den Medizi-nem flexibel auslegbar. Eine solche voreheliche Untersuchung war weit friiher etwa von der franzosischen eugenischen Gesellschaft gefordert worden."^^ Auch natalistisch eingestellte

^ Ausftihrlich und differenziert zu Carrel und die Eugenik, siehe ebd., 5Iff. Femer die Einschatzung von Schneider 1990, 272ff

45 Cahier 1944, 24, zitiert nach Drouard 1992, 233. 46 Schneider 1990, 283f 47 Ebd., 8ff 48 Ebd., 290f.

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Politiker und Wissenschaftler hatten sich, wie eingangs am Beispiel von Femand Boverat dargelegt, dafur eingesetzt. Auf der einen Seite stellte die Implementierung eines eugeni-schen Gesetzes in Frankreich einen Bruch dar, auf der anderen Seite war es ein Element in der Schnittmenge der Programme von Natalisten und Eugenikem: In der Logik einer quanti-tativ ausgerichteten Familienpolitik waren Ehetauglichkeitszeugnisse insoweit folgerichtig, indem diese die zukunftigen Ehepartner auf die politisch-nationale Funktion ihrer Heirat aufmerksam machten - und zwar durch zahlreiche Geburten die „nationale Regeneration" zubefordem

IV. Zusammenfassung und Ausblick

In den Forschungsinstitutionen der III. Republik spielten radikale eugenische Stromungen kaum eine RoUe. Vielmehr transportierten private Vereine wie die Alliance nationale euge-nisch-nationale Inhalte in die Politik, die im Zuge des zwischenstaatlichen Rivalitatsdenkens zwar bereitwillig aufgegriffen wurden, dann allerdings in erster Linie auf soziale, nicht aber todliche Selektionen, wie bei der Vemichtung von sogenannten „minderwertigen Personen", hinausliefen.^^ Die Vichy-Politik zeichnete sich seit 1940 - wie wir gesehen haben - durch die enge Verbindung von Staat und Zivilgesellschaft, etwa auf der Ebene der „Geburtenpoli-tik", aus. In diesem Sinne spielten die natalistischen privaten Vereine wie die Alliance nati-onale wiederum eine zentrale Rolle unter Vichy. Die Griindung neuer Forschungseinrich-tungen, von denen die Fondation Carrel mit Abstand die bedeutendste war, spiegelt ein neu-es staatliches Interesse an eugenischen Forschungen wider. Diese Griindung stellte einen Bruch mit dem republikanischen Ideal der Autonomic der Wissenschaft dar.

Die weit verbreitete natalistische Propaganda war mit entscheidend fur die eher mode-rate Rolle, die negativ selektierende eugenische Bewegungen in der franzosischen Politik unter Vichy spielten. Gleichwohl hatten lange Zeit zahlreiche Ankniipfungspunkte sowie fliessende Ubergange zwischen den vielfaltigen, quer zu politischen Parteien stehenden na-talistischen und eugenischen Stromungen bestanden. Mit der Diskussion eugenischer Mal3-nahmen, wie sie NS-Politiker in Deutschland implementierten, ordnete sich dieses uniiber-sichtliche Feld neu an, ohne dadurch iiberschaubarer zu werden: Auch Gegner der NS-Steri-lisationspolitik konnten durchaus, wie der im Artikel vielzitierte Femand Boverat, positive Urteile liber die in Deutschland ergriffenen MaGnahmen auf bevolkerungspolitischer Ebene fallen. Quantitativ ausgerichtetes „Denken iiber die Bevolkerung" widersprach keineswegs der Vorstellung, dass auch (konstruierte) qualitative Merkmale von Individuen langfristig Einfluss auf die demographische Entwicklung im Namen der „nationalen Regeneration" hat-ten.

Die Erfmdung „qualitativer Merkmale" von Menschen - wie etwa die erwahnte Assi-miliationsfahigkeit - spielte zudem auch fiir die Diskriminierung und Exklusion auf anderen politischen Ebenen, etwa bei der Juden- und Migrationspolitik - die ich hier voUkommen ausgeklammert habe - eine wichtige Rolle.^^ Mit anderen Worten: In den verschiedenen po-

49 Ebd. , 2ff, 268f. 50 Ebd.,2.Noiriell999,218. 51 Dazu weiterftihrend ebd., lOOff.

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litischen Feldem Frankreichs schrieben sich durchaus auch Rassismen mit selektionierenden Funktionen ein. Allerdings speisten sich diese „selektiven Gesten" aus anderen Vorstellun-gen als etwa in Deutschland: In Frankreich lief der Rassismus tendenziell auf soziale Exklu-sion und gesundheitsfordemde Inklusion hinaus, in Deutschland auch auf physische Exter-mination.^^

In einer spateren Phase, ab etwa 1942, nahm die Vichy-Folitik deutlichere faschistische Zuge an.^^ Auf der Ebene der Familienpolitik anderte sich allerdings kaum etwas. Im Ge-genteil: Zahlreiche der unter Vichy verabschiedeten Gesetze blieben bis 1964 in Kraft. Inso-fem ist eine starke Kontinuitat auf der Ebene der Familienpolitik von der III. Republik liber Vichy bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu konstatieren.^"* Die Furcht vor dem politischen Feind in Deutschland sowie die Mobilisierung von Traditionen der Familie hatte, wie gesehen, bei der Legitimierung neuer MaBnahmen maBgeblichen EinfluB. Denkmuster der Rivalitat pragten auch den Wettlauf um eine systematische Verstaatlichung: In Frank-reich bemiihten sich Wissenschaftler und Politiker um eine umfassende Natalitats- oder Fa-milienpolitik, in Deutschland um eine Bevolkerungspolitik.

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„Familienpolitik" hin zu „Bev6lkeningspolitik". Vgl. dazu: Bussat 2003, 95f. Bussat halt es allerdings nicht fiir angemessen, fiir die Vichy-Zeit von einer Familienpolitik zu sprechen. Weiterfuhrend zur Migrations- und Judenpolitik von der III. Republique bis zur Vichy-Zeit ist zum Beispiel, mit zusatzlichen Literaturhinweisen Noiriel 1999,108ff, 171ff. Femer: Klarsfeld 32001.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbiichern

Steffen Pappert und Regula Stucki

I. Einleitung

Im Zentrum unseres Projektes, in dessen Rahmen der vorliegende Beitrag entstand, steht die Transformation von bevolkerungswissenschaftlichem Wissen in schulische Erziehung und Bildung in Deutschland zwischen 1870 und 1960. Die Bevolkerungswissenschaften werden in dieser Zeit gespeist aus Bereichen der Nationalokonomie und Statistik, der Medizin und Biologie, der Anthropologic und der Sozialwissenschaften. Die Untersuchung erfasst also auch die Gebiete Eugenik und Rassenkunde. Sie versteht sich als Beitrag zur Erforschung des auBerwissenschaftlichen Diskurses der Bevolkerungswissenschaften.

Zur Begegnung prognostizierter Gefahren der quantitativen und qualitativen Bevolke-rungsentwicklung folgem Wissenschaftler seit der Jahrhundertwende, verstarkt nach 1918, Handlungsbedarf. Nahezu alle - gleich welcher Couleur - messen neben Aufklarung und Bildung der Uberzeugungsarbeit und der "Umstimmung der Gesinnung" wesentliche Be-deutung bei.^ Daher will die Studie die Umsetzung dieser Ideen als einen Teilbereich von Bevolkerungspolitik naher beleuchten.

Im Nationalsozialismus wird der Vermittlung bevolkerungswissenschaftlicher Inhalte auch cine Funktion zur politisch-ideologischen Erziehung zugewiesen, so dass auch etwaige Instrumentalisierungen und Verstrickungen thematisiert werden.

Die Untersuchung erfolgt anhand schulischen Lehrmaterials, da dieses sowohl Infor-mationsmittel ist als auch eine erzieherische und politische Dimension enthalt. Die Analyse (genehmigter) Schulbiicher zielt darauf ab, ein Medium in den Blick zu nehmen, das - unter der Voraussetzung der Verfugbarkeit - durch die nachwachsende Generation der Bevolke-rung in ihrer ganzen Breite rezipiert wurde.^ Ein Vergleich der Medieninhalte im Zeitablauf sowie mit den wissenschaftlichen Aussagen sucht Antworten auf die Frage nach Kontinuita-ten und Briichen.

II. Materialbasis

Der folgende Beitrag basiert auf den bisherigen Sichtungen vorhandener Schulbuchbestande an der Universitatsbibliothek Augsburg sowie am Institut flir Internationale Schulbuchfor-schung in Braunschweig. Dabei konzentrierten wir uns auf die Facher Deutsch, Geschichte, Geographie/Erdkunde und Biologie/Lebenskunde im Zeitraum von 1870-1945. Diese Zeit-spanne wiederum wurde vor dem Hintergrund der historisch politischen Entwicklung in drei Epochen unterteilt: 1871-1918, 1919-1932, 1933-1945. Auf diese Weise wird es einerseits

1 Vgl. Cromm 2004, 297. 2 Vgl. ebd., 299.

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68 Steffen Pappert und Regula Stucki

moglich, die fur die einzelnen Perioden typischen bevolkerungswissenschaftlichen Inhalte systematisch zu erfassen. Andererseits gestattet uns der gewahlte Zeitrahmen Kontinuitatsli-nien von der Kaiserzeit, iiber die Weimarer Republik bis zum Ende des 'Dritten Reiches' auf-decken zu konnen bzw. Briiche aufzuzeigen.^

Fiir eine erste Sichtung nach bevolkerungswissenschaftlichen Inhalten in Schulbiichem haben wir das Cassianeum der Universitatsbibliothek Augsburg ausgewahlt.

Am Cassianeum wurden Werke zur Padagogik und Schule, Jugendschriften, Erbau-ungsliteratur und Bucher aller Disziplinen (Facherkanon der Lehrerbildung), aber auch Bel-letristik gesammelt. Die Cassianeums-Bibliothek umfasst ca. 67.000 Titel in 85.765 Banden. Aus dem 17. Jahrhundert stammen maximal 200 Titel, aus dem 18. Jahrhundert ca. 7.000, aus dem 19. Jahrhundert ca. 49.000, aus dem 20. Jahrhundert ca. 10.800 Titel. In alien Fach-gruppen dominiert die Literatur des 19. Jahrhunderts. Etwa 90% der Titel sind deutschspra-chig. Die Titel sind jedoch nicht separat aufgestellt, sondem in den Bestand der UB Augs-burg integriert und je nach Bedeutung auf einzelne Standorte verteilt.

Im Anschluss an die Recherche in der Universitatsbibliothek Augsburg wurde eine Sichtung im Georg-Eckert-Institut in Braunschweig durchgefuhrt. Diese Recherche diente der systematischen und reichsweiten Erfassung von Titeln der bereits in Augsburg unter-suchten Facher. Biologic und Geographic wurden als einzelne Facher in die voranalytische Datenerhebung einbezogen. Die Schulbuchsammlung im Georg-Eckert-Institut umfasst 160.000 Bande. Es werden Schulbucher der Facher Geschichte, Geographic und Sozialkun-de gesammelt. Im deutschsprachigen Bereich kommen die Deutschlesebiicher hinzu. Die deutsche Abteilung enthalt nahezu vollstandig alle Schulbucher, die in den genannten Fa-chem seit 1945 erschienen sind. In der Sondersammlung historischer deutscher Schulbiicher fmdet man ca. 23.000 Bande, die seit dem 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Welt-kriegs erschienen sind."* Zusatzlich zu diesem Bestand wurden die Biologic-, Naturkunde-bzw. Lebenskundebiicher gesichtet, die an die Technische Universitat Braunschweig, Fach-bereich Geistes- und Erziehungswissenschaften, Institut fur Fachdidaktik der Naturwissen-schaften, Abt. Biologic und Biologiedidaktik ausgelagert wurden.

Nachdem der Schwerpunkt der Recherche an der Universitats-Bibliothek Augsburg aufgrund des verfiigbaren Bestandes auf dem Zeitraum 1871-1919 lag, konzentrierten wir uns in Braunschweig auf die Perioden 1919-1932 und 1933-1945. Im Gegensatz zu den Be-standen in Augsburg waren die Titel fiir die jeweiligen Facher in Braunschweig bereits sy-stematisch nach Klassenstufe und Schultyp geordnet. Dies verdeutlicht exemplarisch fol-gende Einteilung ftir das Fach Geschichte.

Geschichte Primarstufe

Geschichte 5.-6. Schuljahr

Geschichte Unterstufe Gymnasium

Geschichte 5.-6. Schuljahr Volksschule

Geschichte 5.-6. Schuljahr Mittelschule

3 Cromm et al. 2005. 4 Vgl. http://www.gei.de/deutsch^ibliothek/schulbuchsammlung.shtml.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbiichem 69

Geschichte 7.-10. Schuljahr

Geschichte Mittelstufe Gymnasium

Geschichte 7.-8. Schuljahr Volksschule

Geschichte 7.-10. Schuljahr Mittelschule

Geschichte Oberstufe Gymnasium

Geschichte Lehrerbildungsanstalten (Lehrerseminare)

Geschichte Atlanten

Geschichte Quellen und Zusatzliteratur

III. Darstellungsweise bevolkerungswissenschaftlicher Inhalte

Im Folgenden wird anhand einiger Beispiele gezeigt, auf welche Weise und mit welchen Mitteln bevolkerungswissenschaftliche Inhalte in den verschiedenen Fachem umgesetzt wurden. Dabei handelt es sich um Text- und Bildmaterial, das zum Zwecke der Verdeutli-chung fur diesen Beitrag ausgewahlt wurde. Es geht uns also vorrangig um qualitative Aspekte der Darstellung und nicht um die quantitativen GroBenordnungen tiber die Anteile der Titel mit bevolkerungswissenschaftlichen Inhalten. Zu letzterem ist nach derzeitigem Forschungsstand zu konstatieren, dass der Anteil an Schulbiichem mit bevolkerungswissen-schaftlichen Themen verhaltnismaBig gering ist.^ Besonders in den unteren Klassenstufen werden bevolkerungswissenschaftliche Inhalte nur sehr marginal behandelt, und wenn, dann altersgerecht aufgearbeitet (z.B. Gesundheitsregeln). Sie spielen aber auch in den Btichem hoherer Stufen keine zentrale Rolle. Die Themen in den Biichern sind von 1870 bis nach 1919 je nach Schulfach konstant, d.h. es gibt keine auffalligen Bruche oder neu eingefuhrte Themengebiete. Auch fur die Perioden 1919-1932 und 1933-1945 lasst sich konstatieren, was sich nach den Recherchen in Augsburg bereits andeutete. Der Anteil an bevolkerungs-wissenschaftlichen Inhalten ist vor allem in den ersten Schuljahren als sehr gering einzu-schatzen. Zwar nimmt der relative Anteil bevolkerungswissenschaftlichen Stoffes in den ho-heren Klassenstufen zu. Dies andert jedoch nichts an der Tatsache, dass der absolute Anteil als sehr niedrig einzustufen ist. Die fiir unseren Untersuchungszusammenhang relevanten Themen - wenn sie behandelt werden - variieren insofem, als neue politisch-historische Entwicklungen im Lehrstoff ihren Niederschlag finden. Trotz dieser Verschiebung in der Akzentuierung ist nicht davon auszugehen, dass es sich hier um Bruche handelt. Vielmehr zeigt sich, dass die einzelnen Themen den jeweiligen Bedingungen angepasst werden, d.h. nach neuesten Erkenntnissen modifiziert werden. Diese Modifikationen beruhen nicht aus-schlieBlich auf wissenschaftlichem Fortschritt, sondem sind ebenso Ausdruck der sich ver-andemden politischen Machtverhaltnisse.

Cromm et al. 2005.

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70 Steffen Pappert und Regula Stuck!

Im Anschluss warden wir ftir die einzelnen Perioden Beispiele aus den einzelnen Fa-chem zur Veranschaulichung prasentieren.

I II . 11871-1918

In dieser Epoche beschranken sich die bevolkerungswissenschaftlichen Inhalte^ auf wenige Bereiche. Ein Thema bleibt liber die Jahre nahezu unverandert, jedoch ein obligatorischer Bestandteil in den Lehrbiichem aller Facher: "Die Germanen" bzw. "Die alten Deutschen". Dabei wird vor allem hervorgehoben, dass "trotz vieler Wandlungen in der Zeit und trotz un-ablassiger Einwirkung des Fremden uns eigentiimlich und ebenso urspriinglich geblieben ist, wie deutsches Wesen in der Urzeit war."^ Die Germanen werden als starke, blonde, blau-augige, freiheitsliebende Menschen beschrieben. Zwei Ausziige aus einem Lese- und einem Geschichtsbuch sollen dies exemplarisch belegen.

„Die Bewohner des alten Deutschland waren ein kraftiger Menschenschlag. Ihr Korper zeigte ho-hen Wuchs, groBe Starke und Ausdauer, helle Hautfarbe, blondes Haar und blaue Augen. Ihre stolze Haltung, ihr kuhner, durchdringender Blick und ihre gewaltige Stimme setzten selbst die kriegsmutigen Romer in Erstaunen und Schrecken."^

„Bev61kerung. Die Germanen (wahrscheinlich = Verwandte, Nachbam; im Gegensatz zu den Walchen. Welschen = Fremden, Auslandem) waren meist hochgewachsene, kraftige Gestalten mit blauen Augen und langen blonden oder roten Haaren, die haufig auf dem Kopfe zusammen-gebunden wurden; ... Wertvolle Eigenschaften unserer Vorfahren waren: todesmutige Tapfer-keit, unbesiegbare Freiheitsliebe, Stolz, ritterliche Gastfreundschaft, unerschtitterliche Treue, Achtung und Ehrfurcht vor den Frauen, ein sittenreiches Familienleben und strenge Kindererzie-hung."9

Einzelne Autoren betonten in diesem Zusammenhang, dass sich die Germanen gezielt fflr den Erhalt der physischen Starke ihres Volksstammes einsetzten:

„Die Fiille der Kraft gait unseren Urvatem so hoch, dass sie kranke Kinder lieber toteten als zu Kriippeln heranwachsen lieBen, und daB die Alten, wenn sie sich ftir nichts mehr tiichtig hielten, sich selbst den Tod gaben. Deshalb wurde die Kraft des Leibes auch filihzeitig gestahlt, das neu-geborene Kind in kaltes Wasser getaucht, das heranwachsende durch jede Leibesiibung abgehar-tet."io

Ein weiteres dominierendes Thema wahrend dieser Epoche waren die Auswirkungen des Dreifiigjahrigen Krieges auf die Bevolkerungszahlen und die Infrastruktur des deutschen Reiches. So schildert beispielsweise D. Muller anhand konkreter Zahlen, in welchem MaBe die Stadte "entvolkert" wurden:

„Berlin hatte nach dem Kriege noch 6000 Einwohner, etwa den vierten Teil seiner fruheren Zahl; ... In Prenzlau waren von 787 Hausem noch 107 bewohnt, und in vielen anderen Stadten war es nicht besser bestellt. In Augsburg war die Einwohnerzahl von 80000 auf 18000 herabgesunken,

In Anbetracht der wenigen Belegstellen wurde "bevolkerungswissenschaftlich" von uns sehr weit gefasst. Freytag 1897, 170. Welter 1899, 330.

9 Lorenz 1906, lOOf Duller 1912, 77f 10

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbtichem 71

Gottingen besaB nach dem Kriege nur noch die Halfte seiner Burger, und in Northeim gab es nach dem Kriege noch 150 Burger, von denen nur 40 Steuem zahlen konnten."^^

Vergleichbare Beschreibungen finden sich auch in den Geschichtsbiichem.

„... So wurden viele Industrie- und Handelsstadte wieder vorzugsweise Bauemstadte, wie seiner-zeit nach der Volkerwanderung. Augsburg beschaftigte vor dem Krieg etwa 6000 Weber nachher keine 500.... Uber 200 Jahre dauerte es, bis Deutschland wieder so viel Geld und Menschen hatte wie vor dem verhangnisvolle [sic!] Krieg; denn auch in den Stadten war der Menschenverlust durch Hunger und Pest ein entsetzHcher. Augsburg und Niimberg verloren weit iiber die Halfte ihrer Bewohner, Gesamtbayem und Kurpfalz fast 90%. Deutschlands Bevolkerungszahl ging von 18 Millionen auf 6 zuruck."^^

Bemerkensw^ert ist, dass Bevolkerungszahlen bei der Beschreibung des v^eiteren histori-schen Verlaufs nur sehr selten genutzt vmrden. Erst in Texten iiber den deutschen National-staat nach der Griindung des Deutschen Reiches 1871 werden wieder Bevolkerungszahlen zur Vermittlung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens herangezogen. Die Entwicklung des deutschen Volkes und deutscher Gebiete wird groBtenteils im Zusammenhang mit den Auswanderungswellen und den deutschen Kolonialbestrebungen geschildert. Besonders die Auswanderungstendenzen, die mittlerweile statistisch erfasst wurden, waren von Interesse. Entsprechende Zahlenangaben waren beispielsweise in den Geographiebiichem jener Zeit nachzulesen.

„3. Umfang der Zahlenverhaltnisse der deutschen Auswanderung Je mehr die Auswanderung zunahm, desto mehr wahren die bestrebenden deutschen Regierungen und Statistiker bemiiht, dieselbe nach Umfang und Ziel naher zu ermitteln und die personlichen Verhaltnisse der Auswanderer kennen zu lemen. Durch Reichsbeschlufi vom Jahre 1871 wurde bestimmt, dafi in alien deutschen Einschiffungshafen Aufzeichnungen iiber die daselbst stattfin-dende Auswandererbewegung vorgenommen werden sollten. Die nach europaischen Landem gerichtete Auswanderung ist von dieser Erhebung ausgeschlossen. In Band II der Statistik des deutschen Reiches ist die Zahl der gesamten tiberseeischen deutschen Auswanderung geschatzt:

imJahrzehnt 1821/30 1831/40 1841/50 1851/60 1861/70 1871/80 1881/85

" 1821-1885

auf 8 000 auf 177 000 auf 485 000 auf 1 130 000 auf 970 000 auf 595 151 auf 817 778 auf4 182 929

Personen

Personen

genau ermittelt genau ermittelt

Rechnet man dazu noch die von 1871-84 nach franzosischen Quellen iiber Havre erfolgte deut-sche Auswanderung mit 63183 Personen, sowie nach den statistischen Angaben der Vereinigten Staaten die Einwanderung von 1886 mit 98920 Personen, die vom Jahre 1887 mit 111256 Perso-nen und vom Jahre 1888 mit 106924 Personen, so ergibt sich als Gesamtsumme der deutschen Auswanderung seit 1821 eine Kopfzahl von iiber AVi Millionen, die mit der Auswanderung nach europaischen Landem und anderen tiberseeischen Landem (auBer den Vereinigten Staaten) sind

11 12

MiillerD. 1897,228. Lorenzl906,218f

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72 Steffen Pappert und Regula Stuck!

in den letzten drei Jahren dreist rund auf 5 Millionen Personen veranschlagt werden kann. Die Anzahl der Frauen steht nicht bedeutend hinter der Anzahl der Manner zurtick. Die Auswanderer reisen groBtenteils in Familien von durchschnittlich 4 Personen.

Das Steigen und Fallen der Auswanderung in den Jahren 1871-1889 moge folgende Tabelle veranschaulichen:

1871 wandertenaus 75 912 Personen

1872

1873

1874

1875

1876

1877

1878

1879

125 650

103 638

45 112

30 773

28 368

21 964

24 217

33 327

1880

1881

1882

1883

1884

1885

1886

1887

1888

1889

wanderten aus II

II

" It

II

" II

II

II

106 190 Personen

210 547

193 869

166 119

143 546

107 238

79 875

99 712

98 515

90 255

Tabelle liTromnau 1891, 64.

Im Allgemeinen jedoch fmden wir in den Texten lediglich Aussagen zur historischen Ent-wicklung und dem status quo verschiedener Volker. Die Bevolkerung Mitteleuropas wird in Abgrenzung zu anderen Volkem global als hoherwertig eingestuft. Zur Stutzung dieser Ar-gumentation wird vor allem der Einfluss des Klimas auf den Menschen thematisiert. In die-sem Zusammenhang wird auch - aber hochst selten - auf den Begriff Rasse naher eingegan-gen.

„Rasse. Unter Rasse versteht man die Eigenart einzelner Zweige der Menschheit in bezug auf Korperbau (vor allem Schadelform, Gesichtszxige und Haarbildung) und Hautfarbe. Auch gei-stig-sittliche Merkmale zeigen die einzelnen Rassen; doch dtirften hierbei andere Einfliisse (Bo-den, Klima, Lage, Bekanntschaft oder mangelnde Bekanntschaft mit der Kultur) mitbestimmend sein."i3

Viel ofter sind jedoch die lokale Abgrenzung zu Frankreich sowie die Hervorhebung deut-scher/germanischer Eigenschaften (im Vergleich zum Slawentum) zu beobachten. Diese Gegeniiberstellung wird vorrangig zur Beschreibung der Besiedlung der Ostgebiete ab dem Mittelalter genutzt: deutsche Kultur, Arbeitsweise, Architektur verdrangen "minderwertige" slawische Lebensart.

Lorenz 1906, Anhang XVI.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbtichem 73

III. 2 1919-1932

Wie bereits erwahnt, fmdet ab dieser Epoche durch die Einarbeitung historischer Ereignisse (Friedensvertrag von Versailles) eine neue Gewichtung der einzelnen Inhalte statt. Die Sied-ler in den Ostgebieten werden auch wahrend dieser Periode thematisiert. Infolge der "Ge-bietsverluste" sah man sich nun aber veranlasst, nicht nur das Auslandsdeutschtum in diesen Regionen starker in den Vordergrund zu rticken (ganze Kapitel stehen nun z.B. unter der tjberschrift "Volk will zu Volk", "Von unseren Briidem im Ausland", usw.), sondem auch zwischen Auslandsdeutschen und Grenzlanddeutschen zu differenzieren. So stellt Ludwig Finckh in seinem Beitrag "Der Auslandsdeutsche" die Frage:

„Wer ist eigentlich Auslandsdeutscher? Der Binnendeutsche pflegt alles in einen Topf zu werfen, was aufierhalb des Reiches wohnt. Aber man wiirde dem Deutschosterreicher, dem Deutschstidti-roler, dem Sudetendeutschen, dem Balten ans Herz gehen, wollte man ihn ohne weiteres Aus-landsdeutschen heifien. Er fuhlt sich als Deutscher, nur durch politische Grenzen von uns ge-trennt. Man hat fiir ihn den Namen Grenzlanddeutscher gepragt. Zu ihm haben sich neuerdings Deutsche gesellen miissen, die unzweifelhaft zu uns gehoren, aber durch tiberstaatliche 'Weisheit' von uns abgelost wurden; 'unerloste Deutsche Brtider', in Danzig, im Memelland, Eupen, Malme-dy, Elsass-Lothringen und anderen Orten. Die im weiteren Ausland lebenden Deutschbltitigen, ob sie die deutsche Staatsangehorigkeit haben oder nicht, bezeichnet der Sprachgebrauch als Auslandsdeutsche." "

In den Erdkundelehrbtichem wird diese Differenzierung beispielsweise anhand von Statisti-ken und Grafiken veranschaulicht (Abb. 1 und 2^^):

4. Das Deutf tum in 5er U)elt. Die 3oV ^ ^ Oeutf^en auf 5ec gonsen (itl>e wxib ^eute auf run5 95 Itlillionen

Kopfe gef Q t.

Qbeffid i 95. Dettcilung 6et Oeutft^en, fibetfi^i 96. (5Iie6ctung 5es 6eut* auf 5et(Er5e. fdjen X>olUs.

€tbieile

€utopa . . . fljien . . . . Rmerifa . . . afrifa . . . . Hufttolien un5 Polynefien .

€t6e.

(Befatni* beodUemng

465 000 000 1 078 000 000

232 000 000 139000 000

8 000 000

1922000 000

6efamt3a l bet

Dcutf^en

83 000 000 100 000

11000 000 40 000

160000 94300000

P.9.

18 0,02 4,8 0,1

2,0

24,9

Rcic sbeutfc c ^rcn36eut|^e Huslan55eutf( e 15 mill.

im3nlatt6 imHusIanb in<Eutopa inttberfee 62,5 mill. 1,5 mill. 3 mill. 10 mill

Abbildung 1: E. von Seydlitzsche..., 227.

14 Finckh 1926, 102. 15 Die konzentrischen Kreise des Auslands- und Grenzlanddeutschtums. 40,4 Mill.

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74 Steffen Pappert und Regula Stuck!

Abbildung 2: Miiller, A. 1926, 118.

Aber auch Karten mit den "verlorenen Gebieten" dienen als Mittel zur Darstellung jener als "Schandvertrag" betitelten Nachkriegsordnung (Abb. 3^ ).

Wird im Zu-sammenhang mit Grenz landdeu t -schen meist das von ihnen erfahre-ne Unrecht thema-tisiert ("Versailler-Diktat"), so liegt der Schwerpunkt der Schilderung der nun gegebenen Verhaltnisse in den anderen deutsch besiedelten Gebie-ten einerseits auf den Verdiensten der Deutschen beim (land-) wirt-schaftlichen und kulturellen Auf- . n . , , ^ r , ^ , • i ,. i , J . 1 Abbildung 3: Teubners Geschichtliches ..., 9 bau der einzelnen "="

^^ Deutschlands verlorene und zeitweise besetzte Gebiete.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbuchem 75

Regionen (Siebenbiirgen, Banat, Steiermark, Kaukasus usw., aber auch Amerika) anderer-seits auf dem immer mehr bedrohten Deutschtum,

„[d]enn bis in jene stillen Walddorfer drang der Hass gegen die Deutschen, die, iiberall kliiger, sparsamer und starker als die Slawen, zu behaglichem Besitze gelangt waren. Aber die Slawen verwarfen das Beste, was sie den Deutschen hatten ablemen konnen, die deutsche Sprache, die-sen Weg zum Heil friedloser Seelen, aber auch zur Macht und zum Gewinn." "

Als weitere Folge der Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg wurde beklagt, dass dem deutschen Volk nur noch ungeniigend Lebensraum zu Verftigung stehe. Aufgearbeitet und belegt wurde diese Aussage unter anderem durch Vergleiche der Bevolkerungsdichte von Deutschland, England, Frankreich, aber auch Russland (vgl. Abb. 4^^).

Abbildung 4: Fussier 1932, 199.

Als weitere Folge der Versailler Vertrage wird seit dem Anfang der zwanziger Jahre die zu-nehmende Verstadterung in den Fokus geriickt. Die Industriestadte locken die Landarbeiter mit hoheren Lohnen und sonstigen Annehmlichkeiten in den Westen (Landflucht), (s. Abb. 5^^). Die frei gewordenen Stellen werden iiberwiegend von billigeren slawischen, nament-lich polnischen Arbeitskraften besetzt, die sich nun im Osten niederlieBen.

„Der Erfolg auf dem Lande ist ein Zuriickdrangen des Deutschtums, ein Vordringen des Slawen-tums - in den Stadten ein Wohnungselend, das Leib und Seele immer weiterer Volksmassen zu verderben droht." ^

17 Bartsch 1925, 124. 1 Mutterland und Kolonien. 1 Abb. 127. Bevolkerungszu- oder abnahme von 1910-1925 in Prozenten der ortsanwesenden Bevolkerung von

1910. 20 Damaschke 1927, 196.

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76 Steffen Pappert und Regula Stucki

Abbildung 5: Bitterling 1929, 141.

Die mit der Verstadte-rung verbundene Ge-fahr fur die Bevolke-rungsentwicklung wur-de von nun an ein zen-trales Thema in den untersuchten Fachem. Zur Verdeutlichung des sich abzeichnen-den Missverhaltnisses zwischen Stadt- und Landbevolkerung pra-sent ie r te man bei -spielsweise statisti-sche Zahlen oder LFbersichten aus "Wirt-schaft und Statistik", wie folgendes Beispiel (Abb. 621) 2eigt. Weiterhin wurde die 'Blut und Boden-Ideo-

logie' in den Schulbuchem sukzessive zugespitzt. Auch in diesen Texten stehen die Land-flucht und ihre Konsequenzen fur das deutsche Volk im Zentrum der Argumentation.

HeiBt es 1928 lediglich, das Land sei "die Quel-le unserer Volkskraft"^^, so wird nach 1933 ex-plizit die Verbindung von "Blut und Boden" an-gesprochen:

„Die Verbundenheit mit der Scholle (Boden). Zu den Kraften, die im Volke ruhen, gehort die Ver-wurzelung des Volkes mit dem Boden, der heimatli-chen Scholle. Vor hier aus stromen gesundes Blut und neue Lebenskraft in die Blutbahn des deutschen Volkes und emeuem immer wieder sein Menschen-tum und seine Kultur. Ein wirtschaftlich gesundes Bauemtum ist die Grundlage des Volkes. Seine For-derung ist aber auch notwendig, wenn die deutsche Bevolkerungsziffer nicht in einer den Bestand des Gesamtvolkes bedrohenden Weise herabsinken soil. Wahrend sich in den GroBstadten ein schnelles Ab-nehmen der Geburtenziffer bemerkbar macht, weist das Landvolk einen GeburtentiberschuB auf. Wenn zum Beispiel die Zuwanderung vom Lande auf Berlin gesperrt wurde, 'wiirden von den 4 Millionen Ein-Abbildung 6: Harms 1927, 34.

2 Aus „Wirtschaft und Statistik", herausgegeben vom Statistischen Reichsamt [Verlag Reimar Robbing, Berlin 61].

22 Haacke 1928, 60.

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Formen der Verbreitung bevolkemngswissenschaftlichen Wissens in Schulbtichem 77

wohnem GroBberlins nach funf Generationen - dies sind 150 Jahre - noch knapp 100000 Nach-kommen iibrig sein'. 'Als umgekehrtes Beispiel ist auf die schwabischen Bauem im Banat ver-wiesen, die im Jahre 1800 riind 70000 waren, im Jahre 1900 dagegen 500000 (Reichslandwirt-schaftsminister Darre).

Aus diesen Beispielen geht hervor, was die Verbundenheit des Volkes mit dem Boden und der Natur fur das Steigen oder Fallen der Bevolkenmgszahl bedeutet. Die unverwustliche Lebens-kraft des Bauemtums muB deshalb aus rassebiologischen Grunden mit alien Mitteln erhalten werden." ^

III. 3 1933-1945

Analog zur Blut und Bo-den-Thematik lassen sich auch fur die anderen bereits beschriebenen Bereiche Kontinuitaten auffinden. Die zwischen 1919 und 1932 gesetz-ten Schwerpunkte werden konsequent weiter ge-fuhrt. Dabei werden die Inhalte den neuen politi-schen Vorgaben entspre-chend modifiziert. Auf-fallend ist, dass in einem

groBeren MaBe als bisher Abbildung 7: Fussier 1932, 201. Bildmaterial zur Ver-mittlung bevolkerungswissenschaftlichen Lehrstoffes genutzt wurde. Analog zu den von

Nikolow untersuchten Ausstellungen zur Gesund-heitsaufklarung entsteht bei der Analyse der Schulbii-cher jener Zeit der Eindruck, dass die Bearbeiter davon ausgingen, "auch wissenschaftliche Botschaf-ten mittels visueller Darstellungen unmittelbarer, ein-deutiger und eindriicklicher an die Rezipienten zu bringen".^^ Im Zuge dieser Visualisierung verdrang-ten bzw. erganzten Bildstatistiken, Grafiken, Zeich-nungen und Abbi ldungen die durch Text kommentierten statistischen Zahlentabellen. Der Vor-teil dieser Illustrationen lag darin, dass sie als Ganzes wahrgenommen werden konnten und nicht nur der Argumentation, sondern auch der Imagination dien-

,,,.,, ^ , ^ , ,^^^ ten.^^ Mit diesen bildhaften Darstellungen verschie-Abbildung 8: Meerkatz 1935, j ^ A •• j ui r-j xi7- i

^ denster Auspragung wurde sowohl auf das Wissen als 80.

23 Hohmann 1934, 78f. 24 Niko low 2005 .

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auch auf die Emotionen, d.h. das "Sehen, Fiihlen, Denken und Wollen"^^ der Schuler/innen gezielt Einfluss genommen. Die folgende Bildtafel vermittelt einen ersten Eindruck, wie derartiges Anschauungsmaterial gestaltet werden konnte. Dominierten in der Epoche von 1919-1932 noch Grafiken zur Verdeutlichung der zunehmenden Verstadterung (siehe oben Abb. 6), so wurden diese nun durch Illustrationen ersetzt.

Die bis hierhin in den Schulbuchem dargestellten bevolkerungswissenschaftlichen In-halte bleiben uber den untersuchten Zeitraum hinweg also relativ konstant. Die Auswirkun-gen der Auswanderungswellen, der Ost-West-Wanderung infolge der Industrialisierung, so-wie der Verstadterung bekamen nach dem Ersten Weltkrieg aber eine neue Dimension. Es zeichnete sich ab, dass das um die Jahrhundertwende einsetzende Bevolkerungswachstum in sein Gegenteil umschlug. Vor allem der Erste Weltkrieg und seine Ergebnisse beeinflussten im betrachtlichen AusmaB die Entwicklung der deutschen Bevolkerung.

"Rund 2 Millionen Manner blieben auf dem Felde der Ehre. Ihr Verlust ist um so schmerzlicher, weil sie durchweg zu den besten, gesiindesten, tuchtigsten, tapfersten Mannem, zur Bltite der Na-tion gehorten; das vorzeitige Ausscheiden dieser 2 Millionen Manner bedeutet nicht nur einen sehr erheblichen quantitativen, sondem auch einen qualitativen Verlust, einen Verlust an bester Erbmasse des Volkes. ...Insgesamt wurden sonach durch die Vertrage von Versailles und St. Ger-main 15^2 Millionen Deutsche teils (namlich Wi Millionen) unter fremde Herrschaft gebracht, teils (namlich 6 Millionen) verhindert, sich dem Deutschen Reich anzuschliefien." '

Die Folge war ein drastischer Gebur-t e n r u c k g a n g , vo r dessen v o l k s w i r t -schaftlichen, kultu-r e l l e n u n d d e n volks- und national-poli t ischen Gefah-ren Friedrich Burg-dorfer warn t . Die b e v o l k e r u n g s w i s -s e n s c h a f t l i c h e n T h e m e n B e v o l k e -rungsen twick lung und die Folgen des Geburtenriickgangs w e r d e n nun auch

1 430 000 Geburten 1910

1 0?0 000 Geburten 1930

780 000 Geburten 1960

Wachsendes Volk Scbrumpfendes Volk Absterbendes Volk flbb. 170. Der flitersauf bau, 5en bas deutfdfc DoH in ben 3a^ten 1910 (I) unb 1930 (II) l otte unb bm es, falls bie <5ebutten3a] I toeiter fin!t, oorausji^tli^ im 3a] je 1960 (HI) a* ben iDirb. Die monnli^en perjonen finb bmdi \\\\ unb bie toeiblit en bur^ == bejet^net. Die ftarfe (Einbudjtung Kv auf bet Iltannetfeite in II ftellt bie Dcilufte im XDeltfrieg bar, unb bie tiefen beiberfeitigen ©nfd^nitte GA in n unb HI jinb burdj bm \iatUn flusfall an <5eburtcn

loa^renb biefer 3cit bebingt. (Hadj Burgborfer.)

A b b i l d u n g 9 : Schmei l sNaturwissenschaf t l iches . . . 1940, 149.

v e r m e h r t in den S c h u l b u c h e m aufgegriffen. Z u d i e s e m Z w e c k w e r d e n be i sp i e l swe i se die

Ergebnisse Burgdorfers in den Schulb i ichem veroffentlicht und erlautert.

25 Aus dieser Einsicht resultiert offenbar auch "die zeitgenossische Vorstellung von der herausragenden Bedeu-tung der Bilder gegeniiber Texten." (Nikolow 2005)

26 Der Reichs- und PreuBische Minister... 1935 ,43 . 27 Burgdorfer 1929, 13ff.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbiichem 79

In Abbildung 10^^ wird gezeigt, mit welchen Mit-teln den Schiilern erklart wird, wie die Bevolke-rungspyramiden zu inter-pretieren sind. Auch hier wird die visuelle Prasenta-tion genutzt, um die ganz-heitliche Rezeption zu er-leichtem. Bei der Besprechung die-ses Phanomens werden aber nicht nur die quantita-

Abbildung 10: Graf 1943, 168. ^iven Aspekte der bedroh-lichen Bevolkerungsent-

wicklung behandelt, sondem auch die qualitativen. Den Schtilem sollte vermittelt werden, dass es nicht nur auf die Anzahl der Geburten ankommt, sondem auch auf die Eigenschaften der Nachfahren. Um jene Eigenschaften in den Blickpunkt zu riicken, wurden die Schtiler mit Ahnenkunde und Vererbungslehre konfrontiert.

Vererbungslehre, Familienkunde, Rassenkunde, Rassenhygiene und BevolkemngspoH-tik werden in dieser Epoche durch Erlass Pflichtstoff. So heiBt es im Erlass des PreuBischen Ministeriums ftir Kunst und Volksbildung vom 13.9.1933 - UII C 6767, ZBIUV. S. 244.

„In den Abschlussklassen samthcher Schulen - an den neunklassigen hoheren Lehranstalten auch in U II - ist unverzuglich die Erarbeitung dieser Stoffe in Angriff zu nehmen, und zwar Verer-bungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Famihenkunde und BevolkemngspoHtik. Die Grund-lage wird dabei im wesentUchen die Biologie geben mtissen, der eine ausreichende Stundenzahl -2 bis 3 Wochenstunden, notigenfalls auf Kosten der Mathematik und der Fremdsprachen - sofort einzuraumen ist. Da jedoch biologisches Denken in alien Fachem Unterrichtsgmndsatz werden muB, so sind auch die tibrigen Facher, besonders Deutsch, Geschichte, Erdkunde, in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen."^^

Der hier auszugsweise zitierte Erlass wurde durch einen weiteren Erlass vom 15.1.1935 "auf die Volks-, mittlerenund hoheren Schulen des ganzen Reiches ausgedehnt". In jenem Erlass des Preussischen Ministers fiir Wissenschaft, Kunst und Volksbildung^^ wurde jedoch nicht nur der Geltungsbereich auf das gesamte Reich erweitert. Vielmehr fmden wir in diesem de-taillierte padagogische Anleitungen fur die jeweiligen Unterrichtsfacher. Die Vermittlung dieses Stoffes dient vorrangig dazu, "in der Jugend Verantwortlichkeitsgefiihl gegenuber der Gesamtheit des Volkes, d.h. den Ahnen, den lebenden und den kommenden Geschlechtem, zu starken, Stolz auf die Zugehorigkeit zum deutschen Volk als einem Haupttrager des nor-dischen Erbgutes zu wecken und damit auf den Willen der Schiller in der Richtung einzuwir-ken, dass sie an der rassischen Aufartung des deutschen Volkstums bewusst mitarbeiten".

^ Abb. 104. Krankhaftes und gesundes Verhaltnis zwischen der erwebenden Jugendschicht und der verbrau-chenden Altersschicht.

29 Der PreuBische Minister... 1933, 244. 3 Der Reichs- und Preufiische Minister... 193 5,43 ff.

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80 Steffen Pappert und Regula Stucki

Dass die Umsetzung dieser Vorgaben in kiirzester Zeit erfolgte, belegt der folgende Auszug aus dem Vorwort eines Lebenskundebuches:

,^us der Vererbungslehre der fniheren Auflagen entstand eine ausfuhrliche Darstellung der Erblehre, zu der die Abschnitte 'Rassenkunde' und 'Lebensfra-gen deines Volkes' traten. Der Umfang dieser Kapi-tel ist durch den Erlass vom 15.1.1935 bestimmt, der die Behandlung der Vererbungslehre, Familien-kunde, Erbgesundheits- und Rassenpflege, Be-volkerungspolitik und Rassenkunde alien Schulen zurPflichtmacht."^^

Vor allem im Each Biologie wurde den Kindem nun erklart, auf welche Weise sich verschiedene geneti-sche Merkmale vererben, welche Folgen dies hat und wie negative Einfltisse auf die Vererbung ver-hindert werden. Dies wird den Schulern wiederum in Form von Abbildungen und Bildern illustriert, wie folgende Belege zeigen (Abb. 1P^ u. 12).

Es wird argumentiert, dass die "Kultur" durch ihren Einfluss auf die „Auslese ... starker die Erhal-tung der Schwachlichen und Kranken gefordert Abbildung 11: Meyer & Zimmer [hat] als die Erhaltung der rassisch besonders Wert- mann 1942, 161. vollen".33

Abbildung 12:Graf 1943,96.3^

31 Kuhn 1937, Vorwort. 3 Abb.SOVerdrangung gesunden Volkstums durch Minderwertige bei verschiedender Fortpflanzungsstarke.

(Nach Zahlenbildem.) Gleiches Heiratsalter voausgesetzt, Generationsabstand von 30 Jahren angenommen. 33 Meyer & Zimmermann 1942, 161.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbiichem 81

Wie einzelne negative Merkmale sich auf die Entwicklung eines anfangs gesunden Stammbaumes auswirken, verdeutlicht Abbildung 12. Zur Demonstration der Folgen des Einflusses "minderwertiger Erbanlagen" werden den Schiilem unter anderem Fotos prasen-tiert, auf denen die Nachkommen einer gesunden und einer minderwertigen Ahnenreihe ge-geniibergestellt werden (Abb. 13).

Abbildung 13: Graf 1943, Tafel 24.

Aber auch in den Lesebiichem fand die Ahnenkunde verstarkt Benicksichtigung. Dies ge-schah durch ganze Kapitel ("Die lebendige Kette", "Du und Deine Ahnen") oder in Form von einschlagigen Texten. Darin werden die Schiilerlnnen nicht nur dazu aufgefordert, nach ihren Vorfahren zu forschen und die Geschichte ihrer Verwandten in Stammreihen festzu-halten, sondem auch aktiv zur Reinhaltung des Blutes beizutragen.

„In dir lebt das Erbgut von Millionen Ahnen, das Blut deines ganzen Volkes. Hinter deinen 2 El-tem stehen 4 GroBeltem, 8 UrgroBeltem und so fort. Mit jeder friiheren Ahnenfolge verdoppelt sich die Zahl deiner Ahnen. In der 25. Generation sind es schon mehr als 33 MilHonen; 25 Gene-rationen, das sind etwa 600 Jahre. Von jedem dieser 16 Millionen Manner und 16 Millionen Frauen haben an dir gewoben, haben vererbt, verstarkt oder ausgeloscht. ...Kampfe auch du fur die Zukunft dieses Blutes! Im Blute deines Volkes bist du unsterblich."^^

Stammbaum der Verbrecher-Familie Zero. (Die Vierecke bedeuten mannliche, die Kreise weibliche Perso-nen. Die Ziffem bezeichnen die Anzahl gleichartiger Geschwister) Blunck 1944, 5.

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82 Steffen Pappert und Regula Stucki

Ein hervorragendes Beispiel fur die padagogische Aufbereitung erbbiologischen Wissens liefert Martin Staemmler mit seinem Lesestiick "Was ist wichtiger?". Es handelt sich dabei um Lehrstoff fur die funfle Klasse (= 1. Klasse Mittelschule). In diesem wird die Geschichte eines Kuckucks erzahlt, der wie eine Nachtigall singen wollte. Da der Kuckuck der Meinung war, die Begabung zum Singen lieBe sich mit Hilfe eines guten Lehrmeisters erlemen, be-schlossen seine Frau und er ihre Eier in die Nester anderer Vogel zu legen. Denn sie sagten sich: "Wenn dann unsere Jungen auskriechen und mit den anderen zusammen aufwachsen, so miiBten sie das Singen doch lernen." Das Experiment scheiterte jedoch. Je alter der "FremdHng" wurde, desto mehr unterschied er sich von seinen "Stiefgeschwistem". "... er flog nicht wie sie. Er flog, wie sein Vater, seine Mutter fliegen. Er flog, wie eben ein Kuk-kuck fliegt." Auch beim Singen "kam nichts anderes heraus als bei seinen Eltem und GroB-eltem. Er rief Kuckuck' wie sie." Das Resiimee der kurzen Geschichte lautet wie folgt. "Ob-wohl die Alten immer wieder das gleiche versuchen und ihre Eier in fremde Vogelnester le-gen, obwohl sie ihre Jungen von fremden Lehrmeistem aufziehen und unterrichten lassen, es wird doch nichts anderes aus ihnen als ein Kuckuck. Woran liegt das? Was ist wichtiger: die Rasse, von der einer abstammt, oder das Nest, in dem er aufwachst."^^

In den meisten Fallen werden jedoch neue Schwerpunktthemen - vor allem in Zusam-menhang mit der "Judenfrage" - anhand von Ausschnitten aus Originaltexten vermittelt. GroBtenteils geschieht dies durch den Abdruck von mehr oder weniger umfangreichen Aus-ziigen aus Hitlers "Mein Kampf. Aber auch andere Verfasser kommen zu Wort. So fmden wir beispielsweise in einem Lesebuch fur die 5. Klasse des Gymnasiums unter dem Titel "Von der Urkraft eines reinen Volkes" Ausztige aus de Lagardes "Deutschen Schriften"^"^ oder Zitate von Houston Stewart Chamberlain und Alfred Rosenberg.^^ Haufiger jedoch werden Ausziige aus Hitlers "Mein Kampf zur Darstellung der Gefahr infolge von Rassen-mischung herangezogen.

Im Fach Biologie wird neben dem Geburtenruckgang hauptsachlich auf die Rassenfra-ge und die rassische Entwicklung des deutschen Volkes eingegangen. Die Reinhaltung der Rasse und das Verhindem des Einflusses von "fremden Rassenbestandteilen" werden zum zentralen Thema. Zum Abschluss des Beitrages soil an einem letzten Themenbereich noch-mals veranschaulicht werden, auf welche Weise sprachlich formulierte Argumentationen durch entsprechende Bildmaterialien erganzt wurden. Mit diesen Mitteln sollte - wie im Er-lass von 1935 explizit gefordert - nicht nur das Wissen der Schiiler gefordert, sondem auch die Emotionen beeinflusst werden. Es handelt sich dabei um die Beschreibung und Illustrati-on der bedrohlich anwachsenden Zuwanderung der Ostjuden.^^

^ Staemmler 1940, 30f. In einer wissenschaftlichen Abhandlung beschreibt Staemmler 1935 die Sachlage wie folgt: "Jedes Lebewesen ist das Produkt zweier Kraftegruppen: der ihm durch Vererbung iiberkommenen Anlagen auf der einen Seite und der Umwelteinflusse auf der anderen. Die Summe der Anlagen ist seine 'Erb-masse', seine 'Rasse'. Sie ist unwandelbar, unveranderlich. ... Schicksalhafte Stabilitat der Rasse, unberuhrt von den Stiirmen des sie umbrandenden Lebens, weitergegeben in ehemer Gesetzmafiigkeit auf Kinder und Kindeskinder, unbeeinfluBt vom Leben, ausgeloscht allein durch den Tod, nicht des Einzelwesens, sondem des Geschlechts." (Staemmler 1935, 93)

37 Habermannl941,267f 3 Reichsstelle fur d. Schul- u. Unterrichtsschrifttum 1944, 4. 39 Die dariiber angeordnete Aufgabe verweist offenbar indirekt auf die Bestrebungen des NS-Regimes, die dar-

aus resultierende Gefahr der "Rassenmischung" mit alien Mitteln einzudammen.

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Formen der Verbreitung bevolkerungswissenschaftlichen Wissens in Schulbiichem 83

Abbildung 14: Meyer o.J., 184

„Neben dem Geburtenruckgang und der Zunahme der Erbkranken bedrohte noch cine dritte Ge-fahr die rassische Entwicklung des deutschen Volkes: das Eindringen artfremden Blutes. Kurz vor und nach dem Weltkriege wurde Deutschland ein bevorzugtes Einwanderungsland der Ju-den."40

Dass Rassentheorie, Rassenkunde und Rassenhygiene wie gefordert auch in den anderen Fa-chem behandelt wurden, zeigen die abschlieBenden Zitate. Auch in den gesichteten Biichem der anderen Facher wird die Rassenfrage mit dem Verweis auf das Judentum behandelt.

„Mit ihrer Gleichberechtigung als Staatsbiirger begann auch ihre Mischheirat mit Deutschen und damit die Verderbnis unserer Rasse durch das artfremde jtidische Blut.""* „Die stetig zunehmende Einwanderung von Rassejuden nach Deutschland lafit sich beispiels-weise an folgenden Zahlen verfolgen, welche die jeweils im Lande PreuBen ansassigen Juden angeben. Diese wuchsen von 372000 (1890) liber 380000 (1895), 392000 (1900), 410000 (1905) auf 416000 im Jahre 1910 an."^^

40 Meyero.J . , 183f. 41 Klagges 1943, 193.

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84 Steffen Pappert und Regula Stuck!

„Wir kennen ihn, den Juden, das Volk, das, aus den Abfallprodukten samtlicher Volker und Nationen dieses Erdballes zusammengesetzt, alien den Stempel seiner jiidischen Blutsart aufge-driickt hat, dessen Wiinsch die Weltherrschaft, dessen Lust die Zerstorung, dessen Wille die Aus-rottung, dessen Religion die Gottlosigkeit, dessen Idee der Bolschewismus ist. (Heinrich Himmler)"43

IV. Fazit

Anhand der prasentierten Ausziige, Statistiken, Grafiken, Bilder und Illustrationen soUte ge-zeigt warden, in welcher Form bevolkerungswissenschaftliches Wissen in den Schulbiichem aufbereitet wurde. Die Auswahl der exemplarischen Ausschnitte basierte auf der Sichtung umfangreicher Schulbuchbestande in Augsburg und Braunschweig. Vor diesem Hintergrund sollte nochmals darauf hingewiesen werden, dass bevolkerungswissenschaftliche Themen lediglich in den hoheren und in den Abschlussklassen relativ haufig bearbeitet wurden. In den unteren Schulstufen waren bevolkerungswissenschaftliche Inhalte nur in sehr geringem Umfang auszumachen. Wenn solche Bereiche bearbeitet wurden, waren sie in den meisten Fallen altersgerecht aufgearbeitet.

Die behandelten Unterrichtsgegenstande blieben liber den untersuchten Zeitraum rela-tiv konstant. Im Fall der per Erlass von 1933/1935 geforderten Einarbeitung der "Verer-bungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevolkerungspolitik'"*^ in das Unterrichtsprogramm handelt es sich um die Fortfuhrung der bereits in der Phase von 1919-1932 einsetzenden Bemuhungen, die Entwicklung des deutschen Volkes nicht nur quantitativ, sondem auch qualitativ zu fordem.^^ Neu war jedoch, dass nach 1933 nicht mehr die Wissensvermittlung das dominierende padagogische Ziel war, sondem die Schaffung ei-ner nationalsozialistischen Anschauung und die Hervorbringung von "Herrenmenschen". Diese MaBgabe, die schon im Kindesalter eine Auslese gewahrleistete, sollte auch bei den Anforderungen fiir die schulischen Prufungen beriicksichtigt werden:

„Alle Prufungen, die lediglich auf einen Nachweis der Intelligenz hinauslaufen und darauf allein die Auslese aufbauen wollen, gehen von dem falschen Standpunkt aus, daB die Intelligenz fur das Ftihrertum das wichtigste ist und vergessen die Bedeutung der Charakterwerte."" ^

Die schulische Ausbildung zielte hauptsachlich darauf ab, die Identifikation der Heranwach-senden mit den Zielen und Werten der NS-Politik zu forcieren. Zu diesem Zweck sollte ne-ben dem Wissen im engeren Sinne vor allem das Denken und Fiihlen der Kinder und Ju-gendlichen beeinflusst werden. Vor diesem Hintergrund ist die zunehmende Visualisierung der Untersuchungsgegenstande zu erklaren. Durch die Darstellung bevolkerungswissen-schaftlicher Inhalte in Form von Grafiken, Bildem oder Illustrationen war es moglich, die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht nur argumentativ zu vermitteln, sondem auch erlebbar

42 Schmitthenner 1939, 59. 43 Reichsstelle fiir d. Schul- u. Unterrichtsschrifttum 1944,404f. 44 Der PreuBische Minister... 1933, 244.. 45 Erganzt wurde die schulische Lehre nach 1933 durch die "Vermischung der Eugenik mit der Rassenkunde"

die in der Wissenschaft in der Verbindung von Rassenanthropologie und Eugenik bereits zuvor teilweise ver-folgt wurde, Cromm 2004, 303.

46 Staemmler 1935,139.

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zu machen. Diese Transformation des sprachlichen in den bildlichen Kode gewahrleistete eine ganzheitliche Wahmehmung und das anschauliche Erfassen der zu vermittelnden Bot-schaft. Mit der Verbildlichung der Phanomene wollte man bei den Schulem eine greifbare Vorstellung vom jeweiligen Gegenstand erreichen sowie ein geftihlsmaBig-gedankliches Verinnerlichen desselben ermoglichen. Die in den untersuchten Schulbuchem zu beobach-tende Visualisierung des bevolkerungswissenschaftlichen Lehrstoffs ist in diesem Kontext also "nicht nur ein bildgebender, sondem auch ein blickbildender Vorgang"."*^

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Abbildungsverzeichnis

Abhildung 1: E. von Seydlitzsche..., 227 73 Abbildung 2: Miiller, A. 1926, 118 74 Abhildung 3: Teubners Geschichtliches ..., 96 74 Abbildung 4: Fussier 1932, 199 75 Abbildung 5: Bitterling 1929, 141 76 Abbildung 6: Harms 1927, 34 76 Abbildung 7: Fussier 1932, 201 77 Abbildung 8: Meerkatz 1935, 80 77 Abbildung 9: Schmeils Naturwissenschaftliches... 1940, 149 78 Abbildung 10: Graf 1943, 168 79 Abbildung 11: Meyer & Zimmermann 1942, 161 80 Abbildung 12: Graf 1943, 96 80 Abbildung 13: Graf 1943, Tafel 24 81 Abbildung 14: Meyer o.J., 184 83

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Defining Population by Statistics c.1850-1939: German practice within a European context

Robert Lee

I. Introduction

In recent years, historians, demographers and social scientists have demonstrated an increa-sing interest in the production and utiHzation of population data during the Third Reich, both in the context of the transformation of population science into race hygiene and the direct use of population data in planning and implementing the holocaust.^ The concept of the Volksgemeinschaft which underpinned Nazi racial and social policy involved the implicit exclusion of designated groups from the national community (the handicapped, Jews and gypsies): it also necessitated the compilation of reliable statistics so that the acknowledged principles of racial policy could be fully implemented.^ Indeed, the cumulative radicalizati-on of Nazi anti-Jewish policy was predicated on the gradual isolation of Jews within the Reich, just as the elimination of gypsies could only be undertaken effectively once the state or its agencies had established who actually counted as a gypsy.^ The new pathology of the Nazi state, by definition, involved a greater degree of control over all individuals, while ter-ritorial expansion, particularly during the early years of the Second World War, and the lar-ge-scale movement of 'outsiders' into the Reich, created an immediate need for accurate sta-tistics on the racial and ethnic composition of the occupied areas, as well as the temporary workers employed in Germany.^

The visible dependency of the NS state on reliable population data raises a number of important issues. To what extent were official statisticians responsible for developing an ethnic classification of Germany's population in line with racist ideology? What factors de-termined the categorization of ethnicity and national identity in official statistics? Did the approach of the statistical offices in Germany, whether at the Reich or federal state level, re-flect a specific national approach to the problems of classifying citizens, or was the develop-ment of policy in this area both before 1933 and after the Nazi seizure of power influenced by scientific discourse and international precedents? And if the censuses of 1933 and 1939 represented a 'misuse of population statistics', as Harald Michel has argued^, was the eventu-al inclusion of information on ethnic origins and the creation of a separate index file on for-eigners essentially an extension of existing practices developed in Germany, or elsewhere?

1 Lenz 1983; Seltzer 1998. 2 Friedlander 1994; Barkai 1994,36.

Lewy2000,43. Holder and Ehling 1991; Reithinger 1941/2,343fF.; Fletcher 1970,542; Lee 2004,118f.; Gellately 2001. Michel 1985,91.

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90 Robert Lee

II. The census and the construction of identity

At one level, the holding of a census has always involved a significant degree of surveillance by the state: it was frequently an important component of state-building incorporating classi-fication systems that reflected historically constituted domain definitions.^ Whereas stati-stics provided a new vocabulary for understanding changes in society, the work of the stati-stical offices was part of'the disciplinary gaze of surveillance'7 Knowledge was a critical factor in state formation and information on the investigative modalities adopted in individu-al states was widely available, both in Europe itself and increasingly within a colonial con-text. Censuses can therefore be seen as conceptual instruments that involved a system of ca-tegories which reflected the cognitive organisation of the state itself^ As Kertzer and Arel have argued, from the early-nineteenth century onwards the census rapidly became the pri-mary formal device for classifying national populations and for identifying categories in a manner that helped to create a specific vision of social reality. The use of selective criteria as a proxy for nationality, including ethnicity, mother tongue or race, implicitly involved the categorization of both individual and collective identities in a manner that was culturally constructed, but which also fostered political and racial discourse.^

Throughout the nineteenth and early-twentieth centuries there were competing notions as to how identity should be recorded for census purposes. However, it is commonly assu-med that European states, at least until the Nazi census of 1939, generally rejected race as a means of classifying individuals.^^ In reality, official statisticians were able to construct identities on the basis of different criteria, including religion, maternal language, nationality or race, and national practice was frequently determined by the changing locus of political power, as well as by the pattern of scientific discourse and international debate as reflected in the proceedings of the International Statistical Congresses and the publications of the In-ternational Statistics Institute (ISI). Even within Germany, there were noticeable differences in census practice (at least at the individual state level), while there was little evidence of any significant progress towards standardization in the way different governments classified their populations. The chapter will focus, in turn, on each of the main classification criteria of religion, language, nationality and race. It will analyse the respective advantages and pro-blems associated with each identity marker, as reflected in contemporary discourse and the policies of individual statistical offices. It will also locate German practice in defining iden-tity in the period between the mid-nineteenth century and the outbreak of the Second World War within a wider European and international context.

II. 1 Religion and confessional identity

Unlike a number of European countries, such as Belgium, France and the United Kingdom, where the registration of confessional identity was viewed as 'inopportune', there was a well-established tradition in parts of Germany of recording religious affiliation. Even in the pre-

6 Starr 1987,10; Sokal 1974,115ff.; Anderson 1991,184. 7 Goldman 1991,415ff.; Clegg 2002,191. 8 Cohn 1996; van der Bersselaar 2004. 9 Hindess 1973, 9; Kertzer and Arel 2002,2; Nobles 2002,43. 10 Kertzer and Arel 2002,12.

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Defining Population by Statistics 91

census era, some German states had attempted to compile statistics on minority groups defi-ned by confessional affiliation, albeit on the basis of local and often haphazard enumerati-ons. ^ In Prussia, for example, the General-Judentabellen were first drawn up in 1769 sup-plemented at a provincial level by lists of Jewish families and by the 1830s and early 1840s religion was regularly recorded in the state's statistical tables. Saxony included information on confessional affiliation as early as 1834, with a separate listing of Jewish inhabitants, and most German states showed a similar concern to enumerate their populations along religious lines (Table 1). ^ At the Reich level, religious affiliation was recorded at every census from 1871 onwards, although not on the basis of a consistent set of confessional groups, and by the end of the nineteenth century census data generally provided information on the distribu-tion of Catholics, Protestants and Jews, in some states by sex, family status, age and occupa-tion.^^ By contrast, there was little evidence of a uniform approach to the inclusion of con-fessional identity in vital registration procedures. Although Prussia maintained a compre-hensive registration system from a comparatively early date (with a brief break in the series after 1871), other states (such as Baden, Bavaria, Hesse and Saxony) only required a regi-stration of an individual's religion on marriage. It was not until the late-nineteenth or early-twentieth century that confessional identity gradually became an important element in vital registration procedures as a whole, but the collation of data containing this information remained 'very sparse', particularly in Hesse, despite increasing interest by some statisticians in differential fertility rates according to religious denomination. "^

Differences in state practice in registering confessional identity were also visible in a number of other areas. First, a number of states (in particular Hesse and Prussia) regularly maintained data on their Jewish populations even before they were legally granted settle-ment rights. Secondly, a question on religious identity was sometimes incorporated into other official statistics, whether dealing with suicides, school-children, or cases of divorce (particularly from the first decade of the twentieth century onwards). However, there was never any marked degree of consistency in terms of state practice in these case, whether in terms of the initial adoption or specific utilisation of confessional categories. Whereas Prus-sia had classified suicides by religious affiliation as early as 1849 and collected data on a si-milar basis on the infirm, divorcees, and schoolchildren, other states, such as Saxony, made little use of this possibility (Table 1). Thirdly, information on religious affiliation was often derived from church sources, rather than from official statistics. From 1857 onwards (alt-hough initially only in Bavaria), the Evangelical Church began to compile confessional data, in part as a response to changes in its constitutional position, but primarily because of the growing problem of membership withdrawals: it even provided technical training for so-cal-led 'statistical vicars' (Statistikpfarrer), while continuing to advocate the inclusion of a que-stion on membership of a religious community in the Reich census schedules. ^

11 HSD, G.13/253, KnOpfel 1912; Hacking 1991,195. 12 Hirschfeld 1886; Dieterici 1845, 40; Jahrbuch fur Statistik und Staatswirtschaft des Konigreichs Sachsens 1853;

Lommatsch 1927,67ff. 13 Knopfel 1911; Knopfel 1912. 14 Krose 1914a, 279; von Fircks 1889,129fr.

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92 Robert Lee

State

Prussia

Baden

Bavaria

Hesse

Saxony

Wiirttem-berg

Start Date

1810

1867 (census)

1871 (census)

1834 (census) 1832

Vital Registration Birth

1820/1

1908#

1876

1911

Marriage 1820

1868

1835/6

1863*

pre-1971

1841

Death 1822

1908

1876

1911

Other Occasions

Suicides 1849-55 Infirm (census) School-children Divorced (from 1905) Children of mixed marriages Acquisition/loss of citizenship Primary schoolchildren (from 1900/01) Inmates from orphanages and homes for the blind and deaf and dumb (from 1912) School-children (from 1894/5) Divorced (from 1909) Mixed marriages Foreigners 1910 Jews (from 1822) Teachers (from 1911) Divorced (1905/6)

School-children 1872-96 Suicides pre-1850

Table 1: Statistics on religious affiliation in individual German states.^ ' ^

By 1915, the Catholic Church had finally succeeded in coordinating data from individual bi-shoprics with the establishment of the Zentralstelle Jur kirchliche Statistik des Katholischen Deutschlands in Cologne. Jewish organisations (such as the Vereinfur Statistik und Demo-graphie der Juden in Frankfiirt am Main) actively encouraged the publication of confessio-nal statistics, but even by 1930 there was no equivalent central agency for collating statisti-cal data, although a similar initiative was still being planned by the AkademiefUr die Wis-senschaft des Judentums}^ The migration of refiigees into the Reich after 1918 affected the denominational composition of border areas and reinforced the case for the compilation of new confessional data, but even by the early-1930s there was still a lack of consistency in the official reporting of religious identity within the German Reich, at least as far as vital re-gistration data were concerned. Indeed, there were no comprehensive figures for Germany as a whole, primarily because the coverage in individual states (such as Wiirttemberg) remained partial (Table 2) and intercensal comparability was compromised by the continu-ing need to extend the alphabetical register to include new religious denominations.^^.

15

16

17

Miiller 1930,79; StAL, E258II, Bu 199/200, communition from the Evangelischer Oberkirchenrat, 05.03,1931. Source: derived from Krose 1914a, 267ff. Notes: * In Hesse religious affiliation was only reported for marriages, but confessional data for births and deaths were made available retrospectively for the period between 1863 and 1907; + In Bavaria religious affiliation was registered for marriages pre-1876, but not in the case of mixed marriges; # Data provided on the confessional status of a child's parents. HSD, G.13/253; Miiller 1930. By the early 1930s, the Zentralstellejur kirchliche Statistik Deutschlands published confessional population data on an annual basis. See StAL, E 258II, Bli 244.

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Defining Population by Statistics

iState 1 German Reich 1 Prussia 1 Bavaria 1 Saxony 1 Wiirttemberg

Religion m m m m m

di di di

1 Austria 1 Bulgaria 1 Czechoslovakia 1 Danzig 1 Denmark

m m m m m

di di di di

1 England and Wales 1 Northern Ireland 1 Scotland 1 Irish Free State

m m m m

Estonia Finland Greece Himgary Latvia (Riga only) Lithuania Luxemburg Norway Netherlands Poland Romania Sweden Switzerland Yugoslavia

m m m m m m m m m m m m

di di di di di

di

di di di di

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b b b b b b b b b b b b

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Nationality

m

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m

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m

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di

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b b b

b

b b b b b

b

93

d

d d d

d

d d d d d

d

Table 2: Questions on religion and nationality in national vital registration data during the interwar period.^ ' ^

The extent to which other European states used confessional affiliation as an identity marker also varied very considerably (Table 3). A number of countries (including France and Great Britain) made very little use of census enumerations to record religious adherence and alt-hough the Spanish authorities did record the number of priests, they made no attempt to list

20

21

GLK, Finanz- iind Wirtschaflsministerium 273/33842, according to the Statistisches Landesamt, 19.03.1924, an influx of refugees in the postwar period had meant that the 1910 data on confessional relations could only be used 'with the serious reservations'; HSD, G13/205, communication from the Statistisches Reichsamt, 18.03.1926. Source: Kovacs 1935, 567. Note: m - marriages, di - divorces, b - births, d - deaths

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94 Robert Lee

the population by its religious affiliation.^^ The British census, in general, seldom asked di-rect questions concerning the population's cultural characteristics and the census of 1851 was the only occasion when there was a deliberate attempt to record those attending worship at churches, chapels and meeting rooms.^^ The response to the question on religion {la culte) in the French census of 1851 was 'very mediocre': it was not renewed in 1856 and although it was included in the censuses of 1861, 1866 and 1872, it was subsequently dropped. "^ It is difficult to assess the factors which determined national policy in employing religion as an identity marker, but census practice may well have reflected a concern for liberty of consci-ence or a fear of inciting religious passions, although it should be noted that some of the we-stern European states (in particular Great Britain) which failed to include a religious questi-on in their domestic census schedules had no hesitation in demanding such information in a colonial context.^^ Moreover, differences in census practice at a national level were fre-quently reflected in vital registration procedures in the interwar period (Table 2), with Great Britain, the Irish Free State, Switzerland and Yugoslavia failing to record religious affiliati-on for most vital events. Germany, however, was clearly part of a wider central and eastern European phenomenon where states regularly authorised the recording of religious affiliati-on for census purposes. But the interwar period marked a significant shift in emphasis: whe-reas all the Reich censuses before the First World War had simply required information on confessional affiliation, both in 1925 and 1933 the census included a question on formal ad-herence to a religious community and in the latter case everyone was required by law to pro-vide an answer. Although the plan for a separate Jewish register was not implemented in 1933, this was not the case in 1939, but even then the information depended on self-declara-tion.26

State Belgium France Germany

Great Britain Ireland

Italy Luxemburg Norway Russia Spain Sweden Switzerland

Census Coverage Pre-1846 only 1851, 1866, 1872 1871+ 1900 1851 (only) 1861+ 1901 1861,1871,1901, 1911 Every census 1865+ 1897 -Every census 1850+

Categories --9 222 16 5 316 10 337 12+ 17 -17 4

Additional Material ] --Electorate

-

_

------

1 Table 3: Official statistics on religious affiliation in Europe pre-1914.2'

22

23

24

25

26

Meuriot 1915,334. Lawton 1978; Thompson 1978,241. Levasseurl888,29. Lind 1940,178; Meuriot 1915,350. Buck 1937,24; Wietog 2001,153f.; Labbe 1998,213.

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Defining Population by Statistics 95

The use of religion as an identity marker had been actively promoted from the late-nine-teenth century onwards by a number of German statisticians, whose views had been rein-forced by international opinion. Georg von Mayr, as the past-master (Altmeister) of religious statistics, had consistently emphasised their 'significant social science interest'.^^ In a confes-sionally mixed state, such as Germany, the authorities had a legitimate interest in establi-shing reliable data on confessional relations on marriage. Not only were there significant differences in marital fertility by religious affiliation, but mixed marriages were of 'substan-tial sociological interest', if only because of their higher divorce propensity.^^ This was par-ticularly the case in relation to mixed Jewish-Christian marriages where the frequency of divorce together with their low reproductive profile had a clear demographic significance.^^ Regierungsrat Knopfel from the Statistical Office in Hesse was another expert on confessio-nal data in the pre-1914 period: he assiduously collected statistics on the Jewish population of a number of German states and provided Jewish organisations with information on mixed marriages.^ Moreover, the prioritisation of confessional data was also supported by statisti-cians internationally. In 1872, the International Statistical Congress at St. Petersburg had included a question on religious affiliation as one of thirteen standard items to be incorpora-ted in national census schedules, while the ISI had reiterated the importance of confessional data at its annual meetings in 1889 in Paris and in 1913 in Vienna. Indeed, according to some statisticians religion could not be regarded as a private affair, simply because it was al-ready enumerated in a number of countries.^^

Even within Germany there was no real consensus on the desirability of requiring indi-viduals to report religious information in census returns. Without disputing the demographic significance of confessional affiliation for a country's moral life (Sittenleben), it was argued that religion was not a reliable indicator of nationality, simply because the census only re-corded adherence to a particular denomination on a voluntary basis. In particular. Christian marriages sometimes involved women of Jewish parents or of mixed marriages, while mar-riages involving partners from different religions were increasingly prominent in specific re-gions of Germany, including Hesse-Nassau, Posen and West Prussia.^^ Compiling confes-sional statistics, in any case, was seldom 'simple', because of the proliferation of different re-ligious denominations: whereas the 1900 census has included 222 categories (Table 3), by 1933 this list had been extended to approximately 1,000 separate religious groups. "* Al-though the Secular Enumeration of 1900 had attempted to record the religious affiliation of emigrants, the data remained deficient and few church authorities maintained any reliable records on members who left the church.^^ To this extent, despite continuing advocacy by individual statisticians, confessional affiliation never became a prime identity indicator, un-less it was designed to serve a specific political function. Indeed, the lack of a clear distinc-

27 Source: Meuriot 1915, 330ff. 2 Krose 1926,53. For a brief biography of von Mayr, see vom Brooke 2002,432. 29 von Fircks 1889,129f; von Mayr 1926,143; Muller 1932,333ff. 30 Philippsthal 1928,440; Hanauer 1928,521. 31 Lee 2002,268. 32 Krose 1927; Kovacs 1935, 569. 33 von Fircks 1893,281; von Fircks 1889; Meyer 1915, 52; Briill 1905; Tanzer 1913. According to one source, there

had been a significant increase in the number of mixed marriages prior to 1930, see Philippsthal 1930,272. 34 Wipplingerl937,423f. 35 Krose 1927, 63.

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96 Robert Lee

tion between the different Christian denominations in the 1939 census was accepted, per-haps with some reluctance, by the Protestant Higher Church Council in Stuttgart because it recognised the primary intention of securing a separate registration of Jews and the attention of many statistical offices was focused on the need to make sure that Jewish individuals of mixed race were not to be classified as German citizens.^^

III. Language as an identity marker

During the course of the nineteenth century cultural and even national identity was increas-ingly derived from census language questions.^^ In general, the German approach to lan-guage registration was directly influenced by the work of Boeckh who argued that the na-tional language (Volkssprache) provided the most effective means of ascertaining nationali-ty. ^ According to von Fircks, the precise definition of language for census purposes was rel-atively unimportant: it could be based on the language spoken 'at home' or by the family, or simply on the maternal language. What was critical, however, was the need to register only one national language. Even the deaf and dumb were to be enumerated, and the head of household was to be made responsible for reporting the language spoken by minors. On this basis, the German Fatherland extended 'soweit die deutsche Zunge reichf: clear evidence of the power of the German race.^^ In Prussia, 'foreign languages' had been registered from 1858 onwards, but the data for 1861 (which covered most administrative districts) were sim-ply based on Urlisten and their compilation did not involve any active involvement of the population. Only one 'family language' was allowed per household, with the result that Poles working as cooks, domestic servants, or gardeners in German families were recorded as Ger-man-speaking. Despite the increased 'mixing of nationalities' within the Reich after 1871 which necessitated a greater attention to the language issue, it was not until 1890 that the German census offered the statistical basis for a comprehensive assessment of the 'national language' and a complete list was not available for individual Prussian Kreise until ten years later."* By 1900 information was required on both maternal language and nationality, but in 1910 only Prussia and Saxony included a supplementary language question in their census schedules although individuals who did not speak German were also asked whether they un-derstood it." ^

In the period before the First World War, language was not adopted in Germany as a definitive identity marker: although two specific states (namely Prussia and Saxony) contin-ued to assign considerable importance to language as a reliable indicator of nationality, there was no attempt in Bavaria to generate statistics on language use." ^ However, the case

36 StAH, SLII 8010-1, communication of Dr. Burgdorfer from the Statistical Office, November 1938. 3" KertzerandArel2002,8. 38 Boeckh 1866; Boeckh 1884. Richard Boeckh (1824-1907) had worked at the Prussian Statistical Bureau between

1861 and 1875, before taking up the position of Director of the Berlin Statistical Bureau. See vom Brocke 2002, 414.

39 As far the German tongue extended, von Fircks 1893,189;Foldes 1931,70. ArturFreiherr von Fircks (1838-1900) was a member of the Prussian Statistical Bureau from 1873, see vom Brocke 2002, 418. For a summary of his views on population issues, see von Fircks 1898.

40 Galloway 1988; von Fircks 1893,189. 41 Kovacs 1928,319.

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Defining Population by Statistics 97

for registering language as part of the census process was reinforced by a number of statisti-cians, such as von Fircks. If language was an accurate proxy for nationality, then it provided a means of analysing demographic processes in a disaggregated manner. Maternal language was even interpreted as an important determinant of longevity: whereas Polish-speaking in-habitants of Upper Silesia died at a comparatively early age, by the end of the nineteenth century Frisians in Aurich and Masurians in East Prussia enjoyed a 'great' life-expectancy."^^ Both the Prussian census of 1905 and the Reich census of 1925 required respondents to indi-cate whether they understood German, as a means of assessing assimilation within the Ger-man nation, but whereas 'linguistic minorities' were accorded certain rights in the latter case, by 1933 they were simply registered as part of the population that spoke a 'foreign language'. Census data on maternal language were therefore employed by the authorities to draw a clear distinction between native Germans {Reichsinldnder) and foreigners (Reichsaus-Idnder).^

The argument for using language as an indicator of nationality was strengthened by de-bates within the international circle of statisticians from the mid-nineteenth century on-wards. The Austrian statistician, Karl von Czoemig (1855-57), had included language (to-gether with any related dialects) as one of his three criteria for determining nationality and the International Congress at St. Petersburg in 1872 had concluded that in the absence of ad-equate knowledge on the exact determinants of human physique, maternal language should be the sole criterion for determining nationality."^^ However, it was difficult to reach a clear consensus on this issue and the exact relationship between language and nationality re-mained problematic. Adolf Ficker, a pupil of Czoemig, argued that only the study of the his-tory, geography, anthropology and ethnography of individual communities could provide the necessary corrective to the language criterion.^^ The Budapest Congress (1876) failed to agree on a common measure of nationality, partly because the Permanent Commission of the Congress, having requested position papers from three experts, had been confronted with a range of differing opinions. Ficker (then Director of the Austrian Statistical Office) had opt-ed for the language spoken in the family as the best indicator of nationality; Keleti, the Di-rector of the Hungarian Statistical Office, had concluded that language was merely a symp-tom of nationality; and Glatter, as Director of the Municipal Statistical Office in Vienna, had completely rejected the use of a language question in the census. The issue of determining nationality, in his opinion, should be left to scientific research." " At the first session of the ISI in 1887 Korosi (the Director of the Budapest Statistical Office) had concluded that the spoken language was the 'most characteristic symptom of race', but even during the interwar period when the question of nationality had assumed even greater political importance, there were persistent doubts over its reliability as an identity marker.^^ Despite international dis-cussions stretching back over five decades designed to secure an eventual harmonisation of national procedures, the ISI recommendation to use maternal language as the best indicator

42 Bayerisches Statistisches Landesamt ed. 1981, iff. 43 von Fircks 1897; Wurzburger 1917,138ff. 44 Labbe 1998,201. 45 von Czomig 1857; Foldes 1931,69. 46 Zeman 1990,32. 47 Labbe 1997a, 135ff; Foldes 1931,69f. 48 Labbe 1997a, 140.

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98 Robert Lee

of the numerical strength of diverse nationalities was increasingly ignored by individual states in a manner that made the agency's work 'useless'."^^

It is not surprising, therefore, that actual practice in utilising a language question to de-termine nationality differed considerably (Table 4). In the United Kingdom (with the excep-tion of Ireland) no systematic language statistics were compiled: although individual investi-gations were carried out on spoken languages (specifically Gallic and Welsh), it was not un-til 1891 that an enquiry into the use of the Welsh language was introduced.^^ Other western European countries demonstrated a similar disregard for the potential importance of lan-guage statistics. The Netherlands, despite the presence of over 100,000 'foreigners' never in-cluded a question on maternal language in its census schedules. Although there was consid-erable concern in France to establish the size of ethnic minorities in the post-1918 period, primarily because of increased immigration, language statistics were only generated for Al-sace-Lorraine (on the German principle), while individuals who did not speak French were still classified as French citizens.^^ By contrast, most Scandinavian countries (excluding Denmark), as well as the majority of central and eastern European states, were actively in-volved in collating language data as part of the census enumeration process. Even Italy, a country where very few inhabitants were actually unable to speak Italian, included a lan-guage question in its census schedules from 1861 onwards; individual enumerators were re-quested to list 'foreign idioms'; and research was encouraged on the multiple forms of the neo-Latin 'patois'.^^ In the final analysis, the profiling of a language question in German cen-suses (whether at the Reich or Lander level) reflected a wider central European tradition: many of the leading Austrian statisticians (such as Inama-Stemegg, Czoemig and Rauch-berg) produced important research on language statistics; the censuses carried out in Hunga-ry from 1880 onwards provided a comprehensive data set for analysing the distribution of different languages and patterns of cultural assimilation; while the inclusion of a language question in the Swiss censuses between 1888 and 1920 represented a 'model' of good prac-

tice 53

The development of the concept of a language border in the second half of the nine-teenth century reinforced the importance of language as an identity marker. Its adoption in Austro-Hungary was largely a reaction to increased Czech migration into the German-spea-king areas of the Empire and even before the outbreak of the First World War the inclusion of a language question in the Austrian censuses affected the entitlement of specific 'nationa-lities' to their own schools, courts, as well as the operative language of the civil service and the designation of public place names. "^ There were increasing complaints from regions, such as Galicia, where two or more 'nationalities' shared an area defined by history or by geography. Similar problems were encountered in Prussia in relation to the rights of Polish-speaking communities in its eastern territories.^^ To this extent, the link between language

49 Brian 1990 ,469 ; Kovacs 1928 ,248 . 50 Feery 1951; Lawton 1978,19. 51 Kovacs 1928,315fr. 52 Raseri 1 9 0 0 , 1 1 2 . 53 Brix 1982; Pinwinkler 2 0 0 2 , 2 7 3 ; Kovacs 1 9 2 8 , 3 2 3 . 5" Cornwal l 1994, 917 ; Zeman 1990, 3 Iff. Even b y the eighteenth century, if not eariier, a clear definition of border

areas w a s deemed to b e critical for state identification, particularly in Central Europe. See, Evans 1992 ,486 . 55 Hagen 1980; Eley 1984,342ff.

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Defining Population by Statistics 99

and entitlement, in both cultural and political terms, had already been established before the end of the nineteenth century, specifically in parts of Europe where the prior existence of minority populations or ethnically dominated patterns of migration reinforced the signifi-cance of a language border.

State Austria

Belgium Czechoslovakia Finland France* Hungary Ireland Italy

Lithuania Norway Portugal* Prussia Spain*

1 Sweden Switzerland UK

Date 1846 1880 1910 1923 1934 -1931 --1880 1861 1861 1921 1923 --1827 -1860 1860 -

Definition of language Dominant language Language of conversation Colloquial language Language of cultural affiliation Maternal language Spoken language (French, Flemish, German) Maternal language Maternal language -Maternal language Spoken language Ordinary language of the household 1 Language of use Spoken language Language spoken 'at home' -Language of the Church -Swedish, Lapp, Finish | Dominant language of the family | No systematic statistics |

Table 4: The definition of language as an identity marker in nineteenth- and twentieth-century European states.^^' ^

The process of territorial realignment after the First World War, in particular the emergence of new European states, had a direct impact on the importance of a language question in na-tional census schedules. After 1919 approximately 40 million individuals, as newly constitu-ted minorities, belonged to states with a different dominant language. As a result of the post-war settlement, language identity, as reflected in census return, assumed an even greater po-litical importance, reinforced by the stipulation of the League of Nations that governments should establish state-supported primary schools with instruction in the minority language 'where a considerable proportion of minority citizens resided'.^^ The sensitivity of this issue was reflected in a suggestion by Foldes that censuses should be controlled by international commissions in countries obliged to respect minority rights by treaty obligations.^^ Langua-

56 * ]^Q question on maternal language. 57 Source: Foldes 1931, 71f; Kovacs 1928, 246ff.; Weinberger 1939, 96ff. 58 Fink 1 9 7 2 , 3 3 1 . 59 Foldes 1931, 80f

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100 Robert Lee

ge in the interwar period therefore became a highly politicised issue: statisticians, such as the Austrian Winkler, emphasised the importance of the German language as a key identifier of Deutschtum (irrespective of its geographical location); pressure groups (including the Verband der deutschen Volksgruppen in Europd), actively supported the publication of newspapers and journals in minority languages; state authorities selectively exploited the language issue for their own purposes; and there was considerable concern in Vienna that the Czechs were intent on re-conquering the 'language border'.^^ By contrast, the implicati-ons of territorial realignment in terms of census practice varied considerably. On the one hand, a number of states, such as Austria, Germany, Hungary, Yugoslavia and Poland, deli-berately gave greater prominence to the language question in their census schedules in order to produce more accurate statistics on the distribution of minority groups and nationalities (Table 5). Nationality statistics, it was argued, should be based on maternal language (as suggested initially at the International Congress of Statisticians in St.Petersburg in 1872), with information derived both from census data and from vital registration procedures.^^ On the other hand, some of the newly constituted states, anxious to consolidate their indepen-dence, initially preferred an alternative marker of national identity. The Czechoslovakian census of 1921, for example, rejected the question on language (whether spoken or mater-nal), which had been an integral part of the Austro-Hungarian census since 1880, in favour of an identity profile constructed on the basis of ethnic nationality.^^ Some countries, such as Belgium and Switzerland, still regarded language as an important differentiating factor and drew a clear distinction between national and non-national languages. Poland, however, as a newly constituted state, adopted an entirely different approach: the 1921 census only focus-sed on nationality; it demonstrated a complete lack of interest in the language question; sou-ght to establish 'objective criteria' for membership of the Polish state; and was used to rein-force the official view that Polish-speaking Germans were 'enemies of the state'.^^ The selec-tive introduction of a new methodology in census practice in the early 1920s therefore ser-ved a wider political purpose and was symptomatic of the extent to which the issue of natio-nality after 1918 had become a political battlefield. "*

60 Pinwinkler 2002; F ink 1972 ,343 ; Cornwall 1994 ,929 . 61 Thirr ing 1925; Foldes 1931, SOff. 62 Labbe 1997a, 140. 63 Blankel994,26fr.

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Defining Population by Statistics 101

iGerman Empire (1933) |

(a)

Polish 113,010 285,092

Masurian 15,689 24,103

Wendish 23,964 33,203

Czech 1,637 4,165

Danish 2,826 1.301

(a) - bilingual (with German)

Hungary (1930) 1 German 1 478,630

Slovali 16,221

Romanian 104,819

Croatian 27,683

Serbian 7,031

Jugoslavia (1921) Serbian/ Croatian 8,911,509

Slovenian

1,019,997

German

505,790

Hungarian

467,658

Albanian

439,657

Romanian

231,068

Romania (1911) | German 758,226

Hungarian 1,352,558

Other 2,563,526

Romanian 13,178,690

Poland (1931) German

740,998

Ukrainian

4,441,622

Russian

989,852

Polish (Masurian, Kassubrian) 21,993,444

Czechoslovakia(1930) Slovakian 2,379,870

German 3,231,688

Russian 549,169

Hungarian 691,923

Polish 81,737

Austria (1934) | Czech 32,274

Slovak 835

Slovenian 26,300

Croatian 41,392

Hungarian 10,055 1

Table 5: The use of different languages in selected European states, 1911-1934.^^

The decision by certain states to seek an alternative identity marker for nationality, particu-larly in the post-war period, was justified by scientific concerns over the reliability of census language data and the absence of any real consensus over the most appropriate indicator of national identity. Keleti (prior to the Budapest Congress of 1876) had conceded that langua-ge was not a sufficient indicator of nationality and there was an increasing interest on the part of individual statisticians in ethnographic research and anthropological geography which reinforced the case for employing alternative criteria in census schedules.^^ At a na-

64 Kovacs 1928,327. 65 ^owrce; Weinberger 1939, 97.

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102 Robert Lee

tional level, the precise focus of the language question varied considerably (Table 4). Alt-hough there was an increasing convergence in favour of using maternal language in census enumerations, Norway continued to report the language used 'at home', while the Italian cen-sus of 1921 registered the 'language of use' {lingua d'uso) for inhabitants in the new pro-vinces acquired in the post-1918 settlement. As the case of Austria indicates, there was also a lack of consistency over time in the definition of language employed in the census (Table 4). Indeed, there was no necessary overlap between language and nationality, particularly in border regions with mixed populations. According to Franz Weinberger, a German-speaking Jew was not German, a Masurian registered in the German census was not Polish (although the language was really a Polish dialect), and an Irishman was certainly not English. ^ The issue of bilingualism was seldom addressed effectively (as was the case in the German cen-sus of 1910 when different reporting systems in individual states generated markedly dissi-milar results. Table 6), and the overall reliability of census language returns continued to be subject to sustained criticism, particularly if they were not based on maternal language.^^

Census Year

1910 1925

State Saxony 44.6* 2.2+

Prussia 3.7+ j 27.5*

Table 6: The incidence of bilingualism (German: Wendish) among Wendish people under different census reporting systems, 1910-1925 (in per cent).^^ '" ^

IV. Nationality and citizenship

The growth of nationalism during the course of the nineteenth century was accompanied by a heightened degree of conflict over representational criteria. This, in turn, was located with-in a framework of scientific discourse which offered a range of competing interpretations as to how national identity should be defined. Because language gradually became the main proxy for establishing nationality, direct questions on nationality were almost never includ-ed in census schedules prior to 1914: the first attempt to enumerate nationality in Hungary in 1850 had been a failure and many of the answers to this question in the Baltic provinces of Tsarist Russia in 1881 had been inaccurate or even false. Within Germany, Prussia had car-ried out a selective enumeration of nationality in 1867 and a more comprehensive assess-ment in 1895, but few other German states had followed this example.^^

66 F6ldesl931,70. 67 Weinberger 1939, 99. 68 Kovacs 1928 ,320; Weinberger 1944,72. 6^ Note : * wi th a bi l ingual (German: Wendish ) example illustrated in the census schedule , + wi thout a bi l ingual

(German: Wend i sh ) example illustrated in the census schedule 70 Source: Weinberger 1939, 97. 71 Kertzer and Arel 2002, 8; Zeman 1990,31ff.; Weinberger 1939, 100; Weinberger 1944, 75f; Bramer 1871, 359ff;

Galloway 1988,31.

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Defining Population by Statistics 103

A rise in nationalist sentiment as a direct consequence of the Versailles settlement, to-gether with continuing scientific doubts over the reliability of maternal language as a marker for nationality, led to a significant shift in census practice in the immediate post-war period. In particular, some of the newly constituted countries which emerged from the post-war set-tlement did not hesitate to include a specific question on nationality in their census sched-ules, as was the case in both Czechoslovakia and Poland in 1921. In many cases, the popula-tion of these states was not homogeneous, either in terms of religion or language, which fur-ther justified the adoption of an alternative definition of nationality. In Latvia, the censuses of 1920 and 1925 included a question on nationality, but not on maternal language, while the Lithuanian census of September 1923 required information on both nationality and religion. In Czechoslovakia, Lithuania and Poland Jews were treated for census purposes as a distinct nationality. Many of the new post-war states (such as Czechoslovakia, Estonia, and Lithua-nia) also began to include a nationality component in vital registration procedures (Table 2). This, in turn, allowed their statistical offices to analyse the population movement of each of their 'peoples' with distinct administrative and scientific benefits (or so it was claimed), an approach which other countries (such as Belgium and Switzerland) with diverse popula-tions, but more traditional registration systems, simply could not emulate.' ^

During the 1920s there was no significant change in Reich census practice, but official statisticians were increasingly concerned with citizenship issues, specifically in the context of migration data. On the basis of the Weimar Constitution, political rights no longer depen-ded on citizenship, but on a twelve-month residency requirement. However, only a few states reported nationality in their migration data; the information was based on self-declara-tion; and the criteria for distinguishing between in-migrants from a German or foreign ethnic background were often imprecise.^^ At one level, the decision by the Nazis to include a que-stion on nationality (Volkszugehorigkeit) in the 1939 census must be seen within this wider European context and the increasing concern over nationality issues both within Germany and elsewhere, although its significance in terms of racial classification will be dealt with se-parately. It involved an implicit rejection of the use of maternal language as an indicator of nationality and clearly represented a break both with traditional census practice in Germany and the recommendations of the International Congress of Statisticians in the late-nineteenth century. Whereas the retention of a language question in the censuses of 1925 and 1933 re-flected a central concern to identify German minorities in territories lost as a result of the Versailles settlement, the political agenda in 1939 was markedly different. The classification of individuals by nationality was not designed to measure 'Germanisation' or assimilation, but was intended to provide a means of identifying and excluding minorities in a manner which enabled state agencies to exercise greater control over the verification process.^^

The decision to classify the German population by nationality in 1939 was explicable not only in terms of the inherent logic of the concept of the Volksgemeinschaft and Nazi po-litical priorities: it was also a reflection of wider changes in census practice and the apparent failure by international agencies to sustain the case for the retention of maternal language as

72 Kovacs 1928; Kovacs 1935, 568. '' Nathans 2004; HSD, G. 13/96, agenda item for the conference of representatives from the central statistical offices,

Wurzburg 1928. 7 Labbe 1998,204; Wietog 2001,146.

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104 Robert Lee

the primary indicator of national identity. On the one hand, the decision by many of the new post-war states to include a specific nationality question in their census schedules provided a clear precedent for other countries, including Germany. It also undermined the ability of of-ficial statisticians to achieve a greater degree of international harmonisation in census prac-tice in this important area. On the other hand, there was continued uncertainty within the ISI over how national identity should be enumerated. In fact, the issue of nationality statistics was seldom discussed at the international level. There was some progress at ISI meetings in Brussels (1923) and Cairo (1928), where it was agreed that the Institute would need to de-velop a coherent approach to nationality statistics, if only because certain countries were now asking direct questions on nationality in their censuses, but the issue was effectively ad-journed sine die. Although the ISI ultimately retained a preference for maternal language as the most effective indicator of nationality, alternative viewpoints were openly canvassed. According to Fellner, the issue of nationality was Very complicated'; the Austrian statistici-an Weyr emphasized the need to distinguish between language and nationality; while Colesco was in favour of determining nationality on the basis of additional criteria because of the difficulty in distinguishing between maternal language and the preferred language.' ^ However, the demand that the League of Nations should draw up a set of principles for con-structing nationality statistics went unheeded, particularly as the international discourse amongst statisticians increasingly reflected a case for including a series of common charac-teristics, some of which could only be defined on the basis of ethnic or political criteria.^^

The final adoption of a nationality identity marker within the framework of the 1939 census also reflected the extent to which Germany had already developed a concept of citi-zenship which differed from the practice of other western European states. In both Britain and France nationality was defined on the basis of place of birth (despite significant census reporting errors): in the latter case it reflected membership of a distinct territorial community which meant that most persons bom on French territory, including immigrants, were classi-fied as citizens.^^ By contrast, entitlement to German citizenship from the early-nineteenth century onwards was dependent on community descent which was increasingly defined for legal purposes in terms of ethno-cultural origins. Between 1871 and 1914, the Reich failed to make significant progress in creating a unified nation-state which could have provided the basis for an alternative definition of citizenship, and even Bavaria's relatively liberal natura-lization policy specifically excluded unwanted elements, such as Slavs (particularly Poles) and Jews. Finally, the 1913 citizenship law, based on the ius sanguinis, formally separated citizenship rights from residence; nationality was defined in terms of blood lines or commu-nity of descent; and there was a conscious attempt to exclude Poles (and Jews) from the body politic.^^ To this extent, the emphasis on Volkszugehorigkeit in the 1939 census, toge-ther with the special enumeration of foreigners and Germans of foreign origin, represented a reaffirmation of the legal definition of citizenship as it had been developed in the nineteenth century and enshrined in the 1913 law.

" 5 Foldes 1931, 67; Bulletin de I'lnstitut International de Statistique 1928,66ff. 76 Bulletin de I'lnstitut International de Statistique 1928,66ff.; Foldes 1931, 82; Weinberger 1939, lOlf. 77 Levasseur 1888,34; Brubaker 1992,71. 78 Brubaker 1992 ,114 ,135 ; Lind 1940,181; Blackboum 1997,440.

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Defining Population by Statistics 105

The increasing reliance on nationality as an identity marker was not unproblematic. The break with earlier German practice was justified by both WeiB and Weinberger by refe-rence to the inconclusive ISI discussions between 1928 and 1931: the former was employed in the Reich Statistical Office, the latter in Munich. But Weinberger, in particular, drawing on Robert Beck's (1938) concept of'floating national characteristics' {schwebendes Volks-turn), recognised that the dynamism of population movements over time meant that a simple reliance on professed nationality as an identity marker remained problematic."^^ Even in 1939, the Reich Minister of the Interior, Frick, had claimed that the census was not designed to limit the free expression of nationality and foreign criticism that the inclusion of a natio-nality question was intended to restrict the rights of minority groups was rigorously rejec-ted. ^ Throughout the interwar period, freedom to declare nationality (on the basis of 'senti-ment') had been widely supported, but by the late-1930s official statisticians in Germany had already rehearsed the arguments in favour of a legal definition of citizenship which would avoid the problem of false reporting. Indeed, the Nazi definition of Volkstum excluded any possibility of individual choice, while the problems of managing territorial acquisitions in the East, after the outbreak of the Second World War, required a definition of citizenship which could be legally verified either by issuing identity cards for German citizens or by re-ference to a list of German nationals {Deutsche Volksliste).^^

V. Race and ethnicity

In general, a biological concept of race was absent firom European census enumerations pri-or to 1914, but a number of statisticians openly advocated the use of racial categories to esta-blish national identity. Ethno-cultural markers of national identity were actively canvassed by German anthropologists and Volkskundler, drawing, in part, on the well-established tradition of constructing moral statistics.^^ Race was to be defined in terms of distinct physi-cal attributes which implied the existence of an underlying rank order of racial categories, a claim that was later reinforced by the growing influence of Social Darwinism and the euge-nics movement. As early as 1865, the German Statistical Congress had demanded the imple-mentation of anthropometrical surveys of military recruits, although only Otto Ammonn pursued this line of research in Baden in a concerted manner with his work on conskripts and secondary schoolchildren.^^ The myth of a predominantly blond and pure German race, as defined according to its physical attributes, was ultimately undermined by Virchow's stu-dy of approximately 6.7 million school-children using data on skin, hair and eye colour com-piled at the instigation of the German Anthropological Society in 1872, but this, in turn, only prompted a greater interest in the 'spiritual' (or psychic) components of racial distinctions.^"*

9 WeiB 1939, 143ff.; Weinberger 1944, 69; Beck 1938. For further information on Weiss and Weinberger, see Labbe 1998,203.

80 Weinberger 1 9 3 9 , 1 0 1 . 81 Labbe 1998,209; Weinberger 1944, 79. 82 Kertzer and Arel 2 0 0 2 , 1 5 ; Gotz 1937 ,416 ; Oberschall 1965 ,45 . 83 A m m o n 1893; A m m o n 1895; A m m o n 1899. 84 Gotz 1937,416.

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106 Robert Lee

The involvement of statisticians in contemporary discourses on race in the pre-1914 pe-riod was not extensive, but it was nevertheless significant. The results of the 1872 survey on Bavarian school-children were published by Georg von Mayr: by the 1920s he had become one of the main advocates of'social statistics' in Germany, including an official survey of the population along racial lines in those areas where the 'folk community' (Volksgemein-schaft) was characterised by 'drastic and socially significant racial differences'. Von Fircks, although favouring the use of language {Volkssprache) as a signifier of nationality, regar-ded Prussia's population as consisting of different racial elements, including 'Scandinavians', 'Britons and Americans' (as one category), 'nigger peoples', and Jews, while proposed im-provements in enumeration methodology were influenced by Engel's concept of the 'com-munity of blood'.^^

The willingness of some statisticians to define nationality in racial terms was reinforced by a number of factors. First, census practice in the German colonies invariably utilised eth-nographic modalities to distinguish between the different indigenous races, in line with enu-meration procedures established by other imperial powers (Table 7). The first statistical ta-ble covering French Algeria divided the population into three distinct categories by Moors and Arabs, Jews and Negroes; in British India race was first included in the census schedule in 1891; and in the Australian census of 1911 all non-Europeans had to list their race. Secon-dly, although European censuses seldom contained biologically determined racial catego-ries, this was not the case in America. From the early-nineteenth century onwards, a clear di-stinction between Indians and Negroes established the contrast between races as a funda-mental ethnic characteristic in census enumerations. As Lind remarked in 1940 in his survey of German census practice, a racial question had been included in every single American census since 1797. The introduction of colour into the census was 'deliberately used to ad-vance race science', culminating in 1890 with the classification of mulatto categories (blacks, mulattoes, quadroons and octroons).^^ Thirdly, the interest of German statisticians in racial issues reflected wider trends in the international community. Although race was sel-dom discussed directly at ISI meetings, it remained part of contemporary discourse in the period before 1914: the French statistician Levasseur contributed a note on the distribution of population by race; Mayo-Smith discussed the assimilation of races and nationalities in the U.S.A. using statistical data; and there was a regular flow of articles in the proceedings of the ISI based on anthropometric statistics and racial categories, including a paper on the effects of gymnastic training on American women. ' To this extent, the statistical treatment of race as an indicator of nationality or as a determinant of national characteristics can be traced back to the increasing emphasis on the idea of race in scientific research, although the development of the eugenics movement in individual countries also reflected different ap-proaches to racial issues.^^

85 von Mayr 1926,118; von Fircks, 196f; Weinberger 1944,66. Ernst Engel (1821-1896) had led the newly founded Statistical Office in Saxony between 1860 and 1862, before becoming the Director of the Prussian Statistical Bureau. See vom Brocke 2002,417.

86 Petersen 1987,201; Anderson 1991; Lind 1940, 183; Nobles 2002, 51; Gotz 1937,419. 87 Levasseur 1909,48; Mayo-Smith 1895,188ff; Enebuske 1895,292ff.; Livi 1906,183. 88 Stepen 1982,126.

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Defining Population by Statistics 107

IState 1 Austria 1 Australia

1 Canada

German colonies

Germany

Mexico Romania USA

Date 1923 1911

1931

Pre-1914

1939

1930 1941 Early 19 ^ century 1890

Comments Question not implemented Australian (half caste, aboriginal), Asiatic, Afri-can, American, Polynesian Black (Negro), yellow (Japanese, Chinese), red or brown (Hindu, Indian, Malayan) Race and skin colour of coloured population, half-breeds Racial origins (blood-line descent), Jews, mixed-race 1 Spanish, Indian, Nigger Ethnic origins Negroes, Indians Blacks, Mulattoes, Quadroons, Octoroons

Table 7: The use of racial categories in national census enumerations.^^

The interwar period, as a whole, witnessed an increased emphasis on racial classifications in national censuses and a wider international discussion on the desirability of replacing the enumeration of maternal language as an indicator of nationality by racial criteria. Colonial practice, in general, still gave precedence to a race question, which even involved in the case of the Dutch East Indies distributing coloured questionnaires for the different races. A num-ber of other countries, including Guatemala, Mexico and Romania, demonstrated a similar concern to classify their population by race (Table 7), although in the latter case the initial proposal to include an ethnic question in the 1930 census was abandoned in favour of the more widely accepted emphasis on language. Austria considered including a question on race (as well as nationality) in the 1923 census (largely in response to the Treaty of St.Ger-main-en-Laye of September 1919), but it was eventually omitted because of procedural dif-ficulties (or, as some right-wing statisticians argued because of pressure exerted by a press largely dominated by Jewish-Marxist interests).^^ Moreover, the inconclusive discussions within the ISI between 1928 and 1931 over the most appropriate nationality identifier rein-forced the views of some statisticians that a racial component should be included in census schedules. In Budapest, Korosy (a noted propagator of social hygiene) advocated the repla-cement of the language question by one that focused on ethnic nationality or race, while von Mayr in his influential book on social statistics argued for the inclusion of a question on ra-ce, but only in states with significant racial differences.^^

The German census of 1939 represented a complete rejection of existing international practice which had generally preferred maternal language as the most reliable criterion of nationality. The Reichsgesetz of 4th October 1937 set out the legal requirements for a census which originally should have been held in May 1938. It was designed to clarify the racial distribution of the population, 'at least for the Jewish element', while the circular from the

89

90

91

Sources: Gotz 1937,415ff; Peterson 1987, 187ff.; Wietog 2001, 138ff. Labbe 1997b, 29f.; Gotz 1940,189; Thumwald 1923,71ff. Labbe 1998,204; Labbe 1997b, 29f.; Mackensen 2003,226; von Mayr 1926,118.

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108 Robert Lee

Reich Statistical Office in January 1938 emphasised the importance of questions on reli-gion, citizenship, nationality, mother tongue and blutmdssige Abstammung (blood-line de-scent) for assessing both the population and economy of Germany within the framework of the Second Four Year Plan.^^ The fact that there was no racial question in the census of 1933 was largely due to the continued absence of any clear definition of race. Indeed, the Ministry of the Interior had requested information on race in December 1933, but it could not be pro-vided, although the Director of the Wiirttemberg Statistical Office suggested that the printed forms relating to population trends should include a question on religion that would reveal demographic processes among the Jewish population.^^ There was also a lack of consensus amongst statisticians as to how the German race should be defined, whether in terms of its incorporation within the 'Nordic race' or on the basis of Giinther's classification of six main racial types.^^ The problem was only resolved with the promulgation of the Nuremberg Laws in 1935. It was now generally accepted by official statisticians that race statistics had an important role to play in both science and politics, as they offered a solution to the racial question, while Friedrich Zahn had fully embraced the ideology of race hygiene by the late-1930s and the need to register both good and bad hereditary qualities.^^ But it is important to note that the German statisticians involved in the compilation and analysis of racial data jus-tified the adoption of an alternative nationality identifier by reference to existing precedents in other countries (particularly Austria), and the failure of the ISI to agree on a standard cri-terion. Although the 1939 census marked a radical break with previous practice, the inclu-sion of a question on race also reflected the increased importance of nationality issues in central and eastern Europe during the interwar period and the experience of other countries in introducing an alternative marker for nationality.

However, some of the statisticians most closely associated with the compilation of ra-cial data prior to the outbreak of the Second World War, had reservations about their utilisa-tion. Although Gotz regarded race and statistics as two 'areas of knowledge', racial statistics were only to be used for administrative and scientific purposes in order to avoid disrupting the national community, particularly as a general racial survey of Germany was still only a theoretical possibility. Issues relating to the compilation of racial statistics, according to Bober, needed to be discussed more extensively by anthropologists and experts in race hy-giene to avoid an 'irresponsible' treatment of the racial question, and by 1944 Weinberger had returned to a question on language and nationality to prevent 'foreigners' (Fremd-volkische) from integrating themselves into the German national population.^^ Many of the statistics on foreigners in the Third Reich were compiled by other state agencies, such as the Rassenpolitisches Amt der NSDAP, and not by the statistical offices. Although Burgdorfer produced a new estimate of the number of Jews in the Reich based on the 1933 census fol-lowing the promulgation of the Nuremberg Laws, Karl Keller opposed the use of census schedules to calculate the German races and favoured the employment of doctors with spe-cial anthropological training for this purpose. In reality, statisticians only published five arti-

92 Labbe 1998, 199; Gotz 1937,415; HStAS, E 151/01,3134, circular of 20.01.1938. 93 HStAS, E 151/01,3140, communication of 02.01.1934. 94 Bober 1934/5,465. 95 Keller 1934, 129; Gotz 1937,185; Weinberger 1939, 96f; Zahn 1937; HStAM, Personalakten Dr. Zahn. For most

of his career, however, Zahn had not been a racial hygienicist. See, Kroll and Weingart 1989,218. 96 Gotz 1937,191; Bober 1934/5,465; Labbe 1997b, 40; Weinberger 1944,65.

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Defining Population by Statistics 109

cles based on racial data between 1933 and 1939, while other European authors (such as the eugenicist G.M.Morant) were increasingly critical of the use of anthropological or ethno-cultural criteria for classifying the races of Central Europe.^^

VI. Conclusion

Even today there are considerable statistical problems involved in estimating the size and characteristics of different ethnic groups: the classification of identity is complicated by def-initional and conceptual issues; advocacy groups often seek to influence the specification of census questions; and there are competing interpretations of both selected categories and the available evidence.^^ The use of selective criteria, whether religion, mother tongue, national-ity, ethnicity, or race, involves a classification of the population on the basis of culturally constructed criteria which may be in conflict with individual perception and self-image or even with collective preference, while the bounding of analytical categories can have signif-icant political and social consequences a direct question on ethnic origin remains 'a sensitive issue' in some countries, while the collation of data is frequently constrained by political considerations, rather than technical difficulties.^^

At one level, the history of the Third Reich demonstrates the extent to which the compi-lation of census data on individual identity was used for ulterior purposes in pursuit of wider ideological objectives. Although the overall role of official statisticians in the implementa-tion of Nazi racial policy has still to be explored in detail, it would have been increasingly difficult even for those statisticians who were not active supporters of the regime to have ig-nored the direct relevance of ethnic and racial data for the treatment of Jews and other mi-nority groups. ^ The focus of this paper, however, has been more specific: it has sought to analyse the role of official statisticians in developing identity markers in Germany from the late-nineteenth century onwards and to assess the extent to which German practice in this critical area differed from established international conventions. How did German official statisticians deal with the problem of defining population? Was there a noticeable trend to-wards international convergence and an acceptance of standard criteria, or an insistence on a distinctly national approach? What factors determined the exact process of census classifica-tion and how far were the recommendations of official statisticians governed by political or scientific priorities?

A number of conclusions can be drawn from the available material. First, all of the pos-sible definitional criteria, whether based on religion, language, nationality, race or ethnicity, were regarded by some statisticians as problematic. Although the enumeration of religious affiliation was implemented at a comparatively early date in many German states and Euro-pean countries, census data only reflected voluntary adherence to a particular denomination. Even when it was assumed that religion could be used as a proxy identifier for a particular group (such as the Jews), the census only reported those who belonged to a specific religious community.^^^ Although language, in particular maternal language, was increasingly viewed

97 Keller 1934,139; Labbe 1997b, 50; Morant 1939. 98 Moser 1972,20; Starr 1987,33. 99 Kertzer and Arel 2002 ,3 ; Starr 1987,45; Booth 1985,27. 100 Wietog 2001,189; Lee 2004,108ff.

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110 Robert Lee

as a more reliable criterion for defining the population, the overlap between language and nationality was sometimes tenuous, particularly in border areas. Support for a direct ques-tion on nationality in official censuses also had to be tempered by the realisation that any re-liance on professed nationality remained problematic. Finally, the criterion of race was con-tentious, in terms of its actual definition, the reliability of physical or 'psychic' attributes, and the operational difficulties in determining ethnic identity through existing census proce-dures. Historically, the problems inherent in defining population (which still confront offi-cial statisticians today) had a dual impact. On the one hand, they encouraged the develop-ment by individual statisticians of alternative identity indicators, supported in each case by reference to scientific discourse and dominant modes of research. On the other hand, the ab-sence of an objective classification system made it easier for individual states to introduce definitional criteria in line with immediate political objectives and the the need to create a 'closed' system.^^^

Secondly, the trend in Germany to an increasing reliance on nationality and race as identity markers even before the Nazi seizure of power was facilitated by the lack of a clear consensus among statisticians over the most appropriate and reliable method of identifying population. Despite repeated discussion of this issue at International Statistical Congresses and the ISI, there was little concrete success in securing an effective harmonisation of natio-nal practice. The extent to which individual European states used confessional affiliation as an identity marker varied considerably; there was no uniformity in deploying a language question (despite international approval); and an increasing number of states had recourse to a direct question on nationality in the period after the First World War. More significantly, only a few European countries (apart from Germany) sought to determine the distribution of their populations along racial lines, although such an approach was a well-established phe-nomenon in the USA and ethno-cultural criteria were commonly applied in most colonial territories. International cooperation between official statisticians had been fostered from the mid-nineteenth century onwards as a means of securing the harmonisation of national prac-tices: the failure of the ISI following its foundation in 1886 to achieve this objective by crea-ting a uniform system of classifying population was to have significant consequences. ^ It encouraged individual states to develop their own classification criteria and allowed 'race statisticians' to justify their rejection of existing markers such as maternal language.

Thirdly, German practice in defining its population was not necessarily exceptional. In enumerating confessional affiliation prior to 1914, most German states belonged to a distinct central and eastern European model which prioritised the collation of census data on this ba-sis. By contrast, some western European countries (including France and Great Britain) made very little use of census schedules to generate information on religious adherence. Equally, the inclusion of a language question in German censuses (whether at the Reich or Lander level) reflected a wider central European tradition, perhaps as a result of an increas-ing concern over the existence of distinct, but politically volatile, language borders. If the decision by the Nazis to include a question on nationality (Volkszugehorigkeit) in the 1939

101 Gotz 1937,417. 102 Oberschall 1965,13; Scott 1998,82. 103 For some details concerning the foundation and early development of the International Statistical Institute, see

Neumann 1886; Zimmemiann 1914.

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census can be viewed as a distinct break with earlier practice, it nevertheless drew on a number of precedents established by some of the new post-war states. To this extent, it was a reflection of the degree to which the post-1918 territorial settlement had served to politicise the collation of census data and the need to define nationality in a more visible manner. There was also an increased emphasis on the use of racial classifications during the interwar period, both in Europe and elsewhere; colonial practice still gave precedence to ethno-cul-tural criteria; and the USA had always utilised census categories designed to contrast the fundamental characteristics of different ethnic groups. ^ But if the underlying principles of population definition in Germany were not dissimilar to those applied by other states, their application by the Nazis marked a distinct qualitative change. The legal requirement in the census of 1933 to return formal adherence to a religious denomination and the imposition of 'objective' criteria to define nationality in 1939 represented a significant extension of the sur-veillance powers of the state and an explicit use of census schedules in the fiirtherance of ra-cial policy.

Finally, there was a perceptible continuity in German statistical practice between the late-nineteenth century and the promulgation of the Nuremberg Laws in 1935. A number of the leading official statisticians in the period before the outbreak of the First World War had expressed dissatisfaction with the inclusion in census schedules of questions relating to reli-gious affiliation and maternal language, and had openly advocated the implementation of al-ternative identity markers. Engel's concept of the 'community of blood' and the emphasis by von Fircks on the importance of classifying population according to its evolutionary descent (Abstammung) reflected the extent to which racial and eugenicist ideas had already permeat-ed official thinking. ^ Georg von Mayr, the first editor of the Allgemeines Statistisches Ar-chiv (from its foundation in 1890) and widely regarded as the doyen of German statistics, ar-gued strongly for the use of anthropometric and ethno-cultural criteria in classifying individ-uals, an approach which was ultimately incorporated within the German definition of citi-zenship with the acceptance of the principle oiius sanguinis in 1913.

In one sense, German statisticians were not exceptional in seeking to develop alterna-tive identity markers. Many of the ideas articulated before 1914 reflected wider debates within the international circle of official statisticians; a contemporary concern to improve the reliability and accuracy of existing data; and the influence of anthropological and eugen-ic concepts within the broader scientific community. What was different in the case of Ger-many, however, was the extent to which the federal structure of political power which was still evident during the Weimar Republic encouraged a wider range of discourse than was the case in many other European countries. The existence of well-established statistical of-fices in individual German states facilitated the development of different investigative mo-dalities, while 'front-line' states, such as Prussia and Saxony, with increasing rates of in-mi-gration from Eastern Europe, exercised their right to include supplementary questions in Re-ich census schedules. German statisticians were therefore able to experiment with the use of alternative population classification criteria, as individual states developed population ac-counting initiatives in line with their own political priorities. To this extent, official statisti-cians played a critical role in preparing a range of potential classification criteria which

104 Petersen 1 9 8 7 , 2 0 1 . 105 von Fircks 1893,196; Weinberger 1944,66.

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Page 124: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Defining Population by Statistics 117

Table-index

Table 1: Statistics on religious affiliation in individual German states 92 Table 2: Questions on religion and nationality in national vital registration data

during the interwar period.' 93 Table 3: Official statistics on religious affiliation in Europe pre-1914 94 Table 4: The definition of language as an identity marker in nineteenth- and twentieth-

century European states.' 99 Table 5: The use of different languages in selected European states, 1911-1934 101 Table 6: The incidence of bilingualism (German:Wendish) among Wendish people

under different census reporting systems, 1910-1925 (in per cent) 102 Table 7: The use of racial categories in national census enumerations 107

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The Dark Side of Numbers: Updated

William Seltzer

The purpose of this chapter is to update and summarize the research results presented in Seltzer and Anderson.^ It is based initially on a presentation to the conference, Bevolke-rungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert, held in 2003 in Berlin under the auspices of the German Association for Demography (DGD) and the Technische Univer-sitat Berlin, which itself drew on a paper by Seltzer and Anderson.^ In addition, in many pla-ces the present chapter also draws directly on a subsequent paper, "On the Use of Population Data Systems to Target Vulnerable Population Subgroups for Human Rights Abuses".^

All these works report on continuing research on how population data systems, particu-larly population registration systems and population censuses, have been misused in differ-ent countries to target vulnerable population subgroups for human rights abuses. On occasi-on, these abuses have included such internationally recognized crimes as genocide, crimes against humanity, and forced migration. The targeted groups have been defined in terms of race/ethnicity, national origin, mother tongue, and social class.

In addressing this serious topic, it should be stressed that most population data collec-tion efforts are not associated with such targeting and misuse. Indeed, national population data systems are often the only source of reliable data needed to plan and monitor develop-ment efforts in many fields.^ Fortunately, there are a number of safeguards that governments and national statistical offices can use that can reduce both the likelihood of such misuse or its harm if it does take place. Moreover, countries can take special care to avoid or minimize the use of the riskiest sorts of data collection programs.

It also should be recognized that governments may gather information for a wide varie-ty of investigative purposes. This chapter does not address the topic generally but focuses only on the misuse of the national statistical system to target population subgroups.

The chapter opens with a short discussion of the different data systems involved follo-wed by a presentation of a conceptual framework of data types useful for considering such targeting threats and operations. The next section presents a summary recent research on the identification of specific instances of such targeting, providing some further discussion of episodes occurring in Europe in the 1930s and 1940s and references to individual studies so that those interested can explore these cases in more detail. Finally, the chapter concludes with a section describing some of the major safeguards against such misuses and a section discussing the issues raised more broadly.

1 Seltzer & Anderson 2001. 2 Seltzer & Anderson 2003. 3 Seltzer 2005. 4 United Nations 2003.

Page 126: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

120 William Seltzer

I. The Main Population Data Systems Involved

The population data systems discussed in this chapter include regular population censuses, population registration systems, and various other kinds of administrative reporting systems. These systems and their major variants are summarized in Table 1, along with information on their population coverage, the level of geographic and subject-matter detail for which they can produce useful results, and their usual periodicity. This last factor is important in determining the timeliness of the results generated.

Data source

Population cen-sus

Regular

Special

Sample survey One time

Periodic

Longitudinal

Administrative record systems

Vital (or civil) registration

Population registration

Population units covered

Usually all in a country Usually limited to a state, prov-ince, or city

Often 1,000 to 100,000 Usually, fewer than one-time

Usually, fewer than periodic

Usually all vital events in a country Usually all in a country

Geographical detail

Very detailed

Very detailed

Very limited

Very limited

Very limited

Very detailed

Very detailed

Subject-matter detail

Limited

Very limited

Can be quite detailed Can be quite detailed

Can be quite detailed

Live births, deaths, etc. and related factors Can be quite detailed

Temporal dimensi^ ons

Every 5 or 10 yrs

Ad hoc, with no fixed periodicity

One time and ad 1 hoc 1 Information 1 obtained for a sam-ple every month, quarter, etc. | Information obtained for the same units every month, quarter, etc

Continuous

Continuous

Table 1: Sources of Population Data.

The United Nations defines a population census as "the total process of collecting, compi-ling, evaluating, analyzing and publishing or otherwise disseminating demographic, econo-mic and social data pertaining, at a specified time, to all persons in a country or in a well-de-limited part of a country."^ Its essential features include: individual enumeration, universali-ty within a defined territory, simultaneity, and defined periodicity, although the last feature

United Nations 1998.

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The Dark Side of Numbers: Updated 121

is often not achieved in a number of developing countries. Nevertheless, most countries of the world carry out population censuses on a fairly regular basis, most frequently at 10 year intervals.

The main advantages of a regular population census are that it obtains the same set of information from all members of the population using roughly the same procedures and a common reference date. Since all members of the population are covered in a census, censu-ses can be used to generate far more detailed cross tabulations than can be reliably produced from most sample surveys. In addition, comparably detailed cross tabulations can be produ-ced from a census for the country as a whole and for all units at each level of areal disaggre-gation defined in the census geography (for example, province, county, town, village, postal zone, census tract, block, etc.) However, regular population censuses are generally massive undertakings which means that they are normally conducted only once or twice a decade and the questionnaire or schedule used must be kept as simple as possible. As a result, decennial census data are on average 5 years out of date and must be limited in subject matter detail.

Countries also carry out a range of sample surveys. In general, as shown in Table 1, sample surveys often directly compliment censuses in terms of their main features. For ex-ample, surveys can be strong in subject-matter detail and timeliness, but are weak in geogra-phical detail and often exclude segments of the population that censuses cover (for example, those living in institutions and other types of group quarters.)

The third major source of population data are administrative reporting systems of one kind or another. Table 1 focuses on two such systems that are sometimes confiised with one another: a civil registration system and a population registration system. The former records vital events (live births, and deaths, and in many countries, fetal deaths, marriages and divorces as well). Virtually all countries have a vital registration system legally requiring the registration of at least live births and deaths, although for many developing countries the re-gistration of live births and deaths, particularly the many that do not take place in hospitals, is very incomplete. The civil registration of these vital events is the source of a nation's vital statistics.

By contrast, a well-fiinctioning population registration system strives to maintain a re-cord for each person from birth or arrival in the country, through a person's education, work, and retirement history, to death or other permanent departure from the country. Such a sy-stem also generally strives to keep track of changes in residences and is often linked to other government registers (for example, tax, voting, social security, health). The United Nations defines a population register as a mechanism

"for the continuous recording of selected information pertaining to each member of the resident population of a country or area, making it possible to determine up-to-date information about the size and characteristics of the population at selected points in time. Because of the nature of a population register, its organization, as well as its operation, should have a legal basis. Population registers start with a base consisting of an inventory of the inhabitants of an area and their charac-teristics, such as date of birth, sex, marital status, place of birth, place of residence, citizenship and language. To assist in locating a record for a particular person, household or family in a pop-ulation register, an identification number is provided for each entity.

The population register can contain other socio-economic data, such as occupation or educati-on. The population register should be updated by births, deaths, marriages and divorces, which are part of the civil registration system of the country. The population register is also updated by

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122 William Seltzer

migration. Thus, the population register is the result of a continuous process, in which notificati-ons of certain events, which may have been recorded originally in different administrative sy-stems, are automatically linked to a population register on a current basis. The method and sources of updating should cover all changes so that the characteristics of individuals in the regi-ster remain current."^

As this definition implies, to function a population registration system requires both a full inventory of the population to establish the system and means of obtaining in a timely man-ner information on all live births, deaths, and moves of persons included to keep the system up to date. It is generally comparatively easy technically, although not necessarily operatio-nally, to establish a population registration system since the initial inventory can be based on a census-like operation. It should not be based on the population census itself since the latter under most statistics or census lav^s is carried out under confidentiality protection provisi-ons. Thus, sharing of information between the census (a statistical system) and the populati-on registration system (assuming it had some administrative purposes) v^ould be a violation of statistical confidentiality.

On the other hand, the maintenance of a population registration system is an extremely difficult job logistically. Not only must all birth and deaths be reported to the vital registrati-on system and the reports transferred to the population registration staff in a timely manner, but all moves within a country must also be recorded. Indeed, unless a country has complete birth and death registration, there is little point in trying to establish a population registration system. In addition, because population registers have been involved in some of the most se-rious human rights tragedies of the twentieth century (see Table 3 below), great care is nee-ded to limit the kind of information collected and to use other safeguards against misuse.

II. Reconceptualizing Population Data

Most of those who produce and use population data are aware of two broad classes of data, (1) the individual level data for each unit (person, family, household, or dwelling) and (2) the aggregates based on tabulating these individual records. The individual records may also be analyzed in more complex ways through multivariate analysis (for example, regression analysis). However, from the perspective of human rights concerns, the key issue is how well the data lend themselves for targeting potentially vulnerable individuals or groups. In these circumstances, a three-way classification of data types (that is, macro data, meso data, and micro data) becomes relevant.

United Nations 2001.

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The Dark Side of Numbers: Updated 123

1 Datatype Macro

Meso

Micro

Definition Macro data refer to tabulated aggregates for national or large geo-graphic areas Meso data refer to tabulated data for sufficiently small geographic areas that the results can be used operationally to identify and target a vulner-able population subgroup. They are statistical results presented at such a fine level of geographic disaggregation, whether in tabular or graphic form, that the results may be used in conducting field operations at the local level. Micro data refer to identifiable records for each individual |

Table 2: Types of Population Data.

As the definitions of these concepts provided in Table 2 make clear, macro data are simply traditional census or survey tabulations for large geographic areas, while micro data refer to the information contained in the individual unit records for each member of the population covered. Initially at least, such unit records usually contain or are linked to identifying infor-mation such as name and address. The concept of meso data is a relatively new one. As Selt-zer and Anderson^ observed in a detailed examination of the use of population data systems to target vulnerable population subgroups,

„While the relative protection offered by the statistical aggregates of macro data and the relative vulnerability of individual records that constitute micro data have long been recognized, the spe-cial risks posed by meso data have only been explicitly examined in the past few years."

They went on to describe the role of meso data in such targeting in these terms,

„meso data are statistical results presented at such a fine level of geographic disaggregation, whether in tabular or graphic form, that the results may be used in conducting field operations at the local level. Thus the borderline between macro data and meso data will depend in part on the size of the geographic units, the distribution of the target population among these units, and the intended operational uses. For example, census aggregates showing the number of persons in a target population for an individual small village maybe operationally useful, while similar data for a large city, would need to be further broken down by tract, ward, or even block to be opera-tionally useful."

Two additional points should be kept in mind when considering the concepts of macro, meso and micro data. First, traditional laws that protect the confidentiality of statistical data bar the release of individually identifiable data. In other words, they explicitly pertain to the re-lease of identifiable micro data. Statutory protections do not generally cover the targeting of vulnerable groups through meso data, although statistical agency disclosure policies can sometimes provide considerable protection.

Second, although the present paper focuses on the risks associated with micro and meso data, it should be recognized that macro data have frequently been used in efforts to stigma-tize vulnerable populations as part of an effort to mobilize public support for systematic ef-forts directed against such groups. (Indeed, the statistical concepts involved in producing

' Seltzer & Anderson 2003.

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124 William Seltzer

such tabulations have often helped shape the government's definition of the "problem" pop-ulation.)

III. Research Results on Targeting

Table 3 presents, in highly summarized form, an updated listing of instances where efforts were made by national states to use a population census, a population registration system, or a related data system to target vulnerable population subgroups (or individuals) for adverse action.In writing about an earlier version of this table Seltzer and Anderson [2003] commen-ted,

„We would stress that among the cases listed ... there was a wide range in severity of the conse-quences for the individuals and groups so targeted or identified. In some cases, targeting was part of a genocidal program. In other cases, the potential consequences were far less grave. Also some of the instances cited were fully implemented examples of targeting, while other represent inten-tions that were never fully implemented. Furthermore, given the range of time periods and coun-tries covered ..., there is wide variation in the extent to which each data gathering activity listed was subject to statistical confidentiality legislation. All the cases listed ... do have two features in common: (1) they involve a population data system that was part of the national statistical sys-tem, or was created under the auspices of the national statistical authorities; and (2) in each case targeting was attempted or was an explicit or implicit goal. Our justification for using such a broad definition is simple. In view of the gravity of some of the examples, both for those targeted and for the statistical programs, agencies, and staffs involved, we consider that full exploration of the historical record is important so that we can assure that we have done all we can to avoid any new misuse by national or local governments."

At this point Table 3 contains 17 cases. Underscoring the rapidly evolving nature of this line of research, we note that in 2001 the first time the equivalent of this table was compiled, 10 incidents were listed.^ The additional cases now included relate to: (a) the Australian abori-gines, (b) the population registration system in China during the Cultural Revolution, (c) the 1941 Hungarian Census; (d) Norwegian population censuses in the 19th and early 20th cen-turies, (e) the South African 1951 population census and that country's population registrati-on system, (f) the 1910 U.S. population census, and (g) the recent effort made to use infor-mation collected by the U.S. National Center for Education Statistics under a pledge of stati-stical confidentiality to investigate and prosecute terrorism.

As is clear from Table 3, efforts to misuse population data systems to target vulnerable population subgroups, along with actual misuse have occurred in both totalitarian and demo-cratic countries, although in democratic societies such misuses tended to occur primarily in times of national stress. Moreover, the scale of the ensuing human rights abuses was much smaller and their nature tended to be milder in democratic than totalitarian states.

Population registration systems were involved in 8 of the 17 cases listed in Table 3, re-gular decennial censuses in 7 cases, special censuses in 4 cases, and other or unspecified sy-stems were involved in 2 cases. (The numbers total to more than 17 because in several of the cases listed, more than one data system was used in the targeting.)

8 Seltzer & Anderson 2001,487.

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The Dark Side of Numbers: Updated 125

Although the possibility of population census-based targeting frequently receives much attention in the press and is the cause of much public fear, the record seems to be clear that population registers are an equal if not greater potential threat. Population registers were as-sociated with such well-known gross abuses of human rights as the Jewish Holocaust in the Netherlands (over 70 percent of the resident Dutch Jews killed), Apartheid in South Africa, the Cultural Revolution in China, and the 1994 Rwandan genocide.

The targeted groups in the 17 episodes listed in Table 3 included racial and ethnic mi-norities (Jews, Roma, Samis, Kvens, Tutsi, and Japanese Americans), lingual minorities (German speakers in Hungary in 1945 and 1946), indigenous populations (Australian Abori-gines and Native Americans), subject populations (the African and "Colored" populations in South Africa), socially defined out casts (those from a "bad" social class in Maoist China), and legal out casts (suspected draft registration violators in the United States in World War I and suspected terrorists in the United States after 9/11).

In terms of geographical scope, all regions of the world are represented in Table 3, ex-cept Latin America and Western Asia. It is not clear whether this geographic variation repre-sents a real difference in regional experience or is an artifact of the limited research on the use of meso and micro data for targeting in these two regions.

Six of the seventeen examples listed in Table 3 relate to the targeting of Jews and Roma (sometimes referred to as Gypsies) for segregation, forced migration, and extermination by the Nazi authorities and some of their allies during World War II as part of the Holocaust (Shoah and Porajmos). Five of these examples were discussed in detail by Seltzer^ and all six of them in more summary form in Seltzer and Anderson. ^ While the activities in each country are listed as one "incident" in Table 3, several are compound in nature. For example, while Seltzer^ describes the use of a 1942 special census to identify Jews in Norway as a preparatory step to their expulsion from the country, but one not carried out by the Norwe-gian statistical office, S0bye^^ describes the persistent efforts of the Director-General of that office to take advantage of the situation to establish a population registration system.

It is not necessary to repeat here the detailed descriptions of these six cases contained in Black, Seltzer, and Sobye and the sources cited therein.^^ As Seltzer and Anderson observed

„although these six cases were Nazi-inspired crimes, in only two cases, Germany itself and Po-land, could the misuse of the data systems be attributed solely to Nazi initiatives. In France, Henri Buhle and Rene Carmille, and in Norway, Gunnar Jahn, the heads of the statistical agencies, took advantage of the political climate of German occupation or influence, to expose vulnerable target populations to further risks by proposals to undertake major new data-gathering efforts to serve both statistical and administrative purposes (Remond, 1996; Sobye, 1998)." '

With respect to the Netherlands they noted:

9 Seltzer 1998. 10 Seltzer & Anderson 2001. 11 Seltzer 1998. 12 S0bye 1998, 13 Black 2001; Seltzer 1998; Sobye 1998. 14 Seltzer & Anderson 2001,486.

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126 William Seltzer

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The Dark Side of Numbers: Updated 127

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128 William Seltzer

"the effort at establishing a comprehensive population registration system for administrative and statistical purposes was completed even before the Nazi-occupation [Methorst, 1936; Thomas, 1937]. In 1938 Methorst, who was then the director-general of the Dutch Central Bureau of Sta-tistics and formerly also head of the Dutch office of population registration, reported on the rapid progress being made in the Netherlands in implementing a new comprehensive system of popula-tion registration that would follow each person 'from cradle to grave' and would open up 'wide perspectives for simplification of mimicipal administration and at the same time social research' [1938: 33: 713-714]. By early 1941 Methorst's successor as head of the population registration office, J.L. Lentz, had quickly adapted this general 'cradle to grave' system to create special reg-istration systems covering the Jewish and the [Roma] populations of the Netherlands. These reg-istration systems and the related identity cards played an important role in the apprehension of Dutch Jews and [Roma] prior to their eventual deportation to the death camps ... The critical role of the registration system in the over-all process has been stressed by such diverse observers as the German Generalkommisar for administration and justice in the Netherlands in September 1941 [Presser, 1969: 38] and the British historian Bob Moore [1997]."!^

However, some discussion of subsequent developments related to events in France, Germa-ny, and the Netherlands seems called for.

France. The dispute over the precise role of Rene Carmille, head of the French statisti-cal service under the Petain, referred to in Seltzer^^, appears to continue. Led by his son, Ro-bert Carmille, there has been a continuing effort to rehabilitate Carmille's reputation by, among other things, alleging that some of his communications to his superiors in the Vichy government were only written to deceive the government while he was deliberately using his post as head of the statistical service to sabotage the government's anti-Jewish measures. However, Rene Carmille's role, and the role of the French statistical service itself, appear to remain ambiguous at best, pending further independent research.

Germany. Our understanding of the role of the German statistical service in the Holo-caust continues to benefit greatly from ongoing research by a large number of German scholars. This research, some carried out by independent scholars and some working under commission from the German statistical service, has examined operations of individual pop-ulation data system and individual statisticians and demographers under the Third Reich. In-itially virtually all of this extensive body of research was available only in German. Howev-er recently Aly and Roth [1984] appeared in an English translation [2004].^^ Unfortunately, the English translation, like the German original is marred by the use of imprecise terminol-ogy when referring to the data gathering systems described which leads to significant confu-sion and ambiguities in interpretation. Wietog's important study of the role of the German statistical system in the Third Reich, previously cited in Seltzer and Anderson^^ remains un-translated, despite a strong plea at the December 2003 Berlin conference for this work to be translated in full into English and shared internationally.

The Netherlands. Despite the indisputable role that the ID cards linked to the Dutch population registration system played in the Jewish and Roma Holocausts in the Netherlands and the role that meso data from the 1930 Census played in the dot maps used to target Jew-ish neighborhoods, senior officials of Statistics Netherlands have persisted in the view that

1' Seltzer & Anderson 2001, 486, 488 18 Seltzer 1988, 522f 19 Aly & Roth 1984; English translation 2004. 20 Seltzer & Anderson 2001.

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the statistical service, its leadership, and its outputs were uninvolved. For reasons set out in more detail previously^^ their continued denials appear unjustified. It may be noted that af-ter the end of the war, the Dutch population registration system dropped religion as a regis-tration item and according to Begeer^^ introduced a series of operational safeguards, such as decentralization, designed to make its use for targeting purposes more difficult. Despite these measures, it appears that the Dutch population had such reservations about the statisti-cal system that they effectively forced Statistics Netherlands to abandon their plans for car-rying out a population census in 1981.^^

I am also unaware of any informed, independent research by Dutch scholars that ex-plicitly examined the degree to which the Dutch statistical service, its leadership, its activi-ties and its outputs in the 1930s and early 1940s contributed to ensuing events. One issue that such research might attempt to address is whether the Dutch central statistical agency and its Director-General used the mantel of that agency's influence and prestige in the 1930s to secure the passage of the legislation needed to strengthen the county's population registra-tion system. In this connection, it may also be noted that in the 1920s and 1930s the estab-lishment and strengthening of national population registration systems was one of the major goals of the international eugenics movement and, according to van de Kaa "*, Methorst was one of the "main protagonists" of the eugenics movement in the Netherlands in the inter-War period.

For more details about these and other individual episodes listed, see the individual sources cited in Table 3. In addition. Seltzer and Anderson provide some information about each of the listed events, except for the cases of the Chinese population registration system and the 1941 Hungarian Census.^^

With respect to the former, the broad outlines of the Cultural Revolution in China are generally known. What is less widely known is the role that the population registration sys-tem played in targeting an unknown number of victims of such human rights abuses as forced migration and mob violence, sometimes leading to death, because they were identi-fied in the register as coming from a "bad" social class. It may be noted that one of the re-forms introduced, after the excesses of the Cultural Revolution was recognized by Chinese authorities, was the elimination of social class as a variable in the population register.^^ In the case of Hungary, individual records fi-om the 1941 Hungarian Census were examined at the end of World War II to target those who reported German as a mother tongue for depor-tation to East Germany or the Soviet Union. (It should be noted that, according to Gal, those Hungarians who had actively collaborated with the Germans during World War II had al-ready been deported or killed prior to the census-based linguistic targeting of 1945 and 1946.27)

The point of Table 3 is not to discourage the collection and use of population statistics. Rather, it is intended to remind those proposing to gather such data that they carry a heavy

21 Seltzer 1998, 523ff; Seltzer & Anderson 2 0 0 1 , 486 , 488 . 22 Begeer 1998. 23 Choldin 1988, 147; van der Laan 2000 . 24 vandeKaa 1998, 113. 25 Seltzer & Anderson 2 0 0 1 ; 2 0 0 3 . 26 Qin 2004. 27 Gal 1993.

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obligation to ensure that the systems they develop do not easily lend themselves to kinds of misuse portrayed in Table 3 and that continued attention be given to the prevention of mis-use. Failure to respect these obligations, as discussed below, can lead to the public's refusal to provide complete and accurate responses. This, in turn, can deprive the government and all other data users with the statistical data they need.

IV. Safeguards Against Misuse

Seltzer and Anderson^^ identified five potential safeguards against the kinds of misuse de-scribed in Table 3. These were: (1) substantive safeguards, (2) methodological and techno-logical safeguards, (3) organizational and operational safeguards, (4) legal safeguards, and (5) ethical safeguards. It must be noted that these safeguards, used individually, rarely pro-vide an absolute defense against misuse. However, used jointly they can often avoid, deter, delay, and minimize the adverse impact of efforts to misuse population data systems to tar-get populations for human rights abuses. In the context of human rights abuses, delay often directly leads to mistreatment avoided or minimized, including abuse-related mortality.

Substantive safeguards. Briefly, substantive safeguards refer to omitting sensitive items (for example, race, ethnicity, tribal group, language, religion) from data collection systems, particularly a population census or a population registration system. Seltzer and Anderson characterized this as the "ultimate safeguard" and noted that "this safeguard, while often perceived as reducing the analytical or policy usefulness of the involved data system, has been deliberately employed in several countries that had histories of misuses associated with major abuses."^^

Methodological and technological safeguards. Methodological and technological safe-guards against operational targeting include the collection of data on sensitive topics using sample surveys based on multistage probability designs rather than complete count informa-tion from censuses or population registers or basically unclustered systematic samples based on these sources. In addition, as Seltzer and Anderson noted

„Another broad technological approach is the deliberate introduction of errors into the data set. These include systematically swapping responses for individual items between records, introduc-ing perturbations in specific items, top (or bottom) coding of quantitative items so that unduly large (or small) responses are grouped together to protect the identity of respondents, coding cat-egorical data in broad response categories or using only large areal units for similar purposes."^^

Organizational and operational safeguards. Organizational and operational safeguards in-volve arrangements designed to make it more difficult, or at least more time-consuming, for respondent identification information to be associated with information on sensitive data items.^^ The importance of organizational and operational safeguards has taken on added importance now that national statistical offices are able to store completed census and popu-

28 Seltzer & Anderson 2001,495ff. 29 Seltzer & Anderson 2001 ,495 . 30 Seltzer & Anderson 2001 ,497 . 31 Seltzer & Anderson 2001 , 497f.

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lation registration forms, including name and address information, in machine readable form suitable for case-by-case matching.

Legal safeguards. Legal safeguards have long been perceived as the primary safeguard against the misuse of information obtained by a national statistical agency to harm respond-ents. The statistical and census acts of most countries bar the use of information obtained in statistical inquiries to harm respondents and their families. Moreover, as Seltzer and Ander-son have observed, "in a few countries these laws and regulations even extend to barring the collection or storage of data on sensitive topics."^^

In the context of targeting vulnerable populations, however, laws relating to statistical confidentiality have two important weaknesses: first, they focus exclusively on micro data, leaving the issue of use of meso data for such targeting unregulated or at the discretion of the statistical agency; second, statistical confidentiality laws can be, and have been, set aside in times of perceived national emergency to permit the use of individual-level information gathered under a pledge of confidentiality to target population subgroups and individuals.^^ Accordingly, it is only prudent for a statistical agency to use a coordinated package of safe-guards rather than relying solely on statistical confidentiality laws.

Ethical safeguards. Despite the official and scientific character of the work of national statistical agencies, these offices and their leadership and staff are subject to a number of ethical norms.^^ Internationally, many of these norms are embodied in the Fundamental Principles of Official Statistics adopted by the UN Statistical Commission.^^ Principle 6 of this document states

„Individual data collected by statistical agencies for statistical compilation, whether they refer to natural or legal persons, are to be strictly confidential and used exclusively for statistical purpos-es,

which clearly precludes the use of micro data for targeting purposes. The International Sta-tistical Institute's "Declaration of professional ethics for statisticians" also refers to the obli-gation of statisticians to respect confidentiality assurances made to respondents as do the ethical statements of several national statistical associations.^^ In light of the limitations of legal and other safeguards, ethical standards can play and have played an important role in preventing misuse of data systems or minimizing the impact of such misuse. '

In addition to these five safeguards, Seltzer discussed a number of what were termed "prevention" and "coping" strategies for dealing with perceived ethical threats arising in government statistical work, including threats associated with the use of both meso and mi-cro data to target vulnerable groups.^^

32 Seltzer & Anderson 2001, 498. 33 Seltzer & Anderson 2001, 498; 2003. 34 Seltzer 2005, 35 United Nations Economic and Social Council 1994. 36 International Statistical Institute 1986. 37 Habermann 2005; Seltzer 2005; Seltzer & Anderson 2003. 38 Seltzer 2005.

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V. Discussion and Conclusions

A key feature of the long-term health of a national statistical agency is its reputation. This reputation, in turn, is a function of its ability to serve three quite different ends: First, is its ability to provide the statistical data that users want in a timely and reliable manner. Second, is its ability to provide such data in an impartial manner. Third is its ability to maintain the confidence of data providers so that the responding public and enterprises continue to trust that their cooperation in statistical inquiries does not harm them or the appear to do so.

Closely related to the second and third factors is the importance of statistical agencies avoiding involvement in essentially administrative operations of government or lending the statistical agencies' good name to such administrative undertakings, particularly when they have a distinctly political character. For example, in the early 1950s, the South African Cen-sus and Statistics Office, with the enthusiastic support and involvement of its Director, was given responsibility for that country's newly established population registration system as a key element in the enhanced Apartheid system under the Nationalist government elected in 1948. Furthermore, the Census and Statistics Office, again with the active involvement of its Director, used the country's 1951 Population Census to establish the initial race classifica-tions used in the population register. However, in time it became clear that the Census and Statistical Office was ill-suited to carry out the essentially administrative work involved es-tablishing the population register, particularly the adjudication of contested racial classifica-tions. As a result, progress in implementing the new system was slow, and by 1956 the Di-rector was replaced and by 1959 the task and the related posts and office space was removed fi-om the South Afi*ican Census and Statistics Office. ^ Indeed, it took the Office several dec-ades to recover from the experience.

Moreover, even when there is no immediate impact on a statistical agency's reputation because of its active involvement in targeting, whether on the basis of micro or meso data, there is a real possibility that even after 40-60 years such activities may cause considerable embarrassment to a national statistical agency. For example, in the 1980s the German Statis-tical office had to deal with strong public reactions based on its work in the late 1930s in support of the Holocaust and the US Census Bureau continues to have to defend itself for providing "proactive assistance" in targeting Japanese Americans early in World War II based on the 1940 Census."*^

In these circumstances, both existing ethical norms and enlightened self-interest point in the same direction: national statistical agencies should avoid involvement in actions that might easily lend themselves to targeting vulnerable population subgroups or individuals. Table 4 presents a listing of critical and aggregating factors that, if present in an ongoing or planned data gathering effort, seem to increase the potential for targeting and related human rights abuses to take place.

39 Seltzer and Anderson, 2003: 33ff. 0 Habermann 2005; Seltzer 1998; Seltzer & Anderson 2003.

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A. Critical factors

1. Population studied is weak or otherwise vulnerable.

2. Data gathering or research involves variables that are on "sensitive" topics, typically topics that are or can be used to identify or stigmatize one or more vulnerable groups, or use classifications that permit the identification or stigmatization of such groups.

B. Aggravating factors

1. All or substantially all of population is covered, i.e., sampling is not used.

2. Longitudinal data gathering is involved, or the activity can be linked to a longitudinal system.

3. Participation is mandatory or is effectively coerced.

4. Little or no input from the subject population in planning the data gathering or research activities. (The risk potential is further enhanced if there are substantial inputs in terms of expertise, staff, or funds from foreign persons or institutions.)

5. The data gathering or research is carried out in a war, a period of civil disruption, or during or shortly after a similar emergency.

6. Little or no attention given to organizational, operational, methodological, and tech-nological safeguards against the misuse of information obtained for non-statistical purposes.

7. Confidentiality assurances provided to respondents have limited or no legal basis.

8. Ethical reviews are not carried out, are perfunctory, or are heavily influenced by utili-tarian considerations.

Table 4: Factors Contributing to Higher Risk of Population Data Collection Effort based on Potential for Respondent or Group Harm"* '" ^

In situations where one of the critical or several of the aggravating factors are involved, na-tional statistical agencies, their leadership, and their professional and technical staffs will need to take special care to ensure that effective substantive, methodological and technologi-cal, organizational and operational, legal, and ethical safeguards are in place. Underlying such work is a free and open discussion of the issues involved.

For such discussions to have a strong factual basis, demographers, sociologists, histori-ans, statisticians, and other scholars will need to identify and document successful applicati-ons of these safeguards as well as examining in further detail those instances of the misuse already identified and possible additional instances where population data systems were used for targeting vulnerable groups. Such research is best carried out by those knowledgea-ble both in the functioning of such data systems and in historical research. In these circum-stances, an interdisciplinary research team is often a sound way of proceeding. Moreover,

Note: The presence of either or both critical factors gives rise to a presumption of risk and each additional aggravating factor present further augments such risk. On the other hand, it should be emphasized that the presence of critical and aggravating factors does not mean that actual harm has occurred. Source: Seltzer, William 2003. "Data collection. Ethics Issues in." In: Encyclopedia of Population. Paul Demeny and Geoffrey McNicoU, eds. New York: Macmillan Reference USA, 2003, 195ff.

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134 William Seltzer

since the results of such research have implications for many countries, it is important that reports of studies undertaken be translated into other languages.

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Page 142: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

136 William Seltzer

Table-index

Table 1: Sources of Population Data 120 Table 2: Types of Population Data 123 Table 3: List of Cases Where Population Data Systems Have Been Used to Target

Individuals or Population Subgroups, Where Such Efforts Were Initiated, or Where Such Targeting Has Been Seriously Contemplated 126

Table 4: Factors Contributing to Higher Risk of Population Data Collection Effort based on Potential for Respondent or Group Harm 133

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich und die Erfassung der osterreichischen Juden

Gudrun Exner und Peter Schimany

Vorbemerkungen

Die nationalsozialistische Vertreibungs- und Vemichtungspolitik hat die jiidische Bevolke-rung in Osterreich schwer getroffen. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses" im Marz 1938 lebten in Osterreich liber 200.000 Juden, von denen rund 130.000 vertrieben und mindestens 65.000 Opfer der Verfolgungen wurden. Nur etwa 5.500 Juden liberlebten die Jahre vom Marz 1938 bis Mai 1945 in geschutzten Mischehen oder im Untergrund. Die Opfer des Ho-locaust wurden aufgrund von Namenslisten in die Konzentrationslager deportiert. Damit stellt sich die zentrale Frage, ob die Deportationslisten auf den Daten der Volkszahlung vom Mai 1939 oder auf anderen Quellen beruhten.

I. Einleitung

Im Jahr 1984 erschien das Buch der beiden Historiker Gotz Aly und Karl Heinz Roth „Die restlose Erfassung. Volkszahlen, Identifizieren, Aussondem im Nationalsozialismus". Die Autoren sprachen implizit den Verdacht aus, dass die Daten der Volkszahlung vom 17. Mai 1939 auch far die Erstellung der Deportationslisten der Juden in die Vemichtungslager ver-wendet wurden. Die Zensusdaten konnten liber die „Volkskartei" zur Erganzung der polizei-lichen Melderegister in die Hande von NS-Organisationen gelangt sein, die speziell mit der Judenverfolgung befasst waren.^ Dieser Verdacht sttitzte sich auf die Tatsache, dass bei der Volkszahlung von 1939 - die auch in der damaligen „Ostmark" stattfand - die „rassische Abstammung" in einer eigenen „Erganzungskarte" erfasst wurde.^

Die „Erganzungskarte fiir Angaben iiber die Abstammung und Vorbildung" war eine Besonderheit der Volkszahlung von 1939. Nach dem Erlass der Ntimberger Gesetze vom 15. September 1935 und den dazu gehorigen Durchfiihrungsverordnungen mit den entspre-chenden Defmitionen wurde erstmals in der Geschichte der amtlichen deutschen Statistik nach der rassischen Abstammung gefragt: „War oder ist einer der vier GroBeltemteile der Rasse nach Volljude?" Die Zahlung der Juden und Judischen Mischlinge" korrespondierte mit dem Wunsch der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und des Sicherheitsdienstes (SD) nach der Anlage einer reichsweiten „Judenkartei". Die Daten der Erganzungskarten waren

Die am 21. April 1939 angeordnete und fur August/September 1939 vorgesehene Einfiihrung der Volkskartei stellte eine Erganzung der alphabetisch geordneten Melderegister dar. Sie war nach Jahrgangen geordnet und in erster Linie fur militarische Zwecke (Musterung) vorgesehen. Juden - das Religionsbekenntnis ging im Allgemeinen aus den Meldeunterlagen hervor - waren auf der Volkskartei mit einem „J" zu kennzeichnen. Tatsachlich eingefiihrt wurde die Volkskartei in Osterreich aber erst mit Erlass vom 23. Oktober 1941. Vgl. Heinecken 1942/43, 39,41. Vgl. Aly & Roth 2000, 92ff.

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138 Gudrun Exner und Peter Schimany

fiir diese NS-Organisationen daher von besonderem Interesse. Rund zwei Jahre nach der Volkszahlung stellte das Statistische Reichsamt die Erganzungskarten zur Auswertung ftir die Karteien des polizeilichen Meldewesens und ftir die Volkskartei zur Verfugung.^ Damit konnten die Daten der Erganzungskarten mit den Daten der Melderegister und der Volkskar-tei abgeglichen werden. Indem die Zweckbindung und die Wahrung des Amtsgeheimnisses aufgehoben wurden, wurde auch mit dem Grundsatz gebrochen, dass dem Individuum aus der Erhebung seiner Daten keine Nachteile erwachsen durfen.

Diesen Sachverhalt nahmen Aly und Roth"* zum Anlass, im Vorwort zur zweiten Aufla-ge ihres Buches zu betonen, dass ihre Veroffentlichung auch im Kontext der deutschen Volkszahlungsdebatte von 1983 zu sehen ist. Hintergrund des Volkszahlungsboykotts war die Frage einer moglichen Weitergabe von Zensusdaten im Rahmen des „Melderegisterab-gleichs". Ursprunglich waren die Meldebehorden befugt gewesen, Daten an andere Behor-den weiterzugeben. Ungeklart blieb jedoch, zu welchem konkreten Zweck welche Behorde die personenbezogenen Daten verwenden wiirde. Das Bundesverfassungsgericht entschied deshalb in seinem Urteil vom 15. Dezember 1983, dass der Paragraph 9, Abs. 1 bis 3 des Volkszahlungsgesetzes mit Artikel 1, Abs. 2 und Artikel 2, Abs. 1 des Grundgesetzes unver-einbar und daher nichtig sei.^

Die Volkszahlungsdebatte wurde in Deutschland weitgehend gegenwartsbezogen ge-fuhrt.^ Vergleiche zur Volkszahlung von 1939 und Hinweise auf die Statistik als Kontrollin-strument in einem totalitaren Regime, dessen Bevolkerungspolitik auf Auslese und Rassis-mus beruhte, blieben die Ausnahme. Aly und Roth^ nahmen die Diskussion um den „Mel-deregisterabgleich" jedoch zum Anlass, nochmals eindringlich auf die Frage hinzuweisen, ob die Weitergabe der Zensusdaten von 1939 zur Erstellung von Namenslisten flir die Trans-porte in die Konzentrationslager diente.

Im Jahr 2001 erschien im Auftrag des Bundesministeriums des Inneren und mit Unter-stiitzung des Statistischen Bundesamtes die Studie „Volkszahlungen unter dem Nationalso-zialismus" von Jutta Wietog, die den Vorwurf von Aly und Roth anhand der verfugbaren Quellen eingehend untersuchte. Wietog^ kam zu dem Schluss, es sei unwahrscheinlich, dass Volkszahlungsdaten in groBem Umfang zur Erstellung von Transportlisten verwendet wur-den. Erstens waren Sonderauswertungen vor der Auszahlung durch das Statistische Reichs-amt per Volkszahlungsgesetz untersagt.^ Zweitens lagen die endgiiltigen Ergebnisse der Er-ganzungskarte erst im Marz 1941 vor, ein Abgleich mit den Daten der Volkskartei und dem Melderegister sogar erst Ende 1941. Die Volkszahlungsdaten waren somit bereits veraltet, als im Friihjahr 1941 die ersten Massentransporte in die Konzentrationslager einsetzten.^^

3 Wietog 2001b, 6. 4 Aly & Roth 2000. 5 Schneider 1984, 156ff ^ Obwohl der Volkszahlungsdebatte Internationale Aufinerksamkeit zuteil wurde, griff sie nicht nach Oster-

reich iiber; wahrscheinlich deshalb nicht, weil in Osterreich die Volkszahlung bereits 1981 stattfand und kei-nen Melderegisterabgleich vorsah.

7 Aly & Roth 2000. 8 Wietog 2001a. 9 Wietog 2001b, 2. ^ In Deutschland erfolgten die ersten Deportationen im Februar 1940 und die ersten systematischen Massen-

transporte in die Konzentrationslager im Oktober 1941 vgl. Wietog 2001a, Volkszahlungen unter dem Natio-nalsozialismus, 167f In Osterreich setzten die ersten systematischen Massentransporte in die Konzentrations-lager bereits Mitte Februar 1941 ein vgl. Moser 1999, Demographic der jiidischen Bevolkerung, 80.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 139

Drittens hatten Gestapo und SD Zugriff auf die Unterlagen der jiidischen Gemeinden. Da-durch konnten sie zumindest die organisierten Juden bzw. „Glaubensjuden" erfassen, die nach ihren Schatzungen etwa 80% der so genannten „Volljuden" ausmachten.^^ Zudem wur-den die jiidischen Kultusgemeinden zu Zahlungen der jiidischen Bevolkerung gezwungen.^^ Gleichwohl ist nicht auszuschlieBen, dass es bereits ab Marz 1940, als die ersten vorlaufigen Ergebnisse vorlagen, seitens der Amtlichen Statistik Einzelauskiinfte gab, obwohl das we-gen der Verpflichtung zur Wahrung des Amtsgeheimnisses nicht „legal" war. ^

Sowohl Aly und Roth als auch Wietog untersuchten die Rolle der Amtlichen Statistik nur in Deutschland. Osterreich wurde explizit ausgeklammert.^'* In diesem Artikel wird da-her folgenden Fragen nachgegangen: Wie wurde die Erfassung der „rassischen Abstam-mung" im „Land Osterreich" durchgefuhrt? Wer war dafiir verantwortlich? Wo wurden die Daten aufbereitet und ausgewertet? Wann standen die Daten zur Verfugung? Und wurden die Daten von der Amtlichen Statistik an Gestapo und SD weitergegeben? Damit stellt sich auch fur Osterreich die zentrale Frage, ob die Deportationslisten auf den Zensusdaten beruh-ten. Bisherige Forschungen haben die Frage zwar aufgegriffen^^, sind dieser jedoch nicht sy-stematisch nachgegangen.

Die Ausfiihrungen gliedem sich wie folgt: Zuerst werden Zahlungen und die ihnen zu Grunde liegenden Defmitionen des Begriffs „Jude" erlautert (Kap. 2). AnschlieBend werden die Durchfiihrung und Auswertung der Volkszahlung vom 17. Mai 1939 beschrieben (Kap.3). Danach wird auf die Erganzungskarte naher eingegangen (Kap. 4). In zwei Ab-schnitten wird dann die Erfassung der osterreichischen Juden dargestellt (Kap. 5). Im ersten Abschnitt werden die Ergebnisse der Volkszahlung anhand der Erganzungskarte (Kap. 5.1) und im zweiten Abschnitt die Resultate der beiden Sonderzahlungen vom September und Oktober 1939 behandelt (Kap. 5.2). Ein weiteres Kapitel beschaftigt sich mit der „Judenkar-tei" zur Erstellung der Transportlisten (Kap. 6). Vor dem Hintergrund der referierten For-schungsbefunde wird abschlieBend noch einmal die Frage nach dem Stellenwert der Ergan-zungskarte und ihrer Verwendung fur die Judenverfolgung aufgegriffen (Kap. 7).

II. Begriffe und Zahlungen

In Osterreich wurde die erste Volkszahlung 1869 durchgefuhrt. Seitdem wurden Juden in den Volkszahlungen der Monarchic und der Ersten Republik (1918-1938) anhand der Anga-be zur Konfessionszugehorigkeit erfaBt. ^ Weitere Merkmale zur intemen Kennzeichnung der jiidischen Bevolkerungsgruppe wurden nicht erhoben. Als Jude gait demzufolge nur, wer der israelitischen Religionsgemeinschaft angehorte. Unerfasst blieben dagegen die so genannten „Nichtglaubensjuden", d.h. Personen jiidischer Herkunft, die entweder einer an-

11 Vgl. BArch Berlin-Lichterfelde, R 58/544, Bl. 91. 12 Hilberg 1990, 195f. 13 Wietog 2001a, 166ff. 14 Wietog 2001a, 15. 15 Moser 1999; Exner 2002. 1 Ladstatter 1972, 278. Zu den erfassten Konfessionen in den einzelnen Volkszahlungen seit 1869 siehe die

jeweiligen Bande der „Osterreichischen Statistik".

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140 Gudrun Exner und Peter Schimany

deren als der israelitischen Religionsgemeinschaft angehorten oder konfessionslos waren. Statistisch ausgewiesen wurden somit nur die so genannten „Glaubensjuden".

Laut Volkszahlung vom 22. Marz 1934 gab es in Osterreich 191.481 Juden (siehe Ta-belle 1). Das entsprach einem Anteil an der Gesamtbevolkerung von 2,8%. In Wien wohnten 176.034 Juden bzw. rund 92% aller osterreichischen Juden. Ihr Anteil an den Einwohnem Wiens betrug 9,4%. Die jiidische Bevolkerung konzentrierte sich hier vor allem auf die drei Bezirke Leopoldstadt (II.), Alsergrund (IX.) und Brigittenau (XX.). In diesen Bezirken be-trug ihr Anteil 34%, 23% und 15%. AuBerhalb von Wien lebten Juden ganz uberwiegend in den Bundeslandern Niederosterreich und Burgenland. Dort wiederum konzentrierten sie sich in Gemeinden des Wiener Umlandes.

Bundesland/ Bezirk

Osterreich insgesamt Wien II. Leopoldstadt IX. Alsergrund XX. Brigittenau Niederosterreich Burgenland Bundeslander ohne Wien

Israeliten (in 1.000)

191.481 176.034 50.922 19.421 15.014 7.716 3.632

15.424

Bevolkerung insgesamt (in 1.000)

6,760.233 1,874.130

149.861 83.407 98.021

1,509.076 299.447

4,886.103

Israeliten an der Bevolkerung (in Prozent)

2,8 9,4

34,0 23,3 15,3 0,5 1,2 0,3

Israeliten (in Prozent)

100 91,9(100)

28,9 11,0 8,5 4,0 1,8 8,1

Tabelle 1: Israelitische Religionszugehorigkeit der Wohnbevolkerung Osterreichs 1934^^

Die Zahl der Personen israelitischer Religionszugehorigkeit zur Zeit des „Anschlusses" am 13. Marz 1938 lasst sich durch Fortschreibung der Ergebnisse der Volkszahlung von 1934 relativ genau bestimmen. Beriicksichtigt man Geburten und Todesfalle, Aus- und Eintritte in die israelitische Religionsgemeinschaft sowie Ein- und Auswanderungen, dann gab es im Marz 1938 in Osterreich 181.778 „Glaubensjuden" (siehe Tabelle 2). Davon lebten 167.249 Personen in Wien, was einem Anteil von 92% entsprach, und 14.633 Personen in den Bun-deslandern. Gegenuber der Volkszahlung von 1934 hatte sich die Zahl der „Glaubensjuden" somit um 9.703 Personen verringert. Ursache war vor allem, dass die Sterbefalle weit tiber den Geburten lagen. Hinzu kommt, dass die Austritte aus der israelitischen Religionsge-meinschaft die Eintritte iibertrafen. Dagegen war bis zu diesem Zeitpunkt die Einwanderung geringfligig hoher als die Auswanderung. Von 1934 bis 1938 wanderten rund 4.800 Perso-nen zu, darunter iiber 4.000 Menschen aus Deutschland, und etwa 4.500 Personen emigrier-ten.i^

17

18 Quelle: Statistik des Bundesstaates Osterreich 1935, 2f. Moser 1999,12.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 141

Bevolkerungsbewegung Stand am 22.3.1934 Geburtenverlust Apostasie Zuwanderung Auswanderung Stand am 13.3.1938

Wien 176.034

-8.064 -1.016

+4.500 -4.205

167.249

Bundeslander 15.424

-707 -89

+315 -310

14.633

Osterreich 191.481

-8.771 -1.105

+4.815 -4.515

181.882

Tabelle 2: Israelitische Religionszugehorigkeit der Wohnbevolkerung Osterreichs 1934 und 193819

Aufschluss tiber die Zahl der „Nichtglaubensjuden" lasst sich anhand einer Statistik der is-raelitischen Kultusgemeinde (IKG) iiber die Austritte aus der israelitischen Religionsge-meinschaft zwischen 1868 und 1938 und unter Berucksichtigung der Todesfalle gewinnen. Moser^^ schatzt deren Zahl auf etwa 24.100 Personen, so dass zur Zeit des „Anschlusses" in Osterreich rund 206.000 „Volljuden" gelebt haben diirften. Das NS-Regime ging jedoch von 300.000 in Osterreich lebenden Juden aus, eine Zahl, die Goring bei seiner Rede in Wien am 26. Marz 1938 genannt hatte.^i

Die Ergebnisse der Volkszahlung von 1934 und der Schatzung fur den Marz 1938 kon-nen mit den Resultaten der Volkszahlung vom Mai 1939 wegen Gebietsstandsanderungen nicht genau miteinander verglichen werden. Das Burgenland wurde auf Niederosterreich und die Steiermark aufgeteilt, und einige Gemeinden des niederosterreichischen Umlandes wurden Wien zugeordnet. Zudem wurden die siidlichen Randgebiete von Bohmen und Mah-ren den Reichsgauen Oberdonau (Oberosterreich) und Niederdonau (Niederosterreich) zu-geschlagen. Diese Gebietsstandsanderungen hatten jedoch nur geringe Auswirkungen auf die regionale Verteilung und auf die Gesamtzahl der in Osterreich wohnenden Juden. Pro-bleme des Vergleichs ergeben sich jedoch dadurch, dass in der Volkszahlung von 1939 nicht „Glaubensjuden", sondem Juden im Sinne der Niimberger Gesetze erfasst wurden. Der Zen-sus von 1939 ist historisch einmalig, weil die Zahlung und Differenzierung der Bevolkerung nicht nur nach dem Kriterium der Religionszugehorigkeit, sondem auch nach den Richtlini-en der nationalsozialistischen Rassendoktrin erfolgte.

Die Niimberger Gesetze, das „Reichsbiirgergesetz" und das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom 15. September 1935 traten am 21. Mai 1938 auch in Osterreich in Kraft. Wer ein Jude war, wurde durch die „Erste Verordnung zum Reichsburgergesetz" vom 14. November 1935 defmiert: Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljiidischen GroBeltem abstammt. Als volljtidisch gilt ein GroBeltemteil, wenn er der jtidischen Religionsgemeinschaft angehort (§ 5, Abs. 1). Jude ist auBerdem, wer von einem oder zwei judischen GroBeltemteilen abstammt, wenn er der jtidischen Religions-gemeinschaft angehort, mit einem Juden verheiratet ist, oder wenn einer seiner Eltem Jude

Quelle: Moser 1999, Demographie der judischen Bevolkerung, 16, Tab. 12. Moser 1999, 17. Moser 1999, 17.

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142 Gudrun Exner und Peter Schimany

ist (§ 5, Abs. 2). Unter Zugrundelegung der Merkmale Konfession, Herkunft (Rasse) und Familienstand wurden folgende Kategorien von Juden unterschieden:^^

„Volljude" (auch „Rassejude" bzw. „Stammesjude" genannt) ist eine Person mit drei oder vier jixdischen GroBeltemteilen, die konfessionslos ist oder einer anderen Religi-onsgemeinschaft angehort. „Glaubensjude" ist eine Person mit drei oder vier jixdischen GroBeltemteilen, die der israelitischen Religionsgemeinschaft angehort. „Mischling ersten Grades" („Halbjude") ist eine Person mit zwei jiidischen GroBeltem-teilen, die am 15.9.1935 nicht der israelitischen Religionsgemeinschaft angehorte. „Mischling zweiten Grades" („Vierteljude") ist eine Person mit einem jiidischen GroBeltemteil, die am 15.9.1935 nicht der israelitischen Religionsgemeinschaft ange-horte. „Geltungsjude" ist ein „Mischling ersten oder zweiten Grades", der am 15.9.1935 oder spater der israelitischen Religionsgemeinschaft angehorte. „Volljude" ist ein „Mischling ersten oder zweiten Grades", der mit einem Juden verhei-ratet ist oder wenn ein Eltemteil Jude ist.

Juden im Sinne der Nilmberger Gesetze waren demzufolge „Volljuden", „Glaubensjuden" und „Geltungsjuden". In den Statistiken der Volkszahlung von 1939 werden Juden anhand der drei Abstammungsgmppen als „Volljuden", „Mischlinge 1. Grades" und „Mischlinge 2. Grades" ausgewiesen. Damnter werden jeweils die „Glaubensjuden" ausgewiesen, so dass unter den „Mischlingen" die „Geltungsjuden" erfasst werden konnen. Um die Gesamtzahl der Juden im Sinne der Nilmberger Gesetze zu erhalten, mussen zu den Personen unter der Spalte „Juden" die „Geltungsjuden" hinzugezahlt werden. Demnach wurden durch den Zen-sus 96.042 Personen erfasst, wovon mnd 97% in Wien lebten. Von alien erfassten Juden wa-ren 88,3% „Glaubensjuden" (siehe Tabelle 3).

Kategorie

„Volljuden" damnter „Glaubensjuden" „Geltungsjuden" Juden im Sinne der Nilmberger Gesetze

Wien

91.530 79.919

1.452 92.982

(96,8%)

Bundes-lander

3.000 2.024

60 3.060

(3,2%)

Oster-reich 94.530 81.943

1.512 96.042

(100%)

Tabelle 3: Juden in Osterreich. Ergebnisse der Volkszahlung 1939^^

22

23 Vgl. zu den Definitionen Benz u. a. 1998, Enzyklopadie des Nationalsozialismus und Moser 1999, 32. Quelle: Statistik des Deutschen Reiches 1944, Bd. 552, Heft 4.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 143

III. Die Durchfiihrung und Auswertung der Volkszahlung 1939 im ,,Land Osterreich"

Urspriinglich war im Deutschen Reich eine Volkszahlung ftir Mai 1938 vorgesehen. Wegen des „Anschlusses" von Osterreich am 13. Marz 1938 wurde sie aber um ein Jahr verschoben. Fiir die Durchfiihrung der Volkszahlung vom Mai 1939 in Osterreich war das Osterreichi-sche Statistische Landesamt (bis 1938 Bundesamt fur Statistik) zustandig, das seit dem „An-schluss" dem Statistischen Reichsamt unterstellt war. Leiter der Volkszahlung war der Vize-prasident des Amtes, Univ.-Prof. Dr. Felix KlezP^. Die Abteilung ftir Bevolkerungsstatistik wurde von Dr. Oskar Gelinek^^ geleitet. Der vormalige Prasident des Osterreichischen Bun-desamtes fiir Statistik, Staatssekretar a.D. Dr. Karl Karwinsky-Karvin^^, war 1938 nach Dachau deportiert worden. Und der vorherige Abteilungsleiter ftir Bevolkerungsstatistik und Leiter der Volkszahlung von 1934, Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Winkler^^, wurde nach dem „Anschluss" im August 1938 zwangspensioniert, da er nicht zur Scheidung von seiner jiidi-schen Ehefrau bereit war.

Verantwortlich ftir die Durchftihrung der Zahlung vor Ort waren die Gemeinden, ver-treten durch den jeweiligen Biirgermeister oder Zahlungskommissar. Das Osterreichische Statistische Landesamt sendete dem Burgermeister die erforderlichen Erhebungsbogen und nahm nach der Zahlung die ausgefiillten Fragebogen zur weiteren Verwendung in Empfang. Verteilt wurden vier Fragebogen: eine Haushaltungsliste, die Erganzungskarte mit den Fra-gen nach der „rassischen Abstammung" und der Vorbildung, ein Land- und Forstwirt-schaftsbogen sowie ein Fragebogen ftir nichtlandwirtschaftliche Arbeitsstatten.

Durch welche Hande gingen nun die Fragebogen der Volkszahlung von 1939? Zu-nachst hatte eine Reihe von Personen auf unterster Ebene eine gewisse Kontrollftinktion. In aufsteigender Reihenfolge waren dies die Haushaltungsvorstande oder Hausbesitzer, die Zahler, die Oberzahler, die Zahlungsausschiisse, die Zahlungskommissare, die Gemeinde-vorsteher und die Biirgermeister. Reichsweit waren etwa 750.000 bis 800.000 „einfache Zahler" tatig. Genaue Zahlen fur das „Land Osterreich" liegen nicht vor. Schatzungen zufol-ge diirften aber mindestens 50.000 „einfache Zahler" eingesetzt worden sein. Sie teilten die Erhebungsbogen aus, sammelten sie wieder ein und kontrollierten die Angaben auf Voll-standigkeit. Auf einen Zahler kamen etwa 30 Haushalte, was einem Zahlbezirk entsprach. Auf etwa ftinf bis acht Zahler kam ein Oberzahler, der die Erhebungsbogen nochmals auf VoUstandigkeit der Angaben durchsah. Laut Wietog^^ wurden zumindest in Deutschland

Univ.-Prof. Dr. Felix Klezl (1885-1972) war von 1938 bis 1945 Vizeprasident des Osterreichischen Statisti-schen Landesamtes bzw. des Statistischen Amtes fiir die Reichsgaue der Ostmark und von 1945 bis 1950 Vizeprasident des Osterreichischen Statistischen Zentralamtes. Dr. Oskar Gelinek (1910-1944) war von August 1938 bis vermutlich Ende 1942 Abteilungsleiter fiir Bevol-kerungsstatistik. Im Dezember 1944 fiel er als Reserve-Leutnant der Wehrmacht in Luxemburg. Dr. Karl Karwinsky-Karvin (1888-1958) war Prasident des Osterreichischen Statistischen Bundesamtes in den Jahren 1935-1938. Von 1938 bis 1945 war er in den Konzentrationslagem Dachau und Mauthausen inhafl:iert. Nach 1945 war er fiir einige Monate Berater der amerikanischen Militarregierung. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Winkler (1884-1984) war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1955 Osterreichs inter-national bedeutendster Bevolkemngsstatistiker und Bevolkerungswissenschaftler in der Zwischen- und Nach-kriegszeit. Abgesehen von der Unterbrechung in den Jahren 1938 bis 1945 leitete er das „Institut fiir Statistik (der Minderheitsvolker)" an der Universitat Wien von 1923 bis 1955. Vgl. ausfiihrlich hierzu Pinwinkler 2003.

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144 Gudrun Exner und Peter Schimany

Blockwarte, SA-Manner, NSDAP-Mitglieder usw. nicht bevorzugt als Zahler eingesetzt. Man griff auf das traditionelle Personal zuriick: Beamte, Lehrer, Studenten etc. - die aber auch Parteimitglied sein konnten. Zu vermuten ist, dass dies in Osterreich nicht anders ge-handhabt wurde. Der Gemeindevorsteher oder Biirgermeister hatte bei der Volkszahlung folgende Aufgaben: Er berief die Zahler, Oberzahler und Zahlungsausschiisse, organisierte ihre Einschulung und sendete die Erhebungsbogen seiner Gemeinde per Post an das Oster-reichische Statistische Landesamt. Bei Gemeinden ab 20.000 Einwohnem wurde ein Zah-lungskommissar bestellt, der an Stelle des Biirgermeisters fiir die Organisation und Leitung der Zahlung zustandig war. In Wien, wo 1939 rund 97% der osterreichischen Juden lebten, hatte der nationalsozialistische Biirgermeister, Hermann Neubacher, zum Zahlungskommis-sar Wilhelm Schleifer bestellt. Im Amtsblatt der Stadt Wien Nr. 7 vom 17. Februar 1939, S. 5, heiBt es unter dem Titel „Bestellung des Zahlungskommissars fiir die Volkszahlung 1939"hierzu:

„Die Stadt Wien hat in der Magistratsabteilung 47 ein statistisches Amt. Diese Magistratsabtei-lung, die im IV. Bezirk, PreBgasse 24, ihren Sitz hat, iibt nach den erwahnten reichsgesetzHchen Bestimmungen die Tatigkeit des Zahlungsausschusses ftir Wien aus. Der Leiter dieser Magi-stratsabteilung, Obermagistratsrat Wilhelm Schleifer, ist vom Biirgermeister der Stadt Wien Dr.-Ing. Neubacher zum Zahlungskommissar fiir Wien bestellt worden."

In den Gemeinden war eine einzige Auswertung des Urmaterials vorgesehen: die Erstellung eines Gemeindebogens, in welchem die Zahl der ortsanwesenden Bevolkerung (mannlich, weiblich und insgesamt) ermittelt wurde. Das Ergebnis musste auf einer (spatestens am 1. Juni abzusendenden) Postkarte der zustandigen Verwaltungsbehorde (Kreisamt) bzw. dem Statistischen Landesamt mitgeteilt werden.- ^ Keine Einsicht in die gemachten Angaben be-stand bei der Erganzungskarte. Die Befragten sollten diese den Zahlem in einem verschlos-senen Umschlag iibergeben, der nur in dem jeweils dazu berechtigten Statistischen Amt bzw. Landesamt geoffnet werden durfte.^^

In der Literatur fmdet sich der Hinweis, dass das Erhebungsmaterial zur maschinellen Bearbeitung und zur reichseinheitlichen Veroffentlichung an das Statistische Reichsamt in Berlin gelangte.^^ Den Ausftihrungen von Wietog^^ zufolge blieb aber das Datenmaterial der Volkszahlung einschlieBlich der „Erganzungskarten" bis zu seiner mutmaBlichen Skartie-rung im Osterreichischen Statistischen Landesamt in Wien. Im Zusammenhang mit dem Melderegisterabgleich und der beabsichtigten Einfuhrung der „Volkskartei" heiBt es in ei-nem Schreiben vom 31. Marz 1941:

„Die Karten liegen nach Verwaltungsbezirken und Gemeinden geordnet fiir Preussen, Olden-burg, Lippe, Schaumburg-Lippe und das Saarland im Statistischen Reichsamt, fiir die iibrigen Lander und Reichsgaue bei den zustandigen Statistischen Landesamtem bezw. beim Statistischen

28 Wietog 2001a, 117ff. 29 Vgl. Wietog 2001a, 119ff; Gesetzblatt fur das Land Osterreich. Jg. 1939. Stuck 98, Nr. 336, 1501-1504,

1508. 3^ Unbefugtes Offnen wurde als Verletzung des Briefgeheimnisses nach § 299 StGB bestraft. Vgl. Gesetzblatt

fur das Land Osterreich. Jg. 1939, Stuck 98, Nr. 336, 1451. 31 Gehart 1990, 34. 32 Wietog 2001a, 161.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 145

Amt fur die Reichsgaue der Ostmark in Wien. [...] Nach Auswertung sind die Karten sobald als moglich [...] wieder vollstandig an das Statistische Reichsamt bezw. das zustandige Statistische Amt zuriickzusenden, damit es alsdann noch dem Reichsamt fur Sippenforschung zur Verfugung gestellt werden kann."

Fiir die Annahme, dass das Urmaterial in Wien blieb und dort auch aufbereitet und ausge-wertet wurde, sprechen weitere Belege, die allerdings im Detail vage bleiben. Erstens iiber-trug das Statistische Reichsamt die Bearbeitung des Urmaterials dem Statistischen Landes-amt. Mit groBer Sicherheit ist davon auszugehen, dass die beiden ersten Arbeitsschritte der Auswertung, das Priifen der Zahlpapiere und das Signieren in Schltisselzahlen, dort auch vorgenommen wurden. Aus der zeitgenossischen Literatur geht jedoch nicht eindeutig her-vor, ob auch die nachsten drei Arbeitsschritte, das Ubertragen der Schliisselzahlen auf Loch-und Zahlkarten, das Sortieren und Auszahlen der Loch- und Zahlkarten nach einzelnen Merkmalen sowie das Eintragen der Auszahlungsergebnisse in Tabellenformulare, in Wien durchgefiihrt wurden.^^ Zweitens wurde dem „Statistischen Amt fur die Reichsgaue der Ost-mark" die Fortschreibung der Volkszahlungsergebnisse fiir die Gemeinden durch das Reichswirtschaftsministerium aufgetragen. "* Drittens geht aus derselben Quelle die Miete fiir Zahlmaschinen der Firma Hollerith hervor, welche fiir die Datenauswertung benotigt wurden. Maschinen der Firma Hollerith wurden bereits bei der Volkszahlung von 1934 ein-gesetzt.^^ AulJerdem gab es in Wien eine Zweigstelle der Deutschen Hollerith Maschinen-Gesellschaft (Dehomag). An anderer Stelle heifit es, dass das Osterreichische Statistische Landesamt von alien Landesamtem des Reiches iiber die beste maschinelle Ausstattung mit Rechen-, Schreib- und Vervielfaltigungsmaschinen verfuge.^^ SchlieBlich wird in Berichten von Zeitzeugen „angedeutet", dass das Urmaterial bzw. der Datenbestand nach dem Krieg 1945 in Wien von der osterreichischen Staatspolizei gefunden und als „nationalsozialisti-sches Gedankengut" verbrannt wurde.^^

Anhand der vorliegenden Quellen ist davon auszugehen, dass die in Osterreich erhobe-nen Daten der Volkszahlung von 1939 beim Statistischen Landesamt in Wien aufbereitet und ausgewertet wurden sowie ein Datensatz zur weiteren Verwendung dort verblieb. Hier-fiir spricht die Herausgabe von statistischen Ubersichten als „streng vertraulich zu behan-delnder Amtsbehelf . ^ Die Ergebnisse fiir Osterreich lagen bereits im Januar 1941 vor, ob-wohl die Ergebnisse der Volkszahlung von 1939 fiir das gesamte Deutsche Reich erst im Jahr 1944 offiziell veroffentlicht wurden.^^ Das Statistische Landesamt hatte somit schon friihzeitig die Moglichkeit gehabt, die Daten an Dritte weiterzugeben.

33 Plate 1939,434ff. 34 OStA 1940. 35 Lutz & Bader 1979, 246. 36 Hoffmann 1940,100, 102. 37 Veiter 1965, 110. 38 Vgl. Statistische Ubersichten fiir die Reichsgaue der Ostmark, Jahrgang 1 (1941).

Vgl. Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 552, Heft 4 (1944). 39

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146 Gudrun Exner und Peter Schimany

IV. Die ^^Erganzungskarte" der Volkszahlung vom Mai 1939

Mit dem „Anschluss" am 13. Marz 1938 wurde die nationalsozialistische Rassenpolitik auf Osterreich ausgedehnt, so dass die Numberger Gesetze von 1935 auch in der „Ostmark" zur Anwendung kamen. Durch die Rassengesetze zum „Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre", welche die Rechtsgrundlage fur die Judenverfolgung bildeten, biiBten die Juden ihre rechtliche Gleichstellung gegeniiber den „arischen" Staatsbiirgem ein. Personen mit jiidischen Vorfahren wurden nach rein genealogischen Kriterien in Voll-, Halb- und Vierteljuden eingeteilt. Nicht mehr allein die Religion bzw. Konfessionszugehorigkeit be-stimmte, ob jemand Jude war, sondem auch die rassische Herkunft.

Aufschluss iiber den Umfang der Juden und jiidischen „Mischlinge" sollte anhand der Erganzungskarte gewonnen werden (siehe Abbildungen im Anhang). Sie enthielt u.a. fol-gende Frage: „War oder ist einer der vier GroBeltemteile der Rasse nach Volljude (Ja oder Nein)?" In den Erlauterungen zu den Spalten 5 bis 8 heiBt es: „MaBgebend ist allein die ras-senmaBige, nicht die konfessionelle Zugehorigkeit. Auch Glaubensjuden haben ihre der Rasse nach volljiidischen GroBeltem anzugeben." Wurde bei der Frage ein „Ja" eingetragen, gait der Betreffende als „Mischling zweiten Grades", bei zwei „Ja"-Antworten als „Misch-Hng ersten Grades" und bei drei oder vier „Ja"-Antworten als „Volljude".

V. Die Erfassung der osterreichischen Juden

Die Gestapo hatte seit 1936 die Erstellung einer reichsweiten „Judenkartei" als vordringli-che Aufgabe angesehen und bereits vor dem „Anschluss" erste Schritte zur Anlegung einer solchen Kartei untemommen/^ Die Volkszahlungsdaten eroffneten nun die Moglichkeit, die Kartei umfassend und detailHert anzulegen. Da auf die Daten der Volkszahlung vom Mai 1939 jedoch kein umgehender Zugriff moglich war, wurden im September und Oktober 1939 zwei Sonderzahlungen durchgefiihrt. Anhand dieser Daten wurde eine zentrale „Ju-denkartei" erstellt. Nachfolgend wird auf die drei Zahlungen naher eingegangen.

V.l Die Ergebnisse der Volkszahlung vom Mai 1939

Mit der Erganzungskarte der Volkszahlung von 1939 wurde der Versuch untemommen, „al-le" osterreichischen Juden zahlenmaBig zu erfassen - also unabhangig davon, ob sie „Glau-bensjuden" oder „Nichtglaubensjuden" waren. Die ersten vorlaufigen Ergebnisse lagen far alle Reichsteile im Marz 1940 vor, die endgiiltigen Zahlen fur Osterreich im Januar 1941. Bis zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Erganzungskarten in den Handen der Statistik und waren dem generellen Zugriff der Gestapo entzogen.^^

Offiziell veroffentlicht wurden die Ergebnisse allerdings erst im Jahr 1944. Die Resul-tate far Osterreich wurden jedoch nicht vom Osterreichischen Statistischen Landesamt pu-bliziert, sondem erschienen gemeinsam mit den Ergebnissen fur das GroBdeutsche Reich in der Publikationsreihe des Statistischen Reichsamtes „Statistik des Deutschen Reichs."^^ Die

40 Drobisch 1993, 241f. 41 Wietog 2001a, 1611; dies. 2001b, 5.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 147

Bevolkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszahlung 1939. Heft 4: Die Juden und jiidischen Mischlinge im Deutschen Reich". Hier finden sich auf Seite 8 An-gaben fiir die „Ostmark", die in der nachfolgenden Tabelle zusammengefasst sind.

Ostmark/ Reichsgaue

Reichsgau Wien Reichsgau Nieder-donau Reichsgau Oberdonau Reichsgau Steiermark Reichsgau Kamten Reichsgau Salzburg Reichsgau Tirol mit Verw.-Bez. Vorarlberg Bundeslan-der ohne Wien Ostmark insgesamt

„Voll-juden"

91.530

1.969

226

597

52

47

109

3.000

94.530

davon „Glau-

bens-juden"

79.919

1.550

85

325

16

17

31

2.024

81.943

wjtidi-sche

Misch-linge 1.

Grades" 14.858

993

348

357

100

117

165

2.080

16.938

davon „Gel-

tungs-juden"

1.373

39

2

7

1

-

49

1.422

Jtidi-sche

Misch-linge 2.

Grades" 5.955

596

229

307

128

61

109

1.537

7.391

davon „Gel-

tungs-juden"

79

5

-

5

1

-

11

90

Juden im Sinne der Niirnber-

ger Gesetze* 92.982

2.013

228

609

54

47

109

3.060

96.042

Tabelle 4: Juden in den Reichsgauen der Ostmark. Ergebnisse der Volkszahlung 1939 '"*

Nach diesen Ergebnissen lebten im Mai 1939 im Sinne der Ntimberger Gesetze 96.042 Ju-den in Osterreich. Bis zum Bekanntwerden der ersten, vorlaufigen Volkszahlungsergebnisse im Marz 1940 war die mit der „Judenfrage" befasste und von Adolf Eichmann geleitete Ab-teilung „SD-Amt 11/112" von 300.000 in Wien lebenden Juden im Sinne der Ntimberger Ge-setze ausgegangen."^^ Beriicksichtigt man, dass von den rund 206.000 Juden zwischen Marz 1938 und Ende April 1939 99.672 Personen emigrierten^^, dann waren durch die Volkszah-

42

43

44

Bd. 552: Volkszahlung. Anmerkung: * = „Volljuden" und „Geltungsjuden". Quellen: Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 552: Volkszahlung. Die Bevolkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszahlung 1939. Heft 4: Die Juden und jiidischen Mischlinge im Deutschen Reich (1944), Statistische Ubersichten fur die Reichsgaue der Ostmark. Jahrgang 1 (1941) und Moser 1999, 31. Eigene Zusammenstellung. Vgl. Widerstand Bd. 3 1975, 202; Moser 1999, 17 f. Vgl. zum SD-Amt Drobisch 1993, 240. Moser 1988,193.

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148 Gudrun Exner und Peter Schimany

lung etwa 10.000 Personen unerfasst geblieben. Ihr erstes Ziel, namlich die „restlose Erfas-sung" der Juden, hatten die Nationalsozialisten mit Hilfe der Amtlichen Statistik damit in Osterreich nicht erreicht.

V. 2 Die Sonderzahlungen vom September und Oktober 1939

Nach der Machtubemahme im Marz 1938 kam es in Wien zu massenhaften Vertreibungen der Juden aus ihren Hausem. Rund 44.000 Wohnungen wurden im Verlauf des Jahres 1938 „3.nsieYt\^'^ Sie wurden in Wohnungen des II., IX. und XX. Bezirks „umgesiedelt" und hier in bestimmten Gassen konzentriert."*^ In diesen Bezirken wurden schon in der Volkszahlung von 1934 die meisten „Israeliten" gezahlt (siehe Tabelle 1). Der Gestapo war somit genau bekannt, in welchen Stadtteilen die jiidischen Burger fast ausnahmslos wohnten. Es hatte ei-gentlich gentigt, die Wohnungen dieser Gassen nach Juden zu durchsuchen, um sie ab Fe-bruar 1941 in die Konzentrationslager zu deportieren. Die Juden waren zudem am gelben Stem erkennbar, der ab 1. September 1941 von alien Juden ab dem sechsten Lebensjahr ge-tragen werden musste. Der Abtransport in Sammellager, der die erste Stufe der Deportatio-nen darstellte, oder gleich in ein Konzentrationslager, erfolgte jedoch aufgrund von Na-mens- und Adressenlisten."^^ Die Listen mussten allerdings nicht auf den Zensusdaten von 1939 basieren: Erstens waren die endgiiltigen Zensusdaten - wie bereits erwahnt - erst ab Januar 1941 verftigbar. Und zweitens dtirften allein schon wegen der „Umsiedlungen" die Anschriften vieler Personen nicht mehr giiltig gewesen sein.

Vier bzw. fiinf Monate nach der Volkszahlung fand in Wien eine Registrierung der Wiener „Glaubensjuden" und eine Erfassung der nicht-mosaischen Wiener Juden statt. Da mittlerweile rund 97% aller osterreichischen Juden in Wien lebten, dieser Anteil sich durch Zuziige aus anderen Reichsgauen weiter erhoht haben diirfte und hier die jiidischen Organi-sationen ansassig waren, konnten sich die Sonderzahlungen auf Wien beschranken. Beide Zahlungen waren offensichtlich als Teil einer gemeinsamen Aktion geplant, um die in Wien lebenden Juden „restlos zu erfassen".

Die erste Zahlung wurde im September 1939 von der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien unter den Wiener „Glaubensjuden" durchgefuhrt. Die IKG, seit 1890 die einzi-ge offizielle Vertretung der Wiener Judenschaft, befand sich zum damaligen Zeitpunkt be-reits vollig in der Hand von Adolf Eichmann, dem „Sachverstandigen far Judenangelegen-heiten" beim SD in Wien. Mit Rosenkranz^^ ist zu vermuten, dass Eichmann diese Zahlung angeordnet hatte, auch wenn es dafar keine expliziten Belege gibt. Auf diese Praxis, die Op-fer zur Mitarbeit zu zwingen, weist auch Hilberg^^ ausdriicklich hin. Gerade dort, wo groBe-re jiidische Gemeinden lebten, mussten die Namenslisten von diesen selbst erstellt werden.^^ Die Wiener „Glaubensjuden" wurden iiber die Zeitschrift der IKG, das „Judische Nachrich-tenblatt", aufgefordert, in der Zeit vom 10. bis 20. September 1939, je nach Anfangsbuchsta-

47 Moserl999,39. 48 Botz 1975, 73ff. 49 Vgl. z.B. die Transportlisten im OStAy BMF, Abt. Finanzlandesdirektion. Es konnte in Form einer Stichprobe

in die Transportlisten des XXXL Transportes am 7. Juli 1942 nach Theresienstadt (ca. 1.000 Personen) Ein-sicht genommen werden. Die Transportlisten verzeichnen den vollen Namen, die genaue Adresse und das Geburtsdatum der betroffenen Personen. Woher die Daten stammen, geht aus den Listen nicht hervor.

50 Rosenkranz 1978, 213. 51 Hilbergl990,Bd. 1, 195f.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 149

be des Familiennamens, zu einem bestimmten Tag bei der IKG zu erscheinen und den Mel-dezettel mitzubringen. Im „Judischen Nachrichtenblatt. Ausgabe Wien" findet sich dazu fol-gender Aufruf:

„Verlautbarung. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien sieht sich aus wichtigen Griinden veran-laBt, ein Verzeichnis samtlicher in Wien wohnenden Juden mit naheren Angaben iiber Personal-daten, Bemfsausbildung, Familienstand usw. innerhalb kurzester Frist anzulegen. Es ergeht da-her an alle in Wien wohnenden Juden (Haushaltungsvorstande und Einzelpersonen) die dringende Aufforderung, an den nachstehend angefuhrten Tagen im Gebaude der Israelitischen Kultusgemeinde, Seitenstettengasse 4, unter Mitnahme der Meldezettel samthcher FamiHenange-horiger zu erscheinen und die erforderUchen Angaben wahrheitsgemaB zu machen. Es wird dar-auf aufinerksam gemacht, dafi in Hinkunfl die Inanspruchnahme der IsraeHtischen Kultusge-meinde Wien in Angelegenheit der Auswanderung, der Ftirsorge und in alien sonstigen Fragen nur auf Grund dieser Anmeldungen moglich sein wird, so da6 das Nichtbeachten dieser Auffor-derung schwerwiegende Folgen nach sich Ziehen kann. Im Falle der Verhinderung des Familien-vorstandes ist ein iiber die Sachlage unterrichtetes Familienmitglied mit den angefuhrten Doku-menten zu entsenden.

Die Anmeldung erfolgt nach den Anfangsbuchstaben des Familiennamens in der Zeit von 8 bisl7Uhrtaglich[...]

Die Israelitische Kultusgemeinde Wien erwartet von alien ihren Mitgliedem, dafi sie, dem Ernst der Zeit Rechnung tragend, nichts unterlassen werden, um die Durchfiihrung dieser Arbeit innerhalb der angegebenen Zeit zu ermoglichen. Israelitische Kultusgemeinde Wien."^^

Bei der Zahlung wurde neben dem Namen und dem Geburtsdatum auch die Adresse regi-striert. Hierfar spricht neben der Forderung nach dem Meldezettel, dass sich im „Judischen Nachrichtenblatt" der Wiener Ausgabe im Anschluss an die Zahlung immer wieder Aufrufe finden, eine Adressenanderung der Statistischen Abteilung der IKG sofort bekannt zu ge-ben:

„Bekanntgabe von Adrefianderungen: Die israelitische Kultusgemeinde Wien richtet an die in Wien wohnenden Juden die dringende Aufforderung, jede AdreBanderung der Statistischen Abteilung der Israelitischen Kultusge-meinde, Wien L, Seitenstettengasse 2, Tiir 25, unverztiglich schriftlich mitzuteilen, da diese auf behordlichen Antrag registriert werden mu6." ^

Da die meisten Juden Wiens der Israelitischen Kultusgemeinde angehorten, durfte mit dieser Zahlung der GroBteil der Wiener und damit der osterreichischen Juden erfasst worden sein. Hierfiir spricht auch die Mitteilung im Judischen Nachrichtenblatt:^^

2 Wietog 2001b, 7. Unter dem Druck der Verhaltnisse hatte die jiidische Gemeinde in Berlin bereits ab 1934 Registriemngen ihrer Mitglieder durchgefuhrt. Die Reichsvereinigung der Juden, 1939 als Zwangsvereini-gung der „Rassejuden" gegrundet, hatte laut Erlass vom 3. September zwischen Oktober und November 1939 im Altreich und im Sudetenland eine Registrierung vorgenommen vgl. Hildesheimer 1994, Jiidische Selbst-verwaltung unter dem NS-Regime, 209.

^ Jiidisches Nachrichtenblatt. Ausgabe Wien. Nr. 71/72 vom 8. September 1939, 1. ^ Vgl. Judisches Nachrichtenblatt. Ausgabe Wien. Nr. 81 vom 9. Oktober 1939, 1. Siehe z. B. auch Jiidisches

Nachrichtenblatt. Ausgabe Wien. Nr. 85 vom 23. Oktober 1939, 1 und Nr. 95 vom 27. November 1939, 3. 55 Nr. 75, 18. September 1939, 1.

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150 Gudrun Exner und Peter Schimany

„Schon die ersten Anmeldetage bewiesen, daB die in Wien wohnenden Juden, den Ernst der Zeit begreifend, dem Ruf der Kultusgemeinde fast voUstandig Folge leisteten. (...) Nach dem bisheri-gen Ergebnis ist es nicht wahrscheinlich, daB sich eine irgendwie beachtenswerte Zahl der in Wien wohnenden Juden ihrer Meldungspflicht entzogen haben wird."

Bei der Zahlung vom 10. bis 20. September 1939 wurden fflr Wien 65.822 und fur das Wie-ner Umland 438 „Glaubensjuden" registriert.^^ Damit war die Zahl der Wiener „Glaubensju-den" seit dem 13. Marz 1938, dem „Anschluss" Osterreichs an das Deutsche Reich, bis Sep-tember 1939 um rund 100.000 Personen zuriickgegangen. Gegeniiber dem Volkszahlungser-gebnis vom Mai 1939 hatte sich die Zahl der „Wiener Glaubensjuden" innerhalb von nur vier Monaten um etwa 13.600 Personen verringert.

Kurz nach der Registrierung der Wiener „Glaubensjuden" durch die IKG fand Anfang Oktober eine Erfassung der nichtmosaischen osterreichischen Juden durch die Gildemeester Auswanderungs-Hilfsaktion statt. Die Gildemeesteraktion war eine vom hollandischen Phil-anthropen Frank van Gheel-Gildemeester initiierte Auswanderungshilfsaktion, welche die Auswanderung mittelloser Juden mit dem Vermogen wohlhabender Juden finanzieren woll-te, wobei das Deutsche Reich 90% des jtidischen Vermogens erhielt. Die Gildemeesterakti-on war aus mehreren Griinden nicht sehr effizient. Sie wurde zum einen von der IKG wegen der fruheren Verbindungen Gildemeesters zu den illegalen osterreichischen Nationalsoziali-sten im Standestaat (1934-1938) und wegen der guten Kontakte zu offiziellen NS-Stellen mit Misstrauen betrachtet. Zum anderen war sie der Gestapo wegen ihrer Interventionen fur „Schutzhaftlinge" in den Konzentrationslagem ein Dom im Auge. Ende 1939 wurde die Gil-demeesteraktion daher aufgelost. Auch die Zahlung der Gildemeesteraktion im Oktober 1939 wurde im „Judischen Nachrichtenblatt" angekiindigt.^'^ In der Ausgabe vom 18. Sep-tember 1939 heiBt es:

„Verlautbarung der Gildemeester Auswanderungs-Hilfsaktion: Wir fiihren die Registrierung der nichtmosaischen Juden durch (Unter dieser Bezeichnung werden alle Personen verstanden, die nach den Niimberger Gesetzen Juden sind oder als Juden gelten und entweder einer christlichen Religionsgemeinschaft angehoren oder konfessionslos sind.) Haushaltsvorstande und Einzel-personen dieser Kategorie werden im eigenen Interesse aufgefordert, ehestens unter Mitnahme ihrer Meldezettel und der ihrer Familienangehorigen im Hause Wien I., WoUzeile Nr. 7, 1. Stock in der Zeit von 9 bis 12 oder 15 bis 17 Uhr vorzusprechen. Eine Inanspruchnahme unserer Aktion kann in Hinkunft nur auf Grund der Bestatigung der jetzt durchgefuhrten Neuregistrierung erfol-gen, so daB das Nichtbeachten dieser Aufforderung schwerwiegende Folgen nach sich ziehen kann. Gildemeester Auswanderungs-Hilfsaktion."^^

Wie Moser^^ ausfiihrt, erfasste die Gildemeesteraktion mit Stichtag 11. Oktober 1939 genau 8.359 „Nichtglaubensjuden". Damit wurden im September und Oktober 1939 insgesamt 74.619 in Wien lebende Juden registriert. Gegeniiber der Volkszahlung vom Mai 1939 hatte sich die Zahl innerhalb von funf Monaten um rund 18.360 Personen verringert.

^ Vgl. Jiidisches Nachrichtenblatt. Ausgabe Wien. Nr. 93 vom 20. November 1939,1 . " Das genaue Datum der Zahlung ist unbekannt. ^ Vgl. Jiidisches Nachrichtenblatt. Ausgabe Wien. Nr. 75 vom 18. September 1939, 1. 59 Moser 1991, 121.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 151

ijber die Registrierung der osterreichischen Juden in den Bundeslandem, den nunmeh-rigen Reichsgauen, gibt die „Quellendokumentation Widerstand und Verfolgung 1934-1945" Auskunft. Diese erschien in den Jahren 1979 bis 1991 und enthalt Informationen ftir einzelne Bundeslander.^^ Die osterreichischen Juden in den Reichsgauen wurden meist auf Betreiben der jeweiligen ortlichen Gestapostelle durch die Gendarmeriepostenkommandos und unter Mitwirkung der Bezirkshauptmannschaften, der Biirgermeister, fallweise auch der Meldeamter und jiidischen Kultusgemeinden registriert. Teilweise erstellte die Gestapo Li-sten. ^ In den einzelnen Reichsgauen gab es im Mai 1939 zwischen rund 50 und 2.000 Juden (siehe Tabelle 4), sodass die Aniage einer eigenen Kartei fiir die Gestapo nicht erforderlich war. In alien verftigbaren Quellen und der einschlagigen Forschungsliteratur wird eine der-artige Kartei ftir die (einzelnen) Reichsgaue auch nicht erwahnt. Zumeist wurden die Juden in den Reichsgauen zur Abwanderung nach Wien gezwungen und ab Fruhjahr 1941 in die groBen Deportationstransporte eingereiht.^^ Aufgrund ihrer geringen Zahl in den einzelnen Reichsgauen waren sie weithin bekannt, so dass ihre Uberlebenschancen vor Ort unter Um-standen noch geringer waren als die der „Wiener Juden".

Ftir den Riickgang der jiidischen Bevolkerung zeichnen mehrere Ursachen verantwort-lich, wobei die Auswanderung der Hauptgrund ist. Moser^^ zufolge wanderten zwischen April 1938 und September 1939 ca. 120.000 in Osterreich lebende Juden (teilweise mit Hilfe der IKG) aus. Weitere Grunde sind die erhohte Sterblichkeit (aufgrund der veranderten Al-tersstruktur und Lebensbedingungen) bei gleichzeitig drastischem Riickgang der Geburten (als Folge der Unsicherheitssituation) und die deutliche Zunahme an Austritten aus der is-raelitischen Religionsgemeinschaft gegeniiber den Eintritten. Zudem waren eine Reihe von Personen bereits Opfer von Verfolgungen. "^ Dariiber hinaus ist auch auf die erhohte Selbst-mordrate unter den Juden in den Jahren 1938 und 1939 hinzuweisen.^^ SchlieBlich ist zu vermuten, dass trotz aller Appelle der IKG ein nennenswerter Teil der jiidischen Bevolke-rung untergetaucht war und den Aufrufen nicht folgte.

VI. Die „Judenkartei" zur Erstellung der Transportlisten

Die Sondererfassung der Wiener „Glaubensjuden" wurde, wie bereits erwahnt, sehr wahr-scheinlich von Adolf Eichmann angeordnet.^^ Die Idee zur Erfassung der nichtmosaischen osterreichischen Juden ist nach Moser^^ jedoch von der Gildemeesteraktion ausgegangen. Zur RoUe der Gildemeesteraktion im Zusammenhang mit der Registrierung der Wiener „Nichtglaubensjuden" stellte er fest:

^ Fiir Vorarlberg und die Steiermark liegen keine Dokumentationen vor. Uber Kamten gibt es eine Studie von Walzl 1987.

61 Vgl. Widerstand 1979, 298; Widerstand 1982, 374; Widerstand 1999, 456. 62 Moserl999,29,Anm. 88. 63 Moser 1999, 27f. 64 Moser 1999, 27f. 65 Ein deutlicher Anstieg der Suizide lag auch mit dem Einsetzen der Deportationen im Jahr 1941 vor. Vgl.

hierzu Moser 1999, 22, 66 Rosenkranz 1978. 67 Moser 1991, 121.

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,Als von seiten der Gildemeesteraktion die Anregung kam, alle arbeitsfahigen Personen zur Ein-gliedenmg in den ArbeitsprozeB zu erfassen, genehmigte er [Eichmann] eine Zahlung der Juden im September 1939, die ihm, so glaubte Eichmann, GewiBheit iiber die Zahl der Nichtglaubens-juden bringen werde. Aber sie erbrachte ihm auch die MogHchkeit, die Juden karteimafiig zu er-fassen, was sich fur die Verfolgten bei den Deportationsaktionen verhangnisvoll auswirkte, ins-besondere als diese Kartei, die bei der Zentralstelle [fur jiidische Auswanderung] auflag, evident gehalten werden mufite,"

Wie Moser^^ ist auch Anderl^^ der Auffassung, dass anhand der Sonderzahlungen vom Sep-tember und Oktober 1939 eine so genannte „Judenkartei" erstellt wurde. Diese wurde von der „Zentralstelle fur jiidische Auswanderung" gefiihrt, einer Institution, die von Eichmann bereits am 26. August 1938 eingerichtet und von ihm geleitet wurde7^ Moser^^ schreibt hierzu:

„tJber Anordnung der Zentralstelle fur jiidische Auswanderung wurde im September 1939 von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und auch von der Gildemeester-Auswandemngs-Hilfs-aktion eine Neuregistrierung aller hier lebenden Juden durchgefiihrt. Diese neue Erfassung aller Juden ermoglichte es der Zentralstelle, ein Zentralregister iiber die Juden in Osterreich anzule-gen, das spater von ihr dazu geniitzt wurde, die Einteilung in die Deportationstransporte vorzu-nehmen."

Dieser Sachverhalt wird auch anhand von Akten aus dem Dokumentationsarchiv des Oster-reichischen Widerstandes belegt. In der Publikation „Widerstand und Verfolgung in Wien, Bd. 3: 1938-1945" (1975:290) heifit es, dass die Zentralstelle ftir jiidische Auswanderung auf Grund hoheren Orts erteilter Weisung die fur die Deportationen bestimmten Personen auswahlte, Listen anfertigte und diese an die IKG weiterleitete, damit diese ftir die Einberu-fung der betroffenen Juden sorgte. Dokumentiert ist auch ein Besprechungsprotokoll vom 17. Oktober 1939. Dort ist vermerkt: Dr. Becker vom Stabe des Reichskommissars „bat um Zusendung einer Kartei pro Transport der nach Polen iibersiedelten Juden". Und Dr. Ebner von der Gestapo „bittet, von samtlichen nach Polen iibersiedelten Juden transportweise pro Kopf eine Karteikarte an die Geheime Staatspolizei zu iibersenden."^^ Die „Judenkartei" war auch Gegenstand einer Verhandlung am Landesgericht fur Strafsachen in Wien. In der Strafsache F.N. iiber die Tatigkeit bei der Zentralstelle fiir jiidische Auswanderung findet sich in der Zeugenvernehmung von E.G. am 14. September 1961 folgende protokollierte Aussage:

,Auf der Zentralstelle existierte nun eine Kartei samtlicher in Wien wohnhafter Juden. Dann wurde vom Referat IV B 4 angeordnet, dass zu bestimmten Terminen Transportziige mit jeweils 1.000 Personen zu einem bestimmten Zielbahnhof abzugeben [sic] hatten. Auf Grund dieser Kar-tei wurden im Zusammenhang mit den Evakuierungsterminen und Zahlen dann jeweils durch die Zentralstelle die Juden schriftlich aufgefordert, sich an einem bestimmten Tag in einer der vorge-nannten Schulen einzufinden [...]."^^

68 Moserl991. 69 Anderl 1994, 292. 70 Hilberg 1982 ,135; Drobisch 1993,245f. 71 Moserl999, 18. 72 Vgl. Dokument 155, 284f.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 153

Es ist daher davon auszugehen, dass die Auswahl der Personen und die Einteilung der Transporte aufgrund dieser Kartei getroffen wurden. Dies wiederum wiirde bedeuten, dass die beiden Sonderzahlungen - zumindest zu einem spateren Zeitpunkt - eindeutig dem Zweck der Deportation in die Konzentrationslager dienten.

VII. Resiimee und Ausblick

Aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse ist davon auszugehen, dass die Daten der Sonderzahlungen der „Wiener Glaubensjuden" durch die IKG und der nicht-mosaischen Ju-den durch die Gildemeester-Auswanderungs-Hilfsaktion vom September und Oktober 1939 die Grundlage fur die ab Februar 1941 einsetzenden Deportationen in die Konzentrationsla-ger gewesen sind. Beide Zahlungen wurden vermutlich auf direkte Anordnung von Adolf Eichmann durchgefuhrt. Anhand dieser Daten wurde ganz offensichtlich eine Kartei ange-legt, die bei der Zentralstelle fur jiidische Auswanderung evident gehalten werden musste. Das heiBt, dass die Daten iiber Personen und deren Adressen standig aktualisiert wurden. Eine direkte BeteiUgung der AmtHchen Statistik an der Vemichtung der osterreichischen Ju-den erscheint dagegen eher unwahrscheinlich. Aus mehreren Griinden ist nicht anzunehmen, dass die Deportationslisten auf den Daten der Erganzungskarten beruhten, die im Rahmen der Volkszahlung vom Mai 1939 erhoben wurden.

Die endgtiltige Zahlung der Juden aus dem Zensus lag flir Osterreich im Januar 1941 und reichsweit Ende Marz 1941 vor. Der Abgleich der Daten zwischen Erganzungskarte, Volkskartei und Melderegister dauerte dann noch bis Ende 1941. " Auch fur Wien darf un-terstellt werden, dass die Erganzungskarten der Juden an die ortlichen Meldestellen nicht vor Herbst 1941 iibergeben wurden. Anzunehmen ist, dass Eichmann die Sonderzahlungen nicht angeordnet hatte, wenn die Unterlagen aus der Volkszahlung der Gestapo fruher zur Verftigung gestanden waren. Ein vorzeitiger Zugriff auf die Zensusdaten in Form einer Son-derauswertung im Statistischen Landesamt in Wien war offensichtlich nicht moglich. Denk-bar ist daher, dass fur Eichmann die Auswertung nicht rasch genug erfolgte und er einer vollstandigen Erfassung der osterreichischen Juden durch die Volkszahlung zudem mis-straute. AuBerdem bestand keine MogHchkeit, die Volkszahlungsdaten zu aktualisieren. Seit Mai 1939 batten sich in den Lebensverhaltnissen der Juden weitere einschneidende Veran-derungen ergeben. Aufgrund von „Umsiedelungen", Auswanderungen und ersten Abtrans-porten waren die erhobenen Adressen der „Wiener Juden" zum Zeitpunkt der einsetzenden Massendeportationen im Februar 1941 bereits vielfach veraltet. Gestapo und SD dtirften fiir ihre Aktionen daher kaum auf die Volkszahlungsdaten zuriickgegriffen haben. Zentrale In-formationsquelle durften vielmehr die Sonderzahlungen gewesen sein. Diese waren bereits Ende 1939 verfiigbar und wurden standig aktualisiert. Sie bildeten somit auch die Grundlage der „Judenkartei", iiber deren Verbleib nach 1945 jedoch nichts bekannt ist.

Nicht auszuschlieBen sind aber folgende Vorgehensweisen: Erstens bestand ab Marz 1940 die Moglichkeit von Einzelauskiinften, nachdem die ersten vorlaufigen Ergebnisse vorlagen. Einzelauskiinfte konnten zwar bisher nicht im groBeren Umfang nachgewiesen

73 Vgl. Strafsache 1416/61, Aktenzeichen 20 Vr 2729/63, Bd. VI, 74 Wietog 2001a, 167f.; 2001b, 6.

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werden, einige wenige erhalten gebliebene Briefwechsel sprechen aber fur diese Vorgehens-weise^^ Zweitens ist nicht auszuschlieBen, dass die fur Osterreich in einer Sonderpublikati-on vorliegenden Ergebnisse im Januar 1941 mit der „Judenkartei" abgeglichen wurden. Moglicherweise wurden erst aufgrund des Abgleichs die endgtiltigen Deportationslisten er-stellt, woraufhin im Februar 1941 die ersten Massentransporte in die Konzentrationslager einsetzen. Wie die Angaben der Deportierungen aus Osterreich bei Moser- ^ zeigen, stehen „Anitsbehelf' und Abtransporte in unmittelbarer zeitlicher Abfolge. Zwischen 15.2. und 12. 3. 1941 wurden in ftinf Transporten rund 5.000 Juden deportiert. Und zwischen 15. 10. und 3. 12. 1941 wurden in acht Transporten rund 8.000 Juden deportiert. Drittens ist nicht auszu-schlieBen - und dies betont auch Wietog^^ fiir Deutschland - dass ab Herbst 1941 iiber die Melderegister und die Volkskartei, die der Gestapo, dem SD und anderen NS-Organisatio-nen zuganglich waren, Daten aus der Volkszahlung fur die Judenverfolgung zur Verfugung gestellt wurden. Wietog^^ schreibt hierzu:

„Fur die friihen Deportationen des Jahres 1940 standen die Angaben aus den Erganzungskarten nicht zur Verfugung, doch fur die im Oktober 1941 einsetzenden systematischen Judentranspor-te, die die jiidische Bevolkenmg zwischen dem 1. Oktober 1941 und dem 1. Januar 1943 von 164.000 auf 51.000 dezimierten, konnen iiber die Volkskartei und die Melderegister Informatio-nen daraus an die Gestapo gelangt sein, um Deportationslisten zu erstellen."

Der Vorwurf, dass die Amtliche Statistik im Wege des „Melderegisterabgleichs" die Anony-mitat der Befragten nicht gewahrt und sich damit am Schicksal der osterreichischen Juden mitschuldig gemacht hat, steht daher weiterhin im Raum.

Trotz aller Forschungsbemiihungen konnen viele Fragen nach wie vor nicht mit der ge-wiinschten Eindeutigkeit beantwortet werden. Zum einen ist die Quellenlage unbefriedi-gend. Zum anderen mangelt es aber auch an Forschungen uber wichtige Akteure der damali-gen Zeit. Dies erweist sich insofem als nachteilig, weil alien mit der Volkszahlung verant-wortlich befassten Personen bekannt war, dass die Erganzungskarten zur vollstandigen Er-fassung der Juden bei den Meldebehorden herangezogen werden sollten. Gegen die Auswer-tung der Erganzungskarten der Juden im Rahmen des „Melderegisterabgleichs" wurden je-doch auch von den Vertretem des Osterreichischen Statistischen Landesamtes keine Beden-ken geltend gemacht. Spatestens Februar 1941 diirfte ihnen bewusst gewesen sein, dass die mittels der Erganzungskarten gewonnenen Daten - zumindest indirekt und in Einzelfallen -zur Vemichtung der Juden dienen.

'^^ Vgl. Wietog 2001a, 190. Bei der Recherche im Archivmaterial wurde groBes Augenmerk auf einen diesbe-ziiglichen Schriftwechsel gelegt, bisher aber keine Belege gefunden, wenn man von einigen vagen Hinweisen aus den Geschaftsbuchem des Statistischen Amtes in dieser Zeit absieht. Es handelt sich hier um Hinweise auf ganz vereinzelte Briefwechsel mit der Gestapo oder Firmen, die sich mit der Bitte um Auskunft iiber die „rassische Abstammung" von Einzelpersonen an das Statistische Amt wendeten. Das Statistische Amt beant-wortete diese Anfragen auch, uber den Inhalt dieser Schreiben ist aber nichts bekannt, da diese nicht mehr erhalten sind. Die vorliegenden Briefwechsel stammen vom 14. und 20. November 1939 so wie vom 17. und 23. Dezember 1941. Vgl. OStA/ AdR/ OStat/ Allgemeines ProtokoU 1941 (provisorische Signatur, noch nicht bearbeiteter und eingeordneter Archivbestand), GZ. 2193.

76 Moser 1999, 80ff 77 Wietog 2001a. 78 Wietog 2001a, 168.

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Die Volkszahlung von 1939 in Osterreich 155

Bis vor wenigen Jahren hat die Amtliche Statistik der Aufarbeitung der Bevolkerungs-statistik im Dritten Reich kein Interesse entgegen gebracht. Die Erfassung der Juden durch die Volkszahlung von 1939 wurde in Festschriften und sonstigen Publikationen entweder vollig ausgeklammert^^ oder gerade mal in einer knappen Zeile erwahnt.^^ Die Volkszah-lung von 1939 wurde als rein deutsche Angelegenheit betrachtet, die vom Deutschen Reich vorbereitet und durchgefiihrt wurde.^^ Allgemein wurde die Meinung vertreten, die letzte osterreichische Volkszahlung vor dem Zweiten Weltkrieg sei jene von 1934 gewesen, der erst im Jahr 1951 wieder eine Erhebung folgte. Vor diesem Hintergrund ist es daher auch nicht tiberraschend, dass die Amtliche Statistik heute keine nennenswerten Unterlagen mehr aus den Jahren 1938 bis 1945 besitzt. Einer systematischen Aufarbeitung der Rolle der Amt-lichen Statistik in jener Zeit sind damit Grenzen gesetzt. Die weitgehend fehlende Bereit-schaft zur Auseinandersetzung mit der Rolle der Bevolkerungsstatistik und Bevolkerungs-wissenschaft im Dritten Reich wird dadurch aber nicht entschuldigt.

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Vgl . Volkszahlungsergebnisse 1951 ,1 ; und vgl. Ladstatter 1973, 275. 81

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Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Israelitische Religionszugehorigkeit der Wohnbevolkerung Osterreichs 1934 140

Tabelle 2: Israelitische Religionszugehorigkeit der Wohnbevolkerung Osterreichs 1934 und 1938 141

Tabelle 3: Juden in Osterreich. Ergebnisse der Volkszahlung 1939 142 Tabelle 4: Juden in den Reichsgauen der Ostmark. Ergebnisse der

Volkszahlung 1939 147

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158 Gudrun Exner und Peter Schimany

Anhang

Erganzungskarte fiir Abstammung und Vorbildung der Volks-, Berufs- und Betriebszahlung am 17. Mai 1939

Abbildung 1: Erlauterungen zur Ausftillung der Erganzungskarte. Muster aus: Gesetzblatt fflr das Land Osterreich Jg. 1938, Stuck 98, Nr. 336, S. 1449.

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Trend shift or Continuation? World War II and the Development of Population Forecasting and Planning in the Netherlands

HenkA, de Gans^

I. Zusammenfassung Trendverlagerung oder Trendfortsetzung? Der Zweite Weltkrieg und die Entwicklung der demographischen Prognose und Planung in den Niederlanden

Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt bei der Entwicklung der (nationalen) Bevolkerungs-prognose und der Umweltplanung, insbesondere bei der Entwicklung des dreigliedrigen Pla-nungssystems in den Niederlanden im Laufe des 20. Jahrhunderts. Auch wird beleuchtet, welche Rolle die deutsche Besatzung der Niederlande spielte und welchen Einfluss die Nazi-Ideologie auf die Planung nahm.

Die modeme Planung in den Niederlanden geht in erheblichem MaBe auf deutsche Ein-fliisse des 19. Jahrhunderts zuriick. Das niederlandische Wohnungsgesetz von 1901 sah vor, dass GroBstadte und andere schnell wachsende Kommunen Stadteerweiterungsplane erstel-len sollten. Die niederlandischen Architekten und Stadteplaner dieser frtihen Zeit orientier-ten sich stark an der Literatur deutscher Stadteplaner wie Baumeister und Stubben. Diese Li-teratur vertrat den klaren Standpunkt, dass Stadteerweiterungsplane auf der Grundlage sozi-alokonomischer und demographischer Forschung entstehen sollten. Nach dem ersten Welt-krieg wurde dieser Stadteplanungsansatz (der so genannte "Survey before plan"-Ansatz, d. h. Forschungsstudien im Vorfeld der Planung) durch neue Impulse aus der englischen Gar-den City-Bewegung bestarkt.

In dieser Atmosphare des allgemeinen Konsenses in der Stadteplanung bei gleichzeiti-ger erhohter Aktivitat in der Erstellung von Stadteerweiterungsplanen in den Zwanzigerjah-ren entwickelte sich das, was man als "stadteplanerische Vorforschung" (Preliminary Town Planning Research) bezeichnet. Dies war der Vorlaufer der modemen "physischen Planung" in den Niederlanden. In der Zwischenkriegszeit stellte sich immer mehr heraus, dass isolier-te Stadteerweiterungsplane keine Losung sind. Eine Integration in regionale und landesweite Plane wurde notwendig. Auslandische Beispiele fiir Gesetzgebung im Bereich Regionalpla-nung (z. B. die Ruhrgebietsplane) batten einen erheblichen Einfluss auf das Denken in den Niederlanden.

Die deutsche Besatzung der Niederlande in den Jahren von 1940 bis 1945 und damit die konsequente Einbindung der niederlandischen Wirtschaft und Infrastruktur in die deut-sche Kriegsmaschinerie durch die Nazis gab technokratisch eingestellten Stadteplanem und

I am indebted to Prof. Dr Robert Kloosterman, Director of AMIDSt for financing the correction and transla-tion work.

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162 Henk A. de Gans

Beamten in den Niederlanden die Gelegenheit, die Ideen einer dreigliedrigen Planungsorga-nisation (stadtisch, regional, national), die bereits in den DreiBigerjahren entwickelt wurden, in die Praxis umzusetzen. Zudem waren sie dadurch in der Lage, ein nationales physische Planungsburo aufzubauen, das fiir die Ausarbeitung eines nationalen Plans verantwortlich zeichnen sollte. Fiir lange Zeit erganzte das nationale physische Planungsburo die nach dem Krieg einsetzende neue Offenheit fur zentralistische Planungsideen.

Die demographische Prognose und die Prognose des Wohnungsbedarfs spielten bei den Vorstudien in der Zwischenkriegszeit eine entscheidende Rolle. Modeme landesweite de-mographische Prognosemethoden, insbesondere das Cohort Component Projection Model (CCPM), wurden von unabhangigen niederlandischen Demographen im Rahmen einer nati-onalen Debatte uber das Bevolkerungsproblem in den Zwanzigerjahren entwickelt. In dieser Hinsicht nahmen die niederlandischen Demographen auf intemationaler Ebene eine Vorrei-terrolle ein. In den DreiBigerjahren stellten Stadteplaner in Amsterdam und Rotterdam unter Beweis, dass die CCPM-Methode problemlos auf stadtischer und regionaler Ebene ange-wandt werden konnen, indem sie die Migration in den Berechnungsschemen berticksichtig-ten. Demographische Bevolkerungsprognosen, auch die auf CCPM-Basis durchgefiihrten, galten unter den Nachwuchsdemographen im Bereich stadteplanerische Vorforschung (sozi-ale Geographen, Soziographen und Okonomen) als zweite Wahl. Sie bevorzugten einen so genannten wirtschaftlichen Prognoseansatz, zumal man die Ansicht vertrat, dass ein arbeits-marktorientierter Ansatz die zukiinftigen Migrationsprognosen optimieren wiirde.

In der Zwischenkriegszeit wurden demographische Prognosen auf landesweitem Ni-veau von interessierten Privatpersonen, die sich im Rahmen der Bevolkerungsdebatte in den Niederlanden mit der zukiinftigen Bevolkerungsentwicklung befassten, durchgefiihrt. Offi-zielle Statistikamter wie das Niederlandische Statistische Zentralamt (Centraal Bureau voor de Statistiek, CBS) oder das kommunale Statistikamt in Amsterdam hielten sich mit Zahlen zuriick. In der niederlandischen Tradition der offiziellen Statistik galten (Bevolkerungs-) Prognosen nicht als Arbeitsfeld im Fachgebiet der Statistik, obwohl dies in anderen europai-schen Landem durchaus praktiziert wurde. Man vertrat die Ansicht, die spekulative Natur einer Prognose konne das Vertrauen der Bevolkerung in die Hauptaufgabe der Statistikamter (die Vorlage von zuverlassigen statistischen Daten) beeintrachtigen. Der zweite Weltkrieg hat zu einer drastischen Veranderung der Haltung des NCBS gefiihrt. Es deutet viel darauf hin, dass die deutsche Besatzungsmacht eine nationale Bevolkerungsprognose verlangte, ob-wohl von einer solchen Prognose jede Spur fehlt. Diese Erfahrung in Kombination mit der Tatsache, dass die Nachkriegsregierungen unter sozialdemokratischer Beteiligung eher ei-nem zentralistischen Planungsansatz zugetan waren, ebnete den Weg fiir eine neue NCBS-Sichtweise im Hinblick auf Prognosen.

II. Introduction

This contribution came about following Rainer Mackensen's invitation to write about the impact of the German occupation (1940 -1945) on the development of population forecas-ting and environmental planning in the Netherlands. This would be - as Mackensen puts it -something akin to an answer to his own contribution to my book.^ In his words: "There I ple-aded for a stronger relation between demography and economy, and Dutch sociography was

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Trend shift or Continuation? 163

my example. But this connection also had its problematic aspects, regarding politics and planning. For it was planning (action, realization) which caused the Nazi fascination in de-mography. Only 'practical useful' social science was of interest to their politics and not the-ory (they beUeved to have the only and the best 'theory'). Moreover, demography had a use-ful function. Apart from the position of Dutch (and other) statisticians, it was 'the Dutch contribution' (founded in the tradition of land building) which connected demography with planning and this was practised in Germany on a large scale. - At least this is how I tend to see it at present. It fits very well into the concept of Klingemann^, who regards sociology un-der the Nazi regime very much as 'modem and practical'. The same was true for demogra-phy after 1930.'"^ Because the impact of the German occupation on the development of ur-ban, regional and national planning has already been thoroughly researched the main focus of this contribution will be on a less well-known subject within the framework of planning, namely population forecasting, which was seen by pre-war planners as one of the core ele-ments of preliminary town planning research.^

III. Trend shift or continuation?

In twentieth century history writing. World War II is often seen as a well-defmed dividing period which gives developments and events a place in history, whether before or after World War II. This is definitely the case in the experience in the private lives of those who entered the formative period of their life career - in the terms of Mannheim - or who, as adults, suffered under the consequences of the war and had to cope with that in order to sur-vive. On the other hand, however. World War II is often also seen as an incident which, trau-matic and impressive as it may have been, did not have that much impact on fundamental so-cietal developments.^

This even holds for demography. In his overview of the measures and opinions regar-ding the growth and composition of the population in the Nazi-German occupation period, Philip van Praag arrived at the conclusion that the German occupation did not result in the introduction of important population political measures, with a few disastrous exceptions. The deportation of Jews, gypsies and homosexuals as a consequence of race hygienic Nazi ideology, as well as the forced deportation of Dutch labourers to Germany in order to help the German war economy, had a dramatic effect on the size and growth of the population of the Netherlands. However, a pro-natalistic measure like the introduction of child benefit, which was introduced on 1 January 1941, was based on a law that was approved by parlia-ment before the war, in 1939, and was therefore in line with the opinion of a majority of the Dutch population that existed in the pre-war years. In demography, only a few people were actually infected by Nazi ideology.^ There were hardly any new demographic insights.

2 Mackensen 2003, 240ff. ^ Klingemann 1996. ^ E-mail letter to the author. ^ This subject has been amply researched and discussed, for example in the excellent study on the history of

environmental planning by Faludi & Van der Valk 1994, chapter 4; also in Bosma 1990; Bosma & Wagenaar eds. 1995.

^ Bosma & Wagenaar 1995, (Voorwoord).

Page 170: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

164 Henk A. de Gans

However, there was a lot of reflection on how the post-war period of reconstruction in the fields of housing, care of old people and investments were to take place. In the war years, it was almost impossible to comprehend the fact that the years of German occupation would turn out to be catastrophic in terms of the loss of lives nor the damage to the economy, infra-structure and the housing stock.^

This also holds for planning. On 13 May 1940 the Queen and the democratically elec-ted Dutch government escaped to England just before the country was occupied by the Ger-man invaders. The escape was not premeditated. There were neither protocol nor directives for the civil servants left behind telling them how to operate in a case like this. Government instructions had been oriented towards maintaining peace and order. In the event of a con-flict of loyalty it was left to the individual official to judge between the benefits or damage to the population and the potential gains for the occupying power.^ The evacuation of the go-vernment left behind a political vacuum. The Secretaries-General of the various Depart-ments, who stayed in office and in some cases remained in office throughout the war, were now the powers that be and often powers that were driven by a technocratic approach to eco-nomic and social issues. They took the place of ministers, forming an official Council of Se-cretaries-General. They had to deal with the 'Netherlands Reich Commissariate', the Ger-man civilian administration that was established in order to win the Dutch over to the Ger-manic cause.

Leading urban and regional planners seized the opportunity offered by this state of af-fairs and by the Nazi interest in modem centralized planning and the Nazi efforts to integrate the Dutch economy and infrastructure into the greater Nazi war economy and set up a three-tier physical planning system. From this point of view the Germans were definitely interes-ted in the concept of national planning, which had been practised in the Third Reich but not yet in the Netherlands. Well before the German occupation of the Netherlands, planners like W.B. Kloos, a town planner who had completed his Ph.D. on - the necessity of - a national plan as a framework for regional and urban planning in 1939 and. Frits Bakker Schut had a clear idea of how the existing Dutch two-tier system of urban and regional planning, develo-ped in the 1920s and 1930s, could be transformed into a true three-tier system of municipal, regional and national planning through the creation of a national physical planning agency. ^ In 1941 a Rijksdienst voor het National Plan (Government Service for the National Plan) was set up, which became fully operational immediately after the end of the war. ^ It cleared the way for the post-war Netherlands to enter the era of national policy and decision making built on (state) planning and research. ^ In terms of the organization of the system of physi-

" The forced liquidation of the Nieuw-Malthusiaanse Bond (the new-Malthusian Union) June 9, 1940 and the Stichting Conslutatiebureaux (Health Clinics Foundation) November 29, 1940, was a different matter. Howe-ver, underground ways for providing contraceptives to former members were found (Van Praag 1985, 34f)

8 Van Praag 1985, 40. 9 Faludi & Van de Valk 1994, 69. 10 Kloos 1939. 11 The service was the forerunner of the later Rijksplanologische Dienst (RPD; National Physical Planning

Agency). In 2002 the former RPD was split up into a Ruimtelijk Planbureau (RPD; Environmental Planning Bureau), comparable with the Centraal Planbureau (CPB; Central Planning Bureau) and the Sociaal en Cul-tured Plan Bureau (SCP; Social and Cultural Planning Bureau), and a National Physical Planning Agency. The new Ruimtelijk Planbureau was founded in order to analyze and explore domestic and foreign environ-mental developments as well as social developments that are relevant from an environmental point of view (Van Dam eta l . 2004, 161).

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Trend shift or Continuation? 165

cal planning the German occupation of the Netherlands merely increased the pace of a deve-lopment that was already well under way.

IV. Preliminary town planning research in the inter-war period: Opting for the demographic or the economic approach in population forecasting?

The increase in the number of professions involved in town planning started in the 1930s. This was a side effect of the general acceptance that prevailed in preliminary town planning research in the inter-war period The growing number of municipal extension plans, the in-crease in demand for surveys in connection with town plans and a general increase in regio-nal plans resulted in an influx of social geographers, sociographers and economists into pre-liminary town planning research in the 1930s. Regional planning activities were initiated on a large scale at the end of World War II. It was not possible to find sufficiently large num-bers of town planning engineers, most of whom had been educated at Delft Technical Uni-versity. People with a training at Delft Technical University regarded this aspect of planning as quite marginal - their interest was mainly in the design aspect of town planning. Good economists were scarce and they quickly found interesting jobs in other sectors of society. In contrast, to social geographers and sociographers who had been educated at the universities of Utrecht, Amsterdam and Rotterdam, planning research was a welcome outlet and almost the only alternative to teaching. ^

Population and housing forecasts were thought to belong to the core elements of preli-minary town planning research. Inter-war urban and regional forecasters had in common that they were intent on informing policy makers of the most likely development of future population. The belief that demographic growth could be influenced by policy action ap-pears to be absent.

The dilemma of urban and regional forecasters of the 1930s and later decades was that fiiture population development largely depended on economic development. The future la-bour market was considered to be the factor that determined the future number of hou-seholds that could find a living, and by implication the number of immigrants and commu-ters. Therefore, the preferred procedure of the 1930s was a labour market forecast as part of the forecast of the economic development of a municipality or a region (the so-called econo-mic method). Because the preferred approach proved to be time-consuming and uncertain, another line of forecasting had to be followed. This was the line of the mere demographic approach. For several decades to come, the demographic approach was thought to be a se-cond best solution. The migration dilemma in urban and regional population forecasting ac-

Frits Bakker Schut was to become the first director of the National Physical Planning Agency. He was the son of Piet Bakker Schut, the Director of Public Works at the local authority in The Hague in the inter-war period. He was the author of a thorough study of the past, present and future development of the population of the Netherlands and The Hague in particular (P. Bakker Schut 1933). Together, father and son Bakker Schut wrote a book on the three-tiered planning system ( P.& F. Bakker Schut 1944). De Gans 1999b, 183ff

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166 Henk A. de Gans

counts for the increasing frustration felt by forecasters in the 1930s and their attempts to seek support in economic forecasting in the decades after the second world war. ^

The great post-war advocate of the economic approach to urban and regional forecas-ting was the sociologist E.W. Hofstee.^^ In his view the focus of urban and regional sur-veying, forecasting and planning ought to be on a fiiture estimate of the employed populati-on (i.e. on the future number of jobs in a region), the population engaged in primary produc-tion in particular, the employed population engaged in the services industries was supposed to be dependent on the population working in primary production. Once an estimate of the ftiture employed population is arrived at, an estimate of the fixture total population can be made on the basis of certain assumptions relating to the relationship between employed po-pulation and total population.^^ Hofstee's approach was adopted by many and was, for ex-ample, applied in the 1949 study by the economists/econometrists Klaassen, van Dongen Torman and Koyck. They were the first in the Netherlands to try a forecast of the socio-eco-nomic and demographic development of the municipality of Amersfoort based on econome-trist principles. ^ These studies marked the beginning of a period in which economic geogra-phic forecasting would successftilly challenge the dominant position of pure demographic forecasting. The period came to an end when it became clear that, because of the predomi-nance of government-determined social housing on the housing market, the fiiture municipal population could be forecast more easily on the basis of the expected (= planned; proposed) extension of the municipal housing stock. ^

The war did not cause a discontinuation in reflections on the best approach to forecas-ting the fiiture course of urban and regional populations. In fact, there was an acceleration after the war because post-war society was more government planning minded and because the focus was on reconstruction of war damage and regional economic development.

V. Pre-World War II German influences on planning and forecasting in the Netherlands

Dutch town planning during the first decades of the twentieth century is considerably indeb-ted to German influences and, in the first instance, to the textbooks of town planners like Baumeister (1876) and Stiibben (1890).^^ Baumeister and Stiibben focussed on the necessity of making a thorough social economic and demographic survey before proceeding to make a town extension plan. After the Great War, the effect of the earlier German influences was re-inforced by British influences through Patrick Geddes' 'survey before plan' approach. Fol-lowing an invitation from the forerunners of modern town planning in the Netherlands, Abercrombie and Unwin propagated the concept in the Netherlands at the Amsterdam con-ference of the International Garden Cities and Town Planning Association of 1924. ^

14 E.g. Van Braam 1948, 166; also De Gans 1999b, 212- 218. 15 Stolzenburg 1984, 171-175. 16 Hofstee 1947, 305 17 Klaassen et al. 1949. 18 De Gans 1999b, 212-218. 19 Baumeister 1876; Stubben 1890. 20 Faludi & Van der Valk 1994, 48.

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Trend shift or Continuation? 167

Siegfried Giedion, a historian and philosopher of architecture and town planning of Swiss abstraction, characterized Dutch social housing, architecture and city planning of the inter-war period as internationally exemplary in terms of finding solutions for city planning as a human problem. Quoting the Harvard City Planning Studies he described the Dutch Housing Act of 1901 as an enactment that is "perhaps the most comprehensive piece of le-gislation ever to be adopted in this field (...) The Housing Act of 1901 was shrewdly drawn to encourage constructions for the use of people of small means. Cooperatively organized building societies received building credits on very easy terms from the state, the credits being guaranteed by the community. Thus the whole tendency of the Act was to make the city a decisive influence upon all building activity".^^ In the words of Giedion: "We turned to London to gain insight into the state of town planning between 1800 and 1850. Our ex-ample for the years between 1850 and 1870 was Paris, and for the period between 1900 and the thirties it was Amsterdam. (...) Amsterdam is one of the few cities of our time that shows a continuous tradition in town planning, unbroken since 1900."^^ In Giedion's view, town planning in Amsterdam, as exemplary for the whole of the Netherlands, operated within the realm of what was really possible. There were no erratic developments, no Utopi-an enterprises, but steady progress based on an analytic methodology.^^

Consequently, in Amsterdam the general plan for the future development of the city of 1935, prepared by the newly established Division of Town Development of the Department of Public Works, was based on a careful correlation of all those factors which determinate the social make-up of a community while research, planning and execution were in the same hands. All the measures proposed were founded on figures that come under the heading of vital statistics (birth and death rates, immigration and emigration totals and forecasts based on these figures).-^"* The value of what has been achieved in Amsterdam remains undimi-nished. It is the methods employed in these developments, and not their specific successes, which are important. Research and statistics are not enough in themselves. "They must be backed by vision, by a general understanding of the course of development today's cities must take."^^

Another fundamental German influence was in the field of the methodology of the esti-mation of housing need by means of the so-called 'Halle method'. This method was introdu-ced in 1912 by J.W.C. Tellegen, Director of the Department of Building and Housing Super-vision of Amsterdam and one of the few housing reformers of the country with an active ex-perience in the field. Originally, the method had been devised and successfully applied in the German town of Halle am Saale. Here it was applied for the first time in 1905, The results were included in a publication by the Statistical Office of Halle 1905: Die Leerwohnungen in Halle a.S. 1909-1911, Heft 17. Halle: Gebauer-Schwetsche. The method was based on the investigation of the conditions leading to the formation of new families (who would then need dwellings) and the disappearance of families (which would clear inhabited dwellings). Generally speaking, immigration and weddings lead to the former and emigration and death to the latter, although not every wedding results in an increase in housing need, nor does

21 Giedion 1940/1967, 795. 22 Ibid., 793. 23 Ibid., 794. 24 Ibid., 804. 25 Ibid., 813.

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168 Henk A. de Gans

death inevitably result in the clearance of a dwelling. It allowed for an analysis of the pro-cess of family (household) formation and dissolution on a yearly basis and gave an insight into the 'true' development of municipal housing needs.

By modem standards, the method is quite advanced. The process of family formation was essentially modelled in terms of marital state transitions. It was only many years after World War II that this dynamic approach to family and household modelling and forecasting was readopted. It marked the beginning of modem family and household demography.

The method was elaborated and successfully applied in Amsterdam and other munici-palities. Excessive widespread and enthusiastic propagation of the method by Amsterdam housing experts, combined with a social and political interest in the social housing issue in the big cities in the inter-war period, led to vehement debates among experts in the fields of housing and housing statistics conceming the best method to estimate (future) developments in housing need, with the Amsterdam housing expert A.J.A. Rikkert and the Rotterdam town planner and housing expert Th. K. van Lohuizen as the main exponents.^^

Lastly, there was the influence of German examples of regional planning. In the course of the 1920s , the advantages of physical planning surpassing municipal boundaries became more and more obvious. Dutch town planners, among others M.J.W. Roegholt and Th. K. van Lohuijzen , Frits Bakker Schut and the lawyer G.A. van Poelje, who was involved in re-gional planning theory, were highly interested if not influenced and inspired by German ex-amples, like the Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk?'^ Dutch planners were interested in in-temational ideas, experiences and forms of organization, among others those relating to the new legislation of the Third Reich on the Wohnsiedingsgebiet. Notwithstanding his Nazi persuasion, P. A. Rappaport, director of the Siedlungsverband, was invited to deliver an address on the new German Act on the 'Wohnsiedlungsgebiet' before the members of the in-fluential Institute of Housing and Town Planning in 1934 and several of his articles were ac-cepted for publication in the Institute's journal (the authoritative Journal of Housing and Town Planning) in the 1930s, albeit that the president and other members of the Institute's board had serious reservations.^^

VI. Official national population forecasting: A shift of policy

In the new three-tier approach to planning initiated during the war the National Plan was to be the comer stone and consequently the forecast of the national population. However, du-ring the interbellum period, national population forecasting was exclusively an activity car-ried out by private individuals interested in the future development of the population and not as a task of the national statistical office, the NCBS (Netherlands Central Bureau of Statis-

For a discussion of the controversy, see de Gans 1999b, 162ff. Van Lohuizen was the author/inventor of a much more sophisticated, but in practice quite unworkable, rival method; see Van Lohuizen 1922. For the early interest of Dutch town planners in the organization and experiences with the Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk see, for instance, Piet Bakker Schut 1929, 364 and 365. De Ruijter 1980,26f According to de Ruijter the approach of many Dutch planners to Rappaport's articles on German developments in the field of town planning was uncritical because of a technocratic attitude and a belief that good research, data analysis and forecasts, in particular, would automatically result in good plans.

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tics). In the 1940-1945 period, a trend shift took place in the policy of NCBS. For the first time NCBS itself started with national population forecasting.^^

NCBS celebrated its centennial anniversary in 1999. By then, the national and internati-onal reputation of the NCBS as an authority in the field of population forecasting was undis-puted. However, it only acquired its reputation as a population-forecasting agency after the Second World War. The first population forecast was carried out in utmost secrecy under pressure fi*om the Germans. The results have never been published and no traces of this cen-sus have been left, not even in the NCBS archives. The first published official national popu-lation forecast dates from 1951.

The Netherlands had hardly been liberated when the director of the NCBS, Ph. J. Iden-burg, came up with an elaborate plan for the reorganization of the NCBS. Based on a clear view of the needs of the authorities in a post-war, planning-oriented era, Idenburg proposed transforming the NCBS into a national agency for statistics and research. The agency would consist of three departments: A Central Bureau of Statistics (CBS), a Bureau of Economic-Statistical Research (BESR) and a Bureau of Regional Statistical Research (BRSR). Iden-burg regarded the BESR as the successor to a department that had already existed before the war. This department had been involved in economical statistics (with the development of the economic barometer as part of an international activity that had taken place under the auspices of the International Statistical Institute (ISI) since 1924), in modelling research (since 1935) and in research in the field of national accounts (since 1938). ^

Idenburg anticipated that the government would adopt a kind of counter-cyclical policy in the years to come. In his 1945 plan, the work of the new BESR - observing, diagnosing, and forecasting - would be dependent on policy adopted by the government.^ The BESR would continue to make national accounts as it had done before the war and economic fore-casts were to be based on these accounts. In this way, both the quantitative analysis of past movements and the economic forecasts would have the same structure.^^

However, Idenburg did not succeed in getting his plan accepted. For political reasons the post-war government decided to create a separate institution, the Central Planning Bu-reau (Centraal Plan Bureau, CPB) which was to be directed by the econometrist and later Nobel Price winner, Jan Tinbergen. Willem Drees senior, the Minister of Social Affairs in the 1945 Cabinet, thought that a merger of the CPB and the CBS would unnecessarily com-plicate contacts with industry and the scientific community.^^

The CPB started its activities in September 1945, firstly in the office of the NCBS but from 1946 in a separate building at a different location. Apparently, the responsible minister was in a great hurry. According to Van den Bogaard, the formal division of tasks between CPB and NCBS took place only after the CPB had moved to its new location. The task of the CPB was to make 'future calculations' with an appropriate model, whereas NCBS would continue to produce national accounts, i.e. would make 'past calculations'.^^

29 Based on de Gans 1999a. 30 An ample discussion of the efforts undertaken by the NCBS at the end of, and directly after, WWII to trans-

form itself into the official Dutch institution in the field of the reconnaissance of economic fixtures can be found in the Ph.D. thesis by Van den Bogaard 1998. Van den Bogaard 1998, 142

32 Ibid. 33 Ibid., 144.

31

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At about the same time, developments in the field of regional population forecasting also took place. In 1943, the new Government Service for the National Plan^^ founded by the German authorities in occupied Holland established a committee for the research of the existing state of affairs and the resulting possibilities for development. Its task was to give national physical planning a sound scientific basis. The Bureau for the National Plan pursu-ed an ambitious programme but, in fact, focussed on two issues in particular during the war years , namely nature preservation and population distribution in relation to industrial deve-lopment.^^ For that reason, it is not surprising that soon after the committee had started its activities, it decided to form a subcommittee for the investigation of the best approach to (re-gional) population forecasting. This was later to be called the committee for Regional Popu-lation Forecasts.^^ The NCBS was represented in the committee as the envisaged provider of statistical data for the regional population forecasts that were to be made.

With economic forecasting having been assigned to the Central Planning Bureau and with regional population forecasting being developed under the auspices of the Government Service of the National Plan, it is conceivable that the NCBS became anxious that it would be excluded completely from the demographic forecasting business. Whatever the reasons, the NCBS started to prepare to make national population forecasts by the end of the 1940s.

The decision to make population forecasts was a dramatic break with the pre-war poli-cy on population forecasting. Under the leadership of H.W. Methorst (1868-1955), Iden-burg's predecessor as a director-general of the NCBS from 1906 tot 1939, the NCBS had de-liberately refrained from making population forecasts. In the long period of his directorship, Methorst had become the leading and most authoritative statistician and demographer in the Netherlands. It is not unlikely that Idenburg would have been more successftil if Methorst had taken a more positive attitude towards official population forecasting in the inter-war period. It is even surprising, given Methorst's 'private' activities in the field of population forecasting, that he did not do so. During different stages of his life, Methorst was actively involved in the issue of the fixture development of the population of the Netherlands.^^ His influence on the innovation of population forecasting methodology in the Netherlands in the inter-war period was considerable.^^ It is also enlightening to compare the attitude of Me-thorst and other leading official statisticians in the Netherlands with that of influential inter-national fellow statisticians from the same period." ^

34 Ibid., 144-145 3 In Dutch: Rijksdienst voor het Nationale Plan (RNP), which was the forerunner of the present National Physi-

cal Planning Agency (Rijksplanologische Dienst; RPD). 36 Faludi & Van der Valk 1994, 78. 3" Ter Heide 1998. The Dutch names of the committees are, respectively, 'Commissie voor het onderzoek naar

den bestaanden toestand en de daamit voortvloeiende ontwikkelingsmogelijkheden', 'Subcommissie voor de bestudering van de bevolkingsprognose' and 'Commissie voor de Regionale Bevolkingsprognoses'.

38 Methorst 1922; Methorst 1937; Methorst 1949. 39 A discussion of Methorst's contribution to the innovation of population forecasting methodology in the

Netherlands can be found in de Gans 1999b. ^^ For instance Friedrich Burgdorfer and Corrado Gini. See, for instance, the contributions by Ipsen, Fleisch-

hacker and de Gans respectively in: Fleischhacker, de Gans & Burch 2003.

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VII, The statistical tradition and population forecasting before the war

The most obvious answer to the question posed in the preceding section is that in the domi-nant view of official statistics in pre-war Netherlands it was not considered appropriate for statistical offices to be involved in forecasting.

The director of the Amsterdam Bureau of Statistics, J.H. van Zanten, was very outspo-ken and even more intransigent on this subject. He had been Methorst's colleague for many of the inter-war years. According to Van Zanten, both statistical offices and statisticians should refrain from making population forecasts. It was due to an intervention by Van Zan-ten that a debate on the consequences of the continuous fall in birth rates in most Western countries at the Tokyo conference of the International Statistical Institute of 1930 was diver-ted from the main subject at stake to the issue of the task and responsibility of statisticians and statistical offices with respect to population forecasting."^^ Among other things, due to Van Zanten's rigid point of view the Amsterdam Bureau of Statistics proceeded to engage in population forecasting as late as the 1960s, ten years later than NCBS.^^

The sometimes-oppressive care for objective, absolutely value free statistics has existed since the foundation of the Statistical Society of London (later the Royal Statistical Society) in Cambridge in 1833. The Statistical Society of London chose as its motto aliis exterendum ('to be threshed out by others'). The Society was established for the purposes of "procuring, arranging, publishing" purposes that have become almost sacrosanct for many statistical so-cieties and offices since, particularly in the Netherlands."^^

The man who has been characterized as the first modem statistician of the Netherlands, C.A. Verrijn Stuart (1865-1948) shared this point of view.' ^ Verrijn Stuart was the first di-rector of the NCBS (1899-1906) and therefore Methorst's immediate predecessor. Together with Methorst and Van Zanten, Verrijn Stuart dominated the Dutch landscape of official sta-tistics in the first four decades of the twentieth century. Soon after the foundation of the NCBS, in 1902, he defined statistics as nothing more and nothing less than the methodical bookkeeping of important phenomena.'*^ In his view, statistics had to do with observation only and not with speculation about future developments.

Verrijn Stuart's own calculations with respect to the future growth of the population of the Netherlands in 1919 and 1921 respectively do not alter the above-mentioned point of view. Verrijn Stuart used the traditional Malthusian method of geometrical extrapolation. The calculations were based on the assumption of a long-term continuation of the observed rate of population growth. Verrijn Stuart merely wanted to demonstrate that a continuation of the growth rate would result in a catastrophe, given the grim outlook of the Dutch econo-my. A demographic disaster could only be avoided through a reduction in the current high fertility rate of the Netherlands. His main interest was to put the population issue on the sci-

4 I discussed the controversy that arose in Tokyo, between Van Zanten and Corado Gini in particular, in de Gans 1999b, 104ff.

42 De Gans 1994, 40. 43 De Mast 1998, 35, 43, 80. Stamhuis 2002, 95ff, in Klep & Stamhuis eds. 2002. 44 DeVriesl948. 45 Verrijn Stuart 1902.

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entific and societal agenda and to open the minds of the inhabitants of the Netherlands for neo-Malthusianism. If Verrijn Stuart had population forecasting in mind, which he definitely did not, it was merely for the purpose of making a self-denying prediction."*^

In contrast to Verrijn Stuart and Van Zanten, Methorst was a statistician who did not shy away from getting involved in the speculative business of population forecasting as a private individual, although it will have been difficult for his audiences to make a clear dis-tinction between Methorst the Secretary-General of Statistics and Methorst, the scientist who wrote about the fixture course of population.

At the time of its foundation (in 1899) the NCBS was assigned the tasks of collecting statistical data and producing relevant statistics for both scientific research and practical pur-poses."*^ NCBS was organized in such a way that strict independence was safeguarded. Ob-jectivity and neutrality were seen as legitimising the existence of the NCBS. This does not alter the fact that conflicts between the objectives of the collection of data that are relevant for society and the safeguarding of the necessary neutrality could not be completely preven-ted. ^^ Such conflicts could easily arise in (population) forecasting. Complete neutral fore-casts are hardly imaginable. Pronouncements on the direction and nature of the fixture demo-graphic development are based on choices. It is difficult to make such choices without a per-sonal and more or less arbitrary appraisal.

As far as is known, Methorst never explicitly made written pronouncements against making NCBS population forecasts. But he did advise against making economic predictions. The immediate cause were activities aimed at developing the so-called economical barome-ter by statisticians affiliated to the International Statistical Institute (ISI). It was thought that an economical barometer would enable predictions to be made of the fluctuations of the en-tities that were considered to be carriers of the economic development. As the secretary-ge-neral of ISI and director of ISPs Permanent Office, Methorst was closely associated with the discussion about and the preparations for the construction of an economic barometer within the framework of ISI."* At the NCBS, efforts to develop such an instrument had started as early as the mid-1920s, notwithstanding the existence of serious doubts regarding the deve-lopment of the barometer and its underlying philosophy.^^ Methorst had strong feelings on the predictive power of the economical barometer. Because a lot of fiiss was made about the barometer in the United States and other countries, including in the Netherlands, because of its assumed predictive power, he thought it important to be explicit: "Therefore it might not be superfluous to ascertain explicitly that it is not my intention to let the NCBS make predic-tions. Predicting is of course none of the NCBS's business. However, considering the fact

^^ Given the fervour of the neo-Malthusian controversy in Dutch society in the post World War I era it is small wonder that, given his authoritative position as a statistician in the Dutch scientific community, the calculati-ons of Verrijn Stuart were taken as true population forecasts. Here we are dealing with an early example - in the Netherlands - of a forecaster who did not account sufficiently for his responsibility for the use of his results and who fell victim of this himself. For a discussion of the neo-Malthusian debate, see Van Praag 1977 and de Gans 1999b, 131-136. For a discussion of the issue of the responsibility of the forecaster, see for instance Pieter Hooimeijer 1995.

4' The most recent actualization of the tasks of NCBS date from the CBS/CCS law from 1996. 48 Van den Bogaard 1998, 139. ^^ For the larger part of his career Methorst combined the functions of Director of NCBS and Secretary-General

of ISI and director of the Permanent Office of ISI. 50 Van den Bogaard 1998, 139

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that various people feel the need for barometers, I think it is the task of the NCBS to provide them with the time series they need and to publish those in such a way that they provide a sound basis for that purpose."^

In 1938, when the prototype of the barometer model was ready, Methorst repeated his stand of 1925: Investigation of the cyclical movement of the economy could be carried out perfectly well by the NCBS, but the bureau would not proceed to forecasting. It was impos-sible to make infallible predictions. A prediction was nothing but "a projection of the diag-nosis of the business cycle into the future."^^ Presumably Methorst thought that economic forecasts based on the mechanism of the barometer model would not be accurate enough, i.e. not objective and neutral enough.^^

Ceteris paribus Methorst may have held a similar view on population forecasting. It is not very likely that his view would have been different from that of his immediate predeces-sor at NCBS, Verrijn Stuart, or his Amsterdam colleague Van Zanten. Despite the existence of long time series and despite the continuously decreasing trend in birth and death rates and despite the fact that eminent statisticians and statistical offices in a variety of other countries had proceeded to make population forecasts, not a single official population forecast was made by the NCBS or the Amsterdam Bureau of Statistics in the inter-war period.

The most authoritative Dutch statisticians participated actively in the inter-war popula-tion debate. Therefore, it is not unlikely that, as experts in demography and statistics, they must have felt either an inner dilemma, or some pressure from society to speculate about the fiiture course of population. This was definitely true for Van Zanten. Kuczynski's reinventi-on of the concept of Net Reproduction must have offered a solution to this dilemma. The predictive power of the Net Reproduction Rate (NRR) helped him, on the one hand, not to succumb to the pressure referred to and, on the other hand, to give an expert's (demogra-pher's) opinion on the most likely future course of population.^"* In the third edition of his textbook on the statistical method (1938) Van Zanten stated that the NRR had made all po-pulation forecasting activities by statisticians and statistical offices superfluous: Those who were interested in the direction of the future course of the population could use the NRR. ^

This having been said, it cannot be denied that both Methorst (NCBS) and Van Zanten (AbvS) were open to the demand for new data arising from new developments in society, such as the growing interest in (and anxiety about) the (direction of the) future course of po-pulation, resulting from the decrease in fertility and the fall in the birth rate which had be-come evident from the mid-1920s onwards, the (re) invention - and the further elaboration -of a new model of national population dynamics, the so-called 'cohort component projec-tion' model (ccpm) in the 1920s and its application for planning purposes at urban and regi-onal levels in the Netherlands in the 1930s.

^ 15 May 1925 Report, signed by the director of the CBS H.W, Methorst. Quotation from Van den Bogaard 1998, 140 and n. 362.

52 Methorst 1938, in: Van den Bogaard 1998, 141 and n. 363. 5 Van den Bogaard, same place. ^^ In the first volume of 'The balance of births and deaths* published in 1928, R.R. Kuczynski had (re)introdu-

ced the concept of Net Reproduction. Using NRR, Kuczynski had made quite an impression internationally by pointing out that most of the leading Western nations were heading for population decline. For a discus-sion, see de Gans 2002.

55 VanZanten 1938, 154.

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The leading statisticians in the Netherlands were aware of their responsibility not to hinder the work of population forecasters. For that reason Van Zanten kept up-to-date as re-gards new developments in the field of the methodology of population forecasting in order to be properly informed of the need for new statistical time series. Because he took his re-sponsibility seriously he became nolens volens a non-practising population-forecasting ex-pert. One of the paradoxes of pre-war Dutch statistics is that, notwithstanding the strict or even rigid attitude of the Dutch statistical establishment towards population forecasting, the geometrical extrapolations of Verrijn Stuart and Methorst's private excursions into the field of population forecasting contributed considerably to the innovation of population forecas-ting methodology. Moreover, despite his outspoken objections to population forecasting by statisticians, Van Zanten's textbook on the statistical method for students of statistics, eco-nomics and geography was the first concise up-to-date introduction to (the developments, innovations and literature in the field of) population forecasting methodology.^^

However, because the statistic bureaus did not concern themselves with population forecasting, the most important innovations, elaborations and applications of population forecasting methodology came either from relative outsiders in the population debate (the actuary Joh. C. Oly, the mechanical engineer F.W. 't Hooft and the economist-statistician G.A.H. Wiebols) in the 1920s, or from town planners (Angenot, van Lohuizen and Delfga-auw) in the 1930s. These men (re) invented and elaborated the so-called cohort component projection model (CCPM), presumably independently of international developments in the field. By inserting migration parameters into the calculation schemes - and they were the first to do so - the Amsterdam and Rotterdam town planners made the model usable for ur-ban and regional population forecasting, the forecasting of future housing demand and for urban and regional planning purposes.^^

National population forecasting methodology based on modem cohort component po-pulation projection modelling was, therefore, already well established in the Netherlands be-fore the war. Dutch innovators of population forecasting methodology did not belong to the statistic establishment that represented the Netherlands abroad, nor did they publish in any other languages than Dutch. For that reason, the innovation of Dutch population forecasting methodology went unnoticed in the international field. ^ The application of the new metho-dology at urban and regional levels for urban and regional planning purposes as part of the innovation and modernization of town planning methodology ('the survey-before-plan doc-trine) had been developed in detail in Amsterdam and Rotterdam by the mid-1930s. Dutch town planners like Van Lohuijzen and Delfgaauw (Amsterdam) and Angenot (Rotterdam) were well aware of the modem and innovative quality of their contributions to physical plan-ning and were also interested in the intemational propagation of the content of their contri-butions. However, as even Sigfried Giedeon demonstrates, the intemational community of town planners and architects was interested in the nature of the urban extension plans and the underlying theories and concepts in the first place and not so much in the specific ins and outs of the models of population dynamics they developed and employed.

56 ibid. 5' The history of the development of population forecasting methodology in the Netherlands and the contribu-

tion of Dutch innovators, seen from an intemational perspective, is discussed in de Gans 1999b, chapters 2, 5, 6,7.

5 I have amply discussed the causes of this lack of intemational recognition in de Gans 1999b.

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The innovation of population forecasting methodology in the Netherlands is greatly in-debted to the development of housing and urban and regional planning. The development of twentieth century planning is unthinkable without the Housing Act of 1901, which forced the big cities as well as vastly growing municipalities to implement municipal extensions and, due to new insights, base these extension plans on socio-economic and demographic re-search (preliminary town planning research).

The Housing Act of 1901 can be regarded as the formal beginning of urban and regio-nal population and household forecasting for planning purposes and of modem environmen-tal planning in the Netherlands.

VIII. The statistical tradition in the Netherlands

The attitude of the leading Dutch statisticians during the first decades of the twentieth centu-ry fitted within a statistical tradition which was specific for the Netherlands and which dated from the mid-nineteenth century. In surrounding countries, and in England in particular, the foundations of modem mathematical statistics were laid in the second half of that century. In this school of mathematical statistics, ample space was given to a quantitative mathematical and probabilistic approach to statistics under the influence of Galton, Pearson, Fisher, Yule and others. The achievements of the mathematical school of statistics merged with those de-veloped by political arithmeticians and their successors. Political arithmetic originated in the seventeenth century. Dutch scholars of the seventeenth and eighteenth century had contri-buted considerably to its development: Christian Huygens, Johan de Witt and the Amster-dam Mayor Johan Hudde in the seventeenth century and Willem Kersseboom and Nicolaas Stmyck, who has been characterized as the first actuary in history, in the eighteenth century.

In nineteenth century Holland, Rehuel Lobatto was the only exponent of what was se-venteenth and eighteenth century political arithmetic. After a promising start, Lobatto waged a futile war with the Dutch statistical establishment of his time in an attempt to get a more mathematical approach in statistics accepted. As long as the United Kingdom of the Nether-lands and modem-day Belgium existed - which was until 1839 -, Lobatto could enjoy the support of the great nineteenth century Belgian statistician Quetelet, with whom he was be-friended. The influence of Quetelet on the govemment of the United Netherlands was consi-derable. After Belgium had successfially gained its independence in 1839, Lobatto lost the support of Quetelet and his mathematically-oriented approach to statistics and the advocates of a more qualitative approach to statistics gained the upper hand. Lobatto was a lone wolf who could not count on the support of the most authoritative exponents of the statistical es-tablishment of what was now the North Netherlands. His influence and ideas could easily be disregarded.^^ For many decades to come, mathematical statistics, probabilistics and conse-quently 'speculations' as to the most likely course of fixture population growth, were not gi-ven a place in official statistics in the Netherlands. The Second World War can be seen as a major tuming point as regards the view of population forecasting as one of the tasks of the Central Bureau of Statistics.

^ See, for instance, Jacques and Michel Dupaquier 1985; Klep & Stamhuis 2002.

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IX. Conclusion

The focus of this contribution was on the development of (national) population forecasting and environmental planning, particularly the development of a three-tier planning system in the Netherlands in the twentieth century and the part played by the German occupation of the Netherlands and the influence of Nazi ideology on planning.

Modern planning in the Netherlands owes a lot to nineteenth century German influ-ences. Under the influence of the Housing Act of 1901, the big cities and vastly growing municipalities had to draw up town extension plans. The early Dutch architect-town plan-ners were greatly influenced by the textbooks of nineteenth century German town planners like Baumeister and Sttibben. These text books made it clear that town extension plans should be based on a thorough socio-economic and demographic research. After the First World War, new impulses enforcing this approach to town planning emanated from the Eng-lish Garden City movement (the so-called 'survey before plan' approach).

The general acceptance that prevailed in town planning thinking, together with a consi-derable increase in the production of town extension plans in the 1920s resulted in the deve-lopment of what was called 'preliminary town planning research', the predecessor of mo-dem 'planologie' in the Netherlands. During the course of the inter-war period, it became clear that making isolated town extension plans did not work and that they needed to be em-bedded in regional and national plans. Foreign examples of legislation in the field of regio-nal plans, particularly those relating to the German Ruhrkohlen Bezirk , had a major influ-ence on Dutch thinking.

The German occupation of the Netherlands in the period 1940-1945 and, consequently, the Nazi policy of integrating the Dutch economy and infrastructure into the German war economy, offered Dutch technocratic town planners and civil servants the opportunity to put into practice the ideas relating to a three-tier organization of planning (urban, regional, nati-onal) that had already been developed in the 1930s and to continue with the creation of a na-tional physical planning agency that was to be responsible for making a national plan. Such a national physical planning agency continued to fit in very well with the new post-war openness to the idea of central planning.

Need forecasting, housing need in particular, played an essential role in inter-war thin-king on preliminary town planning, research population and housing. Modem national popu-lation forecasting methodology, and the cohort component projection model (ccpm) in parti-cular, had been developed by Dutch forecasters independently as part of the national debate of the population problem of the 1920s. In this respect. Dutch forecasters were members of the intemational vanguard. In the 1930s, town planners in Amsterdam and Rotterdam de-monstrated that ccpm methodology could easily be applied at urban and regional levels by inserting migration into the calculation schemes. Demographic population forecasts, even those based on ccpm, were considered to be second best by the new professionals in the field of preliminary town planning research (social geographers, sociographers and economists). They preferred a so-called economic approach of forecasting because it was thought that a labour market approach was the best way to forecast the extent of future migration.

In the inter-war period, national population forecasts were made by private individuals who were interested in the future course of population as part of the debate on the population

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issue in the Netherlands. They were never produced by official statistical offices, like the Central Bureau of Statistics or the Amsterdam Municipal Bureau of Statistics. In the Dutch tradition of official statistics, (population) forecasting did not belong to statistics, despite this being common practice in other European countries. The speculative nature of forecas-ting was supposed to endanger trust in what was seen as the main task of statistical offices, namely the production of reliable statistical data. World War II caused a drastic trend shift in the attitude of the NCBS. There are indications that the German occupier had demanded a national population forecast, although no traces of it remain. This experience, together with the fact that post-World War II governments - in which the socialist party participated - were more open to the idea of central planning, paved the way for a new NCBS policy with re-spect to forecasting.

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Demographic, Statistik, Soziologie: Der Bedarf an empirischen Informationen und das Verhaltnis zur Politik^

Rainer Mackensen

I. Einfiihrung

Die Bevolkerungswissenschaft^ war in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts kein eindeutig umrissenes Fachgebiet. Dieser Zustand erleichterte es den Politikem der Nationalsozialisten nach 1933, in das Fachgebiet definierend einzugreifen.^ Allerdings war dieser Versuch nicht erfolgreich.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde liber das Selbstverstandnis der Bevolkerungswissenschaft im Verhaltnis zur Statistik einerseits, zur Soziologie andererseits, wie auch zum Verhaltnis dieser beiden Fachgebiete zueinander, strittig diskutiert. Diese Dis-kussion setzte schon bald nach 1850 ein, deutlicher ab 1870, verstarkt nach 1900. Sie ist »um 1930« nicht entschieden, und so trifft der Anspruch nationalsozialistischer Wissen-schaftspolitiker ab 1933, sich der Bevolkerungswissenschaft und der Soziologie als einer »Volkslehre« zu bemachtigen, auf ein diffuses Feld von Fachvarianten. In diesem scheint die NS-Politik zunachst ein leichtes Spiel zu haben; doch folgt alsbald mit der Trennung von »Grundlagen-« und »angewandter Wissenschaft« sowie »Politik« und mit der Konzentration der NS-Politiker auf diese (wie auch in Setzung der »Politik als Recht«) ein Riickzug sowohl der Bevolkerungswissenschaft aus der Politik, sowie der Politik aus der Bevolkerungswis-senschaft: »Bevolkerungspolitik« im Nationalsozialismus hat mit Bevolkerungswissen-schaft nicht mehr direkt etwas zu tun - trotz des Engagements etlicher »Bevolkerungswis-senschaftler« ftir die und in der NS-Bevolkerungspolitik. Wenn ein Hygieniker wie Harm-sen die Sterilisierung der Geisteskranken protegiert, wenn ein Statistiker wie Korherr die Statistik der Vemichtung fiihrt, wenn ein Mathematiker wie Koller die Zahl der »Gemein-schaftsunfahigen« zu ermitteln sucht, so ist das nicht »der Bevolkerungswissenschaft« anzu-lasten; anders steht es mit der Propaganda des - behordlichen und akademischen - Statisti-kers Burgdorfer (und des Hygienikers Harmsen) fur eine aktive Bevolkerungs- und Famili-enpolitik. Eingebettet sind diese Aktivitaten in die Gedankenwelt des Nationalsozialismus, die mit den Personen auch ihre Wissenschaften verandert hat. Hiermit befassen sich die lau-fenden Untersuchungen.

In der Entwicklung der Sozialwissenschaften hat deren Verhaltnis zur Politik eine ge-wichtige RoUe gespielt. Gerade die Bevolkerungswissenschaft ist davon - weil konstitutiv politiknah - besonders betroffen.

Fiir viele Hinweise und Ratschlage habe ich Ursula Ferdinand und Michael Engberding zu danken. Ich verwende hier einen sehr weit gefafiten Begriff, der im Prinzip alle wissenschaftliche Beschaftigung mit Bevolkerungsfragen umfaBt. Der Ausdruck wird seit etwa 1900 verwendet, zunachst in den Wirtschaftswis-senschaften, dann auch in der Statistik. Dazu Mackensen ed. 2002, Einfiihrung; sowie Carsten Klingemann in diesem Band.

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182 Rainer Mackensen

Daneben hat auch das Verhaltnis der Sozialwissenschaften zu den empirischen Grund-lagen diese Entwicklung mitgepragt. Dabei suchten die Sozialwissenschaften sich zuneh-mend voneinander zu unterscheiden. In diesen Prozessen sind insbesondere die Statistik, die Bevolkerungswissenschaft, die Demographie und die Soziologie einander eng benachbart.

Einige der Szenen dieses Weges will ich im Folgenden schildem. Es geht dabei um die Verflechtung der Sozialwissenschaften, um ihr changierendes Selbstverstandnis und damit um die unterschiedlichen Voraussetzungen in ihrer Nahe zum Nationalsozialismus.

Bei der vorhergehenden Tagung zum Thema habe ich geschildert, wie Friedrich Burg-dorfer 1934 die verordnete Umdefmition der Bevolkerungswissenschaft in eine »Volksleh-re« zwar unterstiitzte, dabei aber die Eigenstandigkeit der Bevolkerungsstatistik zu wahren suchte."^ Im Laufe der Jahre schwand das Interesse an dieser defmitorischen Wissenschafts-politik; auch das »Archiv« lieB die 1934 eingefiihrte Nebenbezeichnung »(Volkskunde)« in seinem Titel ab 1938 fallen. Die »Volkslehre« wanderte in die inzwischen entstandene »Raumforschung« aus; die Bevolkerungswissenschaft war daran substantiell, auBer in ein-zelnen Personen und als Materiallieferant, kaum mehr beteiligt.

So willkurlich dieser Versuch, ein Wissenschaftsgebiet defmitorisch umzuorientieren, auch angelegt war: Ungewohnlich war die Intention, auf die inhaltliche Entwicklung von Fachgebieten durch deren normative Definition EinfluB zu nehmen, nicht.^ Die Chancen ei-ner solchen normativen Definition, von den Fachgenossen iibemommen zu werden, sind ein Indikator des fachintemen Prestiges der Vorschlagenden sowie der auBeren Wahmehmung des Fachgebietes. Das Verhaltnis dieser Fachgebiete zur jeweils akuten Politik war stets auch ein AnlaB und - neben der Bestrebung, dem eigenen Fach und damit der eigenen Per-son mehr Geltung zu verschaffen - der Inhalt dieser Bemiihungen.

Theodor W. Adomo hat 1952 auf der ersten Konferenz fur Meinungs- und Marktfor-schung in Weinheim in einer Standortbestimmung der empirischen Sozialforschung nach dem Zweiten Weltkrieg riickblickend auf die politischen Konsequenzen auch rein theoreti-scher Arbeiten hingewiesen:^

„Ferdinand Tonnies, dem die neuere deutsche Soziologie gewifi viel verdankt, hat diese Begriff-spolaritat [von »Gemeinschaft und Gesellschaft«, 1886]' , unter Abstraktion von dem philoso-phischen Zusammenhang, der ihr Sinn und Begrenzung verHeh, als alleiniges Ordnungsprinzip der gesellschaftlichen Erkenntnis zugmnde gelegt. Seine Absicht ist dabei die lauterste gewesen: die Soziologie in den Dienst der Herstellung menschlicher Verhaltnisse zu stellen. Indem er aber die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft zu ausschlieBlichen Klassifizierungsprinzipien machte, hat er sie nicht nur vergrobert, nicht nur ein partielles Moment zum alleinherrschenden erhoben, sondem dem Unfiig Tiir und Tor geoffnet. Die zwei diinnen Begriffe erlaubten es der deutschen Soziologie in ihrer vorfaschistischen Verfallszeit, die gesellschaftliche Welt nach Schafen und Bocken aufzuteilen. Gemeinschaft gait fur gut, Gesellschaft fur schlecht. Von dort war nur noch ein Schritt bis zum Kultus naturwiichsiger Verhaltnisse, von Blut und Boden, von der Rasse - Konsequenzen, von denen Tonnies, der selbst von den Nazis diffamiert wurde, nie-mals sich hatte traumen lassen."^

Mackensen 2004. Ausfiihrlicher dazu Mackensen 2004a. Adomo 1952, 29. Einfugungen des hiesigen Verfassers R.M. in Zitate werden hier in eckigen Klammem [...] angezeigt. Ob Adomo hier dem Jugendwerk von Tonnies gerecht wird, ist eine andere Frage; Vierkandt 1921, 57, etwa halt es fiir ebenso wichtig fur die Entstehung der »fomialen« Soziologie wie Simmels Arbeiten.

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Demographic, Statistik, Soziologie 183

Adomo hat damit einen Sachverhalt bezeichnet, dem auch in den Untersuchungen tiber die Beziehung zwischen Bevolkerungsforschung und NS-PoHtik nachzugehen ist. Ein Moment, das zu derartigen Vereinfachungen veranlaBt, ist das Bestreben der Theoretiker, die von ih-nen bearbeitete Thematik auch offentlich sichtbar zu machen und womoglich direkt oder doch indirekt auf die Gestaltung der Pohtik einzuwirken.

Selbst zunachst abstrakte Erwagungen konnen in den Sog der Politik geraten. Ver-gleichbar sind in der Bevolkerungsforschung Unterscheidungen getroffen, Begriffe gebildet worden (etwa zur »differentiellen Fruchtbarkeit«), die politisch eingesetzt werden konnten. Welche Absicht bei der Definition der Unterscheidungen einerseits, bei deren politischer Verwendung andererseits die Arbeit geleitet haben, kann in Inhaltsanalysen der betreffenden Texte herausgearbeitet werden. Die politische Intention ist dabei oft erkennbar.

Ich werde mich auf Abgrenzungsfragen unter den beteiligten Fachgebieten im Blick auf die Bevolkerungswissenschaft beschranken. Ich mochte mit dieser Darstellung vor allem der ahistorischen, vereinfachenden Sicht auf die Fachgebiete in jener Zeit und auch der ver-breiteten Auffassung entgegentreten, die Bevolkerungswissenschaft sei (in Deutschland) wesentlich im Rahmen der Nationalokonomie betrieben worden. Sie hat sich vielmehr aus breiten und verschiedenartigen humanitaren, politischen und wissenschaftlichen Intentionen und Zusammenhangen und mit der Herausbildung verschiedener sozialwissenschaftlicher Fachgebiete entwickelt. Paul Mombert (1876-1938) hat 1920 sogar gemeint, daB die Natio-nalokonomie „zum Teil der Bevolkerung, ..., uberhaupt keine, oder nur eine sehr geringe Beachtung geschenkt hat."^

Die Anfange der Demographic (unter dieser Bezeichnung) stehen in Frankreich (und England) im Kontext sozialhygienischer Bewegungen^^ und werden maBgeblich von Medi-zinem angestoBen; sie greifen auf Deutschland iiber. Gleichzeitig entstehen in Deutschland erste sozialwissenschaftliche Untersuchungen im Verein far Sozialpolitik, die - in Behand-lung der »Sozialen Frage«, aber diese auch sukzessiv erweitemd - auf eine Verbesserung der sozialen Lage anfangs der Industriearbeiter, spater der Landarbeiter, endlich der Ange-stellten zielen. Sozialhygienische (also auch medizin- und gesundheitspolitische) und sozial-politische Intentionen werden nebeneinander verfolgt, zumeist ohne wechselseitigen Bezug zueinander, beide in der Absicht, die praktische Wirkung durch die Verwendung empiri-scher Informationen zu verbessem. Die Nutzung statistischer Daten wird dabei propagiert; dabei wird aber ihre Eignung auch problematisiert. Neu entstehende Fachgebiete - wie De-mographic, Sozialhygiene oder Soziologie - waren bestrebt, als »selbstandige Wissenschaf-ten« Geltung zu gewinnen und damit ihre Institutionalisierung voranzutreiben.

In Deutschland trifft diese Diskussion auf die Intention der Statistik, nicht nur adminis-trativ, sondem auch als »selbstandige« Wissenschaft - und damit an den Universitaten^^ -voile Anerkennung zu finden, sowie auf die Differenz zwischen behordlicher und staatswis-senschaftlicher Statistik, von denen diese wohl, jene aber nicht an den Universitaten vertre-

9 MombertF. [sic!] 1920,387. ^ Die faktenreiche Untersuchung von Schweber 1996, behandelt diese Prozesse unter dem Gesichtspunkt der

Bemiihungen um die Etablierung der Demographie als eigenstandige, anerkannte Disziplin. Auf ihren Anga-ben beruhen die nachfolgenden Ausfiihrungen wesentlich.

^ Sie war zwar vielfach in Personalunion zwischen behordlichen und akademischen Funktionen in diesen pra-sent, jedoch war das Fach noch nicht als Pflichtfach in den etablierten Studiengangen der Nationalokonomen eingefuhrt.

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184 Rainer Mackensen

ten ist, wahrend umgekehrt jene politisch starker wahrgenommen ist als diese. In Frank-reich, England und Osterreich war diese Differenz wegen der dort unbestrittenen positivisti-schen Traditionen (seit Comte, Mill und Quetelet) unbekannt. In Deutschland entsteht aus dieser Auseinandersetzung um das Verhaltnis von Sozialwissenschaft, Statistik und Politik die (neuere) Soziologie.^^

Die Bevolkerungsstatistik ist in all diesen Vorgangen prasent. Sie wird teilweise mit der Statistik iiberhaupt identifiziert und diese wiederum mit der Soziologie. SchlieBlich sind die demographischen Informationen die grundlegenden Daten aus der behordlichen Statistik sowohl fiir die sozialhygienischen wie fiir die sozialpolitischen Anliegen. Und sie sind tiber lange Zeit die einzig verfugbaren empirischen Informationen iiber soziale Fragen iiberhaupt.

Ich werde daher - in der hier unvermeidlichen Kiirze - zunachst etwas tiber das Ver-haltnis von Demographie und Statistik in den sozialhygienischen Bewegungen in Frankreich (mit Ausblicken nach England und Deutschland) sagen. Dann werde ich einige Bemerkun-gen uber die Entstehung der empirischen Sozialforschung in Deutschland und deren Ver-haltnis zur Statistik machen. AbschlieBend werde ich auf die Bevolkerungswissenschaft in Deutschland eingehen.

II. Demographie und Statistik

Um in Frankreich die Aufmerksamkeit der fur die praktische Politik wichtigen Fachschaflen fiir Nationalokonomie und Medizin auf die Informationsmoglichkeiten der Bevolkerungs-statistik zu lenken, bezeichneten Guillard und Bertillon ihre Arbeitsergebnisse als »Demo-graphie« - mit unterschiedlichen Konzepten und mit unterschiedlichem Erfolg.

II. 1 Zwei Konzepte in Frankreich 1850-1880

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den anschliefienden Jahrzehnten wurde - nicht nur in Deutschland, sondem ebenso in Frankreich und England - um den Wissenschaftscharak-ter der Fachgebiete gestritten, welche sich um eine empirisch fundierte Erkenntnis der sozia-len Zustande bemiihten. Es ging dabei um die Gewinnung des Zugangs zur institutionell eta-blierten Sozialwissenschaft in den Hochschulen und um die Verwendung der Ertrage in star-ken Wissenschaftsgebieten - vor allem der Medizin und der Nationalokonomie. Diese bei-den Gebiete waren durch ihre Nahe zur Politik, durch die starken Gesundheits- und Hygie-nebewegungen in den westeuropaischen Landem sowie durch die infolge der »sozialen Fra-ge« lebhaft diskutierte Sozialpolitik nicht nur wissenschaftlich bedeutsam, sondem verfiig-ten auch iiber einen im Zuge der betrachteten Zeit deutlich wachsenden EinfluB in der Of-fentlichkeit.^^ Dieser war in Frankreich jedoch unterschiedlich ausgepragt, weil zwar die medizinische Versorgung behordlich organisiert war, der Nachwuchs der Verwaltungen je-doch in den »Grandes Ecoles« (auch mit statistischer und sogar - in den Ingenieurberufen -mathematischer Lehre) herangezogen wurde, wahrend die Nationalokonomie an der Univer-

Die Entstehung der Soziologie in Frankreich, England und den Vereinigten Staaten geht andere Wege. In Frankreich ist der iiberwaltigende EinfluB von Comte und Quetelet, in England und in den Vereinigten Staa-ten der von Spencer, die diese Entwicklungen bestimmt. Dazu die Medizin in Deutschland betreffend Vogele und Woelk in diesem Band.

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Demographic, Statistik, Soziologie 185

sitaten rein »akademisch« betrieben und von der Politik dementsprechend distanziert gese-hen wurden.

Achille Guillard (1799-1876), von dem die Bezeichnung »Demographie« stammt ' , war Privatgelehrter^^ und beschaftigte sich zunachst mit Botanik und Padagogik; seit dem Zusammenbruch der Zweiten Republik 1851 wandte er sich der politischen Okonomie und Statistik zu. 1853 besuchtc er den ersten Intemationalen KongreB fur Statistik in Briissel, den Adolphe Quetelet^^ (1796-1874) veranstaltete. Dort fand er sein wissenschaftliches Konzept bestatigt, nach dem er in quantitativen Massenbeobachtungen Variationen zu iden-tifizieren suchte, die auf allgemeine GesetzmaBigkeiten schlieBen lassen. Er gehorte zu den in jener Zeit haufigen akademisch gebildeten, aber nicht auf ein Fachgebiet festgelegten In-tellektuellen, die sich dem - naturwissenschaftlich gedachten - Fortschritt der Sozialwissen-schaften in der Absicht widmeten, die sozialen Zustande zu verbessem. Diese Absicht stand flir Guillard im Kontext einer republikanischen Neigung, die dem neuen Zeitgeist seit 1851 entgegenstand. Libby Schweber, deren Princetoner Dissertation von 1996 unsere Kenntnis der Entstehungsgeschichte der Demographic in Frankreich und England in der 2. Halfte des 19. Jahrhunderts wesentHch crweitert hat, meint:

„For Guillard the notions of nation, race (which he also uses) and »biological map« (a term which subsequently drops out of his vocabulary) were defined in opposition to existing administrative or political categories." "

Seinen Standpunkt vertrat Guillard 1853 in einem Aufsatz tiber »Humanstatistik«, der auf einen Artikel des Okonomen und Malthusanhangers Joseph Clement Gamier (1813-1881) iiber »Population« reagierte. Darin widersprach Guillard der theoretischen Position von Ro-bert Th. Malthus und seinen sozialpolitischen Folgerungen und damit Gamier. Guillard suchte mit statistischen Informationen zu belegen, daB die Bevolkemngsbewegung sich von selbst auf den verfiigbaren Unterhalt einstellt und nicht fur die Entstehung der Armut in An-spmch genommen werden kann. Die - von Quetelet propagierte - Moglichkeit, aus statisti-schen Daten allgemeine Gesetze abzuleiten, wurde von Gamier und anderen Okonomen je-doch bestritten; sie sprachen deshalb der Statistik den Rang einer Wissenschaft ab: Die Sta-tistik solle die Fakten beschaffen und nicht iiber Gesetze spekulieren.^^ In einem weiteren Aufsatz 1854 benutzte Guillard - in Reaktion auf Gamiers Kritik - daraufhin den Ausdmck »Demographie«; er beschrieb diese als eine »neue Wissenschaft« von den sozialen Mas-senerscheinungen und suchte sie damit von der herrschenden liberalen Nationalokonomie abzusetzen. Ein Jahr spater erscheint das zumeist zitierte Buch von Guillard, in dessen Titel diese neue Wissenschaft als »Demographie« benannt wird.^^

^'^ Vgl. meine Notiz iiber Urspriinge des Begriffs »Demographie«, 2002a; vgl. Schweber 1996, 33ff. ^ Schweber 1996, 33, bezeichnet Guillard als „savant". 16 Vgl. Porter 1986. 17 Schweber 1996, 35. 1 Dieser Standpunkt wurde seither auch von vielen behordlichen Statistikem tibemommen, etwa von dem nie-

derlandischen Statistiker und ersten Prasidenten des International Statistical Institute, Methorst (siehe de Gans 1997); nicht aber von Georg von Mayr.

19 Guillard 1855.

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186 Rainer Mackensen

Guillard hat die Demographie als eigenstandiges (natur-)wissenschaftliches Fachgebiet im Sinne Quetelets in der politischen Okonomie, aber im Gegensatz zu deren geltenden Doktrinen, einftihren wollen. In diesem Kontext ist seine Intention gescheitert.^^

Sein Schwiegersohn Louis Adolphe Bertillon (1821-1883) jedoch, der sich als Anthro-pologe verstand, der Ausbildung nach Mediziner, stand in einem anderen sozialen Kontext. Er hatte 1853 eine Dissertation liber Statistik und offentliches Gesundheitswesen verfaBt. ^ Darin kritisierte er die Bildung statistischer Mittelwerte aus Massendaten als artifiziell, wah-rend er die Bildung »naturlicher« Mittelwerte (aus sozial homogenen Populationen) vertrat: Er hatte es nicht (wie Quetelet) auf die Formulierung abstrakter »Gesetze« aus massenstatis-tischen Daten abgesehen, sondem auf eine realistische Darstellung der individuellen Tatsa-chen. Das entsprach dem Interesse der Mediziner. Als Mitbegrtinder der Pariser Gesellschaft fiir Anthropologie 1859, die in Frankreich die Darwinschen Evolutionstheorien verbreitete, grundete er auch eine Medizinische Akademie. Nach Griindung der Dritten Republik liber-nahm Bertillon den Ausdruck »Demographie« von Guillard, gab ihm jedoch ab 1865 eine andere Bedeutung. Wahrend Guillard die Okonomie zur Nutzung statistischer Massendaten anregen wollte, ging es Bertillon um die Untersuchung der demographischen Ursachen und Konsequenzen fiir die offentliche Gesundheit. Statt der Suche nach arithmetisch-statisti-schen Gesetzen entwarf er ein System aus voneinander unabhangigen Variablen.

Seit der Mitte des Jahrhunderts waren die Zuwachsraten der Bevolkerung in Frankreich und die Geburtenraten in einigen Regionen zuruckgegangen; »Population« wurde zu einem sozialpolitischen Anliegen. Das Interesse an der bloBen BevolkerungsgroBe (wie im Mer-kantilismus) und ihrer Nahrungsbasis (wie bei Malthus) sowie an der Stabilisierung der Be-volkerungsstruktur wurde durch die Beobachtung der demographischen Verursachungsfak-toren verdrangt. Die Bevolkerung wurde nun als eigenstandige, dynamische GroBe angese-hen, nicht mehr nur - wie in der Statistik (und von Guillard) - als die situative (statische) Summierung von Individuen mit ihren individuellen Merkmalen. Danach wurde anstelle der Bevolkerungs^/rwter die BGYolkorungsbewegung in den Mittelpunkt der Diskussionen ge-stellt; man fragte nach ihren generellen Determinanten statt nach zufalligen Verursachungs-faktoren, so daB die Konstruktion demographischer Modelle moglich wurde. Anstelle des »individualistischen«22 entstand ein »strukturelles« (oder »systemisches«) Verstandnis der Bevolkerung.^^ Die Einbeziehung der Wanderungen wurde dabei - als nicht »wissenschaft-lich« begrundbar, weil nicht biologischer Natur und periodischen Schwankungen unterwor-fen - ausgeschlossen. Schweber schreibt:

„This definition of demography limited its scope from a general social science to the study of population as a formal, abstract, collective object Far from abandoning his aim to see de-mography develop into a generalized social science he [Bertillon] continued to present demogra-

Vgl auch Horvath 1980. Sein Sohn Jacques Bertillon wurde Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Paris und sowohl als Statistiker wie als Bevolkerungswissenschaftler bekannt. Er veroffentlichte 1875 ein Buch gegen den deutschen Impe-rialismus sowie 1911 iiber den Geburtenriickgang in Frankreich. In diesem Zusammenhang besagt das Attribut, daB Bevolkerungen als Aggregate aus Individualdaten begrif-fen wurden, nicht als Gesamtheiten mit fur diese maBgeblichen Verursachungszusammenhangen. Diese beiden Begriffe waren sozial »kontextlos«, wahrend in der deutschen Universitatsstatistik und spater in der Soziologie ein »kontextuelles« Verstandnis gefordert wurde, das soziale und lokal-regionale Beziehungen beriicksichtigte.

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Demographie, Statistik, Soziologie 187

phy as the quantitative study of physiological, cultural, social and organizational dimensions of collective existence." "

Bertillon tibemahm 1876 den ersten Lehrstuhl fur Demographie (und medizinische Geogra-phic) in der neu gegrundeten Hochschule fur Anthropologic. Er wurde 1877 Mitbegriinder der Annales Internationales de Demographie und prasidierte 1878 dem (einmaligen) Inter-nationalen KongreB fur Demographie aus AnlaB der Weltausstellung.^^ Sowohl Anthropolo-gic wie Demographic wurdcn als die Naturwisscnschaften vom Mcnschcn und seiner Rassen angcsehen, in probabilistischem Vcrstandnis. Dabei wurdcn die McBwcrte Quetclets statt auf statistische Gesamthcitcn nun auf die Differcnzicrung der mcnschlichcn Rassen angc-wcndct.

Die systcmatischc Darstcllung der Demographic auBcrhalb des Krciscs um Guillard und Bertillon ist flir Frankreich 1878 dem Handbuch der Statistik von Maurice Block (1816-1901) zu dankcn, das bcrcits cin Jahr spatcr auch ins Deutsche iibertragcn wurde. Es behan-dclte sowohl die amtlichc Statistik wie die Moralstatistik und die Demographic als »ange-wandte Statistik«.2^ Er sagtc:

„Die Demographie ist also der eigentliche Gegenstand der Statistik als Wissenschaft .. ." ^

Um die gleiche Zeit organisierte sich auch die franzosische Soziologie. Die franzosische Gc-scllschaft flir Soziologie wurde 1872 von Autoren aus dem Krcis der Zeitschrift Za Philoso-phie Positive gcgriindet, vor allem von Schiilcm Comtes. Sic vertrat dementsprcchend das Quetclctschc Statistik-Vcrstandnis. Gustave Hubbard, cin Schwager Bcrtillons, und also wie dicser cin Schwicgersohn von Guillard, dcfinicrte Soziologie darin als das Studium der Mil-licus (oder der Sozialgeographic), des Fortschritts der Humanitat (also der Sozialgcschichtc) und der Demographic (oder der vcrglcichcnden Statistik). Diese stcllc das Expcrimcnticrfeld der Soziologie dar und solltc als Briicke von den idiographischen Bcobachtungcn der Geo-graphic und der Gcschichtc zu den allgcmcincn Gesetzen dicnen, deren Nachweis als das ei-gentliche Zicl der Soziologie angcsehen wurde.

In Frankreich standen von Anfang an zwei verschiedene Konzepte der Demographie nebcneinandcr. Das cine - das sich in der medizinischcn Sozialhygicne, in der behordlichen Statistik und in der Soziologie durchsctztc - entsprach der Intention Quetclets, aus der Sta-tistik cine quantitativ-nomologische Sozialwissenschaft abzulcitcn; das anderc hatte cinen mathematischen, wahrschcinlichkcitstheoretischcn Hintcrgrund. Libby Schweber halt die staatlich gclcitcte, gcgcneinander abgrenzende akademische und administrative Wisscn-schaftsorganisation Frankrcichs fur den Grund, daB sich das Konzept Quetclets zwar nicht in der Okonomic^^, aber daflir mit der Bctillonschcn Demographic in der behordlichen Statistik

24 Schweber 1996, 347. 2 Auch seine beiden Sohne sollten bekannte Mathematiker und Ingenieure werden. Der Terminus »Demogra-

phie« indes bleibt nach dieser kurzen ersten Periode der Institutionalisierung als Fachgebiet umstritten; A. B. Wolfe meinte noch 1931: „The term demography is best established in France and Italy. The Germans and Scandinavians make slight use of it, and it has never attained to general usage in the English speaking coun-tries" (Wolfe 1931, 85); vgl. Mackensen 2004a.

26 Block 1878 / 1879. In der deutschen, weitgehend fur den praktischen Gebrauch in Deutschland tiberarbeiteten Ausgabe wird diese Terminologie nicht iibemommen.

2'7 Block 1878 / 1879. Block definiert hier die Demographie in dem Vcrstandnis von Guillard resp. von Quetelet.

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188 Rainer Mackensen

und in der Sozialhygiene - also in den fiir die Politik besonders relevanten Gebieten - ver-breitete, wahrend das systemische Konzept Bertillons sich wegen der in Frankreich (wie in Deutschland) universitar vemachlassigten Ausbildung der Sozialwissenschaften in Mathe-matik an den Hochschulen nicht durchsetzen konnte.

II. 2 Bevolkerungsstatistik in England und Deutschland um die Jahrhundertwende

Das war in England ganz anders. Akademische und administrative Wissenschaft waren dort sozial eng miteinander verflochten und die Pflege der Mathematik hatte - besonders auch in der behordlichen Statistik - einen hohen Stellenwert. Auch waren die Anwendungsgebiete in der Statistik, der Medizin und der Okonomie weniger gegeneinander und gegen die Poli-tik abgeschottet. Die Hygienebewegung fand breite Akzeptanz und Unterstiitzung, spater dann auch die Eugenik. In dieser Atmosphare konnten sich die Bemiihungen von Francis Galton (1822-1911) und Karl Paerson (1857-1936), dann auch von Ronald Aymore Fisher (1890-1962) um Eugenik, Demographic und theoretische Statistik entfalten. Die probabilis-tische Auffassung der Statistik setzte sich hier durch. ^

Nach Deutschland kam die Demographic im Verstandnis von Guillard, aber in der Ver-bindung mit der Sozialhygiene als Konsequenz der von Bertillon und Chervin^^ eingefuhr-ten Kongresse fur »Demograhie et Geographic medicale«, die ab 1878 (in Nachfolge der von Quetelet gegriindeten »Intemationalen Statistischen Kongresse«) stattfanden und 1882 durch den »Intemationalen KongreB fur Hygiene und Demographie« abgelost wurden.^^

Obgleich auch in Deutschland tiber Abgrenzung und Inhaltsschwerpunkte der Statistik debattiert wurde, standen diese Auseinandersetzungen nicht in erster Linie im medizini-schen Wissenschaftsbereich der Sozialhygiene, sondem in denjenigen der Statistik einer-seits, der Sozialpolitik andererseits und betrafen die Bevolkerungswissenschaft unter ande-ren Gesichtspunkten.

III. Soziologie und Statistik

Ftir die methodische Entwicklung der Bevolkerungswissenschaft in Deutschland sorgten vor allem die Statistiker in den wahrend des 19. Jahrhunderts entstandenen Amtem. Sie boten das empirische Material an, dessen die Sozialpolitik und die Soziologie bedurften; aber die-ses Material erschien beiden Fachgebieten als unzureichend.

Die Bevolkerungslehre wurde in der Nationalokonomie nicht derart beachtet, wie oft behauptet wird. Mombert kritisierte, daB bei den „alteren Schriftstellem die Bevolkerungs-theorie sehr stark hinter der Bevolkerungspolitik zuruck[-tritt]".^^ Bei Albert Schaffle^^ (1831-1903) und Roscher " (1817-1894) werde sie als Anhang ihrer Wirtschaftstheorie be-

2 Zwar ist auch die franzosische Nationalokonomie politisch engagiert, steht zu ihr aber - nach Schweber - aus wissenschaftsorganisatorischen Griinden in Distanz: Die politische Administration reknitierte sich aus den Ecoles Superieures, nicht aus den Universitaten.

29 Vgl. Schweber 1996; Porter 1986; MacKenzie 1981. ^ Bertillon hatte mit Arthus Chervin 1878 die Annales de Demographic gegrundet. ^ Genauer in Mackensen 2002a. 32 Mombert 1920, 390. 33 Schaffle 31873.

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Demographie, Statistik, Soziologie 189

handelt und mit den Tatsachen der Wirtschaft und Gesellschaft nicht verbunden. Selbst bei Riimelin^^, der doch viele statistische Belege verwendete, fehle die Verbindung zur Wirt-schaft.

„Rumelin unterscheidet ... drei Zweigdisziplinen der Bevolkerungslehre. Die Bevolkerungssta-tistik, die Theorie der Bevolkerung (auch Bevolkerungslehre im engeren Sinne oder Population-istik genannt) und die Bevolkerungspolitik."^^

Erst Adolph Wagner^^ (1835-1917) habe 1892 eine »okonomische Bevolkerungslehre« an-geboten. Aber endlich

„Georg V. Mayr hat dann in dem zweiten Bande seiner »Statistik und Gesellschaftslehre«, welch-er die Bevolkerungsstatistik^^ behandelt, dieses Gebiet in einer bis dahin nicht erreichten Voll-standigkeit und Griindlichkeit dargestellt."^^

Weder die ausgiebigen Diskussionen im Rahmen der Malthus-Kontroverse noch die (da-mals) neuen Diskussionen tiber den Geburtenruckgang, an welchen beiden er doch selbst -zusammen mit Brentano - maBgeblich teilgenommen hatte, werden von Mombert als »Be-volkerungslehre« anerkannt, v^eil sie nicht die gewunschte Systematik einer - mehr oder minder - geschlossenen »Lehre« aufweisen, welche die demographischen Beobachtungen zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tatsachen ins Verhaltnis setzen miisse.

Die Beitrage zur Entwicklung der Bevolkerungsv^issenschaft stammen also (nach Mombert) v^esentlich aus der „Bevolkerungsstatistik ... [welche] mit wachsendem Erfolge die Tatsachen der Bevolkerung, ihre Gliederung, ihre Bewegung und Entfaltung, nach alien ihren Richtungen und Beziehungen" dargestellt habe." ^ Mombert bezieht sich damit auf die Distanz zv^ischen akademischer Nationalokonomie und behordlicher Statistik. SchlieBlich gehort auch Georg von Mayr (1841-1925), den er lobend hervorhebt, als Prasident des Bay-rischen Statistischen Landesamts zur Gattung der Statistiker.

In Deutschland standen die akademischen Vertreter der »Gottinger Tradition« der Sta-tistik den Angehorigen der behordlichen Statistik distanziert gegentiber. Wahrend jene, von denen die Bezeichnung »Statistik« doch urspriinglich stammt, die historisierende Beschrei-bung der Staaten pflegten (und dabei durchaus auch numerische Informationen verwende-ten), sahen diese die Sammlung und Aufbereitung von Beobachtungen in numerischer Form und zu amtlichen Zwecken als ihre Aufgabe (und enthielten sich der Interpretationen)."*^

III. 1 Der Ursprung der empirischen Sozialforschung in der Enquete

Die Nationalokonomen wurden durch ihr Engagement angesichts der »Sozialen Frage« zur Verwendung empirischer Beobachtungen genotigt. Diesem Problem, das von dem „in den

34 Roscher 171883. 35 Riimelin 1896, 828. 36 Mombert 1920, 408. 37 Wagner 31893. 38 Freiburg 1897. 39 Mombert 1920, 403. 40 Mombert 1920, 387f. 41 Zum Streit zwischen Staatswissenschaften und »Tabellenknechten« zu Anfang des 19. Jahrhunderts siehe

besonders Kohler (Nikolow) 1994.

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190 Rainer Mackensen

60er Jahren herrschenden Liberalismus in der Volkswirtschaft'"^^, welcher u.a. das »Gesetz der Bevolkerung« bekampfte^^, so gut wie negiert wurde, wollten die Nationalokonomen entgegentreten, die sich 1872 im »Verein fur Sozialpolitik« zusammenschlossen. Dazu wur-den Erhebungen erforderlich, da eine Auswertung der verfugbaren behordlichen statisti-schen Daten wegen der Zeitpunkte ihrer Erhebungen und der Verzogerung der Veroffentli-chung von deren Ergebnissen, wegen ihres Mangels an Differenziertheit, der Begrenzung ih-rer Fragestellungen und ihrer Auswertungsmoglichkeiten als unzureichend erschienen. Auch wurden bei den amtlichen betrieblichen Erhebungen die Fragebogen von den Betriebs-eignem ausgefullt, so daB die Urteile der Arbeitnehmer, auf welche es dem Verein vordring-lich ankam, nicht zu erkennen waren.

„Da bis zu den 70er Jahren keine andere Form der »Wirtschafts- und Sozialforschung« als die von dem Staat durchgefxihrten Enqueten bekannt war, forderte der Verein die Regierung auf, sol-che Untersuchungen anzustellen."' '*

Gorges" ^ zeigt auf, daB und wie die Arbeit des Vereins flir Sozialpolitik in der Folgezeit so-wohl thematisch wie methodisch durch die wechselnden politischen Konstellationen beein-fluBt wurde. Die Deutsche Gesellschaft fur Soziologie wurde nicht zuletzt deshalb 1909 aus dem Verein fur Sozialpolitik ausgegriindet, um die - dort unvermeidliche - politische Ak-zentuierung der Debatten in den Grundsatzklarungen iiber Ziel und Charakter der entstehen-den Soziologie zu vermeiden."^^ Die ersten »Soziologentage« von 1910 und 1912 wurden deshalb vom »Werturteilsstreit« beherrscht.^''

Flir unsere gegenwartige Betrachtung erscheint ebenso erwahnenswert, daB sich aus der Debatte dieses Verhaltnisses der Soziologie zur Realitatsvergewisserung eine Variante die-ser empirischen Beobachtung entwickelt hat: die »empirische SozialforschungKK^ ; einige der Enqueten kamen methodisch nahe an die neueren empirisch-soziologischen Erhebungen he-ran. Die fur die Soziologie geforderten Erhebungen wurden in Deutschland zunachst als »Soziographie« bezeichnet."^^ Diese sollte (und konne) den alten Vorbehalt der Staats- und Volkswirtschaftler gegen die Statistik iiberwinden; die Statistik lasse (wegen ihrer »indivi-dualistischen« Konstruktion, also der bloBen Aggregation von Individuen und Individual-merkmalen) die Beschreibung sozialer Verhaltnisse gar nicht zu, eben weil sie weder »Be-ziehungen« noch »Normen des Handelns« zu erfassen gestatte.

42 Gorges 21986,1, 7. 43 Gorges 21986, 39. ^ Gorges 21986, 104. 45 Gorges 21986. 46 Ein anderes Feld, dessen Erorterung fur diese Griindung mafigeblich werden sollte, war das Verhaltnis der

Soziologie zur Statistik oder - wie zunachst auch gesagt wurde - zur »Soziographie«, heute: zur »empiri-schen Sozialforschung«, Dieses Verhaltnis war bereits seit der Zeit um 1870 Gegenstand heftiger Auseinan-dersetzungen und kann ebenfalls als eine Begriindung fur den Ursprung der »modemen Soziologie« angesehen werden. Seine eingehende Er6rterung wiirde aber den hier gesetzten Rahmen sprengen; sie wird an anderer Stelle nachgeholt (Mackensen 2004b); hier weiter unten nur einige Bemerkungen dazu.

4' „Die Geltung von Werten festzustellen und MaBstabe, an denen sich Werturteile ablesen lassen, zum BewuBt-sein zu bringen, ist nach wie vor Dienst an der Objektivitat der Erkenntnis und dem Erfahrungswissen zuganglich. ... Keinesfalls jedoch kann ein wissenschaftliches Ergebnis als wertende und entscheidende Poli-tik benutzt werden.", notieren Henssler und Schmid als Ergebnis des »Werturteilsstreits« in: „Absage .. .".

48 Dazu auch Mackensen 2004b.

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Demographie, Statistik, Soziologie 191

III. 2 Der Ursprung der empirischen Soziologie in der Kritik der Statistik

„In Deutschland begaimen seit den 70er Jahren vorwiegend Vertreter der Statistik sich mit diesem Problem [dem Verhaltnis von Soziologie und Statistik] zu befassen; der bedeutende Auf-schwung, den die Soziologie im neuen Jahrhundert und besonders seit Kriegsende in unserem Lande genommen hat, drangt nunmehr dazu." ^

Uns interessiert hier besonders die Auseinandersetzung zwischen Georg von Mayr und Fer-dinand Tonnies^^ und anderen, nicht zuletzt auch Statistikem. Georg von Mayr war durch sein dreibandiges Werk iiber „Statistik und Gesellschaftslehre"^^ die OrientierungsgroBe der deutschen Statistik. In diesem Werk begriff er »Statistik« als das Arbeitsgebiet der Erhe-bung und Aufbereitung quantitativer Beobachtungen, der »Massendaten«; deren Interpreta-tion sah er als »exakte Gesellschaftslehre« an und setzte diese mit der empirischen Soziolo-gie gleich. Dagegen erhob sich Widerspruch unter den Soziologen:

„Der Statistiker, der glaubte, die Bevolkemngsstatistik konnte zu einer selbstandigen Wissen-schaft ausgebaut werden, aus der sich eine eigene Gesellschaftswissenschaft entwickeln solle, wtirde die noetischen Grundlagen der Soziologie sehr verkennen." (Klersch, I.e.: Rezension zu v. Mayr)

Zur Geschichte der empirischen Sozialforschung liegen nur wenige Untersuchungen vor, dazu einige Skizzen.^^ Lazarsfeld beschreibt diese Entwicklung in der Rtickschau so:

„Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren die meisten deutschen Soziologen mit der Ausarbeitung begrifflicher Systeme beschaftigt. Das Material, mit dem sie arbeiteten, war en-tweder historischer Natur oder es bestand aus gelegentlichen Beobachtungen des taglichen Leb-ens. ^ Am Beginn dieses Jahrhunderts trat die Frage der Empiric in zwei verschiedenen Formen auf. Eine war die Auseinandersetzung mit der Statistik. Die amtliche Erfassung von Daten hatte groBe Fortschritte gemacht, und ganze Systeme waren vorhanden, mit deren Hauptzweck, Gebi-ete abzutrennen wie Moral-Statistik, politische Statistik und so weiter. Soziologen machten von diesem Material wenig Gebrauch. Im Jahre 1912 schrieb der spatere Statistiker Franz Zizek eine

^^ Diese Bezeichnung wurde von Ferdinand Tonnies von dem hoUandischen Soziologen Steinmetz iibemom-men, aber von ihm wie von seinem Schiiler Heberle viel weiter begriffen (vgl. Mackensen 2004b): Uber die Nutzung der Daten der amtlichen Statistik und die Erhebung eigener empirischer Informationen hinaus beinhaltete sie die Einbettung der Daten in die Kenntnis der sozialen und historischen Umstande konkreter Landschaften oder Orte. Die bei Steinmetz und seinen niederlandischen Nachfolgem zusatzlich unverzicht-bare Grundlegung in der Demographie so wie die dort jedenfalls notwendige Orientierung auf die raumliche Planung wurden in Deutschland (vor Neundorfer) nicht tibemommen; speziell hierzu: Klingemann 1996, 87-101.

50 Klersch 1921, 96. 51 Hierzu Bellebaum 1964, 57ff. 52 Mayr^ 1914 und 1917; die 3. Auflage wurde nach Mayrs Tod 1925 von Friedrich Zahn betreut. 53 Die griindlichste ist die zweibandige Untersuchung von Irmela Gorges von 1986 iiber die Erhebungen des

Vereins fur Sozialpolitik und der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie 1870 bis 1933. Grundlegend sind zudem die Skizzen von Maus (1967) sowie von Lazarsfeld und Zeisel als Beigaben der Marienthal-Studie 1933 / 1960, sowie die Schrift von Anthony Oberschall (1965). Das Buch von Kern (1982) diente zur ersten Orientierung seiner Studenten und bietet einen sachgerechten tjberblick, geht aber in der Behandlung der historischen Zusammenhange nicht weit genug in die Einzelheiten und ist auch in Einzelangaben nicht immer zuverlassig. Die Darstellung von Schad (1972) behandelt nur eine begrenzte Literaturbasis.

5" Sie benutzten deshalb, muB man erganzen, auch vielfach zunachst mechanische, dann biologische Analogien, um ihre Konstrukte zu veranschaulichen. Am wirkungsvollsten darin war Herbert Spencer (1820-1903).

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kleine Abhandlung, in der er auf diesen Mangel hinwies und ein Programm fur Zusammenarbeit entwarf." ^

Diese Schrifl von Zizek war angeregt durch die Griindung der »Deutschen Statistischen Ge-sellschaft« im Rahmen der »Deutschen Gesellschaft ftir Soziologie« 1910 und durch die Er-offnungsrede von Ferdinand Tonnies auf diesem Ersten Soziologentag. Der damalige Wie-ner Privatdozent Zizek verstand sich als im Einvemehmen mit AuBemngen der Wiener Sta-tistiker Franz Xaver von Neumann-Spallart^^ (1837-1888) und Theodor von Inama-Stem-egg '7 (1843-1908). Zizek (1876- 1938) fuhrte den Soziologen vor Augen, welche Vorteile sie aus einer engeren Zusammenarbeit mit der Statistik ziehen konnten. Diese biete ihnen insbesondere auch Material fur die Untersuchung der Sozialen Schichtung, der Stabilitat der gesellschaftlichen Erscheinungen, der kausalen Beziehungen unter diesen und der Rassenbi-ologie und Rassenhygiene. Die Soziologie konne sich freilich nicht allein auf statistische Unterlagen stiitzen, wie auch die Statistik wegen ihrer administrativen Aufgaben nicht ganz in der Soziologie aufgehen konne.

Ihm antwortete der Leipziger Professor Ferdinand Schmid 1917 im Allgemeinen Statis-tischen Archiv, dafi auch die Statistik von einer engeren Zusammenarbeit dieser Art profitie-ren konne. Er sah diesen Gewinn namentlich in der Begriffsbildung, welche insbesondere auch fiir eine Ausgestaltung der »Moralstatistik« bedeutsam sei, denn der Statistiker konne z.B. nicht ohne weiteres

„die auBerordentliche Tragweite" beurteilen, „welcher die richtige Unterscheidung zwischen dem gesellschaftlich Normalen und dem Pathologischen innewohnt. Handelt es sich hier doch um ein Fundamentalproblem sowohl der theoretischen wie der praktischen Gesellschaftswissen-schaft! Wer weiB nicht, dafi von der Beantwortung dieser Frage die ganzen Endziele unserer modemen Strafrechtswissenschaft abhangig sind!" ^

Uber dieses Bediirfnis der Statistik ftir die Begriffsklarung hinaus lenkte er den Blick auf die Abstinenz der Statistik von den sozialen Kontexten ihrer individuell erhobenen Beobachtun-gen:

„Der Mensch wird hierbei [in der Statistik] zwar als Massenerscheinung, aber doch zunachst in seiner Isolierung aufgefafit. Besonders auffallend tritt diese isolierende Betrachtungsweise in der Bevolkerungsstatistik hervor. Hier wird von den Geburten, EheschlieBungen und Sterbefallen der Menschen so gehandelt, als ob die letzteren auf der Erde gleich Einzelwesen ihr Dasein verlebten und erst in weiterer Folge, namlich bei der Morphologie, wird auch der gesellschaftlichen Ver-bande gedacht, als deren Glieder die Menschen gelebt haben und gestorben sind. Allein wir wer-den ja nicht schlechthin als Menschen geboren, sondem kommen immer als Glieder einer bestim-mten sozialen Schicht und eines bestimmten sozialen Verbandes auf die Welt. Nirgends verbinden sich zwei Menschen zu einer Ehe als ganz »neutrale«, von jedem sozialen Verbande losgeloste Individuen und unser Sterben ist bekanntlich ganz auBerordentlich durch das gesells-chaflliche Milieu bedingt, in dem wir unser Dasein zu verbringen gezwungen waren." ^

55 Lazarsfeldl960, 11. 56 Neumann-Spal ler t 1878. 57 Inama-Stemegg 1907. 58 Diese Bemerkung beziehet sich auf die damals aktuelle »Moralstat ist ik«; Ferdinand Schmid 1917, 13. Dazu

die Rezension von Klersch 1921. 59 Schmid 1917, 22.

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Demographie, Statistik, Soziologie 193

Schmid wendet sich auch gegen die Vereinnahmung der Soziologie durch die Statistik, wie sie Georg von Mayr sogar fiir die akademische Lehre empfohlen hatte. Er fahrt fort:

„Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint auch die Bevolkerungsstatistik sozial influenziert imd die von Georg v. Mayr beliebte Zweiteilung der materiellen Statistik in die Populationsstatistik und die »Sozialstatistik«, wie er sie erst jiingst wieder zu rechtfertigen versucht hat , doch wohl schwer haltbar."^i

Innerhalb der Statistik bestanden demnach Tendenzen einer Zusammenarbeit zwischen Sta-tistik - namentlich der Bevolkerungsstatistik - und der Soziologie. Auch Ferdinand Tonnies hatte sich 1910^^ - in kritischer Anerkennung der soziologischen Leistung Herbert Spencers (1820-1903) - fur eine Beriicksichtigung der Bevolkerungsvorgange in der Soziologie ein-gesetzt:

„Ganz allgemein also auch fur die Tatsachen des menschlichen Zusammenlebens gelten die Ges-etze des Lebens, namUch der immer emeute Stoffwechsel und die immer emeute Reproduktion, also die Gesetze der Erhaltung und Vermehrung, von denen die Bevolkerung, die wir als Trager eines sozialen Systems betrachten, abhangt." ^

Er hat aber der Statistik den Rang einer eigenstandigen Wissenschaft abgesprochen, weil sie ihre Gegenstande nicht umfassend darzustellen in der Lage sei. Er tat das im Riickblick auf die alte »Universitatsstatistik«, welche noch die Zustande des Staates substantiell zu be-schreiben als ihre Aufgabe gesehen hatte:

„Es mag als ein Zufall gedeutet werden, ist aber wenigstens ein sinnreicher Zufall, dafi aus der Statistik des 18. Jahrhunderts, welche hauptsachlich die Verfassungen der Staaten und viele dazu gehorige »Merkwurdigkeiten« bis herab zu Wappen und Orden beschrieb, das geworden ist, was man heute - wenigstens in erster Linie - unter Statistik versteht: namlich eine Darstellung ir-gendwelcher Zustande und Vorgange in Zahlen und Beziehung solcher Zahlen auf andere Zahlen - ein methodologisches Prinzip, das implizite in der Induktion als solcher enthalten ist. ... Bekanntlich sind es in erster Linie die Zustande und Veranderungen gegebener Bevolkerun-gen, die den empirischen Gegenstand dessen ausmachen, was man unter Statistik als Wissen-schaft versteht."^

Indem sich Tonnies zwar fur die Nutzung der Statistik (die er wesentlich als Bevolkerungs-statistik betrachtete) einsetzte, verstand er diese doch als eigenstandiges, von der Soziologie unterschiedenes Fachgebiet:

„Wir brauchen einen allgemeinen Terminus fur dieses naturwissenschaftliche Studium der Men-schen in ihren sozialen Zustanden und Veranderungen, insbesondere der GesetzmaBigkeit in ihren willkurlichen Handlungen, bei der uns nur in wesenloser Form der Mensch an sich, der »mittlere«, der allgemeine Durchschnittsmensch [im Sinne Quetelets] bleibt, so richtig auch prin-zipiell-wissenschaftlich dieser Begriff gedacht ist als aus seinen mannigfachen Erscheinungen abstrahierbar; denn wichtiger ist es, den Menschen, wie er durch seine, durch unsere wirtschaftli-

60 G.v. Mayr in: Allg. Stat. Arch. IX (1915), 452. 61 Ix. 62 Zu seinen eigenen statistischen Untersuchungen und deren Verhaltnis zur »reinen« (theoretischen) Soziologie

siehe insbesondere Bellebaum 1964. 63 Tonnies 1910, 25. 64 Tonnies 1910, 33f.

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chen, politischen und geistigen Verhaltnisse bedingt und bestimmt wird, nach alien Seiten griind-lich kennen zu lemen und berechenbar zu machen. Es bieten sich die glticklich erfiindenen Aus-driicke Demographie und Demologie dar, die freilich nach Ursprung und Gebrauch eine enge Beziehung teils auf die statistische Methode teils auf die Tatsachen der Bevolkerung haben."65

Diesen Standpunkt hat Tonnies 1919 wieder bekraftigt. In Reaktion auf die Bekundungen Georg von Mayrs^^, der die Position von Tonnies als einen ungerechtfertigten Angriff auf die Selbstandigkeit der neueren Statistik auffaBte, war Tonnies daran gelegen, fiir die Sozio-logie eine zusatzliche, ihren Bediirfiiissen starker entsprechende empirische Basis zu gewin-nen, die er - um die weitere Verwechslung mit der Statistik auszuschlieBen sowie um die Akzeptanz unter den auf »reine«, also theoretische Soziologie fixierten FachkoUegen zu er-hohen - als »Soziographie« bezeichnete. Er ubemahm diesen Ausdruck schon 1913 von Se-bald Rudolf Steinmetz (1862-1940), wie der ihn dann auf dem Wiener Soziologentag 1926 selbst vertreten soUte. Tonnies bezog sich auf diese Anregung 1929 und erklarte 1930 auf dem Berliner Soziologentag:

„Soziographie ist zunachst ein neuer Name fiir die wissenschaftliche Disziplin, die aus Anfangen im 16. und 17. Jahrhundert im 18. als »Statistik« groBe Bedeutung und groBen EinfluB gewonnen hat In diesem Sinne darf man sagen, daB die Soziographie eine Synthese aus der Statistik al-ten und der Statistik neuen Sinnes bedeuten wird." '

Zur gleichen Zeit entstand 1930 die beriihrnte Marienenthal-Studie als eines der ersten wich-tigen Beispiele empirischer Sozialforschung; sie wurde als »soziographischer Versuch« be-nannt.^^ In deren Anhang beschreibt Zeisel die »soziographische Methode« und deren histo-rische Entwicklung.^^ Er stellt sie als »empirische Sozialforschung« dar und benennt sie auch so - genauso wie Lazarsfeld noch nach vielen Jahren.' ^ Hier sind »Soziographie« und »empirische Sozialforschung« als identisch konzipiert.

Damit war das Feld der »Soziographie«, wie von Steinmetz und Tonnies gefordert, er-probt und etabliert^^; die Bezeichnung verschwand seither - bis auf wenige Versuche nach 1945, auch diese wieder zu beleben.'^^ Die Statistik und gerade die Bevolkerungsstatistik wird - auch bereits von Ferdinand Tonnies (1855-1936) und Rudolf Heberle (1896-1991) -dabei als Grund- und Ubersichtsinformation verwendet. Aber fiir die differenzierteren, kon-texthaltigen Informationen ist sie auf eigene »direkte« Beobachtungen und Erhebungen an-gewiesen.

65 Tonnies 1910, 35. 66 Mayr M910;ders.l914; ders ^1914; ders. 1920. 67 Tonnies 1931, 196. 6 Jahoda et al., 1933 /1960 . Ebenso bezeichnete Theodor Geiger (1891-1952) seine politisch-statistische Ana-

lyse 1934 als einen »soziographischen Versuch«. 69 Zeisel 1933 / 1960. "70 Lazarsfeld 1960. '' Zur Bedeutung der Soziographie in Tonnies' Konzept der Soziologie siehe Bellebaum 1964, 74ff. 7 Das geschah einerseits von Friedrich Neundorfer durch Begriindung eines Instituts dieses Namens, das auch

in den Verband der Universtat Frankfurt eingegliedert wurde; andererseits durch Walther G. Hoffmann als Direktor der Sozialforschungsstelle 1947, als er die von ihm zu leitende Abteilung dieses Instituts als eine fur »Statistik und Soziographie« bezeichnete. Diese Bezeichnung wurde 1951 von Gunther Ipsen zunachst iiber-nommen und im Sinne der Steinmetzschen angewandten Soziographie interpretiert, dann aber zunehmend fallengelassen.

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Demographic, Statistik, Soziologie 195

IV. Bevolkerungswissenschaft, Statistik und Eugenik

Das breite - offentliche wie politische - Interesse an der demographischen Entwicklung, insbesondere seit dem Umschlag aus einer »tJbervolkemngs-« zu einer »Untervolkerungs-besorgnis« um die Jahrhundertwende, verbunden mit den verbreiteten Vorstellungen der Eu-genik fur eine Pflege der Erbgange, veranlaBte ausufemde Diskussionen in den Medien, in der Popularliteratur und auch in den verschiedenen interessierten Wissenschaftsbereichen. Nationalokonomie und Medizin standen dabei im Vordergrund. Das Bediirfhis nach Eingrif-fen in den BevolkerungsprozeB verstarkte sich, gerade auch angesichts der wirtschaftHch problematischen und nationalpolitisch eingeengten Lage nach dem Ersten Weltkrieg.

IV. 1 Bevolkerungswissenschaft, Statistik und Eugenik Anfang des 20. Jahrhunderts

»Die Bevolkerungswissenschaft« bietet in Deutschland damals nicht ein geschlossenes Bild. Da waren die behordUchen Statistiker - viele inzwischen mit Lehraufgaben an den Universi-taten betraut - die sich fur die Erhebung und Aufbereitung der »massenstatistischen Daten« zustandig fiihhen. Deren Interpretation uberheBen sie den Fachgelehrten.

Unter diesen batten sich die Nationalokonomen inzwischen von den Bevolkerungsfra-gen distanziert. Mombert beendete die Malthusdebatte 1929 mit einem nochmaligen Uber-blick und erklarte sie angesichts des Befundes, daB die Malthus-Theoreme fiir die industria-lisierten Lander nicht anwendbar seien, fur abgeschlossen. Er bestritt, daB die Nationaloko-nomie eine »Bevolkerungslehre« vorgelegt habe, die diesen Namen verdiene. Fiir ihre sozi-alpolitischen Interessen bediente sich die Nationalokonomie zwar auch der statistischen Un-terlagen, hatte aber aus den englischen Enqueten eigene Erhebungsverfahren entwickelt, die in die empirische Sozialforschung miindeten. Zugleich hatte sich die Okonomik von der Be-rticksichtigung der BevolkerungsgroBen in den volkswirtschaftlichen Modellen distanziert; das Konzept der »optimalen Bev6lkerung« hatte sich als inoperabel erwiesen.^^ Pareto hatte statt dessen schon 1909 einen empirischen Begriff eingefiihrt, der dann als »Pareto-Opti-mum« bezeichnet wurde und der eine empirische Definition der maximalen Verteilung der Produktionserfolge auf dem Wege zu dem und vom Optimum hinweg gestattete, ohne den Bevolkerungsfaktor zu beriicksichtigen. Bevolkerungen erschienen in den Konzepten von Leon Walras (1834-1910) und Alfredo Pareto (1848-1923) lediglich noch als »exteme Fak-toren«. Nur Keynes hatte mit seiner Betonung der Bedeutung des Konsumsektors ein starke-res Interesse an den demographischen Tatsachen. Diese Sicht, der zuletzt auch August Losch (1905-1945) in seiner Analyse sowohl des Geburtenriickgangs wie der Konjunktur-schwankungen folgte, stand in Deutschland jedoch im Gegensatz zu der herrschenden natio-nalokonomischen Auffassung.' '*

In der Bevolkerungsstatistik allerdings warden mit den biologisch orientierten Anthro-pologen und Ethnologen die Rassenunterscheidungen und die ethnischen Kategorien erar-

73 Nach vielen vorhergehenden Autoren hatte schlieBlich Cohn in seiner von Ropke angeregten Dissertation 1934 die Unmoglichkeit nachgewiesen, das Optimum-Kalkul empirisch nachzuweisen.

74 Siehe Mackensen 1990.

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beitet, die eine Trennung der Gruppen in der Bevolkerung erst ermoglichten, die dann zu Umsiedlung, Entrechtung und Vemichtung gefuhrt haben.

Das Interesse der Medizin war ungebrochen.'^^ Sie steht am Anfang und (in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts) am Ende der Entwicklung der Demographie. Aus ihren Ent-wicklungen wurden nach Vorschlag der Eugeniker' ^ die Differenzierungen der Geburtenzif-fem, die Unterscheidungen der »Gemeinschaftsunfahigen«'^'^, die Sterilisierung und Dezi-mierung der Geisteskranken vorgenommen.

International setzte mit dem ersten BevolkerungskongreB 1927 in Genf und mit der dar-aus resultierenden Griindung der Intemationalen Union 1928 ein allgemeiner Institutionali-sierungsprozeB der Bevolkerungswissenschaft ein; in ihm setzten sich sowohl die methodi-schen wie die politischen Auseinandersetzungen fort. ^ Die Kooperation von Statistikem, Biologen und Soziologen wurde auch 1927 befiirwortet. Die bis dahin iibliche Trendextra-polation, seit Pierre Francois Verhulst (1804-1849) und Raymund Pearl (1879-1940) in der logistischen Form propagiert, wurde alsbald von der Komponenten-Projektion^^ verdrangt, die sich bereits 1930 durchgesetzt hatte. In Deutschland wurde 1926 die erste entsprechende Bevolkerungsvorausschatzung vorgenommen^^; aus ihr schloB Friedrich Burgdorfer (1890-1967) auf die Gefahrdung Deutschlands infolge seiner - besonders gegeniiber den ostlichen Nachbam - defizitaren demographischen Entwicklung.^^ Diese Sorge wurde 1928 internati-onal mit der Analyse von Robert Rene Kuczynski (1876-1947) iiber die Entwicklungsten-denz der europaischen Bevolkerungen^^ aufgefangen und in eine rationale Diskussion liber-ftihrt.

Die Arten und Wege, mit denen die Bevolkerungswissenschaft an der NS-Politik und auch an ihren Verbrechen beteiligt waren, sind vielfaltig und differenziert. Man kann dieser Beteiligung nur in detaillierten Einzeluntersuchungen auf die Spur kommen. Verschiedene Fachgebiete und Professionen haben daran mitgewirkt, und unter diesen bestanden kaum wissenschaftliche Verbindungen. Die Bevolkerungswissenschaft kann in der fraglichen Zeit nur als abstrakte Menge der mit Bevolkerungsfragen befaBten Fachleute wahrgenommen werden^^; sie stellt keine wissenschaftliche Einheit oder ein soziales Geflecht dar. Deshalb ist auch die Beziehung »der Bevolkerungswissenschaft« zur NS-Politik nicht insgesamt zu defmieren und zu beschreiben; sie kann nur fiir einzelne Werke oder womoglich fur einzelne Autoren festgestellt werden.

Ich habe hier einen kleinen Ausschnitt der Entwicklung beteiligter Fachgebiete zu zeichnen versucht, der Nahe und Distanz einiger Fachgebiete zueinander aufzeigt. Die Viel-falt der Intentionen der Beteiligten sollte auch darin zum Ausdruck gekommen sein.

"^ Dariiber berichtet bei dieser Gelegenheit Ursula Ferdinand. 76 Vgl. Ferdinand 2003. 77 So der Titel des zweibandigen Werkes von Kranz 1939 / 1941, fur das Siegfried Koller die statistischen

Berechnungen durchgefiihrt hat. 78 Ferdinand 1997; Ferdinand 2004a. 79 Siehe de Gans 1999; de Cans 2002; de Cans 2003; Burch 2003. 80 Fleischhacker2003. 8 Diese Sorge hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg die Debatte uber die Ursachen des Geburtenriickgangs

ausgelost; s. Ferdinand 2002; Ferdinand 1999; Ferdinand 2004b; Ferdinand 2005. 82 Kuczynski 1928. Er hatte dabei die Reproduktionsrate nach Boeckh (bei dem er ge lemt hatte) modemis ie r t

und in einer Weise angewendet, die sie in der Fachwelt bekannt machte . 83 Dazu griindlich Mackensen in Mackensen & Reulecke eds. 2005 .

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Elisabeth Pfeil und das „Blaue Archiv" Aspekte einer Bevolkerungssoziologie im Nationalsozialismus

Sonja Schnitzler

I. Einleitung: Der Stand der Forschung

Elisabeth Pfeil wurde als Bevolkerungswissenschaftlerin und Soziologin bekannt. In Her-mann Kortes Artikel iiber sie im Intemationalen Soziologenlexikon von 1980 taucht die Zeit des Nationalsozialismus in den Stichworten „ab 1934 Schriftleiterin des Archivs fur Bevol-kerungswissenschaft, 1941 - 1945 wissenschaftliche Referentin am Munchener Institut fur Bevolkerungswissenschaft"^ auf. In der ausfiihrlicheren Skizzierung ihres wissenschaftli-chen Werdegangs konstatiert Korte, sie sei „von der mittelalterlichen Geschichte iiber die Bevolkerungswissenschaft zur soziologischen Forschung" gekommen. „Ausgehend von der Bevolkerungswissenschaft untersuchte sie nach 1945 soziologische und psychologische Aspekte von Flucht und Vertreibung sowie Moglichkeiten und Erfolge von MaBnahmen zur Eingliederung von Fltichtlingen."^ Diese Aussage ist zwar richtig, sie unterschlagt aller-dings, dass Pfeil bereits vor 1945 soziologische Aspekte betrachtet hat, wenn auch nicht von Flucht und Vertreibung. Die Zeit vor 1945 rechnet Korte also der Bevolkerungswissen-schaft, die Zeit danach der Soziologie zu. Auch in dem Nachruf von Hans Harmsen in der „K6lner Zeitschrift flir Soziologie und Sozialpsychologie" fmdet man liber ihre Tatigkeit in den zwolf Jahren Nationalsozialismus auBer dem Verweis auf ihre Arbeit am Bayerischen Statistischen Landesamt keine weiteren Informationen, erst recht nicht iiber soziologische Aktivitaten. Allerdings sagt Harmsen, der Grunder und zunachst alleiniger, ab 1933 Mit-Herausgeber der Zeitschrift „Archiv ftir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspoli-tik" (im Folgenden Archiv) war, deren Schriftleitung sie 1935 iibemahm, unter Bezugnahme auf Helmut Schelsky Elisabeth Pfeil nach, „das einwandfreie wissenschaftliche Niveau die-ser Zeitschrift bestimmt und erhalten zu haben."^ Auch Jiirgen Friedrichs, der ihr Assistent in Hamburg wurde, wo sie 1964 eine Professur erhielt, erwahnt ihre Tatigkeit vor 1945 nur beilaufig.^ Bemerkenswert ist allerdings, dass sie 1945 offenbar bruchlos ihre Arbeit weiter-fiihrt und bereits kurz danach eine beachtliche Reihe von Veroffentlichungen und Beschafti-gungen aufweisen kann. Friedrichs versteht zwar ihre Tatigkeit am Institut fiir Bevolke-rungswissenschaft und Bevolkerungspolitik, dessen Existenz - von einer Griindungsphase abgesehen - bisher nicht nachgewiesen werden konnte, als Grundstein fiir ihre Forschungs-auftrage zwischen 1945 und 1951 und auch Barbel von Borries-Pusback rekurriert auf ihre Anstellung am Bayerischen Statistischen Landesamt in Miinchen,^ aber es existiert noch keine systematische Darstellung und Analyse ihrer Tatigkeit in dieser Zeit.^ Von Borries-

1 Korte 1980, 659. 2 Ebd., 660f. (Hervorh. von mir).

Harmsen 1976, 190. Vgl. Friedrichs 1975.

5 Von Borries-Pusback 2002, 318.

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Pusback schreibt allerdings: „Ihre in den dreiBiger Jahren erworbenen Kenntnisse und Er-fahrungen in der Bevolkerungswissenschaft und der Raumforschung hat sie in den funfziger Jahren in verschiedenen empirischen Studien und in der GroBstadtforschung bis zu der »Surmne« ihrer lebenslangen wissenschaftlichen Forschungstatigkeit, der »Grofistadtfor-schung« von 1972 weiter nutzen und fortentwickeln konnen."'^ Da ich erst am Anfang mei-ner Studien stehe, kann ich noch keine endgtiltigen Schliisse Ziehen, es zeichnet sich aller-dings bereits ab, dass 1945 fiir die in Deutschland gebliebene Elisabeth Pfeil weder eine Stunde Null, noch die Zeit davor eine der sogenannten Inneren Emigration, die schon von ihrem Begriff her zweifelhaft ist, war. Nicht einmal lasst sich bestatigen, dass Pfeil sich erst nach 1945 der Soziologie zugewandt hatte und ebenso wenig ist ihre Arbeit grundsatzlich als pseudo-wissenschaftlich anzusehen.^

II. Elisabeth Pfeils wissenschaftlicher Werdegang

Elisabeth Pfeil (1901-1975) wird von Carl Jantke 1957 als „eine Personlichkeit" bezeichnet, „die zu den angesehensten Wissenschaftlem in der Bundesrepublik gehort und die dariiber hinaus auch in der intemationalen Sozialforschung wohlbekannt ist. Ich stelle anheim, jeden beliebigen bekannten Fachvertreter in Deutschland daraufhin um ein Gutachten zu bitten." Ihre Arbeiten hatten „grundlegende und wegweisende Bedeutung".^ Sie studierte Geschich-te, Kunstgeschichte und Philosophic in Marburg und Berlin. 1929 wurde sie mit dem Thema „Die frankische und deutsche Romidee des friihen Mittelalters" von dem Historiker Albert Brackmann promoviert. Bereits 1928 wurde sie seine Assistentin in Berlin, schlug aber eine Habilitation aus. Laut Harmsen kam sie durch die Geopolitiker Albrecht Haushofer und Kurt Vowinckel, ihren spateren Mitarbeiter in der Redaktion des Archivs, die sie tiber Harm-sen kennenlemte, zur Bevolkerungswissenschaft,^^ Haushofer war Herausgeber, Vowinckel Schriftleiter und Verleger der „Zeitschrift fur Geopolitik". Pfeil arbeitete bereits an der er-sten Ausgabe des Archivs von 1931 mit und veroffentlichte dort Texte zu Euthanasie, Bevol-kerungspolitik, Ehe, Judentum und Geburtenriickgang. Obwohl sie hier biologistischen An-satzen formell ihre Reverenz erweist, indem sie beispielsweise auf einer allgemeinen Ebene von einer spezifischen „Rassenbiologie und Konstitutionstypik der Juden" ausgeht und de-ren biologischer Erforschung eine entscheidende Bedeutung beimisst,^^ macht sie in ihrer konkreten Argumentation gesellschaftliche Ursachen gegeniiber einer rassenbiologischen Begriindung stark:

^ Ausfuhrliche Hinweise sind zu finden bei Klingemann 1996; Klingemann 2004a; Klingemann 2004b; Klin-gemann 2006, Milz 1998 und Gutberger 2005; bio- und bibliographische Angaben bei vom Brocke 1998; Hinweise auf ihre Verflechtung in der Raumforschung bei Gutberger 1999.

^ Von Borries-Pusback 2002, 319 (Hervorh. im Original). ^ Immerhin wird diese Bewertung ex post vergeben und lasst den historischen Kontext auBer Acht. Man darf

allerdings wiederum nicht den Fehler begehen, "Wissenschaftlichkeit" mit "Werturteilsfreiheit", "Objektivi-tat" Oder "Wahrheit" gleichzusetzen und davon ausgehen, dass sich eine nationalsozialistische Soziologie durch ihre Konzentration auf die Produktion von Fakten politisch unverdachtig habe verhalten konnen.

9 Zitiert nach von Borries-Pusback 2002, 320. 10 Harmsen 1976, 190. 11 Pfeil 1932, 14f

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„Wenn die jtidische Bevolkenmg eine groBere Neigung zu Stoffwechselkrankheiten und zum Krebs, dagegen eine starkere Widerstandsfahigkeit gegentiber der Tuberkulose zeigt, so fragt es sich dabei noch, ob diese Unterschiede durch die besondere Konstitution der jiidischen Rasse be-dingt sind, oder nicht vielmehr gesellschaftlich, durch die Besonderheit ihres Berufsaufbaues."

Desweiteren stellt sie fest: „Wer als tiefsten und ausschlaggebenden Grand eine biologische Degeneration ansieht, halt die ganzen Erscheinungen der Bevolkerungsbewegung fur ein na-turgesetzliches Geschehen, das menschlicher Einwirkung entzogen ist."^^ Ebenso verortet sie 1933 in ihrem in der Zeitschrift fur Geopolitik erschienenen Artikel „Die deutschen Ju-den als Beispiel fur das Aussterben bei Verstadterung" in einer spezifischen sozialen Schichtung die Ursache fiir den Geburtenriickgang innerhalb des jiidischen Bevolkerungs-teils.^^ Die Verstadterung sieht sie in einer „geistige[n] und moralische[n] Wandlung" be-griindet, „dem Nachlassen der religiosen und ethischen Bindungen",^^ das besonders die bil-dungsbiirgerliche Landbevolkerung in die Stadte ziehen lieBe. ^ Sie distanziert sich hier von einer Sichtweise, die den Grund „in einer besonderen Konstitution der jiidischen Rasse, die von der deutschen wesentlich unterschieden ware", lokalisiert.^^

Mit dem Erscheinungsjahr 1935 iibemimmt sie offiziell einen Teil der Schriftleitung dGS Archivs. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass sie als alleinige Schriftleiterin fun-giert hat.^^ Auch die stellvertretende Schriftleitung der Zeitschrift „Volk und Rasse", die „zur offiziellen Zeitschrift des Reichsausschusses ftir Volksgesundheitsdienst und der Deut-schen Gesellschaft fiir Rassenhygiene erhoben wurde",^^ iibernimmt sie nach Kriegsaus-bruch. Spatestens seit 1933 interessiert sie die zunehmende Ver(groB)stadterung, das The-mengebiet, in dem sie das erste Standardwerk der Nachkriegssoziologie veroffentlicht und mit dem sie sich nochmals eingehend 1972 beschaftigt, als sie bereits emeritiert ist. 1939 ist sie Mit- wenn nicht Hauptinitiatorin^^ der Herausgabe einer Sammelmonographie zum bis-herigen Stand der GroBstadtforschung, dem „GroBstadtsammelwerk". Da mehr als die Half-te der geplanten Mitarbeiter 1939 und nochmals einige 1940 durch ihren Kriegseinsatz ent-fallen, kommt es zu Verzogerungen. 1941 wird dann der erste Beitrag im Archiv vorverof-fentlicht, Hermann Mitgaus „Verstadterung und GroBstadtschicksal genealogisch gesehen". In der Zwischenzeit waren weitere Werke zum Thema GroBstadt erschienen: Bemhard de Rudder und Franz Linke brachten 1940 den Sammelband „Biologie der GroBstadt" heraus, Egon Freiherr von Eickstedt 1941 die „Bevolkerungsbiologie der GroBstadt", ein Sonderheft der „Zeitschrift ftir Rassenkunde", und ebenfalls 1940 erschienen die „Zivilisationsschaden am Menschen", herausgegeben von Heinz Zeiss und Karl Pintschovius. Das „GroBstadtsam-melwerk" scheint zunachst als Intervention gegen die fortschreitende Verstadterung konzi-piert zu sein, so schreibt Pfeil:

12 Ebd., 14. 13 Pfeil 1933a, 115ff. 1 Ebd., 117. 15 Ebd., 115ff. 16 Ebd., 117. 1* Vgl. den Beitrag Carsten Klingemanns in diesem Band. 18 Lenz 1983, 121. 19 „Schriftleiterin und Verlag [des Archivs, S.S.] planten im Jahre 1939 [...]", vgl. Pfeil 1941a, 337.

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„Die im Zuge der wirtschaftlichen Erfordemisse immerwahrende fortschreitende VergroBstadte-mng zu dergleichen Zeiu wo man die GroBstadte als lebensfeindlich und volksfeindlich empfand und ihre Schaden auf volksbiologischem Gebiet mit Handen zu greifen waren, dieser wider-spriichliche Zustand muBte zur Meisterung der Lage herausrufen. Das Bestreben, diese Lage nicht einfach als unabanderlich hinzunehmen, sondem ihrer Herr zu werden, kommt auch in den angefiihrten und bereits erschienenen Werken zum Ausdruck - es entsprang dort wie bei uns der gleichen Besorgnis und der gleichen Abwehr".20

Direkt im Anschluss daran nimmt sie aber eine fast paradox anmutende Relativierung ihrer Aussage vor und stellt fest:

„Man miiBte sich die Frage vorlegen, ob wir denn wirklich der GroBstadt ausgeliefert seien, ob wir nicht iiber Mittel verfugten, uns ihr oder sie uns anzupassen, und ob nicht manche ihrer offen-sichtlichen Schaden Ubergangserscheinungen seien im Stadium der NichtangepaBtheit und ihre Erklarung in einer iiberstiirzten und planlosen Entwicklung fanden. Dann brauchten sie keine Dauererscheinungen zu sein. Sollte nicht auch hier wie in andren geschichtlichen Situationen eine Auseinandersetzung zwischen Mensch und Umwelt unter mancherlei Schwierigkeiten und Opfem stattfinden, ein erst allmahliches Einschwingen in neue Verhaltnisse?"^^

Sie stellt sich also nicht eindeutig romantisch verklart nach vorindustriellen Zeiten zuriick-sehnend gegen den Prozess fortschreitender Verstadterung, wie es die volkische Bewegung mit ihrer Idee der „volksverbrauchenden GroBstadt" praktiziert, sondern kixndigt an, im zweiten Teil des „Gro6stadtsammelwerkes" solle

„nach den umformenden und einschmelzenden Einfliissen der groBstadtischen Klima-, Wohn-, Sozial- und Bemfsumwelt gefragt werden. Die Formung darf daher nicht nur von ihrer passiven Seite gesehen werden, als etwas, was an den betreffenden Menschen geschieht; sie steht vielmehr in einem funktionalen Zusammenhang mit den Handlungen der gleichen Menschen: es werden in der GroBstadt neue Lebensformen aktiv entwickelt, die nun ihrerseits auf die Menschen zuriick-wirken. Im Laufe dieser Vorgange entstehen ganz verschiedene Gruppen groBstadtischer Bevol-kerung, deren Unterschiede in Leistung, Konstitution, Charakter, Lebensweise, Lebensauffas-sung usw. herauszuarbeiten waren, die aber moglicherweise in ihrer Gesamtheit als GroBstadtbevolkerung sich wiederum charakteristisch vom iibrigen Volke abheben werden

Pfeil stellt also in (stadt-)soziologischer Manier die Bedeutung eines funktionalen Zusam-menhangs vom Menschen (als handelndem Subjekt) und seiner Umwelt heraus, den sie auch 1937 in „Bevolkerung und Raum" behandelt.^^ Schon hier entwickelte sie einen soziologi-schen Umwelt-Begriff: Eine naturwissenschaftliche, biologische Erklarung, der sie sogar einraumt, „besser" als eine geisteswissenschaftliche der Bevolkerung-Raum-Beziehung ge-recht zu werden, reiche fur dieses reziproke Verhaltnis nicht aus, weil sie die „Willenshand-lungen" der Menschen, mit Hilfe derer sie den sie umgebenden Raum, mit dem sie Kultur meint, "* gestalteten und sich von ihm pragen lieBen, nicht berucksichtige, sondem sich auf

20 Ebd., 338 (Hervorh. im Original). 21 Ebd. 22 Ebd. (Hervorh. im Original). 23 Pfeil 1937.

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die geographischen Konditionen beschranke. Uber dieses Abfmden mit Vorgegebenem sei der Mensch aber langst hinaus.^^ Diese Vorstellung von der bewussten, aktiven Kulturge-staltung und damit einer relativen Unabhangigkeit vom Raum entspricht nicht der dogmati-schen Blut-und-Boden-Ideologie (und damit der These der „Biologisierung der Sozialwis-senschaften" unter nationalsoziaHstischer Herrschaft), die den Raum als handlungsdetermi-nistische „Bliitsquelle des Volkes" naturlich gegeben und mit ihm untrennbar verbunden sieht.

Pfeil beschaftigt sich auch mit dem Thema „Rasse". So stellt sie bspw. fest, dass die deutsche Gesellschaft fur Rassenhygiene „die Erforschung der Auslesegruppen in der deut-schen Geschichte als die vordringlichste Aufgabe der Geschichtsforschung" bezeichnet habe^^ und rekurriert daraufhin auf die Ergebnisse einer empirischen Studie an Schulkindem im Ruhrgebiet zur Erfassung der „Folgen der Durchmischung der deutschen Stamme", die ergeben haben soil, dass die Kinder von ostpreuBischen oder oberschlesischen Vatem und rheinischen oder westfalischen Miittern umso starker dem „S-Typ"^'^ entsprachen, einem „Typus des analytischen, auflosenden Menschen, dem die Kraft zur Synthese fehlt",, j e gro-Ber die Rassenspannung im Erbgefiige des Kindes ist."^^ Pfeil ist also nicht als Antifaschi-stin zu stilisieren. Sie weist zahlreiche antisemitische, volkische, rassistische, antimodemi-stische Ziige auf, es lassen sich durchaus Hinweise auf ihre Rtickschrittlichkeit fmden. Die temporare Ubemahme der Schriftleitung der Zeitschrift"Volk und Rasse" spricht far sich, ebenso ihre dortigen Auslassungen. Dennoch muss man konstatieren, dass sie soziologisch arbeitet und damit erfolgreich die auBeruniversitare Professionalisierung der Soziologie vor-antreibt. Es geht hierbei nicht um eine positive Bewertung dieser Hinwendung zur Soziolo-gie, geschweige denn um eine Konstruktion der Soziologie als „Gegenprogramm"2^ zum Nationalsozialismus. Im Gegenteil soil gerade der These gefolgt werden, dass eine realso-ziologische Betrachtungsweise kompatibler far die Umsetzung nationalsoziaHstischer Be-volkerungspolitik war, als es volksmythologische Schwarmereien sein konnten. Freilich brauchten „die Nazis"^^ nicht zwangsweise eine wissenschaftliche Fundierung ihrer Ideolo-gic, aber auf die Hilfestellung durch „Tatsachenforschung" waren sie in realpolitischen Fra-ge bisweilen angewiesen.

Zur Herausgabe des geplanten GroBstadtsammelwerkes ist es kriegsbedingt nicht mehr gekommen, aber es ist zu vermuten, dass Pfeil ihr Projekt der Herausgabe eines Bandes (iber die GroBstadtforschung kontinuierlich weiterverfolgt hat, denn 1950 bringt sie (allerdings allein) ihr umfangreiches Werk „GroBstadtforschung" heraus, eine Ubersicht tiber den da-maligen Stand der GroBstadtforschung, in dem sie im Kapitel „Neuer Einsatz der GroBstadt-

24 Vgl.ebd., 113. 2 Ebd. Dass sie damit modem gedacht hat, zeigt Carsten Klingemaim in diesem Band. 26 Ebd., 127. 2*7 Der Soziologe und spatere Mitarbeiter Pfeils an der Sozialforschungsstelle Dortmund, Wilhelm Brepohl,

machte im Rahmen seiner Studien fur die von ihm geleitete Forschungsstelle fur das Volkstum im Ruhrgebiet (der Vorlaufer der Sozialforschungsstelle) 1938/39 den „Typus P" oder „Typus Polack" aus. Auf ihn „proji-zierte Brepohl alle kulturellen Negativeigenschaften - von Faulheit bis Kriminalitat und Asozialitat [...]", Goch 2001, 158.

28 Pfeil 1937, 129. 29 Lepsiusl979,28. ^ Dem Konstrukt einer begrifflichen Separation „der Nazis" von „den Deutschen" soil mit den Anfuhrungszei-

chen entgegengewirkt werden, vielmehr sind „die Akteure im Nationalsozialismus" insgesamt gemeint.

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forschung nach dem ersten Weltkriege" unter anderem Hermann Mitgaus Beitrag von 1941 zitiert. ^ In der Zeitschrift fiir Geopolitik veroffentlicht Pfeil 1933 in Zusammenarbeit mit Karl Pintschovius, Friedrich Burgdorfer und Heinz Zeiss die „Fragen zur Bevolkerungswis-senschaft (Volkskunde)", die im Jahr darauf im Namen von Heinz Zeiss unter dem Titel „Aufgaben einer Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde)" im Archiv erscheinen.^^ Es han-delt sich dabei um eine detaillierte Auflistung samtlicher den/die Bevolkerungswissen-schaftlerln leitenden Fragen bei einer exakten Realanalyse des Bevolkerungsbestands nach den Kriterien des damaligen Wissenschaftsstandards, der auch die soziologischen Faktoren berucksichtigt. Gleichzeitig wird damit iibrigens das Aufgabengebiet des gerade in (Neu-) Griindung befindlichen Archivs umrissen, so zumindest Burgdorfer in der Zeitschrift fiir Geopolitik.^^

Im Archiv gelingt Pfeil spatestens mit Kriegsbeginn die EtabHerung einer Sonderstel-lung, da sie eine verhaltnismaBig groBe Menge an Texten dort veroffentlicht und sich teil-weise mit zwei weiteren Mitarbeitem die Herausgabe der jahrlichen sechs Hefte teilt. Von 1941 bis 1945 arbeitet sie unter der Leitung Friedrich Burgdorfers im Bayerischen Statisti-schen Landesamt in Mtinchen, daruber hinaus zur gleichen Zeit, ebenfalls unter Burgdorfers Leitung, in der Forschungsgemeinschaft fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungs-poHtik mit Hermann Mitgau zusammen. "* Mit dieser Tatigkeit ist ihre wiederholt zitierte Referentinnentatigkeit an dem in Griindung befindlichen, ebenfalls von Burgdorfer geleite-ten Reichsinstitut fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik in Miinchen ge-meint, als dessen Organ wiederum das Archiv vorgesehen war. Die Forschungsgemeinschaft war als Vorlaufer des Instituts gedacht. Im Rahmen ihrer dortigen Arbeit beschaftigte sie sich drei Jahre lang mit dem „bevolkerungspolitischen Erfolg der Ehestandsdarlehen"^^ und kam bereits 1941 zu dem Ergebnis, dass die seit der Einfiihrung 1933 gestiegenen Geburten-raten innerhalb der deutschen Bevolkerung als Erfolg der Darlehen zu verbuchen seien und die absoluten Kinderzahlen den bevolkerungspolitischen Erwartungen entsprachen, die Ge-barfahigkeit allerdings nicht voll erschopft sei, da zwischen den Geburten des ersten und zweiten Kindes durchschnittlich mehr als drei Jahre lagen - entgegen den Idealvorstellungen der Geburtenfolge in einer „Vollfamilie" (1,5 bis 2 Jahre Abstand zwischen erstem und zweitem Kind). Aus diesem Grund miisse man damit rechnen, dass

„der Wille zur VoUfamilie nicht iiberall vorhanden ist. An sich ware es zwar moglich, eine Voll-familie auch bei etwas langsamerer Geburtenfolge aufzubauen. Da die Fruchtbarkeitsperiode der Frau auch in den Familien, die 4, 5,6 Kinder haben, meist nicht voll ausgenutzt wird, sondem der AbschluB der ehelichen Fruchtbarkeit eine Reihe von Jahren vor dem Aufhoren der biologischen Fruchtbarkeit einsetzt, besteht hier ein Spielraum, um auch bei groBerem Geburtenabstand die gleiche Kinderzahl zu erreichen. [...] Wenn wir auch den jungen Ehen diese Chance einraumen wollen, so verdient doch das zogemde Erscheinen der zweiten und dritten Kinder die voile Beob-

31 Vgl. Pfeil 1950, 63ff. 32 Dazu mehr von Carsten Klingemann in diesem Band, der sich u.a. mit der Debatte um die Etabliemng einer

die Bevolkerungswissenschaft ersetzen sollenden Volkskunde nach 1933 beschaftigt hat. 33 „Die Aufgabenstellung der Archivs deckt sich mit dem Gebiet, das wir im folgenden in Form einer Fragestel-

lung umreiBen." Burgdorfer 1933, 619. 3"* Mitgau 1957, passim; vgl. Klingemann, 2006. 35 Vgl. Pfeil 1941b; Pfeil 1943.

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achtung des Bevolkerungspolitikers, und wir diirfen uns jedenfalls noch nicht dabei beruhigen, daB die Schlacht gewonnen sei." ^

Diese bevolkerungspolitische Bilanz Elisabeth Pfeils beweist nicht gerade Distanz zum Ziichtungsgedanken, auch wenn sie „nur" die sogenannte Vollfamilie mit einer geregelten Geburtenabfolge anstrebt^^ - anstelle eines germanischen tJbermenschens wie beispielswei-se der Reichsminister und -bauemfuhrer Walter Darre. So stellt sie bereits 1933 in einer Buchbesprechung seines „Neuadel aus Blut und Boden" im Archiv dessen wahnwitzige Vor-stellungen einer Ubertragung der tierziichterischen Praxis auf den Menschen vollig kritiklos dar. ^ Darre ging es allerdings um die Schaffung einer durch „planmaBige Menschenzucht" aus der adeligen Bauemschaft zu rekrutierende „Fuhrerschicht im Dritten Reich*V^ wahrend Pfeil sicherlich naher an den realen bevolkerungspolitischen Problemen orientierte Ambitio-nen besafi. Denn es handelt sich bei ihrer Forschungsarbeit vor allem um eine verhaltnisma-6ig niichteme Analyse und Bewertung der statistischen Ergebnisse, die im Gegensatz zur ruckwartsgewandten Blut-und-Boden-Mystik eines Walter Darre mit Sicherheit brauchbarer fur die konkrete Umsetzung war. Die Untersuchungen des Erfolgs der Ehestandsdarlehen seitens Pfeil miissen als Angebot der Hilfestellung fiir bevolkerungspolitische MaBnahmen des NS-Regimes gewertet werden.

Nach 1945 schlossen sich an ihre oben erwahnte vierjahrige Tatigkeit fiir die For-schungsgemeinschaft fiir Bevolkerungswissenschaft „zahlreiche Forschungsauftrage" an, die sie bis 1952 beschaftigten. Sie arbeitete in dieser Zeit fiir die Akademie fiir Raumfor-schung in Hannover, das Bayerische Statistische Landesamt, das Institut fur Raumforschung in Bonn, das Frankfurter Institut zur Forderung offentlicher Angelegenheiten, das Institut ftir angewandte Psychologic und Heilpadagogik in Freiburg und das Forschungsinstitut fiir So-zial- und Verwaltungswissenschaften an der Universitat Koln." ^ 1948 veroffentlichte sie „Der Fliichtling". Barbel von Borries-Pusback attestiert Pfeils Fliichtlingsforschung eine der wenigen zu sein, die sich mit der deutschen Schuld an den Vertreibungen in Europa nach dem Krieg auseinandersetzten"^^ und auch Carsten Klingemann kommt zu der Erkenntnis, dass ihre Arbeiten zur Fliichtlingssoziologie „von dieser nicht volksgemeinschaftlichen und ebenso wenig vertriebenenideologischen Klarheit gepragt" seien."* Aus diesem Grund kann sie auch umstandslos ihre Forschungen weiterfuhren: Elisabeth Pfeils relativ nuchtemes, sachliches Forschungsdesign ist transformierbar je nach politischen Vorzeichen.

So erschien bereits 1950 das oben schon genannte, groBte und bekannteste Werk „GroBstadtforschung", das iiber Jahre hinweg als das Standardwerk der Stadtsoziologie gait, ebenso wie „Soziologie der GroBstadt" von 1955, ihr Beitrag zu dem von Arnold Gehlen und Helmut Schelsky herausgegebenen soziologischen Standardwerk „Soziologie". Ihr ge-lang die Etablierung als renommierte Fliichtlings- und Stadtsoziologin der BRD. Nachdem sie von 1952 bis 1956 an der der Universitat Miinster angegliederten Sozialforschungsstelle

36 Pfeil 1941b, 192. 3* Die personliche Intention ihrer Forschungsarbeit scheint haufig durch. 38 Vgl. Pfeil 1933b, insbes. 77ff. 39 Ebd., 77. 40 Friedrichs 1975,403. 41 Von Borries-Pusback 2002, 319f 42 Klingemann 2004b, 113.

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Dortmund tatig war, ging sie an die Hamburger Hochschule fur Wirtschaft und Politik, da-mals noch: Akademie fiir Gemeinwirtschaft, wo sie 1964 (als erste Frau) eine Professur er-hielt. Dort stellte sie empirische familiensoziologische Studien an, z.B. iiber „Die Berufsta-tigkeit von Miittem" (1961), leitete soziologische Seminare und beteiligte sich an der Eta-blierung der empirischen Sozialforschung. AuiJerdem war sie Lehrbeauftragte am Seminar fur Sozialwissenschaften der Universitat Hamburg, wo sie ebenfalls in die empirische Sozi-alforschung einfiihrte,^^ und Vorstandsmitglied der von Harmsen geleiteten Deutschen Ge-sellschaft fiir Bevolkerungswissenschaft e.V. und der Akademie fur Bevolkerungswissen-schafl. 1968 wurde sie emeritiert.

Insgesamt lasst sich entgegen der Annahme, Elisabeth Pfeil hatte sich erst nach 1945 der Soziologie zugewandt - ganz abgesehen von der Behauptung eines grundsatzlichen Feh-lens soziologischer Tatigkeit zwischen 1933 und 1945 - erkennen, dass trotz des bei ihr im-mer wiederkehrenden Rekurses auf die Biologic als vermeintlich unerlassliche Erganzung fur die Interpretation bevolkerungswissenschaftlicher Phanomene ihre Erklarungsmuster schon vor 1945 durchweg soziologische Elemente beinhalten. Die Bezugnahme Pfeils auf die Biologic ist haufig reines Lippenbekenntnis, inhaltsleere Terminologie, wahrend ihre Deutungsschemata damaligen Anspriichen soziologischer Analyse geniigen. Die soziologi-sche Herangehensweise an bevolkerungswissenschaftliche Thematik ist dabei mit dem Be-griff der Bevolkerungssoziologie zu versehen. Man muss im Fall Pfeil deshalb von einer Kontinuitat ihrer wissenschaftlichen Forschungsarbeit iiber 1945 hinaus ausgehen. Diese Moglichkeit begiinstigt hat zum einen die nicht erfolgte radikale Entnazifizierung nach dem Krieg, zum anderen aber auch ein von ihr bereits vor 1945 eingehaltenes, dem Wissen-schaftsstandard der BRD entsprechendes Niveau ihrer Forschungsarbeit.

III. Das „Archiv fiir Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik"

Das „Archiv fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik", das aufgrund seines blauen Einbandes den Namen „Blaues Archiv" erhielt - in Abgrenzung zum „Braunen Ar-chiv", der Zeitschrift „Archiv fiir Rassen- und Gesellschaftsbiologie" - erscheint als bedeu-tendste bevolkerungswissenschaftliche Zeitschrift des Dritten Reiches. Ein Bericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft iiber „Die Notlage der deutschen wissenschaftlichen Zeitschriften 1952" stellt heraus, dass „[u]nter den ruhenden Zeitschriften (..) nur wenige wieder erforderlich [sind], in erster Linie das »Archiv fur Bev6lkerungswissenschaft« [.. .J.""^ Karl Lenz erwahnt es in seiner 1983 in der vom Bundesinstitut fiir Bevolkerungsfor-schung herausgegebenen Schriftenreihe „Materialien zur Bevolkerungswissenschaft" er-schienenen Arbeit iiber „Die Bevolkerungswissenschaft im Dritten Reich" in dem Kapitel iiber „Fachzeitschrifl;en der Bevolkerungswissenschaft" als erste von dreien. Die beiden an-deren sind das „Archiv fiir Rassen- und Gesellschaftsbiologie" und „Volk und Rasse"."^^ Frank Thieme fuhrt es in seiner in derselben Reihe herausgegebenen - allerdings umstritte-nen - Bibliographie bevolkerungswissenschaftlicher Aufsatze im Kapitel „Bev6lkerungs-

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wissenschaftliche Periodika" als einzige auf." ^ Bernhard vom Brocke nennt es in seiner Quellensammlung unter „Zeitschriften fur Bevolkerungswissenschaft/Demographie ein-schlieBlich Soziale Hygiene, Rassen- und Gesellschaftsbiologie" als eine von 13 intematio-nalen bevolkerungswissenschaftlichen Zeitschriften, die zwischen 1902 und 1978 erstmalig erschienen sind.' ' Wie Klingemann zeigt,^^ findet man unter dem Stichwort „Bev6lkerung" 1936 in Mayers Lexikon und 1941 im Neuen Brockhaus unter der Auflistung der „Trager der Bevolkerungswissenschaft" bzw. ihrer Zeitschriften jeweils das Archiv aufgefiihrt. Rai-ner Mackensen spricht sogar von der „damals einzigen Zeitschrift der Bevolkerungswissen-schaft in Deutschland".^^

1931 als „Archiv fiir Bevolkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde" durch den Mediziner Hans Harmsen gegrtindet und herausgegeben und 1934 mit der vierten Ausgabe in „Archiv fur Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkerungspolitik" umbe-nannt (ab 1939 entfallt der Zusatz „Volkskunde"), veroffentlichen in dem mehrmals jahrlich erscheinenden Periodikum bis zu seiner Erscheinungseinstellung 1944 zahlreiche etablierte Wissenschaftler, vomehmlich Mediziner, Bevolkerungswissenschaftler, Okonomen, Stati-stiker / Demographen, Soziologen und Ethnologen. Zentrale Themen sind Geburtenrtick-gang, Bevolkerungsbewegung, bevolkerungspolitische MaBnahmen, Rassenkunde, Verstad-terung, Ehe und Familie, Gesundheitspolitik, Rassenhygiene und Eugenik. Deutlich erkenn-bar ist auch das Vorhandensein einer statistischen bzw. demographischen Ausrichtung, wenn diese auch nicht vorherrschend ist. Ab 1936 kommt zu den Sparten Aufsatze, Berich-te, Mitteilungen, Schrifttum und Urkunden und Gesetze die der Statistik hinzu, entfallt aller-dings mit der 13. Ausgabe wieder. Herausgegeben wurde das Archiv bis 1933 von Hans Harmsen alleine, ab 1934 traten Friedrich Burgdorfer, Adolf Kramer, Arthur Gtitt, Falk Ruttke und Heinz Zeiss hinzu. Schriftleiter wurden Kurt Vowinckel und ab 1935 zusatzlich Elisabeth Pfeil, die spatestens zu Kriegsbeginn zur Chefredakteurin aufstieg. Der Herausge-berstab erweiterte sich in den Folgejahren um Walter Gross und Bruno Kurt Schultz. Es sol-len nun die fiir die Soziologie und ihre bevolkerungspolitische Hilfestellung im Nationalso-zialismus als interessanteste erscheinenden Herausgeber kurz skizziert werden.^^

Prof. Dr. oec. publ. Friedrich Burgdorfer (1890-1967) wurde bereits 1907 Assistent des Statistikers Friedrich Zahn, dem langjahrigen Leiter des Bayerischen Statistischen Landes-amtes (damals noch bayerisches Konigliches Statistisches Bureau). Nach diversen Tatigkei-ten bspw. als Regierungsrat im Statistischen Reichsamt Berlin, Oberregierungsrat und Gene-

^ Zitiert nach Europaische Forschungsgruppe fiir Fliichtlingsfragen, Miinchen den 1.8.1952, aus dem Nachlass Wilhelm Emil Muhlmanns. Es befindet sich eine mir freundlicherweise von Carsten Klingemann zur Verfli-gung gestellte Kopie in meinem Besitz. Deshalb sollte das Archiv auch im Rahmen der 1952 gegriindeten Deutschen Gesellschaft fur Bevolkerungswissenschaft (DGfBw) neu herausgegeben werden, worum man sich bis in die 1960er Jahre vergeblich bemiihte. Die DGfBw, in deren Rahmen die Akademie fiir Bevolke-rungswissenschaft ins Leben gemfen wurde, sah es als "besonders vordringlich[e]" Aufgabe an, eine Zeit-schrift fiir Bevolkerungswissenschaft herauszubringen, vgl. Staatsarchiv Hamburg, Bestand Schulbehorde, Hochschulabteilung, Akte 14.00-26, Bd. 1, Bl, 4. Zahlreiche Folgen der von Seiten der DGfBw herausgegebe-nen Schriftenreihe "Mitteilungen" belegen, dass es nicht allein um eine beliebige bevolkerungswissenschaftli-che Zeitschrift gehen sollte, sondem dass explizit an die Wiederherausgabe des Archivs gedacht wurde.

45 Lenzl983, 119ff. 46 Thieme 1990, XlVf. 47 VomBrockel998,318ff. 48 Vgl . seinen Aufsatz in diesem Band. 49 Mackensen 2004, 9.

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ralreferent fiir die Volks-, Berufs- und Betriebszahlung von 1925, war er laut vom Brocke 1929-39 Direktor der Abteilung Bevolkerungs-, Betriebs- und Kulturstatistik und hat in die-ser Stellung die groBen Zahlungen 1925, 1933 und 1939 vorbereitet und geleitet, die deut-sche Bevolkemngsstatistik reformiert und die Landwirtschaftsstatistik ausgebaut. Sein Hauptwerk „Volk ohne Jugend" von 1932 bildete „die Grundlage aller bevolkerungspoliti-schen Diskussionen in der konservativen Revolution" und wurde „fur die NS-Propaganda ausgewertet".^^ Neben diversen Hochschultatigkeiten^^ wurde er 1939 Nachfolger Friedrich Zahns als President des Bayerischen Statistischen Landesamtes. Diese Stellung behielt er bis Kriegsende. Burgdorfer war NSDAP-Mitglied, Vorsitzender des Deutschen Ausschusses fiir historische Demographie des Comite International des Sciences historiques, Mitglied des Sachverstandigenbeirates fiir Bevolkerungs- und Rassenpolitik beim Reichsminister des In-nem und 1943-45 Vorsitzender des Deutschen Ausschusses der Intemationalen Vereinigung fiir Bevolkerungswissenschaft. Als Referent des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP er-stellte er 1940 das Gutachten „Zur Frage der Umsiedlung der Juden" fiir das Madagaskar-Projekt des Reichssicherheitshauptamtes und wurde 1945 als Belasteter eingestuft und in den fruhzeitigen Ruhestand versetzt. Die ihm dabei entzogene Lehrbefugnis wurde 1949 er-neuert. 1956 wurde er Ehrenmitglied der Deutschen Akademie fur Bevolkerungswissen-schaft. 1961 bescheinigte ihm sein ehemaliger Mitarbeiter im Statistischen Reichsamt Kurt Horstmann, trotz Unterstiitzung der nationalsozialistischen Bevolkerungspolitik „wissen-schaftlich unabhangig und menschlich sauber geblieben" zu sein.^^ Er habe immerhin er-reicht, dass die Antworten auf die Frage nach der rassischen Abstammung bei der Volkszah-lung 1939, deren Leiter er wohlgemerkt war, in einem verschlossenen Umschlag abgegeben werden konnten. "^ Florence Vienne erganzt die Angaben um Burgdorfers Beteiligung der Statistik an den NS-Verbrechen um die Information, dass Burgdorfer bereits vier Jahre vor-her zum ersten Mai eine Statistik der „Gesamtzahl der Juden und Judenmischlinge" erstellt hatte, und stellt richtig fest, „[d]ie Judenverfolgung begann nicht erst mit ihrer Deportation, sondem bereits mit ihrer Definition und Identifizierung [...]."^^ Jutta Wietog, die allerdings Burgdorfers langjahrige Beschaftigung mit dem Geburtenruckgang zu einer Gegentheorie des Nationalsozialismus konstruiert, da er immer wieder vor dem Aussterben der Deutschen gewamt hatte, wahrend die Nazis von mangelnden geographischen Gestaltungsmoglichkei-ten ausgegangen seien,^^ konstatiert, dass er in „Rassenfragen" vom bevolkerungspoliti-schen statt vom biologischen Standpunkt ausgegangen sei.^^

^ Die folgenden Angaben sind — wenn nicht anders angegeben — den Kurzbiographien bei vom Brocke 1998, 413-443, entnommen. Ich halte es fiir unerlasslich, Teile der Herausgeberschaft im Rahmen dieses Aufsatzes biographisch zu skizzieren, obwohl inzwischen die durch die langjahrige Tabuisierung der nationalsozialisti-schen Vergangenheit vieler Wissenschaftler und Facher entstandene Wissensliicke teilweise aufgearbeitet wurde und die Ergebnisse allgemein bekannt sind, um die z.T. unvollstandigen und verstreuten Angaben zusammenzufiigen und damit an die politische Bedeutung der entsprechenden Personen im NS zu erinnem. Explizite Angaben zu Gross sind zu fmden bei Uhle 1999.

51 Vom Brocke 1998,415. 5 1933-39 war er nebenamtlicher Dozent an der Staatsakademie des offentlichen Gesundheitsdienstes und der

Deutschen Hochschule fiir Politik, 1934 an der Wirtschaftshochschule Berlin, 1937-39 Honorarprofessor fur Bevolkerungspolitik an der Universitat Berlin, ab 1939 der Universitat Miinchen, ebd.

53 Ebd., 416. 54 Ebd., 89. 55 Vienne 2004, 153f. 5 Sie stilisiert damit eine Differenz zum Widerspruch.

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Der Mediziner Dr. med. Arthur Giitt (1891-1949) war Griinder und Kreisftihrer der Deutschvolkischen Freiheitsbewegung und Mitbegriinder des NS-Frontkampferbundes. 1924 veroffentlichte er bereits „Rassepolitische Richtlinien ftir die nationalsozialistische Freiheitsbewegung", in denen er die Verhinderung von Ehen zwischen Juden und Deutschen „mit alien staatlichen Machtmitteln" fordert^^ und „die zentralen Punkte der spateren NS-Erb- und Rassenpflege formuliert, darunter die Reorganisation des offentlichen Gesund-heitswesens und die Anlage einer erbbiologischen Kartei".^^ Er arbeitete als Kreisarzt und Medizinalrat, trat 1932 der NSDAP bei und wurde 1933 durch Frick und Himmler ins Reichsinnenministerium berufen. Im selben Jahr wurde er Ministerialrat und SS-Unter-sturmftihrer, ein Jahr darauf Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung Volksgesundheit im Reichsinnenministerium und 1938 SS-Brigadeftihrer. Er war zeitweise Vorsitzender des SS-Amtes fur Bevolkerungspolitik und Erbgesundheitspflege beim Stab Himmlers, Prasi-dent der Staatsmedizinischen Akademie Berlin und arbeitete sowohl an der Schaffung staat-licher Gesundheitsamter zur Neuordnung des Gesundheitswesens 1934 mit^^ als auch an samtlichen rassehygienischen und bevolkerungspolitischen Gesetzen, wie z.B. dem „Gesetz zur Verhtitung erbkranken Nachwuchses" von 1934, dem „wohl wichtigste[n] rassenhygie-nische[n] Gesetzeswerk, das unter dem NS-Regime realisiert wurde",^^ dessen Architekt und Kommentator er neben Rudin war. Bei den Beratungen zur Vorbereitung des Ehege-sundheitsgesetzes und nach dem Erlass des „Blutschutzgesetzes" berichtete Giitt, dass die urspriingliche Planung gewesen sei, „Blutschutz" und „Erbschutz", also das Verbot von Ehen mit Angehorigen von ethnisch und eugenisch unerwiinschten Gruppen, in einem Ge-setz zusammenzufassen, dem Gesetz „gegen volksschadliche Ehe".^^ Giitt war Schliisselfi-gur bei der Entwicklung des „Gesetz iiber die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" von 1934, das laut Weingart et al. „[d]ie wahrscheinlich entscheidende Voraussetzung ftir die Institutionalisierung der Erb- und Rassenpflege im Nationalsozialismus"^^ war. Er ver-trat ein gegeniiber der herkommlichen Sozialhygiene neuartiges Konzept einer die Rassen-hygiene integrierenden Bevolkerungspolitik, die den Gegensatz von qualitativer und quanti-tativer Bevolkerungspolitik aufhob. Im Verlauf seiner Tatigkeiten im Reichsinnenministeri-um wurde er zum engen Vertrauten des Reichsinnenministers Wilhelm Frick und „avancier-te [...] zum einfluBreichsten Ministerialbeamten des NS-Staates".^^ Er bekam 1939 nach-traglich den Titel „Staatssekretar auBer Dienst" verliehen. Neben der Mitherausgabe des Ar-chivs war Giitt seit 1936 u.a. zusammen mit Walter Gross und Falk Ruttke Mitherausgeber des „Archiv fur Rassen- und Gesellschaftsbiologie", „der zentralen wissenschaftlichen ras-senhygienischen Zeitschrift".^^

57 Wietog 2001, 197. 58 Gutt zitiert nach Weingart et al. 1992, 500. 59 Ebd., 482. ^ „Gutt verfolgte im RMI konsequent seine Ideen einer Vereinheitlichung und Verstaatlichung des Gesund-

heitswesens und wurde iiber seine Mitwirkung an den wichtigsten Gesetzeswerken zum Motor der NS-Erb-und Rassenpflegepolitik", ebd.

61 Ebd., 464. 62 Ebd., 502. 63 Ebd., 480. 64 Ebd. , 482 . 65 Ebd., 400.

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Prof. Dr. med. habil. Dr. phil. Hans Harmsen^^ (1899-1989) war Sozialhygieniker und Bevolkerungspolitiker mit dem Schwerpunkt Hygiene.^'^ Gepragt durch seinen Lehrer Al-fred Grotjahn, von der Wandervogelbewegung und der Freideutschen Jugend^^ wurde er 1924 Dr. med. und 1927 Dr. phil. mit einem bevolkerungswissenschaftlichen Thema. 1926-38 war er leitender Arzt des Gesundheitswesens und Geschaftsfuhrer des Gesamtverbands der deutschen evangelischen Heil- und Pflegeanstalten der Inneren Mission und 1926-40 Geschaftsfahrer der Arbeitsgemeinschaft fur Volksgesundung, in der 1926 die 1916 gegriin-dete Deutsche Gesellschaft fiir Bevolkerungspolitik aufging. Seine Habilitationsschrift „Moglichkeiten und Grenzen der Eugenik" wurde 1933 als untragbar abgelehnt, habilitiert wurde er 1939. Im Krieg war er Hygieneberater deutscher Truppen an der Front und wurde 1942 Dozent, 1945 Leiter der Akademie fiir Staatsmedizin in Hamburg zur Ausbildung von Amtsarzten. 1946-69 war er Professor fiir Allgemeine Sozialhygiene an der Universitat Hamburg und Direktor des Hygienischen Instituts der Freien und Hansestadt Hamburg, 1948 Griindungsmitglied des Internationalen Verbandes fur Familienplanung und 1952 Griinder der deutschen Unterorganisation PRO FAMILIA, von der ihm 1985 wegen seiner Tatigkeiten im Nationalsozialismus die Ehrenmitgliedschaft entzogen wurde. 1952 war er Griindungsmitglied und President der Deutschen Gesellschaft fur Bevolkerungswissen-schaft, 1953 Griinder und President der Deutschen Akademie fur Bevolkerungswissenschaft an der Universitat Hamburg bis zur Auflosung 1975. Harmsen war Befiirworter des „Gesetz zur Verhiitung erbkranken Nachwuchses" von 1933. Auf die Bevolkerungspolitik der BRD (sowie international) nahm er noch entscheidenden Einfluss.^^ Wie auch Heinz Zeiss war Harmsen Mediziner und Hygieniker in Osteuropa. Beide batten dabei ein besonderes Inter-esse am Grenz- und Auslandsdeutschtum.^^ Es sind bei ihm soziologische Ansatze zu erken-nen. Es besteht seiner Ansicht nach - und hier stutzt er sich auf seinen Lehrer Alfred Grot-jahn - ein „Wechselverhaltnis von individuellem Gesundheitszustand und sozialen Bedin-gungen". Als krank gilt hierbei nicht nur, wer eine entsprechende medizinische Diagnose er-halt, sondem auch der, der aus einem sozialokonomischen Normen-Raster herausfallt. In diesem Sinne „krank" ist hier gleichbedeutend mit „sozial minderwertig".'^^ Harmsen wirft also zum einen die sozialpolitische Frage nach der fmanziellen Gewahrleistung der fur die Heilung notwendigen Pflege auf (die er im Falle sozial unerwiinschter Personen negativ be-antwortet)^^, zum anderen bietet ihm die Erweiterung des Begriffs „krank" auf „sozial schwach" die Moglichkeit der Diskriminierung gesellschaftlich Schwacher. Nicht nur an dieser Stelle begibt er sich auf das Gebiet der Soziologie (die sich hier mit der Sozialhygiene amalgamiert), sondem auch bei seinen Untersuchungen zum Geburtenriickgang, fiir den er „weniger biologische oder wirtschaftliche Griinde, sondem die wachsende »Zivilisation«" verantwortlich macht, die den Luxus- und Komfort-Bedarf steigere, ebenso wie die Rationa-lisiemng und Technisiemng der Arbeitsprozesse, die das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen gegeniiber seinem „Volk", dem er unterzuordnen sei und dessen Art es zu erhal-

^ Zur Person Harmsen siehe Schleiermacher 1998. 67 Vgl. vom Brocke 1998, 423 ; Schleiermacher 1998, 16. 6 Zur Typologie der Konservativen Revolution siehe Mohler 1999. 69 Schleiermacher 1998, 16. "^ Zu Harmsen siehe ebd., 18 und 57. 71 Ebd., 82. 72 Ebd.

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ten galte, schwachten.' ^ Die Ursachen des proklamierten Geburtenschwundes sind also fiir ihn gesellschaftlicher Natur.

Harmsen, der von seiner Studie liber die Bevolkerungsprobleme Frankreichs sagt, er habe sich auch mit „soziologischen Grundtatsachen" beschaftigt,^^ nennt als leitendes Motiv bei der Griindung des Archivs die Schaffung eines intemationalen Forums fur die aktuelle eugenische, bevolkerungspolitische und sexualethische Diskussion. Angesprochen sind „Volk", Kirche, Verwaltung und PolitikJ^ Laut Sabine Schleiermacher war das Archiv „0r-gan zur Verbreitung seiner Politik".' ^

Dr. med. Heinz Zeiss (1888-1949) ist den Fachbereichen Medizin, Hygiene, Tropen-medizin und Geschichte der Medizin zuzurechnen. Er studierte Medizin in Marburg, Heidel-berg, Freiburg, Berlin und Miinchen und war nach seiner Promotion in Freiburg von 1912-13 Assistent am Hygienischen Institut GieBen. Seinen Kriegsdienst verbrachte Zeiss unter anderem als Assistent bei Ernst Rodenwaldt in der Turkei. 1921 wurde er Mitglied, spater Leiter der Expedition des Deutschen Roten Kreuzes nach Russland. Er organisierte ein Zen-trallabor in Moskau und nahm Kontakt zu Wolgadeutschen auf. 1924 wurde er Privatdozent fur Tropenmedizin in Hamburg. Er war Direktor des Hygienischen Instituts Berlin, Mitglied des PreuBischen Landesgesundheitsrats, auBerordentliches Mitglied des wissenschaftlichen Senats fiir das Heeressanitatswesen und Regierungsrat auBer Dienst am Reichsgesundheits-amt. Zeiss unterstiitzte 1927-32 das Deutsch-Russische Rassenforschungsinstitut Moskau und entwickelte in Anlehnung an Haushofers Geopolitik die Geomedizin. Bis 1928 Anhan-ger der DNVP, war Zeiss seit 1931 Mitglied der NSDAP. Er wurde 1945 wegen des Ver-dachts auf Spionage gegen die Sowjetunion vom KGB verhaftet und 1948 zu 25 Jahren Haft verurteilt.

Zeiss beschaftigte sich nach eigenen Angaben mit „sozialen Fragen'\'^'^ untersuchte die Lebenssituation und -gewohnheiten des „Russland-Deutschtums" und nahm in sein Arbeits-programm „soziologische Gesichtspunkte" auf ^ Er erscheint als Mitverfasser der „Aufga-ben einer Volkskunde",^^ dem oben bereits erwahnten im Archiv veroffentlichten Fragenka-talog, der als Richtlinie fur eine die tradierte bevolkerungswissenschaftliche Forschung und Lehre ersetzen sollende neue Form der Bevolkerungswissenschaft, die sich starker dem „Volkskorper"^^ zuwenden soUte, konzipiert war. Wolfgang Eckart bezeichnet ihn aufgrund seiner Bemtihungen, deutsche Kultur in der Sowjetunion zu verbreiten, als „Kulturpolitiker" bzw. Vertreter deutscher „Kulturpropaganda".^^

Es wird deutlich, dass die Herausgeberschaft des Archivs ab 1933/1934 aus „high-ran-king nazis"^^ besteht, was die politische Gleichschaltung der Zeitschrift nahelegt. Dass es sich dabei um eine sogenannte Gleichschaltung von oben handelte, die einen Bruch in der

73 Ebd., 67 . •74 Harmsen 1927, 6 1 . •75 Schleiermacher 1998, 62. 76 Schleiermacher 2004, 141. 77 Zitiert nach Schleiermacher 2003 , 3 (Hervorh. im Original). Ich danke Sabine Schleiermacher fiir die freund-

liche Bereitstellung ihres Manuskriptes . 78 Ebd., 9. 79 Zeiss 1934. 80 Ebd. , 20 . 81 Eckart 1993, 115 und passim. 82 So Rudolf Heberle in einer privaten Notiz, zitiert nach WaBner 1995, 96.

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Entwicklungslinie der Zeitschrift darstellte iind einen neuen Kurs im Sinne der NS-Ideologie aufoktroyierte, wird zum jetzigen Stand meiner Untersuchung von mir bezweifelt. Vielmehr scheint es sich bei der Erweiterung des Herausgeberstabs durch wissenschaftliche Vertreter der Regierung um eine rein formelle Gleichschaltung zu handeln, die zwar Linientreue mit der nationalsozialistischen Machtpolitik in aller Deutlichkeit demonstrieren sollte, aber nur leichte Variationen bei Themenwahl und dabei vertretenen Inhalten mit sich brachte. Der Umfang wurde mit dem Jahr 1934 massiv erweitert, es ist allerdings - abgesehen von der Abnahme der ausgepragten protestantischen Farbung - eine Kontinuitat zu den Veroffentli-chungen von vor 1933 zu verzeichnen. Die im Archiv vertretenen Inhalte waren gleichzeitig (was nicht heiBen soil: zufallig) regimekonform, womit ich auf eine relative Autonomie ab-stellen will. Es war nicht notig, die Zeitschrift gewaltsam auf den Kurs der NS-Politik zu bringen, sie war es von sich aus - trotz ihres wissenschaftlichen Charakters,

Das Beiheft Nummer zwei des Archivs von 1936 ist eine Studie des Bevolkerungsso-ziologen Rudolf Heberle zum „Auslandvolkstum".^^ Heberle, der hier beispielhaft angeflihrt werden soil, schreibt darin, dass fur die Erforschung deutschen Volkstums im Ausland eine Vergleichbarkeit mit fremdem Volkstum in der gleichen Situation herrsche. Die Gefiihlslage der Deutschen zu ihren im Ausland lebenden Volksgenossen wurde sich zwar abheben von der anderen Volksgruppen gegeniiber, dies sei aber fur die von Heberle intendierte soziolo-gische Betrachtungsweise unerheblich. "^ Auch wenn er im Folgenden immer wieder auf ver-schiedene „Rassetypen" rekurriert, die anhand ihrer biologischen Abstammung zu bestim-men seien,^^ versteht er unter den „entnationalisierten Individuen" die, die nicht (mehr) an ihrem Volkstum festhielten.^^ Das Bekenntnis zum Volkstum ist hier maBgeblich fur die Zu-gehorigkeit, nicht eine biologische Verbundenheit. Die Moglichkeit, durch eine rein begriff-liche Abwendung von der eigenen Nation auch die Rassezugehorigkeit zu verlieren, wider-spricht allerdings den Vorstellungen der biologistischen Rassenlehre. Um weiterhin von Rassen sprechen zu konnen, fmdet Heberle unter Bezugnahme auf den durch den Soziolo-gen Ferdinand Tonnies gepragten Begriff der „Samtschaft" die Moglichkeit, beim Volkstum (Volk, Nation und Rasse verwendet er unisono) von einer sozialen Einheit auszugehen, denn „|j]ede Volksgruppe kann als eine s o z i a 1 e Einheit von groBerer oder geringerer Vollkom-menheit gedacht werden [...]".^^ „Unter Samtschaft ist zu verstehen eine Vielheit von Men-schen, die, obwohl nicht organisiert, doch durch einheitliches Wollen und daraus entsprin-gende allgemein anerkannte Verhaltensregeln (Brauch, Sitte) zu einer Einheit verbunden sind."^^ Den „soziologischen Tatbestand" halt er folglich bei der Volkstumsbestimmung flir entscheidender als den „biologischen Beitrag".^^ Entsprechend defmiert er „Entvolkung" als „seelischen Zustand" - nicht blutsmafiig.^^ Bei der sogenannten Entvolkung verliert also

Heberle 1936. Ebd., 6. Er selbst benennt die Schwierig- bis Unmoglichkeit einer biologisch-naturwissenschaftlichen rassischen Zuordnung, die in der Absurditat der Sache selbst liegt: Es besteht keine korperliche Eindeutigkeit und Her-kunft der Eltem, Sprache, Religion und nationales Bekenntnis sind keine biologischen Kategorien, vgl. ebd,, 8. Ebd. Ebd., 24 (Hervorh. im Original). Ebd., 9. Ebd., 9f Ebd., 24.

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Heberle zufolge eine Nation nicht ihr Erbgut, sondem ihre Bezugspartner. Diesen Tatbe-stand versucht er mit Hilfe der AUgemeinen Soziologie, deren Bedeutung er an diesem Punkt ausdrticklich in den Vordergrund stellt, zu untersuchen. Es sind die sozialen Bindun-gen innerhalb einer Gruppe, die ihn interessieren.

Heberle, der 1938 in die USA emigrieren muss, liefert hier eine soziologische Integrati-onstheorie und Kollektivforschung. In Unterscheidung zu biologistischen Ansatzen geht er davon aus, dass diejenigen Individuen den Bestand einer Nationalitat ausmachen, „die zu der Volksgruppe gehoren w o 11 e n ". ^ Volkstum ist bei Heberle also eine Kategorie, die mangels Operationalisierbarkeit mittels biologischer Indikatoren soziologisch ausgeleuchtet wird. Er versaumt es nicht, die Bedeutung der Biologie flir die Bevolkerungsforschung her-auszustellen, bemtiht sich auch um biologische Anleihen, diese bleiben aber formeller Art. Wie auch bei Elisabeth Pfeil co-existieren hier soziologische Analyse und Elemente der na-tionalsozialistischen Ideologic, in diesem Fall einer Rassentheorie.

IV. Resiimee: Ambivalenz von ideologischer Pragung und Wissenschaftlichkeit

An den Beispielen Elisabeth Pfeil und Archiv, in dem und durch das sich die Soziologie im Nationalsozialismus entwickeln konnte, lasst sich zeigen, dass sich die als biologisch ausge-gebenen Untersuchungen haufig als rein formelle Zugestandnisse an ein biologistisch ausge-richtetes Weltbild entpuppen, wahrend die Anforderungen an wissenschaftliche Analyse der „realen Verhaltnisse" den Riickgriff auf soziologische Deutungsschemata notwendig ma-chen. Das Scheitem der Sozialwissenschaftler und anderer am Gegenstand der von ihnen an-gestellten „volksbiologischen Untersuchungen" liegt dabei in der Natur der Sache: Volk ist eine Konstruktion, deren „Biologie" durch die erfahrbare gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zu bestimmen ist. Wohl aber kann der mystisch aufgeladene Begriff vom Volk sozio-logisiert und damit operationalisierbar gemacht werden. Statt von einer Biologisierung der Sozialwissenschaften im Dritten Reich muss man dann allerdings - vice versa - von einer Soziologisierung^^ der naturwissenschaftlich ausgerichteten Bevolkerungswissenschaften ausgehen. Man kann also nicht per se als pseudowissenschaftlich abtun, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geforscht und gelehrt wurde. Die Moglichkeit der Co-Existenz von ideologischer Kontamination und sachlicher, wissenschaftlicher Herangehensweise an be-volkerungswissenschaftliche Fragestellungen ist (nicht nur) in den Fallen Pfeil und Heberle nachweisbar.

Ebd., 10 (Hervorh. im Original). Zur Soziologisienxng sozialwissenschaftlicher Facher siehe die Thesen von Klingemann 1996, 217ff.

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Page 224: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft in ihren Beziehungen zu Raumforschung und Geopolitik im Dritten Reich

Carsten Klingemann

I. Politisch induzierte Kontroversen um Bevolkerungswissenschaft als „Volkskunde"

Meine Ausfiihrungen befassen sich nicht primar mit den Fragen nach der Rolle der Soziolo-gie im Archiv fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik (im folgenden: Ar-chiv) und nach der Begriindung einer Bevolkerungssoziologie vor 1945.^ Es sollen vielmehr die Rahmenbedingungen bestimmt werden, die bekannt sein miissen, wenn man zu beiden Fragen Stellung nehmen will. Aus meiner Sicht konnen die als bewiesen geltenden Erfolgs-geschichten von sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft und Raumforschung sowie Geopolitik als Wissenschaft im Dritten Reich nicht wie in der Literatur liblich weiter erzahlt werden. Dies gilt insbesondere auch fiir die Annahme ihrer unmittelbaren politischen Anwendbarkeit. Bevor eine restimierende Beurteilung des wissenschaftlichen und prakti-schen Stellenwerts der drei Disziplinen versucht werden soil, muss zuerst rekonstruiert wer-den, wie die zeitgenossischen Protagonisten deren Etablierung im tradierten Wissen-schaftssystem konzipierten und betrieben. Da es sich in alien drei Fallen ohne Zweifel um sogenannte angewandte Wissenschaften handelt, soil danach untersucht werden, inwieweit sie sich in relevanten Politikfeldem tatsachlich als Planungs- und Praxiswissenschaften be-haupten konnten. Alle Uberlegungen zielen aber darauf ab, zu einer praziseren Verortung der Rolle der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungswissenschaft zu gelangen.

Im Hinblick auf die Bevolkerungswissenschaft insgesamt halt Bemhard vom Brocke zwar fest, die

„klassische, in der Statistik, den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beheimatete Bevolke-rungswissenschaft jedoch wurde mehr und mehr an den Rand gedrangt und verier ihre besten Kopfe durch Flucht und Vertreibung [...]."^

Er zieht aber das Resiimee:

„Im ,Dritten Reich' erlebte die deutsche Bevolkerungswissenschaft ihren auBeren Hohepunkt an staatlicher Anerkennung, Forderung und Umsetzung vermeintlicher hQwbXksnmgswissenschaftli-cher Erkenntnisse in bevolkerungspolitischen Aktionen [...]."^

^ Vgl. Klingemann 2004a; dort versuche ich, die These einer angeblichen Initiativflinktion der Bevolkerungs-lehre Gunther Ipsens fiir die bundesdeutsche Bevolkerungssoziologie zu problematisieren.

2 V. Brocke 1998, 101. ^ Ebd., 111. Fast wortgleich findet sich diese Aussage auch auf Seite 99.

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222 Carsten Klingemann

Im folgenden soil gepriift werden, ob diese Einschatzung auch fur die sozialwissenschaftli-che Bevolkerungswissenschaft Geltung beanspruchen kann. Dabei wird neben ihrer Kon-kurrenzsituation zur Raumforschung und Geopolitik insbesondere ihr Verhaltnis zu Protago-nisten einer genuin nationalsozialistischen Volkswissenschaft, die sich des Namens der tra-dierten Volkskunde bemachtigen wollte, beriicksichtigt.

Als Keimzeichen der Erfolgsgeschichte der Raumforschung wurde jiingst von Michael Venhoff herausgestellt, dass sie in den „ProzeB einer ,Erhohung' der Wissenschaftlichkeit im NS-Staat" mit entsprechenden Konsequenzen fur das Nachkriegsdeutschland einzureihen ist. Besonders hervorgehoben wird von ihm, dass die Raumforschung als Disziplin neu kon-stituiert wurde. Im Vergleich etwa zur bereits etablierten Medizin, bei der es zu einer „'Auf-wertung' mittels NS-spezifischen Inhalten" gekommen sei,

„kam es aber auch zu Neuschopflmgen durch den Nationalsozialismus, die pragend fiir die Nach-kriegszeit warden. Bin Beispiel hierfiir ist die Institutionalisierung von Raumplanung, -ordnung und -forschung auf hochster staatlicher Ebene. Das Geflecht der ,raumarbeitenden' Institutionen im Nachkriegsdeutschland geht auf Vorlaufer zuruck, die in den dreiBiger Jahren entstanden wa-

Wie noch zu zeigen sein wird, gehort diese Darstellung der Geschichte der Reichsstelle fur Raumordnung (RfR) und der Reichsarbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung (RAG) zu den wenigen wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlungen iiber die friihe Raumforschung, in de-nen mit Blick auf geforderte Forschungsprojekte von einer Verkniipfung von Raum und Be-volkerungspolitik explizit die Rede ist. Venhoff nennt als Beleg die Untersuchungen aus der zweiten Halfte der dreiBiger Jahre tiber Notstandsgebiete und Ballungszentren.^ Auffallend ist, dass er aber nicht das klassische bevolkerungswissenschaftliche Hauptthema Landflucht nennt, das auch von vielen Soziologen im Auftrag von RfR und RAG bearbeitet wurde. Auf bevolkerungswissenschaftliche Arbeiten in diesem Kontext wird unten naher eingegangen.

Zwischen soziologischer Bevolkerungswissenschaft und Geopolitik bestehen auf der personellen Ebene enge Beziehungen. Wie Hans Harmsen in seinem Nachruf auf Elisabeth Pfeil berichtet, lemte sie Albrecht Haushofer und Kurt Vowinckel, zwei fuhrende Reprasen-tanten der Geopolitik, in seinem Haus kennen. Dabei soil ihr Interesse fur Bevolkerungswis-senschaft und Geopolitik geweckt worden sein.^ Bereits 1933 veroffentlichte sie die Aufsat-ze „Uber den Zusammenhang von Verstadterung und Geburtenrtickgang" und „Die deut-schen Juden als Beispiel fiir das Aussterben bei Verstadterung" in der von Albrecht Hausho-fer mit herausgegebenen Zeitschrift fiir Geopolitik, deren Schriftleiter Vowinckel war und in dessen Verlag sie auch erschien. Vowinckel war seinerseits bis 1943 - wenn auch nur nomi-nell - zusammen mit Pfeil Schriftleiter des ArchivsJ Es war auch die Zeitschrift fiir Geopo-litik, in der 1933 eine fiinfzehnseitige Systematik der Aufgabenbereiche von Bevolkerungs-wissenschaft und Raumkunde als Telle der Geopolitik unter der Uberschrift „Fragen zur Be-volkerungswissenschaft (Volkskunde)" aufgestellt wurde. Zur Entstehungsgeschichte dieses Fragenkatalogs wird mitgeteilt:

4 Venhoff 2000, 3. 5 Vgl. ebd., 4. 6 Vgl. Harmsen 1976, 190.

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Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkemngswissenschaft 223

„Anregung wie erster Entwurf gingen von unserem Mitarbeiter Dr. Karl Pintschovius und der Schriftleitung aus. Fiir die methodische Durcharbeitung stellten sich dankenswerterweise Direk-tor Dr. F. Burgdorfer und Professor H. ZeiB zur Verfiigung, wahrend die endgiiltige Ausgestal-tung im wesentlichen ein Verdienst von Fraulein E. Pfeil ist."

Gedacht v^aren die Fragen als

„erster Versuch, den tJberblick tiber das ganze Gebiet der Bevolkemngswissenschaft (Volkskun-de) zugeben [...]."^

Es wird hier schon deutlich, dass man der Bevolkemngswissenschaft ein Existenzrecht si-chem wollte. Nur tritt sie vorerst im Geleit der Geopolitik auf und v ird zeitgemaU in Klam-mem als Volkskunde ausgegeben. Im Jahrgangsband 1934 des Archivs wird der Fragenkata-log wortgleich wieder abgedruckt. Allerdings bekommt er einen zweiseitigen Vorspann von Heinz ZeiB mit dem Titel „Aufgaben einer Volkskunde". Aus seinem emphatischen Appell zur Mitarbeit an Wissenschaft und Administration, nach den „Grundlagen und Bausteinen einer deutschen Bevolkemngswissenschaft' zu suchen, wird deutlich, dass diese Fragen tat-sachlich als das Manifest der zu begrtindenden Bevolkemngswissenschaft alias Volkskunde verstanden werden sollten. Denn es heiBt: „Jawohl, der Bevolkerungswissenschaft, der Volkskunde, die es in dem Sinne, wie wir sie jetzt in unserem Archiv bewoiBt in den Vorder-gmnd stellen, nicht gab. Nicht als eine Volkskunde aus anthropologischen, ethnologischen und ethnographischen Mosaiken zusammengesetzt, sondem aus den groBen granitnen Qua-dem der Familie, auf denen sich der Volkskorper aufbaut."^ Zur Illustration der inhaltlichen Breite des Programms seien nur die Titel seiner vier Hauptkapitel zusammen mit den jewei-ligen Unterkapiteln genannt: I. Zum Aufbau des Volkskorpers. A. Die biologische Zelle des Volkskorpers: Die Familie; B. Die Gmndlagen der Familie: Das Individuum; C. Die sozia-len Gebilde im Volkskorper. II. Der Volkskorper im Raum. A. Der Siedlungsraum; B. Der Rassenraum; C. Der Sprachraum; D. Der Kulturraum; E. Der Nahmngsraum; F. Der Krank-heitsraum (bezw. Gesundheitsraum); G. Der Staatsraum. III. Der Volkskorper in der Zeit. A. Die Venvurzelung des Volkskorpers; B. Die Entwurzelung des Volkskorpers; C. Das biolo-gische Schicksal des Volkskorpers. IV. Der Volkskorper und Staat. A. Volkskorper als Tra-ger des Staates; B. Der Staat als Schtitzer des Volkskorpers im Staat; C. Der Staat als Schtit-zer des Volkskorpers auBerhalb der Grenzen; D. Wehrpolitik.

Wie nicht anders zu erwarten, werden damit alle Themen einer Bevolkemngswissen-schaft abgedeckt. Es sei angemerkt, dass auch die sozialwissenschaftlichen Problemstellun-

" Wahrend Vowinckel und Pfeil auf den Deckblattem des Archivs durchgangig als „Schriftleitung" firmieren, wird Pfeils alleinige Zustandigkeit durch die am Ende der Einzelhefte vorfindlichen Hinweise „Fur die Schriftleitung verantwortlich: Elisabeth Pfeil" oder „Hauptschriftleiter: Elisabeth Pfeil" ersichtlich. Friedrich Burgdorfer spricht gegeniiber dem Mitherausgeber des Archivs Falk Ruttke auch nur von Pfeil als „Schriftlei-tung"; Burgdorfer an Ruttke, 5.7.1941, R 61/124, Bl. 30, Bundesarchiv Berlin (im folgenden: BAB). Im Impressum des Heftes 7 des 17. Jahrgangs (1940) der Zeitschrift fur Geopolitik fmdet man auch den Hinweis: Hauptmann Vowinckel, z.Zt. im Felde. Seine RoUe als Schriftleiter des Archivs muss noch naher geklart wer-den. Es ist aber bezeichnend, dass der offizielle Briefkopf fiir den Schriftwechsel des Archivs schon 1936 unter Schrifleitung nur Pfeil nennt, wie ein Schreiben der beiden politisch wichtigsten Mitherausgeber Falk Ruttke und Walter Gross an Rudolf Heberle ausweist; vgl. Ruttke & Gross an Heberle, 17.12.1936, Nachlass Heberle, Cb 103: Nacherwerbung, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel.

^ Fragen zur Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde), in: ZfG 10 (1933), 619. 9 ZeiB 1934, 20; Kursivsetzungen im Original gesperrt.

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224 Carsten Klingemaim

gen berucksichtigt wurden. AUerdings iibte die weltanschauliche Fixierung auf das Volk ei-nen so starken Druck aus, dass man der Sprachregelung, die richtige Bevolkerungswissen-schaft im Nationalsozialismus sei Volkskunde, Reverenz erweisen musste. Es war namlich kein anderer als Dr. Falk Ruttke, Mitherausgeber des Archivs, Oberregierungsrat im Reich-sinnenministerium, Geschaftsfuhrender Direktor des Reichsausschusses fur Volksgesund-heitsdienst und in dieser Funktion Mitautor und Cokommentator des Gesetzes zur Verhii-tung erbkranken Nachwuchses^^ (spater auch noch Professor ftir Rasse und Recht an der Universitat Jena), der politische Korrektheit einforderte. Mit dem Jahrgangsband 1936 des Archivs wird die Debatte eroffiiet durch Ruttke, Friedrich Burgdorfer und Adolf Helbok, de-ren Beitrage zwar eigene Titel haben, aber unter der gemeinsamen und angesichts des Publi-kationsortes doch verbltiffenden Uberschrift stehen: „'Volkskunde' statt ,Bevolkerungswis-senschaft'", ,Volkspflege' statt ,Bev6lkerungspolitik*!" Ruttkes Aufsatz lautet „Volkskunde als Ganzheitsschau, Volkspflege eine Notwendigkeit zur Volkwerdung". Dort dekretiert er, was unter Volk zu verstehen ist:

„Volk ist fiir uns die sich selbst bewuBte Zusammenfassung blutsverbundener Familien, von de-nen die einzelnen Volksgenossen zwar Rassengemische von einander nahestehenden Rassen dar-stellen, wahrend die Gesamtheit, das Volk, sich durch eine alle einzelnen Volksgenossen mitein-ander verbindende Rasse eine eigene Gesittung und insbesondere eine eigene Sprache geschaffen hat."

Hier zeigt sich bereits die Absurditat, eine Bevolkerungswissenschaft auf rassenkundlicher Basis als neue Volkskunde begrunden zu wollen. Auf derselben Seite hatte Ruttke namlich selbst bereits verkiindet: „Wir konnen nur von einem deutschen Volk, aber nicht von einer deutschen Rasse sprechen." Das hindert ihn aber nicht daran, die neue Volkskunde zu defi-nieren: „Volkskunde ist die Lehre von dem Werden und Sein eines Volkes und zwar wieder-um unter Benicksichtigung der Forschungsergebnisse der Erb- und Rassenkunde." Und „Volkspflege'\ also die ehemalige Bevolkerungspolitik, „ist die Anwendung der Volkskunde auf das deutsche Volk selbst. [...] Absichtlich mochte ich den Begriff Volkspflege eingefilhrt wissen, weil er mir unter Beriicksichtigung alles dessen, was ich bisher ausgefiihrt habe, der am besten geeignete Begriff zu sein scheint, um den Ganzheitsgedanken, den Fiihrergedan-ken, den Gemeinschaftsgedanken und den Rassengedanken nordischer Pragung zu umfas-sen." Es ist nur konsequent, dass Ruttke auch gleich eine Bereinigung der Wissenschafts-landschaft fordert, denn Volkskunde war bekanntlich ein wohl etabliertes Fach. Aber auch fiir dieses Problem hat Ruttke eine passende Losung: „Um iiberall eine einheitliche Auffas-sung herbeizufuhren, ware es notwendig, das, was bisher als ,Volkskunde' bezeichnet wor-den ist, ,Volkstumskunde' zu nennen."^^

Wie wir wissen, ist es dazu nicht gekommen, nur 1936 bestand offensichtlich Kla-rungsbedarf. So hat die Schriftleitung des Archivs neben Ruttke im selben Band Adolf Bach und Adolf Helbok als Vertreter der etablierten Volkskunde sowie Friedrich Burgdorfer als Vertreter der Bevolkerungswissenschaft und Kurt Vowinckel als Vertreter der Geopolitik zu Wort kommen lassen. In der Vorbemerkung der Schriftleitung zur zweiten Runde mit Bach und Vowinckel wird die Konfliktlage geschildert:

10 Vgl. Bock 1986, 84. 11 Ruttke 1936, 202; Kursivsetzungen im Original gesperrt.

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Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft 225

„Wir fiihren die Aussprache iiber die Begriffe ,Bevolkerungswissenschaft* und ,Volkskunde' diesmal fort, indem wir Prof. A. Bach als Vertreter der Volkskunde im herkommlichen Sinne (Volkstumskunde) das Wort erteilen, der den Ausdruck ,Volkskunde' auch weiterhin seinem Fachgebiet vorbehalten mochte, wahrend die umfassende ,Wissenschaft vom Volke*, von der die Volkskunde (als Volkstumskunde) nur ein Teilgebiet ist, einen neuen, unbelasteten Namen fur sich finden soil. Weiter nimmt K. Vowinckel als Vertreter der Geopolitik Stellung; er entwickelt aus den geopolitischen Bestimmungen von Raum, Volk und Staat den Begriff einer Volkskunde, die im wesentlichen von einer biologisch ausgerichteten Bevolkerungswissenschaft zusammen mit einer Kulturkunde gebildet wird. Hier wird zu der ubergeordneten Lebenslehre von den drei Gebieten der Raumkunde, Volkskunde und Staatskunde her vorgestofien."

Es wird also an der insbesondere von Ruttke vertretenen Forderung nach einer auch die Be-volkerungswissenschaft umfassenden neuen Volkskunde als Einheitswissenschaft festgehal-ten.

Nur wagt es die Schriftleitung, ich vermute, das ist Elisabeth Pfeil, in derselben Vorbe-merkung den SpieB umzudrehen. Auch wenn das folgende Zitat den Anschein einer rein wissenschaftstheoretischen Anregung erweckt, stellt es eine Kampfansage dar.

„Wir mochten den Vorschlag machen, in der Fortfiihrung der Aussprache einmal den umgekehr-ten Weg als alle bisherigen Beitrage einzuschlagen und den Ausgangspunkt von der umfassenden ,Wissenschaft vom Volke' zu nehmen und von ihr aus das Wissenschaftsgebiet in Fachgebiete aufzugliedem. Vielleicht wird dann, in Zusammenwirken mit den aus den Einzelwissenschaften heraus entwickelten Wissenschaftsbegriffen, eine einheitliche Aufteilung und Benennung sich am ehesten ergeben."^^

Meiner Meinung nach besagt dieser Vorschlag nichts anderes, als dass der Trend zur weite-ren Differenzierung des Wissenschaftssystems als unaufhaltsam betrachtet wird. Ich gehe sogar soweit anzunehmen, dass die Rede von der umfassenden Wissenschaft vom Volke, die ja eine Fiktion ist, auf subtile Art ironisch eingefarbt ist.

Erst einmal miissen aber die Vertreter der Einzeldisziplinen ihr Revier verteidigen. In der ersten Runde wird ein Wiederabdruck aus der Einleitung zu Burgdorfers Beitrag iiber „Volkskunde im Lichte der Bevolkerungsstatistik und Bevolkerungspolitik" aus dem Sam-melband „Grundlagen der Erb- und Rassenpflege" aus dem Jahr 1936 ins Feld gefiihrt. Zu Beginn scheint sich Burgdorfer der Sprachregelung Ruttkes unterwerfen zu wollen, wenn er sagt:

„Die nachstehende Abhandlung will somit einen statistischen Beitrag zur deutschen Volkskunde bieten; ich mochte sie eine statistische Volkskunde nennen [...]. Das Gegenstuck zu dieser Volks-kunde, gewissermafien der aufs Praktische, aufs Politische gerichtete Teil dieser statistischen Volkskunde ist die Volkspflege das, was wir gewohnlich - etwas abstrakt und farblos - Bevolke-rungspolitik zu nennen pflegen."

Burgdorfer konzediert sogar, Volk bestehe „nicht bloB aus der Summe der gegenwartig le-benden Volksgenossen, sondem dazu gehort alles, was von gleichem Blut war, ist und sein

Bevolkerungswissenschaft und Volkskunde II. Vorbemerkung der Schriftleitung, in: Archiv 1936, 361; die Nachnamen sind im Original gesperrt.

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226 Carsten Klingemann

wird." Aber dann siegt doch die Rationalitat des Statistikers. „Fur die praktische Betatigung der Statistik ist dieser Volksbegriff freilich - mindestens einstweilen - nur sehr bedingt an-wendbar."^^ Burgdorfer begriindet dies damit, dass die Bevolkerungsstatistik nur den inner-halb des Staatsgebiets lebenden Teil des Volkes erfassen konne, aber der Staat ja auch ein groBes Interesse daran habe, diejenigen zu registrieren, die innerhalb der Staatsgrenzen le-ben, aber nicht zu den eigentlichen Volksgenossen zahlten. Auch brauche man nach wie vor Individualstatistik im Hinblick auf den Bevolkerungsstand (Volkszahlung) und auf die Be-volkerungsbewegung (Geburten und Sterbefalle). Wtinschenswert ware dariiber hinaus eine unmittelbare Erfassung der Familien und ihrer Struktur. Mit dieser Forderung kam er sicher-lich den Praktikem der nationalsozialistischen Bevolkerungspolitik entgegen, die auch die nicht auBerUch erkennbaren Trager unerwiinschter Merkmale aus dem Erbgang „ausmer-zen" wollten. Er erteilte aber den Vorstellungen Ruttkes eine klare Absage.

In der ersten Runde ist, wie bereits erwahnt, Adolf Helbok dabei. In seinem Aufsatz „Wo steht die Volkskunde und wo sollte sie stehen?" geht er aus von der „Zerstorung der al-ten Volks- und Staatsform durch Einrichtungen des westlerischen LiberaHsmus", die nicht wiederherzustellen sei, ebensowenig wie die Volkskunde im Sinne Riehls. Auf der Basis der iiberlieferten Volkskunde miisse eine neue „als nationale Wissenschaft der Zukunft" ge-schaffen werden, zu der er natiirlich als einen Baustein auch die Rassengeschichte zahlt. Nur: „Man spricht heute viel von Volkskunde auf rassenkundlicher Grundlage - aber der methodische Weg ist uber das Schlagwort hinaus nicht gefunden."^^ Damit lehnt auch Hel-bok die Vorstellungen Ruttkes ab.

Die zweite Runde eroffnet Adolf Bach mit einem Pladoyer fiir die „(verhaltnismafiige) Selbstandigkeit des Aufgabenkreises und Betriebes der herkommlichen ,Deutschen Volks-kunde'". Wenngleich er flir die Schaffiing einer umfassenden „Wissenschaft vom Deutschen Volke" eintritt, so doch nur als „Gemeinschaftsarbeit von Fachleuten". Ein „Enteignungs-verfahren gegen die herkommliche ,Volkskunde'"^^, wie es Ruttke vorschwebte, lehnt er entschieden ab.

Kurt Vowinckel mochte die Klarung des Verhaltnisses der Disziplinen zueinander vor-antreiben, indem er von der Geopolitik her deren wesentliche Begriffe in Beziehung setzen will zu den Grundbegriffen der Bevolkerungswissenschaft. „Es handelt sich hierbei im we-sentlichen um die Begriffe Raum, Volk und Staat''^^ Den Begriffen entsprechen die Wissen-schaften der Raumkunde, Volkskunde und Staatenkunde. In der Raumkunde arbeiten Geolo-gic, Bodenkunde, Erdkunde (Geographic) und Biologic (Zoologie, Botanik) zusammen, in der Volkskunde als „Wissenschaft vom Volkskorper" sind es Biologic, Anthropologic, Ras-senkunde, Bevolkerungsstatistik, Volkstumskunde („Volkskunde" im bisherigen engeren Sinne), Kulturkunde und Soziologie (Gesellschaftslehre). Zur Staatenkunde tragen Biologic, politische Erdkunde, Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaften, Wirtschaftswissen-schaft und Statistik bei. Mit der Rede von der Volkskunde im bisherigen Sinn, die eigentlich Volkstumskunde sei, halt sich Vowinckel einerseits an die von Ruttke vertretene Sprachre-gelung. Andererseits kommt in dessen volkischer Konzeption der Staat tiberhaupt nicht

3 Burgdorfer 1936, 204, 205. 14 Helbok 1936,209. 15 Bach 1936, 362f. 1 Vowinckel 1936a, 363; Kursivsetzungen im Original gesperrt.

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Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft 227

mehr vor, auf den Vowinckel als Geopolitiker aber grundsatzlich nicht verzichten kann. Das Arbeitsziel der Geopolitik sei namlich „auf die staatlichen Lebensvorgange in ihrer Bindung an Raum und Volk gerichtet." Und nicht nur das. Sie stelle auch eine „der moglichen und notwendigen Querverbindungen" zwischen Raum-, Volks- und Staatenkunde her. „Ihr Schwerpunkt Hegt - im Gegensatz zu der herkommUchen Meinung, die sie der Geographie (von der sie herkommt) zuordnet - im Gebiet der Staatenkunde."^^ Vowinckel nutzt also die Gelegenheit, um im Archiv eine Lanze ftir die GeopoUtik zu brechen. Von Bevolkerungs-wissenschaft ist nur noch einmal wiederholend die Rede als „Ansatz zu einer wirklichen jVolkskunde'", ohne dass es zu einer inhaltlichen Bestimmung kame. Man gewinnt den Ein-druck, dass die Protagonisten von Bevolkerungswissenschaft und Geopolitik bzw. Raum-kunde sich die Balle gegenseitig zuwerfen, um so auch ihre Einzelinteressen besser wahren zu konnen. Ahnlich wie Vowinckel greifen auch Bach und Helbok in die Debatte um die Be-griindung einer umfassenden Volkskunde ein und schlieBen sich scheinbar Ruttkes Vorgabe an. Sie tun dies aber nur, um die Notwendigkeit des Erhalts ihrer jeweiligen Disziplin zu de-monstrieren.

Erich Murr beteiligt sich schlieBlich 1937, um sein Programm einer Sippenkunde als „Wissenschaft von der Blutsgemeinschaft" zu propagieren.

„Die Sippenkunde erscheint als geschlossene Fach- oder Sonderwissenschaft noch moglich, denn Familie und Sippe sind Erscheinungen, die sich gerade noch hinreichend in ihrer Ganzheit erfas-sen und erforschen lassen. Eben darum kann eine umfassende Sippenkunde, wie sie hier vorge-fahrt wurde, klarend, ja richtungsweisend fur den Aufbau und Betrieb einer solchen Volkskunde der Zukunft als Gesamtschau sein; um so mehr, als ja Familie, Sippe, Stamm und Volk wesens-verwandt sind." ^

Diese Vorstellungen von einer Blutsgemeinschaft waren sicherlich nicht geeignet, einer mo-demen Bevolkerungswissenschaft den Weg zu bahnen. Sie fanden keinen Anschluss, auch nicht bei dem soziologisch-genealogisch arbeitenden Hermann Mitgau, dem spateren Mitar-beiter Elisabeth Pfeils in der Miinchener „Forschungsgemeinschaft fur Bevolkerungswissen-schaft und Bevolkerungspolitik", dem Vorlaufer des geplanten Reichsinstituts gleichen Na-mens.

Dagegen trat Erich Keyser bereits zwei Jahre zuvor im Archiv mit seinem Aufsatz „Be-volkerungswissenschaft und Geschichtsforschung" offensiv fur eine alternative Vorgehens-weise ein, da der Begriff Bevolkerung gegenuber dem Begriff Volk nicht nur natiirlich ge-wordene Lebenseinheiten darstellen konne.

„Die gegenwartig notwendige, neue wissenschaftliche Fragestellung wiirde aber zu ihrem Scha-den eingeengt werden, wenn die Bevolkerungswissenschaft nur als Volkswissenschaft und mithin auch die Bevolkerungskunde nur als Volkskunde, die Bevolkerungsgeschichte nur als Volksge-schichte und die Bevolkerungslehre nur als Volkslehre verstanden wiirde."^^

Bevolkerungswissenschaft miisse auf den drei Grundpfeilem Bevolkerungskunde, Bevolke-rungsgeschichte und Bevolkerungslehre gebaut werden und ihr sei die Bevolkerungspolitik

17 Ebd., 366. 18 Murr 1937, 90. 1 Keyser 1935, 147; Kursivsetzungen im Original gesperrt.

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als „Nutzanwendung" zuzugesellen. Der Bevolkerungsgeschichte kommt bei Keyser - wie nicht anders zu erwarten - eine besondere Rolle zu. Die Fragen

„nach dem Bevolkenmgsraum, den Bevolkemngsgruppen und der Bevolkemngsart sind von der Geschichtswissenschaft zu beantworten. Hire Beantwortung ist nicht, wie es bisher iiblich war, anderen ,Fachem' wie der Statistik, der Geographie und der Anthropologie zu iiberlassen, son-dem dem Geschichtsforscher anheimgestellt."^^

Dazu meldet sich die Schriftleitung in einer FuBnote mit deutlichem Protest im Siiine der be-kannten Sprachregelung:

„Nach unsrer Begriffsbestimmung sind diese Fragen zunachst von der Bevolkerungswissenschaft (= Volkskunde = Volkskorperkunde) und der Geopolitik (= Staatenkunde) her zu beantworten, mit Hilfe der Geschichtswissenschaft. Andrerseits kann der Historiker die Ergebnisse der beiden Wissenschaften fur ein Gesamtbild der Entwicklung zusammenfassen. Bald ist die eine Wissen-schaft die dienende, bald die andere."

Der Kampf um die Disziplinen ist entbrannt, aber dem Prozess der Differenzierung des Wis-senschaftssystems unweigerlich unterworfen. Als Keyser fiinf Jahre spater in seinen „Be-merkungen" zu von Eickstedts „Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit" be-tont, die Bevolkerungswissenschaft v^iderspreche nachdrucklich der „Gleichsetzung von Volk und Gemeinschaft der Staatsangehorigen", verzichtet die Schriftleitung auf eine sprachregelnde FuBnote, obwohl Keyser zusatzlich verkundet: „Der Ausdruck Volkskorper ist in jedem Fall abzulehnen [...]."^^ Inzwischen hatte das Archiv selbst aber in seinem Titel kommentarlos den Zusatz Volkskunde hinter dem Begriff Bevolkerungsv^issenschaft gestri-chen.

Bei dieser Auseinandersetzung handelt es sich nicht nur um innerwissenschaftliche Ri-valitaten ohne AuBenwirkung. Ein Blick in Meyers Lexikon macht dies deutlich. Die „Par-teiamtliche Priifungskomission zum Schutze des NS-Schriftums" (PKK) bescheinigte sich in einem Arbeitsbericht aus dem Jahr 1942: „Umfangreiche und gmndsatzliche Ausrichtung nachstehender Lexika in politisch-w^eltanschaulicher Hinsicht: Meyers Lexikon, GroBe[r] Brockhaus, Allbuch-Brockhaus, Padagigisches Worterbuch (Kroner Verlag), Philosophi-sches Worterbuch. Besonders umfangreiche Mitarbeit am Taschenbrockhaus zum Zeitge-schehen, der in seiner neuesten Auflage in einwandfreier nationalsozialistischer Weise Uberblick iiber die Probleme des Zeitgeschehens gibt (lexikonartig)".^^ An der Erstellung der achten Auflage von Meyers Lexikon war die PPK „amtlich beteiligt".^^ Mitte 1944 au-Berte der Inhaber des Verlages Bibliographische Institut gegeniiber dem Reichsministerium fiir Volksaufklarung und Propaganda den Wunsch, „die neue Auflage des Lexikons in eige-

2 Ebd., 148; Kursivsetzung im Original gesperrt. 21 Keyser 1940, 118. 22 „Grundsatzliches und kurzer Arbeitsbericht von 1939 Kriegsbeginn bis April 1942"; BAB, R 4311/585, B1.51. 23 So Karlheinz Hederich am 13.10.1936 als stellvertretender Leiter der PPK an seinen Chef Philipp Bouhler,

der auch Leiter der Kanzlei des Fiihrers war; BAB, NS 11/8 (unpaginiert), S. 8. Der ehemalige NS-Studenten-funktionar Gerhard Kriiger, promoviert von Hans Freyer im Fach Soziologie, hatte ab 1935 fur einige Zeit als Mitarbeiter der PPK die Funktion des Cheflektors in der Redaktion von Meyers Lexikon inne; vgl. Klinge-mann 1996, 173f. Es ist sogar in den Band 6 von Meyers Lexikon (1939) ein Artikel iiber ihn aufgenommen-worden.

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Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft 229

ner Regie herauszugeben, und von der Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Partei-amtlichen Prufungskomission entbunden zu werden."^"^ Wir haben es bei den einschlagigen Artikeln also mit politisch korrekten Kodifiziereungen zu tun, die liber eine exklusive Li-zenz der NSDAP verfugten. Im ersten Band aus dem Jahr 1936 heiBt es zu Beginn des Arti-kels Bevolkerung ganz im Gegensatz zu der soeben geschilderten Position von Erich Key-ser: „[...] die B.lehre deckt sich weitgehend mit der Lehre vom Volkskorper [...]-"^^ Bezeich-nend ist, dass es keinen Verweis auf einen eigenstandigen Artikel Volkskorper gibt. An-scheinend war dieser Terminus noch nicht lexikontauglich. Im Artikel Bevolkerung wird an-dererseits noch in eigentlich verfemter Manier davon ausgegangen, dass die „Aufgliederung des Volkskorpers" durch das Personenregister gewonnen werde. „Der Einzelne wird nach seiner Zugehorigkeit zu den verschiedenen Gruppen (Beruf, Konfession usw.) befragt; dar-aus wird der Aufbau des Volkskorpers zusammengestellt."^^ Dieses Vorgehen widerspricht der Forderung nach einer rassenkundlichen Fundierung der Volkskorperforschung. Hinge-gen wird im Unterabschnitt Bevolkerungspolitik als deren Ziel die „Erstarkung des Volks-korpers" genannt. Dazu gehort auch die Beeinflussung seiner Rassenzusammensetzung, wo-bei als positives Beispiel die Quotierung der Einwanderer in die USA angeblich nach Ras-senzugehorigkeit unter Bevorzugung der nordischen Rasse angefixhrt wird. Der Weg der deutschen Bevolkerungspolitik sei die „Mehrung der erbgesunden Vollfamilien". Um ihr Ziel erreichen zu konnen, „benutzt sie die Ergebnisse der B.lehre (B.statistik und -theorie), der Raumkunde (Geopolitik), der Familienkunde, der Rassenkunde und der Erbkunde." Hiermit wird deutlich, dass die Geopolitiker ihre Niitzlichkeit nach auBen hin erfolgreich dargestellt hatten. Aber auch die von Ruttke vertretene Sprachregelung kommt zu ihrem Recht, denn es heiBt:

„Statt B.statistik, -theorie und -politik wiirde man heute sinngemafier Volkskunde u. Volkspflege sagen, denn dem Begriff ,Bevolkemng* haftet die atomist. Betrachtungsweise anderer Zeiten an."

Jedoch behauptet sich auch hier AUtagsrealismus und Pragmatismus: „Doch benutzen wir, solange sich die neuen Begriffe nicht eingebiirgert haben, die alten Ausdriicke."^^

Sechs Jahre spater, im neunten Band aus dem Jahr 1942, ist dann im Artikel „Rasse", Unterpunkt „B. Rassenpolitik" explizit von der Bevolkerungswissenschaft die Rede. „Die Bevolkerungswissenschaft ( im Ausland vielfach Demographic gen.) erforscht die zahlen-maBigen und qualitativen Veranderungen einer Bev.; sie wird es in Zukunft stets unter Be-rucksichtigung der rassischen Grundlagen tun miissen." Nur steht die Bevolkerungwissen-schaft trotz dieser Verpflichtung in barter Konkurrenz, denn es heiBt direkt anschlieBend weiter: „Volksforschung erforscht die Gesamtheit der volkischen Krafte u. ihrer AuBerun-gen (-> Bevolkerung, -> Volkskunde, -> Brauchtum). Die R.nhygiene (-> Hygiene) verbin-det die Erkenntnisse der R.nwissenschaft der R.nlehre und der Vererbungswissenschaft mit der Bevolkerungswissenschaft, untersucht die zahlenmaBige Zus. eines Volkes nach den

„Bericht uber eine Sitzung im Reichsministerium fur Volksaufklarung und Propaganda, Abteilung Schrifttum am 5. Juli 1944 iiber: Meyers Lexikon"; BAB, NS 8/249, B1.59. Meyers Lexikon , Bd. 1, Leipzig 1936, Sp. 1287. Ebd., Sp. 1296. Ebd., Sp. 1299.

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erbgebundenen Fahigkeiten seiner einzelnen Schichten und deren rassischer Gliederung so-wie nach ihrer Erbtiichtigkeit und erarbeitet die wiss. Grundlagen ftir die praktischen Aufga-ben der R.npolitik." Neben der rassentheoretischen Integration der Bevolkerungswissen-schaft wird dann auch der Begriff Bevolkerungspolitik rassenpolitisch rehabilitiert: „Die Ubertragung dieser Erkenntnisse und Feststellungen in politisch-volkische Aufgaben tiber-nimmt die angewandte R.npolitik, die sog.pmkt. Bevolkerungspolitik. Ihr Ziel ist, alle damit verbundenen praktischen, bes. gesetzgeberischen MaBnahmen durchzufuhren. Diese Mafi-nahmen sind im Gegensatz anderer Lande in Deutschland rassebezogen."^^ Ihre generellen Aufgaben bestanden in der „Sicherung und Steigerung der Zahl" der Bevolkerung, „Forde-rung der Erbtiichtigen, sowie Abwehr der Erbuntiichtigen" und „F6rderung der rassisch wertvollen Sippen u. Abwehr der rassisch storenden oder fremden Erbtrager".^^ Dazu geho-ren MaBnahmen, die von eugenisch oder rassenhygienisch orientierten Bevolkerungswis-senschaftlem schon vor 1933 (und nicht nur in Deutschland) gefordert worden waren.

Bei einer bevolkerungswissenschaftlich zu identifizierenden Bevolkerungsgruppe tat sich dabei auch ein Betatigungsfeld fur soziologisch geschulte Experten auf: „Gegen die Asozialen, die sog. 'Gemeinschaftsunfahigen', denen bei nicht selten einseitig entwickelter, oft raffinierter, Intelligenz der Sinn fiir Ordnung, Arbeit und Zuverlassigkeit fehlt, sind ihrer Gefahr wegen umfassende MaBnahmen soziologischer u. erbpflegerischer Art in Vorberei-tung."^^ Abgesehen davon, dass MaBnahmen wohl nich soziologischer, sondem sozialer Art im Sinne der Steigerung von administrativer Kontrolle durch Wissenschaft gemeint sein mtissen, hatten hier durchaus Fachwissenschaftler als Diagnostiker abweichenden Verhal-tens Beschaftigung fmden konnen. Von den nach 1933 in Deutschland tatigen Soziologen hat auf diesem Gebiet der mit modemen empirischen Mitteln arbeitende Andreas Walther mit seinen Flachensanierungen vorbereitenden sozialhygienischen Untersuchungen Ham-burger Slumviertel („gemeinschadigende Regionen") unruhmliche Bekanntheit erlangt^^ im engeren Sinne als Bevolkerungssoziologen aktive Fachvertreter sind mir in diesem Kontext nicht bekannt.

Zur Beschreibung der quasi parteiamtlichen Einschatzung des Archivs ist die Reihen-folge der in dem vierzehn Spalten umfassenden Artikel aufgezahlten „Trager der staatlichen Bevolkerungspolitik" aussagekraftig. Sie beginnt mit dem Reichsinnenministerium, dem folgen der ReichsausschuB fiir Volksgesundheitsdienst, in beiden Institutionen ist Ruttke an fiihrender Stelle tatig, und das Rassenpolitische Amt der NSDAP. Dann werden deren Zeit-schriften „Neues Volk" und „Volk und Rasse" erwahnt, die der „Aufklarung und Erzie-hung" dienen. Weiter heiBt es: „Wissenschaftliches Organ des Reichsausschusses und der Deutschen Gesellschaft fur Rassenhygiene ist das ,Archiv far Rassen- und Gesellschaftsbio-logie'." Das Archiv fmdet mit folgenden Worten Erwahnung: „Ebenfalls im Dienste der wis-senschaftl. B.lehre steht das ,Archiv fiir Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Be-

Meyers Lexikon, Bd. 9, Leipzig 1942, Sp. 56 (Kursivsetzung im Orginal gesperrt). Im dortigen Unterpunkt „Aufgaben der Rassenpolitik" wird nochmals auf entsprechende Aufgaben der Bevolkerungswissenschaft un Bevolkerungspolitik eingegangen. Von Meyers Lexikon ist kriegsbedingt Band 9 als letzter erschienen, der mit dem Artikel zum Eigennamen „Soxhlet" endet, so dass vorgesehen Artikel wie etwa Soziologie oder Volksforschung nicht mehr erschienen sind. Ebd., Sp. 59f (Kursivsetzung im Orginal gesperrt). Ebd., Sp. 61 Roth 1987.

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volkerungspolitik' [...]."^^ In dem 1941 erscheinenden Neuen Brockhaus hingegen findet sich ein einspaltiger Artikel Bevolkerung, der als Zeitschrift nur das Archiv ohne den Zusatz Volkskunde auffuhrt. ^ In den Literaturangaben zum bereits zitierten Artikel Rasse in Mey-ers Lexikon wird ebenso verfahren. Obwohl beide Lexika keinen eigenen Artikel Bevol-kemgswissenschaft enthalten, hatt sich also die Bezeichnung einer solchen Disziplin ohne terminilogische Anleihen bei der Volkskunde durchgesetzt. "*

II. Bevolkerungswissenschaft und Raumforschung gehen getrennte Wege

Auch die Erfolgsgeschichte der Raumforschung schlug sich nicht in einem eigenen Artikel nieder. Sie fand jeweils nur Erwahnung in den Artikeln zur Raumordnung. Dennoch wird ihr und der Bevolkerungswissenschaft eine gemeinsame Karriere im Kontext der nationalsozia-listischen Bevolkerungspolitik zugeschrieben. So sagt zum Beispiel Rainer Mackensen, ge-rade die Verquickung der Bevolkerungswissenschaft

„mit BevolkerungspoHtik, Eugenik, Rassenhygiene sowie mit Statistik und Raumforschung er-gibt erst die Problematik, die zu einer Einbindung von Teilen der Bevolkerungswissenschaft in die nationalsoziaUstische FamiUen-, Gesundheits-, Rassen- und RaumordnungspoHtik gefuhrt hat."35

Allerdings betont er wiederholt, dass sich eben aus dieser Feststellung eine Vielzahl von Fragen auch im Hinblick auf etwaige Kontinuitaten iiber das Jahr 1945 hinaus ergeben. Die-ser Auffassung kann ich mich nur anschUeBen und werde versuchen, die Beziehungen zwi-schen Bevolkerungswissenschaft und sozialwissenschaftlicher Raumforschung naher zu be-schreiben. Denn auch nach Bemhard vom Brocke geht eine der drei Richtungen der Auswei-tung der Gegenstandsbereiche der Bevolkerungswissenschaft seit der Weimarer Republik in die Raumforschung, aus der Ansatze zu einer Bevolkerungssoziologie erwachsen wurden.^^ Bevor die Frage nach den postulierten Kontinuitaten der sozialwissenschaftlichen Bevolke-rungswissenschaft wieder aufgegriffen werden kann, sollen zeitgenossische Stellungnahmen

32 Ebd.,Sp. 1301. 33 Vgl. Der Neue Brockhaus, 1. Bd., Leipzig ^ 1941,291. Der neue Brockhaus erschien in zweiter Auflage 1941 /

42 mit dem Untertitel „Allbuch in vier Banden und einem Atlas" und wird deshalb auch als AUbuch bezeich-net. Es wurde, wie bereits erwahnt, von der PPK ebenfalls kontroUiert, ihr Leiter uberprufte bereits bis zum Jahr 1936 iiber 100 Stichworter, wo von er 50 „eine voUig neue selbstandige Form gab." Neben ihm bearbei-teten fiinf weitere Mitarbeiter PPK erbenfalls eigenstandig weitere Artikel. Hedrich von Bouhler, 13.10.1936, BAB, NS 11/8 (unpaginiert), 9.

^^ Im Artikel Volkskunde des Neuen Brockhaus geht es ausschlieBlich um die herkommliche Volkskunde; vgl. Der Neue Brockhaus, Bd. 4, Leipzig ^1942, 609. Der Band von Meyers Lexikon, in dem der Artikel Volks-kunde zu finden gewesen ware, ist kriegsbedingt nicht mehr erschienen.

35 Mackensen 2002b, 35. 36 Vgl. V. Brocke 2002, 43 ; ganz konkret sieht er die Kontinuitat in dem Prinzip der „wissenschaftlichen

Gemeinschaftsarbeit" (49). Schon friiher hatte er die Arbeit „Standort und Wohnort" von Gunther Ipsen, Wal-ter Christaller, Wolfgang Kollmann und Rainer Mackensen aus dem Jahr 1957 als Beispiel dafiir genannt; vgl. V. Brocke 1998, 86. Es ist noch nicht gepruft worden, ob auch inhaltliche Kontinuitaten festgestellt wer-den konnen.

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zur Gestaltung der Beziehung von Raumforschung und Bevolkerungswissenschaft analy-siert werden.

Im Jahrgangsband 1936 dcs Archivs wird in der „Bev6lkerungswissenschaftlichen Zeit-schriftenschau" - vermutlich von Elisabeth Pfeil, da ohne Autorenangabe - auf zwei aktuel-le Hefte der Zeitschrift fur Geopolitik eingegangen, die anlasslich der Gnindung von RfR und RAG programmatische Ausfiihrungen enthalten. Das veranlasst Pfeil ihrerseits zu ei-nem programmatischen Kommentar.

„Geopolitik und Bevolkerungswissenschaft konnen gemeinsam der Raumordnung dienen. Sie gehoren beide zu den Planungswissenschaften, denn beide fragen aus ihrer wissenschaftlichen Wesenart heraus nach dem Gefiige von Rasse, Staat, Volk und Raum, die GeopoHtik vom Raume herkommend, die Bevolkerungswissenschaft von den Menschen ausgehend." ^

Ich sehe hierin eine friihe Reaktion auf die neue Situation, die durch das selbstbewusste Auf-treten der Raumforschung hervorgerufen worden ist und die als Angebot ftir eine friedliche Koexistenz verstanden werden kann.

Im Folgeband des Jahres 1937 wird dann Elisabeth Pfeils Vortrag „Bevolkerung und Raum" abgedruckt, den sie auf dem Arbeitslager der Arbeitsgemeinschaft fiir Geopolitik in Heidelberg im Januar des Jahres gehalten hatte. Diese Ausfiihrungen werte ich als ein von den an der Programmdiskussion Beteiligten autorisiertes Grundsatzpapier. Es erschien nam-lich zwei Jahre spater nochmals als - wenn auch sehr schmale - Monographic im Vowin-ckel-Verlag, ohne dass der Text verandert wurde, inklusive der Fehler. Die Arbeitsgemein-schaft fiir Geopolitik stand unter der Leitung des Mitgliedes des Reichstages SS-Oberfuhrer Dr. R. Wagner, Landesbauemfiihrer und Leiter der Stelle fiir Emahrungssicherung beim Reichsbauemfiihrer sowie Fachberater fiir Geopolitik bei der Reichsleitung der NSDAP.^^ Pfeils Publikum wird zeitgemaBe Ausfiihrungen erwartet haben. So thematisiert sie auch das Verhaltnis von Rasse und Raum. Nur halt sie fest, der Raum der nordischen Rasse sei groBer als der deutsche Raum, „von ihr allein her kann man daher die eigentiimlichen Verhaltnisse der deutschen Bevolkerung nicht erfassen."^^ Damit verstoBt sie aber elementar gegen den Kult, der um die nordische Rasse als wertvollster Bestandteil der rassischen Zusammenset-zung des deutschen Volkes getrieben wurde. Sie wendet sich ebenso mit aller soziologi-schen Deutlichkeit im Hinblick auf die Bevolkerungswissenschaft gegen biologistischen Raumdeterminismus.

„Es ist klar, daB die menschliche Bevolkerungslehre nicht auf der allgemeinbiologischen stehen belieben kann, wo sie es mit der aktiven Raumgestaltung durch den Menschen zu tun hat, mit be-wuBten Reaktionen und Willenshandlungen. Im Bereiche des Menschen sind Raume nicht mehr die von der Erde gegebenen Landschaftsraxime, wie sie Pflanze und Tier erleben, sondem die ak-tiv gestaltete Landschaft, die Kulturlandschaft, ja dariiber hinaus Raume, die sich weitgehend von der landschaftlichen Grundlage gelost haben, soziale und geistige Raume. [...] Wir haben es daher in der menschlichen Bevolkerungslehre mit ganz verschiedenen Raumkategorien zu tun, die aber doch Zusammenhange und Durchdringungen aufweisen."" ^

37 Archiv 1936, 191. 38 Vgl. BAB, NS 8/179, Bl. 120; Miinz 1939, 384; Zeitschrift fiir Geopolitik, 10. Jg., 1933, 304. 39 Pfeil 1937, 126. 40 Ebd., 113.

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Meines Erachtens entwickelt Pfeil hier eine dezidiert soziologische Perspektive ganz kontrar zum biologistischen und rassentumelnden Zeitgeist. Mit ihrer Vorliebe ftir dialektische For-mulierungen spitzt sie diese Aussage noch zu:

„Die vom Menschen gestalteten Raume werden namlich aus bewirkten zu wirkenden, und sie verhalten sich als solche haufig nicht anders als die naturlichen Raume."" ^

Dieses Diktum ist in gewisser Weise die Vorwegnahme eines Grundgedankens des Soziolo-gie-Klassikers von Peter Berger und Thomas Luckmann iiber die gesellschaftliche Kon-struktion der Wirklichkeit. Auf jeden Fall wird hiermit ein modemes Raumverstandnis dar-geboten, dem etwa die schollenmythologische Bevolkerungslehre eines Gunther Ipsen nicht gewachsen ist. Das wird auch von Erika Fischer, der eigentlichen Leiterin der RAG" , in ih-rer Rezension der Monographic in der Zeitschrift fur Raumforschung und Raumordnung ge-wiirdigt, wenn sie deren sozialwissenschaftliche Ausrichtung hervorhebt. „Denn die Bezie-hungen zwischen Raum und Menschen konnen keinesfalls nur von der allgemein biologi-schen Seite her geklart, sondem mtissen durch andere gleichgewichtige Ansatzpunkte (na-turliche Raume - staatliche Raume - Kulturraume - soziale Raume - geistige Raume) er-ganzt werden. Damit weitet sich aber die Bevolkerungswissenschaft aus und gelangt, und das kommt gerade in diesen kurzen, mehr programmatischen Ausfuhrungen ganz deutlich zum Ausdruck, zu der totalen Betrachtungsweise, die heute aller jener Wissenschaft eigen ist, die das Bestreben hat, Theorie und Praxis wieder fruchtbar zu vereinen.'"^^ Meines Er-achtens ist diese Besprechung als eine Wiirdigung der von Pfeil betriebenen Soziologisie-rung der Bevolkerungswissenschaft vermittelt iiber den Raumdiskurs zu verstehen.

Auch an anderen Stellen des Archivs fmdet man Hinweise auf eine angestrebte sozial-wissenschaftliche Fundierung der Bevolkerungswissenschaft durch Kombination mit Per-spektiven der Raumforschung. Im Jahrgangsband 1935 wird der Strukturbericht uber die In-tegration der Bauemgemeinde Handschuhsheim in die Stadt Heidelberg als vorbildlich ge-lobt. Der Dezement far Stadtplanung Ludwig Neundorfer hatte unter Verwendung der amt-lichen Haushaltsbogen und der Ergebnisse der von ihm entwickelten und geleiteten sozio-graphischen Erhebung ein ebenso detailliertes wie anschauliches Bild der soziookonomi-schen und demographischen Lage sowie der zukiinftigen Entwicklung Handschuhsheims gezeichnet und daraus konkrete politisch-planerische Handlungsanweisungen abgeleitet. Die Besprechung seiner Arbeit im Archiv endet mit den Worten:

41 Ebd., 113f. ^'^ Erika Fischer hatte bei Hans Freyer promoviert. Ihre einflussreiche Position in der RAG wird von deren

Reichsobmann Prof. Paul Ritterbusch mit den Worten umschrieben: „Mit der Erledigung der anfallenden Arbeiten habe ich in der Zentrale Fraulein Dr. Fischer beauftragt." Ritterbusch an den Leiter der Hochschul-arbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung der Universitat Koln Prof. Bruno Kuske, 27.1.42 (Abschrift); Zugang 28/758, Universitatsarchiv Koln. Ritterbusch schlagt sogar vor, dass Fischer ihn zusammen mit sei-nem personlichen Mitarbeiter Dr. Boyens als seine Vertreterin aufsucht, um uber die von Kuske gewiinschte Aktivierung und Intensivierung der Hochschularbeitsgemeinschaft zu sprechen. Ritterbusch war neben seiner Tatigkeit im Reichsministerium ftir Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mit dem „Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften" beschaftigt; vgl. Hausmann 1998. „Erika Fischer hat sich 1950, als ,Rechte Hand' von Vizekanzler Franz Blucher, um die Entstehung des Bonner ,Instituts fur Raumforschung' groBe Verdienste erworben." Komrumpf 1995, Mir langt's..., 95.

43 Fischer 1941, 238.

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„Wir sehen in diesem Bericht das Musterbeispiel einer volkskimdlichen Strukturerfassung im wirtschafllich-sozialen Bereich; auf vielen solcher Untersuchungen und andren auf kulturellem Gebiet wird die Bevolkerungswissenschaft aufbauen,"'*'

Neundorfer hat - ausgestattet mit auBergewohnlichen Ressourcen - eine demographische und soziookonomische Bestandsaufnahme der Agrarstruktur des sogenannten Altreiches als Grundlage ihrer grundlegenden Reform, insbesondere aber zu Zwecken der Ermittlung des Aussiedlerpotentials durchgefuhrt. Er war direkt involviert in die Siedlungsplanungen des Reichskommissars fiir die Festigung deutschen Volkstums im Osten wie im Westen."^^ In-wieweit er sich damit als Bevolkerungswissenschaftler qualifiziert hat, wird spater noch the-matisiert.

In ihrem Bericht iiber die Tagung des Arbeitskreises „BauerHche Lebensgemeinschaft" im Forschungsdienst des Reichsnahrstandes Ende November 1936 auBerte sich Elisabeth Pfeil zu Fragestellung und Methodik der bevolkerungswissenschaftlichen Erforschung des Landvolks unter Beriicksichtigung der Raumdimension. Es darf die Frage

„nach Schulleistung und Lebensleistung nirgends fehlen, wo Strukturwandel und Ausleserichtun-gen untersucht warden; eine Geburtenstatistik muB stets auch Fnih- und Totgeburten beriicksich-tigen; es geniigt nicht allein, nach Berufen und BesitzgroBen aufzugliedem, sondem die Berufs-stellung innerhalb des Dorfes, die Stellung des Dorfes im Raume, miissen herangezogen werden."" ^

In ihrem Bericht tiber die zweite Tagung der RAG im Oktober 1938 hebt sie nicht nur die „gemeinsamen Ziele" von Bevolkerungswissenschaft und RAG hervor, sie bedankt sich ausdriicklich bei Konrad Meyer ftir die Einladung eines Vertreters des Archivs zu dieser Ta-gung. Bei vier der zehn von Meyer benannten laufenden und geplanten Untersuchungen der RAG sieht sie engste Beriihrungspunkte in der Aufgabenstellung von Raumforschung und Bevolkerungswissenschaft. Es handelt sich dabei um die Untersuchung der Landflucht, der Neubildung von Bauemtum und Sesshaftmachung der Landarbeiterschaft, der Probleme der Konzentration und Dezentralisation der industriellen Ballung und der richtigen Zuordnung von Betrieb und Wohnung."^^

In der Tat war das Thema Landflucht in der Vorkriegszeit das wohl prominenteste For-schungsgebiet sowohl der freien wie der geforderten empirischen Sozialforschung. Nur be-klagt Oskar Gelinek in seinem Aufsatz im Jahrgangsband 1940 des Archivs tiber die „Aufga-ben der Bevolkerungswissenschaft bei der Losung des Landfluchtproblems" zu Recht, dass „bis heute noch keine befriedigenden Methoden entwickelt wurden, um das Problem der Landflucht in seinem Vorgang und in seinen Ursachen exakt zu beobachten [...]." Es sei des-halb „eine der vordringlichsten Aufgaben der Bevolkerungswissenschaft, bei der Losung des Landfluchtproblems geeignete Beobachtungsmethoden zu entwickeln."^^ Die Schriftlei-

^ N. N.: Rezension zu: Ludwig Neundorfer, Stadtbauem! Neuordnung einer Stadt I, in: Siedlung und Wirt-schaft, 16. Jg., 1934, in: Archiv 1935, 140.

^^ Vgl. das Kapitel „Das Soziographische Institut an der Universitat Frankfurt am Main" in: Klingemann 1996, 71ff.; Mai 2002, 103ff., 133ff.

46 Pfeil 1936,421. 47 Vgl. Pfeil 1938,421. 48 Gelinek 1940, 203.

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tung teilt dazu - unter Entlastung Gelineks wegen seiner Einberufung - in einer FuBnote mit, es sei mit der Entwicklung dieser Methoden in dem Werk von Karl Seiler und Walter Hildebrandt bereits begonnen worden. Pfeil bespricht dann deren 1940 erschienenes Buch „Die Landflucht in Franken" im Folgeband des Archivs. Sie ist sehr angetan von „dieser schonen Untersuchung" und hebt besonders hervor:

„Bei der Abwanderung wird - endlich einmal - scharf unterschieden zwischen dem Wegziehen iiberzahliger Kinder und dem Schwinden der Bevolkerungssubstanz, wie sie im Zusammenhang mit dem Riickgang der Gewerbe und der kleinen Industrie auf dem Lande stattfand. Es sind in starkem Mafie Handwerker und Arbeiter, die das Land verlassen haben. Die zahlenmaBige Ab-nahme des bauerlichen Gesindes wird mit den sozialen Vorgangen verkniipft."

Bemerkenswert ist, dass sich auch Pfeil der Analyse des „Schwindens der Bevolkerungssub-stanz" anschlieBt. Da das nun aber gerade nicht das so geschatzte bauerliche Blut ist, kann daraus kein bevolkerunsgpolitisches Argument im Sinne der Schaffung eines „Neuadels aus Blut und Boden" (Darre) gezogen werden. Denn, wie Pfeil deutlich macht, ist das ideale Dorf durch soziale Vielfalt insbesondere der nicht bauerlichen Bevolkerung gekennzeichnet:

„Die Tendenz zur sozialen Vereinheitlichung des Dorfes, das erst im letzten halben Jahrhundert zum reinen Bauemdorf wurde, wird hier unter bevolkerungspolitischen Gesichtspunkten gese-hen. Es gibt keine aufsteigenden Volksteile mehr, die Lebensfulle des Dorfes ist verlorengegan-gen."49

Ebenso sachlich wie der Tenor der Untersuchung von Seiler und Hildebrandt gibt sich die Besprechung von Pfeil. Agrarromantik, Bauerntiimelei und auch antiquierte Forderungen nach der Wiederherstellung der iiberholten Agrarverfassung wie etwa bei Gunther Ipsen feh-len voUig. Pfeil schlieBt mit der Feststellung, die Verfasser machten eine Reihe sehr beacht-licher Vorschlage zur Bekampfung der Landflucht. Seiler und Hildebrandt wollen damit -jenseits von Blut-und-Boden-Phraseologie - eine weitere Verodung der landlichen Regionen verhindem.

,,^/r halten es fur unumgdnglich notwendig, dafi der kulturelle Stand der bauerlichen Bevolke-rung gehoben wird, daB unser gesamtes flaches Land in bezug auf Bildung und Moglichkeiten zu einer hoheren Gemeinschaftspflege vollkommen gleichmaBig durchgegliedert wird. Das Land-volk muB standig am deutschen Volksleben wirklich teilnehmen konnen."

Um dieses Ziel erreichen zu konnen, setzen sie nicht auf weltanschauliche Mobilisierung, vielmehr muss die Modemisierung vorangetrieben werden.

„Nur die Maschinisierung und Elektrifizierung und eine planvolle umfassende Verkehrspolitik auch im kleinen Raum einerseits, eine starkere organisatorische Zusammenarbeit der einzelnen Hofe in den Dorfem so wie eine unausgesetzte weitere Bekampfung des Gesindemangels ande-rerseits konnen die gefahrvolle Uberlastung des frankischen Landvolkes beheben." ^

49 Pfeil 1941a, 13L 50 Seiler & Hildebrandt 1940, f.

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Diese Ergebnisse erzielten Seller iind Hildebrandt im Rahmen des von der RAG geforderten Projekts, das auf groBe Resonanz bei fachlich tatigen Behorden und Amtem stieB. Bereits 1934 hatte Seller zusammen mlt Karl Heinz Pfeffer elne groBe Untersuchung zur Lage der Landarbelter Im Auftrag des Relchsbauemfuhrers durchgefuhrt, deren Resultate Im Gesetz-gebungsverfahren zur Landarbelterfrage Beachtung gefunden haben sollen. Hildebrandt war sowohl seln Asslstent wle auch der von Karl Heinz Pfeffer und promovlerte bel Hans Frey-er. Die Beachtung, die Pfeffers und Sellers modeme emplrlsche Agrarsozlologle erzlelte, fiihrte dazu, dass fur Seller an der Handelshochschule Niimberg - In der NS-Zelt Hlnden-burg-Hochschule - eln Lehrstuhl fiir Sozlologle elngerlchtet wurde.^^

Dleser Lehrstuhl 1st eln Beleg fur die Rlchtlgkelt des Theorems von der Instltutlonall-slerung elner Dlszlplln vermlttelt durch deren auBerunlversltare Professlonallslerung. Im Fall der Psychologle fuhrte dies sogar zur relchswelten Elnrlchtung elnes Dlplom-Studlen-ganges, da nur so die Voraussetzungen fur die Elnstellung von professlonell ausgeblldeten Psychologen Im offentllchen Dlenst, Insbesondere ftir alle drel Waffengattungen der Wehr-macht, gegeben waren. Den zum Tell slch straubenden Unlversltaten wurde die Elnrlchtung des Studlengangs oktroylert.^^ Dieses Modell war nlcht iibertragbar auf die Raumforschung, da sle nlcht als Elnzeldlszlplln Instltutlonallslert werden konnte. Dafur slnd die durch Erlass des Relchswlssenschaftsmlnlsterlums ebenfalls relchswelt etabllerten facheriibergrelfenden Hochschularbeltsgemelnschaften fur Raumforschung elne absolut neuartlge Erschelnung Im damallgen deutschen Hochschulsystem. Bevor Ich darauf mlt Blick auf die Bevolkerungs-wlssenschaft zuruckkomme, sollen die Bemiihungen der Protagonlsten der Geopolltlk um deren Anerkennung als Wlssenschaft dargestellt werden.

III. Der Kampf der Geopolitik um die Anerkennung als Wissenschaft und die Rolle der Bevolkerungswissenschaft und der Raumforschung

Die Arbeltsgemelnschaft fur Geopolltlk meldete glelch nach Hitlers Machtantrltt mlt der „Denkschrlft: Geopolltlk als natlonale Staatswlssenschaft" Ihre Anspriiche an. Ob der Ar-beltsgemelnschaft wlssenschaftspolltlsches Gewlcht zukommt, 1st zur Zelt nur schwer zu beurtellen, obwohl Ihr Lelter, wle bereits berlchtet, eln Multl-Funktlonar war. Die von Ihm gezelchnete Denkschrlft stellte zuerst fest, Geopolltlk sel „zuglelch Wlssenschaft und Poll-tlk", sle betrelbe Forschung, Schulung und Beratung. Es soil hler nur auf die Ausftihrungen

Vgl. Klingemann 1996, 206, 208, 261ff., 265, 293, 295f. 1941 versucht Seiler, anhand von 47 ausgewahlten Beitragen des 9. Jahrgangs (1939) und der ersten vier Hefte des 10. Jahrgang (1920) des Archivs die Frage zu klaren:" Was braucht der Raumforscher aus dem Gebiet der Bevolkerungswissenschaft als notwendige Grundlage seiner eigenen wissenschaftlichen Forschungsarbeit?" Er gliedert seinen Bericht nach vier bevol-kemngswissenschaftlichen Interessengebieten der Raumforscher: Ergebnisse der Feldforschung des In- und Auslandes, Methoden, grundlegende Theorien und Begriffsgliederungen, Hilfsmittel, Verordnungen und Gesetze. Er kommt zu dem Schluss, „da6 die Jahrgange IX und X (soweit erschienen) einen guten Einblick tun lassen in die Entwicklung der deutschen Bevolkerungswissenschaft nach Forschungsergebnissen, begriff-lich-methodischer Grundlegung und allseitiger Orientierung iiber alles Neue, das sich im Bereich der Volks-forschung und Bevolkerungswissenschaft in den letzten beiden Jahren ereignent hat." Einleitend hatte er mit der Formulierung:"[...]." - Elisabeth Pfeil ein groBes Lob ausgesprochen. Seiler 1941, passim. Vgl. Geuter 1984.

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zur Forschung eingegangen werden. Das Wissen, das die Wissenschaft bislang bereitstelle, sei

„richtungslos, weil es sich nicht auf den Staat bezieht. Darum haben wir keine Staatswissen-schaft, haben keine Bevolkerungswissenschaft, fangen eben erst an, die Auswirkungen des Rau-mes auf die Naturseite wie auf die Kulturseite menschHcher Gemeinschaften zu erkennen."

Daraus wird die Forderung abgeleitet, es sei zweckmaBig, „sofort mit der Errichtung von Lehrstuhlen fur Geopolitik an alien Universitaten, wo Lehrstuhle, sei es von den Staatswis-senschaften, der Geographic oder der Geschichte her, frei werden", zu beginnen. Dariiber hinaus werden den weiter bestehenden Lehrstuhlen dieser Facher konkrete Aufgaben zuge-wiesen, wobei der Pflege der Bevolkerungswissenschaft eine besondere RoUe zukommt.

„Jeder Lehrstuhl hat von der Geographic die politische Geographic, von der Geschichtswissen-schaft die historische Geographic und entweder von der Biologic, von der Medizin oder von der Bevolkerungsstatistik her die Bevolkerungswissenschaft in gegenscitiger Zusammenarbeit zu pflegen." ^

Auch durch die Ausfiihrungen in dieser Denkschrift wird nochmals bestatigt, dass Protago-nisten der Geopolitik und Bevolkerungswissenschaft eine gemeinsame Strategic der wissen-schaftlichen und politischen Anerkennung verfolgten. Elisabeth Pfeil - es sei daran erinnert - hielt 1937 ihren programmatischen Vortrag „BevoIkerung und Raum" vor der Arbeitsge-meinschaft flir Geopolitik. Die Denkschrift bcinhaltct auch den Auftrag an die Arbeitsge-meinschaft, „die Voraussetzungen fiir den Ausbau der Geopolitik als Wissenschaft" mit ei-ner spcziellen Denkschrift zu klaren, die dem Kultusminister Vorschlage zur Neuordnung unterbreiten sollte.

Die Arbeitsgemeinschaft wollte die Geopolitik nicht nur als wissenschaftliche Diszi-plin, sondem auch in den Bereichen von Schule und Politikberatung institutionalisieren. Diesem Ansinnen leisteten die etablierten Facher vehementen Widerstand. So kam es zu ei-ner „Aussprache liber Geopolitik" im Mai 1935 in Bad Saarow. Zu den Teilnehmem gehor-ten Vertreter von „Ministerien und Reichsstellen der Bewegung", Hochschulen, hoheren Schulen und Volksschulen, des Arbeitsdienstes und der Landesplanung. Es sollen hier nur jene Ergebnisse der Tagung aufgegriffen werden, die sich mit den Forderungen nach Ein-fuhrung der Geopolitik als universitares Fach befassen. Bevor einzelne Vortrage zusammen-fassend vorgestellt werden, wird beklagt, dass noch bis vor kurzer Zeit „seitens mancher Vertreter der Erdkunde ein teils offener, teils verdeckter Krieg gegen die Geopolitik ge-ftihrt" wurde. Auch General Haushofer, der selbst die Einleitung der Aussprache iiber Geo-politik und Hochschule iibemahm, ist ungehalten iiber den Zustand an den Hochschulen.

„Scharfe GeiBelung erftihr besonders der heute teilweise katastrophale Zustand bei Prufiingen junger Geopolitiker an unseren Universitaten." "

Die Frage, ob diesem Zustand im Laufe der Jahre vielleicht mit Hilfe des Haushofer-Freun-des und Stellvertreters des Fiihrers, Rudolf HcB, der ja zu einer einflussreichen hochschulpo-

^ Denkschrift: Geopolitik als nationale Staatswissenschaft, in: ZfG 10, 1933, 302f. 54 Jantzen 1935, 394.

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litischen Instanz wurde, abgeholfen werden koiinte, wird noch wieder aufgegriffen. Hier soil berichtet werden, zu welchem Ergebnis die „anwesenden Vertreter der deutschen Hochschu-len" auf der Tagung in Bad Saarow kamen:

1. Es ist notwendig, an zunachst einigen, besonders daftir geeigneten Universitaten eine Zusammenfuhrung der die Geopolitik tragenden und von ihr in erster Linie zu befruchtenden Facher durchzusetzen. Dazu mtissten dort geopolitische Lehrauftrage an geeignete ausreichend vorgebildete geopolitische Dozenten erteilt werden. 2. Diese Lehrauftrage miissten Trager sein einer an den betreffenden Universitaten zu errich-tenden geopolitischen Mittelstelle, deren Aufgabe ist es, die lebendige Verbindung mit den ver-schiedenen Fachem herzustellen, die Erkenntnisse dieser Facher geopolitisch zu verarbeiten und sie zum Arbeiten mit geopolitischer Fragestellung anzuregen. [...] 3. Dem geopolitischen Dozenten musste zu geeigneter Zeit das Promotionsrecht zugestanden werden. 4. Als geeignete Hochschulen zur Errichtung geopolitischer Institute bezw. Mittelstellen schlagt die Arbeitsgemeinschaft fur Geopolitik vor: 1. Berlin, 2. Breslau, 3. Gottingen, 4. Heidelberg, 5. Koln-Aachen, 6. Leipzig, 7. Munchen."55

Man hoffte, dass mit dieser Aussprache „das Kriegsbeil zwischen Erdkunde und Geopolitik an der Hochschule nunmehr begraben" sei. Die Geographen hatten sich allerdings zu Recht angegriffen gefuhlt, da die Protagonisten der Geopolitik nicht mtide vmrden, ihre erfolgrei-che Emanzipation von der Geographic herauszustellen. Schon 1932 hatte Karl Pintschovius, der sich auch als Kenner der Soziologie darstellte, auf die Notwendigkeit hingewiesen,

„die Geopolitik ganz aus der geographischen Fachlichkeit heraus ins Allgemein-Sozialwissen-schaftliche hineinzureiBen."^^

Rupert von Schumacher, ein prominenter Programmatiker der Geopolitik, hatte ihr 1934 at-testiert, „eine vollstandige sozialw^issenschaftliche Abstraktion aus dem Raumbegriff ent-wickelt" zu haben. Sie gehe „nicht von der Materie aus, sondem vom wertenden Menschen, im Mittelpunkt ihres gesellschaftswissenschaftlichen Systems steht der Mensch und nicht die Landschaft [...]."^^ Kurt Vowinckel hatte anlasslich des 26. Geographentages im Jahr 1936 zwar den „Geist gemeinschaftlicher Arbeit" im Verhaltnis von Geopolitik und politi-scher Geographic beschworen, aber auch erklart:

^Ja, wir treiben Staatskunde, die in dem festen Boden einer Raumkunde verankert ist und aus der Bevolkerungswissenschaft oder Volkskunde das ihr eigenttimliche biologische Prinzip gewinnt: die Erfassung staatlicher Vorgange als raumgebundener Lebenserscheinungen."^^

Solche AuBerungen konnten naturlich den Verdacht aufkommen lassen, dass die Geopolitik sich auf Kosten der Erdkunde etablieren wollte.

55 Ebd., 396. 56 Pintschovius 1932, 59. 57 V. Schumacher 1934, 576. 58 Vowinckel 1936b, 689; Kursivsetzung im Original gesperrt.

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Auf der Tagung in Bad Saarow hatten die Geopolitiker also tatsachlich Opfer gebracht. Zum Beispiel war von der erwahnten Forderung aus dem Jahr 1933, frei werdende Professu-ren bestimmter Facher umzuwidmen, keine Rede mehr. Allerdings wurde intern auf der be-reits erwahnten Beiratssitzung der Arbeitsgemeinschaft im Dezember 1936 von Haushofer noch die Einrichtung von Lehrstuhlen gefordert. Nachdem jedoch Prof. Konrad Meyer, ein-flussreicher Referent im Reichsministerium fiir Wissenschaft und Volksbildung und Reichsobmann der RAG, auf prinzipielle Bedenken , die der Schaffung neuer Lehrstiihle entgegenstumdem, verwiesen und „Entsterilisierung der Geographie" angeregt hatte, lenkte Haushofer ein. ^ Wie noch gezeigt wird, ging Meyer bei der Institutionalisierung der Raum-forschung erfolgreich einen anderen Weg.

Soweit ich informiert bin, ist es noch nicht einmal zur Griindung der geforderten Mit-telstellen fiir Geopolitik an den ausgewahlten Universitaten gekommen. Auch an der Schul-front trat die Geopolitik den geordneten Riickzug an. Auf dem ersten „Reichslehrgang fur Geopolitik" des Nationalsozialistischen Lehrerbundes im November 1938 wurde verdeut-licht,

„daB Geopolitik nicht als besonderes Fach in den Unterricht eingefiihrt warden soil, sondem dal3 die geopolitische Methode in einer Reihe von Fachem ihre Anwendung zu finden hat."

Es wurde sogar nochmals betont, dass damit alien Bestrebungen eine Absage erteilt worden sei,

„die aus der Geopolitik das Fach machen wollten, von dem aus ein mehr oder weniger ver-schwommener Gesamtunterricht mit nationalpolitischer Ausrichtung erteilt werden sollte."^^

Die Geopolitiker hatten weiterhin auch genug Probleme damit, ihre Wissenschaftlichkeit nachzuweisen. AuBerdem betrat mit der Raumforschung eine neue Konkurrentin die Szene.

Der schon erwahnte Rupert von Schumacher fragte 1938 in der Zeitschrift fiir Geopoli-tik ganz offen: „Ist die Geopolitik eine Wissenschaft?" Und dann zahlte er die auch heute noch gultigen Argumente auf, mit denen ihr wissenschaftlicher Charakter bestritten wird. Sie sei eine Kunstlehre, eine populare joumalistische Ausschrotung wirklicher wissenschaft-licher, und zwar politisch-geographischer Erkenntnisse, eine padagogische Methode, eine besondere Weltanschauung oder gar eine politisch-propagandistische Zweckschopfimg.^^ Von Schumacher weist selbstredend alle ftinf Kritikpunkte mit teilweise allerdings nachvoll-ziehbaren Argumenten zuriick. Dann setzt er sich mit den Versuchen aus den eigenen Rei-hen auseinander, die Eigenstandigkeit der Geopolitik als wesentlichstem Merkmal von Wis-senschaftlichkeit zu beweisen. So hatten Vertreter der Geopolitik deren Eigenstandigkeit ab-geleitet:

a. aus der Tatsache einer umfangreichen Forschung- bzw. Untersuchungstatigkeit unter der Bezeichnung ,Geopolitik';

^ Vgl. Jacobsen II 1979, 304. So kann ich der Fragestellung von Klaus Kost, die Geopolitik habe eine „wohl-wollende Aufnahme innerhalb der Schul- und Hochschulgeographie bis 1945" gefunden, nicht zustimmen; Kostel988, 112.

^ Schmidt 1939, 58f; Kursivsetzung im Original gesperrt. 61 Vgl. V. Schumacher 1938, 953.

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b. mit Hilfe einer auf Aufgabenstellung und Forschungsgegenstand riickschlieBen-den Auslegung des Namens ,Geopolitik*;

c. mit Hilfe systematischer Abgrenzungen der geopolitischen Arbeitsgebiete gegen die Nachbarwissenschaften;

d. aus der Tatsache, daB die bisherige geopolitische Forschung sich in den Randge-bieten verschiedener alterer Disziplinen bewegt, ohne in die eine oder andere Disziplin vollstandig eingeordnet werden zu konnen;

e. mit Berufling auf die Autoritat der Schopfer des Begriffes ,Geopolitik', die mit dieser Begriffsschopfung offenbar die Eigenstandigkeit ihrer Forschungsarbeit doku-mentieren wollten."^^

Von Schumacher weist mit guten Griinden alle Argumente als unzureichend zuriick. Aber ebenso plausibel ist seine Ablehnung der von Kritikem der Geopolitik vorgebrachten Be-hauptungen ihrer fehlenden Eigenstandigkeit, die da lauten:

a. „daB die GeopoHtik selbst von ihren eigenen Vertretem haufig in den Rahmen anderer Disziphnen gestellt wurde [...]

b. daB die GeopoHtik sich von bestimmten Disziphnen nicht abgrenzen HeBe;

c. daB die GeopoHtik zwar liber eine eigene Lehr- und DarsteHungsweise, nicht aber iiber eine fur sie typische Begriffs- und Methodenlehre verfiige;

d. daB sie nur eine ,Betrachtungsweise', die die Ergebnisse anderer Wissenschaften in bestimmter Form zu sehen und deuten hatte, aber keine ,DiszipHn' sei."^^

SchHeBHch Hstet er auf einer ganzen Seite Fragen auf, die beantwortet werden miissten, woHte man den Beweis ihrer Eigenstandigkeit antreten. Die Antworten verspricht er, in sei-nem Buch „Grundlagen der GeopoHtik" zu geben. Aber auch ihm gehngt es nicht, eine ah-gemein verbindHche Kodifizierung der GeopoHtik als Wissenschaft zu liefem.

Ihr bleibt bis zum Ende des Dritten Reichs diese Anerkennung verwehrt. Dies reflek-tiert 1944 Kurt Vowinckel in seinen „Gedanken zum Beginn des dritten Jahrzehnts deut-scher Geopolitik", so der Untertitel seines Aufsatzes uber „Geopolitik als Wissenschaft". Er registriert die Etablierung der Geopolitik als Priifungsfach an deutschen Hochschulen, nur fanden die Priifungen noch im Rahmen mal geistes-, mal naturwissenschaftlicher Facher statt. Aber nicht nur das, nach erfolgreich abgeschlossenem Examen pendelt der Absolvent „auch in seiner Arbeit laufend zwischen Geographic und Geschichte, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hin und her." Weiterhin beklagt Vowinckel, die Geopolitik sei

„im Gebaude der Wissenschaften ohne Heimat. Von einzelnen Kritikem wird sie des Dilettantis-mus beschuldigt, von anderen als ,Kunstlehre' oder als eine Form der Politik aus dem Bereich

62 Ebd, 955f. « Ebd., 957f.

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der Wissenschaft verwiesen, von einzelnen Wissenschaftsgruppen, insbesondere in der Erdkun-de, iinter stillschweigender Aneignung von Methoden und Erkenntnissen als ,Lebensraiimkunde' Oder unter MiBdeutung des Begriffs ,Raumforschung' kurzerhand ins eigene Fach iibemom-

Nach Vowinckels Vorstellung muss das gesamte universitare Wissenschaftssystem vollig umgebaut werden, wenn die Geopolitik dort beheimatet werden soil. Das herkommliche Schema der Aufteilung der Wissensgebiete nach Natur und Geist miisse ersetzt werden durch die „Gliederung des Aufbaus der Wissenschaften nach Mensch und Raum", so dass die Geo-Wissenschaften und damit auch die Geopolitik eine Gruppe von Wissenschaften zwischen denen vom Menschen und denen von Raum und Umv^elt bilden konnten. Die Geo-politik gehort zu den Geo-Wissenschaften, die sich mit „Gruppenbildung und Raum" befas-sen. Vowinckel lasst keinen Zweifel daran, dass die Geopolitik fiir ihn bereits eine Wissen-schaft ist. Aber, so seine emsthaft vorgetragene Forderung, ihre

„wissenschaftliche Stellung ist erst dann klar zu fassen, wenn die bisherige Einteilung der Wis-senschaften in Natur- und Geisteswissenschaften zugunsten einer Gegeniiberstellung der Wissen-schaften von Mensch und Raum aufgegeben wird." ^

Ob Vowinckel tatsachlich an die Realisierbarkeit seiner Idee geglaubt hat, entzieht sich mei-ner Kenntnis. Auffallig ist, dass in seinen Schemata die Bevolkemngswissenschaft an keiner Stelle auftaucht. Er hat die gemeinsame Propagierung von Geopolitik und Bevolkemngswis-senschaft aufgegeben. Da ist es nur konsequent, dass er die andere Konkurrentin, die Raum-forschung, auf die Beschaftigung mit „Raumgliedemngen natlirlicher Art"^^ reduziert wis-sen will. In seinen Berichten iiber Tagungen der RAG in den Jahren 1937 und 1938 hatte er noch Vorschlage zur Kooperation unterbreitet. 1937 hielt er der Raumforschung zwar „Sprachverwirmng" vor, da die Referate den Begriff Raumforschung jeweils vom eigenen Fach her bestimmten, begliickwiinschte aber „die befreundete Raumforschung"^'^ zu ihrer Tagung. Im darauffolgenden Jahr lobte er dann die Qualitat der Referate und bekundete ahn-lich wie Elisabeth Pfeil bezuglich der Bevolkemngswissenschaft das Interesse der Geopoli-tik an alien Punkten des von Konrad Meyer vorgestellten Forschungsprogramms. Er ver-zeichnete starksten Beifall fiir die Ausfuhmngen von Meyer, und dessen „Gesamtschau" sei „im besten Sinne geopolitisch."^^

In der Zeitschrift fiir Geopolitik hatte noch 1941 Ewald Liedecke einen Briickenschlag zwischen Geopolitik und Raumforschung versucht. Herausgeber und Schriftleitung stellten dem Aufsatz ihre Einschatzung seiner Zielsetzung voran. Liedecke sehe das „Verhaltnis von Geopolitik und Raumforschung in ihren Aufgaben etwa so wie von Generalstab und Tmp-penfiihmng, wie Strategic zu Taktik."^^ Dem konnten sie im wesentlichen zustimmen, be-hielten sich aber vor, den Beitrag der Geopolitik noch naher zu beleuchten. Dazu ist es,

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Vowinckel 1944, 20f. Ebd., 29. Bbd., 25. Vowinckel 1937,668. Vowinckel 1938, 904. 2/^18, 1941,481.

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wenn ich bei der Durchsicht der folgenden Jahrgange nichts libersehen habe, bis 1945 nicht mehr gekommen.

Ewald Liedecke war berufen, sich uber das Verhaltnis von Raumforschung und Geopo-litik zu auBem. Er hatte an der Technischen Hochschule Danzig den Lehrstuhl fiir Raumord-nung, Ostkolonisation und landliches Siedlungswesen inne und war gleichzeitig Landespla-ner ftir den Gau Danzig-WestpreuBen.^^ Er bescheinigt Raumforschung und Geopolitik durchaus eine erfolgreiche politische Einflussnahme. Nur als Praktiker betont er die Not-wendigkeit, dass die Planer den in Frage kommenden Wissenschaften Anregungen geben, gezielte Untersuchungen durchzufiihren. Es entwickelten sich auch bereits „Ansatze einer Planungslehre", die aber „bis zu einem gewissen Grad Geheimlehre bleiben" mtisse, da sie „MaBnahmen zum Gegenstand hat, die verborgen bleiben miissen." Aber die Raumfor-schung sei noch zu jung,

„als daB sich aus ihr - zumal jetzt in der Anspannung des Existenzkampfes - bereits Krafte aus-sondem konnen, die wissenschaftHche Erkenntnisse und Erfahrungsgut zur Lehre einzuschmel-zen vermochten."" ^

Fiir Liedecke ist die Raumforschung tiberdies integraler Bestandteil der Raumordnung, „die Bestandsaufnahme einschlieBlich Raumforschung, Planungslehre, Planung und Verwirkli-chung" umfasst. Der Schwerpunkt der Raumordnung liegt auf Planung. „Sie will nicht in er-ster Linie Wissenschaft sein oder betreiben. Die Geopolitik will Wissenschaft sein."^^ Des-wegen habe die Geopolitik aber auch nur mittelbaren Einfluss auf die Anwendung ihrer Leh-re und auf die Verwirklichung ihrer Planungen. Im Gegensatz zu aktuellen Darstellungen angewandter Wissenschaften im Dritten Reich, die ihnen direkte politische Wirksamkeit zu-schreiben, scheint mir diese zeitgenossische Position realistischer zu sein. Im Hinblick auf viele geopolitische Raummetaphem und -konzepte bezweifele ich sogar, dass sie uberhaupt zu implementationsfahigen Planungsvorgaben hatten operationalisiert werden konnen. In-wieweit dies auch fur die Raumforschung im Hinblick auf bevolkerungswissenschaftliche Fragestellungen gilt, soil im folgenden iiberpnift werden.

IV. Raumforschung ohne soziologische Bevolkerungswissenschaft

Bei der Etablierung der Raumforschung ging Konrad Meyer in seiner Eigenschaft als Ob-mann der RAG einen anderen Weg als die Protagonisten der Bevolkerungswissenschaft und Geopolitik. Er stellte keine Anspriiche auf Hochschullehrerstellen und andere Ressourcen, sondem eroffnete die Moglichkeit zur Einwerbung beachtlicher Mittel. Im Gegenzug wur-den die Hochschulen aber auch verpflichtet, die vorhandenen Forschungskapazitaten in schlieBlich 51 Hochschularbeitsgemeinschaften einzubringen. Raumforschung war, wie es schon der Titel seines Vortrags auf der ersten Tagung der RAG im April 1936 unmissver-

Vgl. Gutberger 1996, 7f. Liedecke 1941, 483. Liedecke war ein Verfechter des Konzepts der totalen Planungsfreiheit auf einer tabula rasa; vgl. Hartenstein 1998, 79. Liedecke 1941, 485; Kursivsetzungen im Original gesperrt.

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standlich zum Ausdruck bringt, „eine Pflicht wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit".'^^ Nun mag man sich an der Ubemahme dieser Parole im Sinne einer Tatsachenfeststellung stoBen. Die Raumforschung ist aber de facto die erste Institutionalisierung einer interdiszi-plinaren reichsweiten Forschungsorganisation mit gemeinsamen Programm und zehn Ar-beitskreisen, die wiederum Untersuchungen auf speziellen Arbeitsgebieten zentral koordi-nierten.^^ Die RAG war der RfR unterstellt, wodurch gewahrleistet werden sollte, dass For-schungsergebnisse gezielt fiir staatliche Planungen und MaBnahmen erarbeitet werden konn-ten. Die inzwischen vorliegende Sekundarliteratur beschreibt fur Fachgebiete wie Geogra-phie, Landes-, Stadt- und Siedlungs- sowie Landschaftsplanung und Architektur, aber auch Sozialraum- und Sozialstrukturforschung bis bin zur GroBraumforschung die Ruckwirkun-gen dieser auBeruniversitaren Professionalisierung auf das WissenschaftssystemJ^

Das Thema Raum machte als „deutsches Konzept" eine erstaunliche Karriere, wie Werner Koster in seinem Buch „Die Rede iiber den ,Raum'"^^ liberzeugend belegt. Bezeich-nenderweise fmdet bei ihm der bevolkerungswissenschaftliche Diskurs keine Erwahnung. Dies gilt aber auch fiir die Behandlung der verschiedenen Varianten der Raumforschung in den Darstellungen von Hartenstein, Munk, Rossler, Venhoff und Wasser. Aber auch das de-taillierte Sachregister in Jorg Gutbergers voluminoser Dokumentation der Sozialstruktur-und Sozialraumforschung im Dritten Reich enthalt das Stichwort Bevolkerung und damit auch Komposita wie Bevolkerungswissenschaft nicht. Die Rede vom Raum ist so dominant, dass die ihn bevolkemden Individuen nur als undifferenzierte Masse erscheinen oder aber marginalisiert werden. Diese Effekte treten allerdings dann nicht auf, wenn, wie spater noch gezeigt wird, Raume soziologisch untersucht werden.

Hier soil deswegen vorab die zu diesem Befund im Widerspruch stehende Aussage von Bemhard vom Brocke aufgenommen werden, Notker Hammerstein berichte in seinem Buch liber die DFG „ausfuhrlich" iiber die Forderung der Bevolkerungsforschung im Dritten Reich.^^ Es stellen sich dabei zwei Fragen. Bedeutet die ausflihrliche Berichterstattung, dass die DFG die Bevolkerungsforschung auch fmanziell tatsachlich nachhaltig forderte; und wenn ja, profitierte davon auch die sozialwissenschaftliche Bevolkerungswissenschaft? Schaut man sich die fachwissenschaftliche Ausrichtung der urspriinglich 13 Fachsparten des 1937 gegriindeten Reichsforschungsrates, der die Vergabepolitik der DFG dirigierte, an, so fallt auf, dass die Bevolkerungsforschung nicht vertreten ist. Es kommen spater zwar noch drei Fachsparten hinzu, darunter jene mit der Bezeichnung „Bevolkerungspolitische Erbbio-logie und Rassenpflege", geleitet vom stellvertretenden Reichsgesundheitsfiihrer Blome, nur wird diese Fachsparte im Zuge der Neugriindung des Reichsforschungsrates 1942 auch schon wieder abgeschafft.^^ Keine andere Fachsparte deckte das Gebiet der Bevolkerungs-

73 Meyer 1936. Nach Meyers Willen wird sich „die Sozialwissenschaft" im Hinblick auf „Kulturgehalt und Lei-stung der Landschafl" befassen mussen „mit der Bevolkerungsverteilung, den verschiedenen Veranderungen und Wanderungen, mit der Sozialgliederung und den Krankheitserscheinungen im Volkskorper." Meyer 1936,11.

'^^ Insofem spricht auch Mechthild Rossler von der „Begrundung einer neuen Wissenschaft" als „interdiszipli-nare wissenschaftliche Gemeinschaftsaufgabe". Rossler 1987,177.

^ Vgl. dazu die folgenden Publikationen und die dortigen detaillierten Literaturangaben: Durth & Gutschow 1988; Groning & Wolschke-Bulmahn 1987; Gutberger 1996; Hartenstein 1998; Klingemann 1996; Miink 1993; Rossler 1990; Rossler & Schleiermacher 1993; Venhoff 2000; Wasser 1993.

76 Koster 2002. 77 V. Brocke 2002, 55.

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forschung mit ab, so dass von ihrer Geringschatzung im Reichsforschungsrat, der aus-schlieBlich naturwissenschaftlich-technische Projekte forderte, auszugehen ist.

Die DFG plante zwar im Entwurf fur den Haushalt 1938 die „Volksforschung" besser auszustatten. Nur ist es unwahrscheinlich, dass damit bevolkerungswissenschaftliche Pro-jekte gefordert wurden. Das Verzeichnis der Sachbeihilfen fur 1939, die die DFG neben weiteren Geldgebem gewahrt hatte, verzeichnet nur in einem Fall ein einschlagiges Thema: Das Institut ftir Rassen- und Volkerkunde der Universitat Leipzig bekam eine Zuwendung fur bevolkerungspolitische Arbeiten im Wendengebiet. Der DFG-Etat betrug 1941 sechs Millionen RM, davon wurden der „Bevolkerungspolitik, Erb- und Rassenpflege" 200.000 RM zur Verftigung gestellt, weniger als der Forst- und Holzforschung mit 270.000 RM. Ftir das Rechnungsjahr 1943/44 waren neun Millionen RM veranschlagt worden. Hammerstein macht keine Angaben, ob damit bevolkerungswissenschaftliche Projekte gefordert worden sind. Die Raumforschung wurde nach wie vor mit Mitteln bedacht.^^

Die Forschungsprogramme der RAG liefien allerdings mit Kriegsbeginn keinen Raum mehr ftir bevolkerungswissenschaftliche Forschungsvorhaben. Wie bereits erwahnt, waren mit den Themen Notstandsgebiete, Landflucht und Dezentralisation aus der zweiten Halfte der dreifiiger Jahre durchaus bevolkerungswissenschaftlich ausgerichtete Forschungsprojek-te angeregt worden.^^ Ab 1939 wurde die RAG aber konsequent auf das Denken in Raumka-tegorien verpflichtet. Im Herbst des Jahres wurde das „kriegswichtige" Forschungspro-gramm der RAG „Der Osten" verktindet. Wie aus dem offiziellen Kommentar des Haupt-sachbearbeiters der RAG Friedrich Biilow zu diesem und dem Kiiegsforschungsprogramm 1940/41 hervorgeht, spielten bei der Bearbeitung des Reichsatlaswerkes, der statistischen Bestandsaufnahmen, der Aussiedlungsmoglichkeiten aus dem Altreich, der Tragfahigkeit des „Ostraumes", der Neugestaltung des „Gesamtraumes Oberschlesien", der verkehrspoliti-schen Planungen und des neuen „Siidostraums" (Sudetengau, Ostmark, Protektorat Bohmen und Mahren) genuin bevolkerungswissenschaftliche Fragen keine Rolle mehr. ^ Dies trifft auch ftir die Forschungsprogramme 1941, 1942/43 und 1943/44 zu. Das Programm ftir 1941 umfasst 14 Forschungsschwerpunkte (zum Teil mit weiteren Unterpunkten). Ein explizit be-volkerungswissenschaftliches Forschungsthema fmdet man nicht, jedoch sind solche Arbei-ten unter dem Punkt „XIL Rassen- und erbbiologische Untersuchungen" denkbar. Das Pro-gramm nennt als Forschungsschwerpunkte: Staats- und verwaltungsrechtliche Untersuchun-gen, GroBraumwirtschaft, verkehrspolitische und wirtschaftsstrukturelle Untersuchungen sowie solche zu Standortfragen, zur gewerblichen Wirtschaft, zu zentralen Orten, agrarpoli-tischen Sonderfragen, Energiewirtschaft, Raumordnung der Arbeit, Kreditpolitik, kultureller und regionaler Raumplanung.^^ Das Programm 1942/43 greift die meisten Themen wieder auf, erganzt um Fragen der Verstadterung, europaischen Raumordnung, Siidost- und Ostfor-schung und zur „Beherrschung von Grossraumen". Bei der Untersuchung der Raume, in de-

78 Vgl. Hammerstein 1999, 206ff., 553. 79 Vgl. ebd., 214, 268, 347, 408. 8 Vgl. die Zusammenfassung des Rechenschaftsberichts iiber die Ergebnisse der in den Jahren 1936 bis 1938

gestellten Forschungsaufgaben bei Billow 1939; vgl. die Liste der Projekte bei Venhoff 2000. 8 Vgl. Billow 1940; vgl. auch die Erlauterungen zum Kriegsforschungsprogramm „Der Osten" von Roloff

1939. 82 Vgl. Reichsarbeitsgemeinschaft fur Raumforschung an die Leiter der Hochschularbeitsgemeinschaflen

(Abschrift); Zugang 28/758, Universitatsarchiv K6ln.

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nen die Hochschulen liegen, sollen auch volksbiologische und sozialanthropologische Studi-en durchgeflihrt werden, worunter vielleicht auch bevolkerungswissenschaftliche Fragestel-lungen fallen konnten.^^ Im Rahmen des Forschungsprogramms 1943/44 diirfen nur noch kriegswichtige Vorhaben durchgeflihrt werden, wobei der Katalog der Themen aus den bei-den Vorlauferprogrammen im Prinzip fortgeschrieben wird. An verschiedenen Stellen wer-den die Themen Kriegszerstomngen, Wiederaufbau und Raumordnung nach Kriegsende an-gesprochen, aber auch das Thema „Geschichte der Raumforschung".^"* Das Thema war wohl doch nicht kriegswichtig. Jedenfalls sind mir keine Arbeiten dazu bekannt, so dass wir die Aufgabe selbst ubemehmen miissen. Und da vertrete ich die These, dass die Bevolkemngs-wissenschaft - und nicht nur die sozialwissenschaftliche - ab der Verkundung des ersten Kriegsforschungsprogramms keine Rolle mehr gespielt hat.

Warum Bevolkerungswissenschaftler, und damit schlieBe ich Rassenexperten aus-driicklich aus, fur den Ostaufbau entbehrlich waren, bringt Konrad Meyer deutlich zum Aus-druck. Die Bestandsaufnahme hat seiner Meinung nach in Altreichsgebieten in Bezug auf Volk, Raum und Wirtschaft als erster Arbeitsgang der Planung zwar ihre Berechtigung.

„In den neuen Siedlungsgebieten des Ostens wird durch die Umsiedlung und den wirtschaftli-chen Aufbau die kiinftige volkliche und wirtschaftliche Grundlage so weitgehend unabhangig vom gegenwartigen Bestand verandert, dafi die Bestandsaufnahme in bevolkerungsmafiiger Hin-sicht wesentlich an Bedeutung verliert. Nur der Raum bleibt auch dort fur die Planung ein gleich wichtige und aktive Kraft wie im Altreich. Er steht daher bei der Bestandserfassung weitaus im Vordergrund."

Dieser Raumfetischismus, der flir groBe Telle der ansassigen Bevolkerung Vertreibung oder Ermordung bedeute, pragt Meyers nur fiir den Dienstgebrauch freigegebene autoritative Schrift „Reichsplanung und Raumordnung im Lichte der volkspolitischen Aufgabe des Ost-aufbaus."^^ Die Bevolkerung kommt bei der Erstellung von Bestandsaufnahmen nur im Rahmen von „Raumordnungsskizzen" vor. Erfasst werden soil die

• „Bev6lkerungsdichte (moglichst bezogen auf Gemeinden),

• Aufgliederung der Gesamteinwohnerzahl des Planungsbereiches nach ihrer Volkszugeho-rigkeit,

• nach ihrer beruflichen Tatigkeit in landwirtschaftliche und nichtlandwirtschaftliche Bemfszugehorige (nach Moglichkeit Aufgliederung der nichtland-wirtschaftlichen Berufszugehorigen in Handwerk, Industrie, Handel usw.),

• nach ihrer gesellschaftlichen Stellung in Selbstandige und Unselbstandige". ^

^ Vgl. Reichsarbeitsgemeinschaft fur Raumforschung, Forschungsprogramm 1942/43, 14. Marz 1942; Zugang 28/758, Universitatsarchiv Koln.

^^ Vgl. Reichsarbeitsgemeinschaft flir Raumforschung, Forschungsprogramm 1943/44, 6.4.1943; Zugang 28/ 758, Universitatsarchiv Koln.

85 Meyer 1942,40.

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Dafiir braucht man entsprechende Register, aber keine elaborierte Bevolkerungswissen-schaft. Mit Konrad Meyer hatte damit ein fiihrender Planer der massenmorderischen Germa-nisierungspolitik auf bevolkerungssoziologisches Expertenwissen verzichtet. Fur die Selek-tion erwunschter und nicht erwiinschter Bevolkerungen in den okkupierten Gebieten konnte er sich auf Experten etwa des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS verlassen. '

Diese Auffassung wurde auch an politisch hochster Stelle vertreten, als es um die Griindung des seit 1938 von Friedrich Burgdorfer geplanten Reichsinstituts fur Bevolke-rungswissenschaft und Bevolkerungspolitik ging. Burgdorfer wollte sich, nachdem er Prasi-dent des Bayerischen Statistischen Landesamtes geworden war, „fur die Fortsetzung meiner bevolkerungswissenschaftlichen und bevolkerungspolitischen Tatigkeit eine organisatori-sche Basis" schaffen. Dies schrieb er im Januar 1939 dem Leiter des Ausschusses fiir Rechtsfragen der Bevolkerungspolitik der Akademie fur Deutsches Recht Prof. Fritz von Calker.^^ Burgdorfer konnte nicht nur dessen personliche Unterstiitzung, sondem auch die des stellvertretenden Prasidenten der Akademie flir Deutsches Recht Prof Carl August Em-ge, der Raume und Hilfskrafte zur Verfligung stellen wollte, des Gauleiters Adolf Wagner, des Reichsgesundheitsfiihrers Dr. Leonardo Conti und des Oberregierungsrats Dr. Ruttke, beide aus dem Reichsinnenministerium, aber auch des Reichsinnenministers Frick selbst ge-winnen. Frick lieB dem Chef der Reichskanzlei Heinrich Lammers den Entwurf eines Erlas-ses des Ftihrers und Reichskanzlers iiber die Errichtung des Reichsinstituts fiir Bevolke-rungswissenschaft und Bevolkerungspolitik tibersenden.^^ Das Reichsinnenministerium hat-te bereits im Sommer des Vorjahres in dem allerdings noch nicht verabschiedeten Haus-haltsplan das Reichsinstitut aufgefuhrt.^^ Es stellte Burgdorfer auch schon „Fondsmittel" fiir eine mannliche und eine weibliche wissenschaftliche Arbeitskraft zur Verfiigung.^^ Es diirf-te sich dabei um Elisabeth Pfeil und Hermann Mitgau handeln, die erwahnte Forschungsge-meinschaft fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik.^^ Dennoch scheiterte das Vorhaben trotz wiederholter VorstoBe aus dem Reichsinnenministerium. Die Reichs-kanzlei verwarf verschiedene - und tatsachlich zum Teil abwegige - Begriindungsversuche als nicht stichhaltig und vermutete, es handele sich „um ein auf die Person des Prasidenten Dr. Burgdorfer und sein Spezialgebiet zugeschnittene Einrichtung, die nicht unbedingt kriegswichtig sein durfte."^^ Entscheidend war, dass auch Martin Bormann als Chef der Par-tei-Kanzlei es ablehnte, den Erlassentwurf Hitler vorzulegen. "*

90

Ebd., 54. Vgl. Heinemann 2003. Burgdorfer an von Calker, 29.1.1939; R 61/122, Bl. 14R, B A B . R 4311/722, B1.69f, B A B . Burgdorfer an Ruttke, 5.7.1941, R 61/124, Bl. 28 , B A B .

91 Der Reichsminister des Innem an den Chef der Reichskanzlei , 3 . Juni 1942; R 4311/722, Bl. 74R, B A B . 92 Zu den Widrigkeiten der Grundung des Reichsinstituts und der Tatigkeiten von Pfeil und Mitgau in Mtinchen

sowie der geplanten Einstellung von Karl Seller und des dann am ersten April 1943 verstorbenen Heinz Wiil-ker geben die Tagebuch-Notizen von Mitgau Auskunft; vgl. Mitgau 1957.

93 Vermerk, 18. November 1942, R 4311/722, Bl. 80, B A B . 94 Vermerk, 29. November 1942, R 4311/722, Bl. 82, B A B .

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Konzeption und Praxis sozialwissenschaftlicher Bevolkerungswissenschaft 247

V. Fazit

Meiner Meinung nach kann von einer Erfolgsgeschichte der sozialwissenschaftlichen Be-volkerungswissenschaft im Sinne ihrer akademischen Institutionalisierung, wie es zum Bei-spiel der Psychologie gelang, nicht die Rede sein. Ein weiteres Indiz dafiir ist auch, dass das „Register nach Fachgebieten" der Ausgaben von Kiirschners Deutschem Gelehrten-Kalen-der aus den Jahren 1935 und 1940/41 keine Bevolkerungswissenschaft verzeichnet. Protago-nisten der Bevolkerungswissenschaft und der Geopolitik versuchten zwar gemeinsam, ihre Institutionalisierung voranzutreiben. Nur musste sich die Bevolkerungswissenschaft erst einmal der Bestrebungen erwehren, als sogenannte Volkskunde auf rassenkundlicher Basis festgelegt zu werden. Die Geopolitik wird nach wie vor mystifiziert als auf fatale Weise au-Berst einflussreicher Denkstil. Die Anerkennung als Wissenschaft wurde ihr jedoch im Drit-ten Reich verweigert und ihre Rolle im Hochschulsystem blieb marginal. Geopolitik und Bevolkerungswissenschaft versuchten einen Schulterschluss mit der neuen Konkurrentin Raumforschung. Jedoch wurde diese in eine Richtung gelenkt, die geopolitischem Denken femlag, und deren praktische Umsetzung im Rahmen der Germanisierungspolitik vor Ort nicht von Bevolkerungswissenschaftlem sozialwissenschaftlicher Provenienz, sondem von Rassenexperten exekutiert wurde. Zur Aufgabenstellung des Reichsinstituts fiir Bevolke-rungswissenschaft und Bevolkerungspolitik hatte bei einer Besprechung zu Fragen seiner Errichtung Falk Ruttke im Ausschuss ftir Rechtsfragen der Bevolkerungspolitik der Akade-mie fiir Deutsches Recht kategorisch erklart: „Das Institut muB sich auf reine bevolkerungs-wissenschaftliche Arbeit beschranken. Vor allem gehort nicht hinein, was zur Rassenfor-schung gehort." Da half auch nicht, dass Burgdorfer replizierte: „Die Rassenfrage gehort nicht zu den wesentlichen Aufgaben. Man kann aber daran nicht vorbeigehen."^^

Die Raumforschung konnte sich liber die RFR professionalisieren und iiber die RAG institutionalisieren, was nach 1945 im Institut fiir Raumforschung in Bonn und in der Aka-demie fiir Raumforschung und Landesplanung in Hannover seine Fortsetzung fand. Dies konnte der Bevolkerungswissenschaft mit dem im Planungsstadium steckengebliebenen Reichsinstitut nicht gelingen.^^ Das Soziographische Institut an der Universitat Frankfiirt am Main allerdings stellt eine spezielle Form der Professionalisierung und Institutionalisierung mit Bevolkerungsfragen befasster empirischer Sozialforschung dar. Vor 1945 sollte es ur-spriinglich die wissenschaftliche Infrastruktur fiir die grundlegende Umstrukturierung der landlichen Verhaltnisse bieten, wobei seine Arbeitsgebiete spater aber entschieden ausge-weitet wurden. Nach Kriegsende war es u.a. eine zentrale Einrichtung der Fliichtlingspoli-tikberatung und Organisation der Unterbringung von Fliichtlingen und Vertriebenen. Das Soziographische Institut ist aber eher der Raumforschung zuzuordnen, da es von der raumli-chen Verteilung der Bevolkerung ausgeht, die im Sinne eines „Wunschbildes" idealer Ver-haltnisse neu geordnet werden muss. So macht es Sinn, dass noch im Juni 1944 ein „Beirat bei der Reichsarbeitsgemeinschaft fiir Raumforschung fiir das Soziographische Institut in Frankfiart/M." unter Beteiligung der RAG, der RfR, des Reichsnahrstandes und des Reichs-kommissars fiir die Festigung deutschen Volkstums gegrundet wurde.^^ Soziologische Be-

Protokoll der Sitzung vom 23.11.1939 (Umsiedlungsfrage im Osten. Institut ftir Bevolkerungspolitik und Bevolkerungswissenschaft), abgedruckt in: Schubert 2001,238. Klingemann 2004b.

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248 Carsten Klingemann

volkerungswissenschaft wurde im Dritten Reich durchaus betrieben, war aber nicht kompa-tibel mit Blut-und-Boden-Vorstellungen und auch nicht brauchbar fiir die Planung des Ge-nozids. Insofem ist Helmut Schelsky zuzustimmen, wonach „die einzig emsthafte empiri-sche Soziologie in den Untersuchungen der Raumplanung betrieben wurde [...]."^^ Er hatte nur das Wort „einzig" weglassen und die Frage nach der poUtischen Anwendbarkeit disku-tieren miissen. Von der bevolkerungswissenschaftUch inspirierten empirischen Soziologie im Nationalsozialismus fiihren Wege in die Bevolkerungssoziologie Westdeutschlands.

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^ Schelsky 1981, 145. Uber die Arbeitsweise der von der RAG geforderten Projekte war er vermutlich gut informiert. Seine Frau Hildegard bearbeitete das Projekt „Die wirtschaftliche Verflechtung des Sudentengaus mit dem Protektorat". Venhoff 2002, 111.

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Page 254: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Disziplinare Grenzen am Rande der Medizin: Soziale Hygiene, Demographie, Rassenhygiene^

Ursula Ferdinand

Die Beziehungen zwischen Medizin - hier eingegrenzt auf die Wissenschaft von der offent-lichen Gesundheit - und Bevolkerungswissenschaft zeigen neben einiger Komplexitat Bezii-ge zur Statistik wie zur Politik. Die Herausbildung beider Disziplinen fand bei den Politi-schen Arithmetikem ihren Anfang und empfing seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert wesentliche Impulse durch die im Rahmen allgemeiner gesellschaft-licher Umbruchprozesse einsetzenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Medizin, spezi-fisch der Hygiene, der Statistik, Anthropologie und Geographie. Das war verbunden mit dem systematischen Ausbau des Konzeptes der medizinischen oder Gesundheitspolizei auf Basis regelmaBiger statistischer Ermittlungen. Dabei entstanden im Gefolge der friihen Hy-gienebewegung in Frankreich die Begriffe Soziale Medizin, Soziale Hygiene und Demogra-phie, in GroBbritannien etablierte sich die sanitary movement wie die Vitalstatistik und die modernen Gesundheitswissenschaften als public health. In Deutschland beforderten die franzosischen und englischen Entwicklungen im Umfeld der 1848er Revolution das Projekt der Sozialen Medizin Rudolf Virchows (1821-1902), Salomon Neumanns (1819-1908) und Rudolf Leubuschers (1821-1861). Deren Engagement fur gesellschaftliche Reformen verlor jedoch schnell an StolJkraft. Seit den 1860er Jahren gelang es den Gesundheitswissenschaf-ten dann, sich durchzusetzen und schlieBlich - anders als der Bevolkerungswissenschaft -die universitare Verankerung als eigenstandige akademische oder wissenschaftliche Diszi-plin.2

Hygiene kennzeichnete nun eine enge Beziehung zu den Naturwissenschaften, was mit der Entleerung bzw. Entkoppelung von sozialen Aspekten wie mit der Okonomisierung -der „okonomischen Verwaltung" des „Menschenmaterials" - einherging. Anfang des 20. Jahrhunderts stellte die Soziale Hygiene die Beziehung „Krankheit und soziale Lage" wie-der ins Zentrum ihrer Ausgestaltung. Sie, die als letzte Disziplin der Gesundheitswissen-schaften entstand, kniipfte bewusst an die internationalen Entwicklungen im Gefolge der friihen franzosischen Hygienebewegung wie der Etablierung der Demographic an, mit de-nen sich eine enge Beziehung zwischen Gesundheitsbewegungen, Hygiene und Demogra-phie/Statistik herausgebildet hatte.^

In Deutschland figurierte Alfred Grotjahn (1869-1931) als wichtiger Schopfer der Sozi-alen Hygiene. Seine Konzeption kniipfte an die breite Diskussion um die Soziale Frage seit den 1890er Jahren an und war sogleich Antwort auf die demographische Dimension der „Agrar- versus Industriestaatsdebatte"."^ Grotjahn schloss in seine Konzeption der Sozialen

^ Ich danke den Mitarbeiter(imie)n unserer Arbeitsgruppe - Rainer Mackensen, Heike Gorzig, Michael Eng-berding, Kathrin Hunsicker und Facil Tesfaye - im DFG-Schwerpunktprogramm 1106 sowie Christoph Wichtmann fur die konstruktive Kritik und Unterstutzung.

2 Rosen 1975, 75ff; Schweber 1996; Fuhrmann 2002; Ferdinand 2004. 3 Siehe Sand 1952; Mackensen 2001; ders. 2002; Ferdinand 2004. ^ Siehe Ferdinand 2004a.

Page 255: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

252 Ursula Ferdinand

Hygiene als disziplinare Grenzgebiete die Demographie, Eugenik, Okonomie und Soziolo-gie mit ein und richtete sie explizit gegen die rein naturwissenschaftlich orientierte Hygiene wie gegen die Rassenhygiene.

Die Rassenhygiene begann sich seit den friihen 1890er Jahren als Reaktion auf die Hy-giene selbst zu formieren. Auch ihre Vertreter beanspruchten als Newcomer mit szientisti-schen Programmen innerhalb der Diskussionen um die Soziale Frage die Ausgestaltung der Sozial-, Gesundheits-, Bevolkerungs- und Wirtschaftspolitik. Sie proklamierten mit Zu-kunftsmodellen, die die humanistische Gleichheitsidee der Menschen als Relikt des 'unwis-senschaftlichen' 18. Jahrhunderts verwarfen, auf dem mutmaBenden Fundament einer anti-zipierten Krise eine generative Ethik bzw. Entwicklungsethik. Praventionspolitik - be-stimmt durch die (generative) Verantwortung fur die Zukunft und definiert durch gegenwar-tige Gefahrenquellen 'falscher' Politik - war der Pfeiler zur bewussten gesellschaftlichen Gestaltung der (sozialen und sexuellen) Selektionsbedingungen.^ Dabei verstanden sie ahn-lich wie die Sozialhygieniker ihr Gebiet als angewandte Wissenschaft im Rahmen der ge-sellschaftlichen Umbruchprozesse als Grundlage nachhaltiger Politik.^

Das Projekt der Sozialen Hygiene Grotjahns und das der Rassenhygiene - hier einge-grenzt auf die spezifische Ausgestaltung des Psychiaters Ernst Riidin (1874-1952) - stehen in diesen Ausfuhrungen im Mittelpunkt. Beide Projekte charakterisiert eine explizite Bezie-hung zur Demographie: • Die Beziehung zwischen Hygiene und Demographie fand bei Grojahn Ausdruck in sei-

nen publizistischen Projekten^ - darunter die Jahresberichte iiber die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demographie, Archiv fur Soziale Hygiene und Demographie^ - wie in seinem Konzept der Sozialen Hygiene.

• Bei Riidin bestand eine Beziehung zur Demographie aufgrund seiner Tatigkeit als Lei-ter (seit 1918) der Genealogisch-Demographischen Abteilung, einem zentralen Bestandteil der Deutschen Forschungsanstalt fur Psychiatrie^ in Miinchen, wie durch die hier durchgefuhrten genealogisch-demographischen Forschungen im Bereich der psychiatrischen Humangenetik.

5 Siehe Ferdinand 1999, 184fr. ^ Vgl. zum Verhaltnis zwischen Rassen- und Sozialhygiene Reulecke 1998. Ehmer 2004, 24f, betont ebenfalls,

dass sich Rassenhygieniker und Eugeniker als Vertreter der "wahren angewandten Wissenschaft" verstanden. Zur Problematik der Abgrenzung zwischen Sozial- und Rassenhygiene siehe Moser 2002, 57f.

" Neben den publizistischen Projekten Grotjahns trug eine weitere Zeitschrift Demographie im Titel: Zeitschrift fur Demographie und Statistik der Juden (1905-1930). Sie wurde vom Bureau fiir Statistik der Juden (gegr. 1902) gestartet. Ihre Redaktion oblag bis 1907 dem Volkswirtschaftler und Soziologen Arthur Ruppin (1876-1943), dann Bruno Blau bzw. Jacob Segall. Siehe Leo Baeck Institut 1985, 135f, 558f. Laut Gutmann 1924 ging die Zeitschrift 1917 aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen ein, wurde dann ab 1923 als Blatter fiir Demographie und Wirtschaftskunde der Juden fortgefuhrt.

^ Die Jahresberichte... erschienen ab 1902. 1906 erhielten sie den Zusatz „und Medizinalstatistik sowie alle Zweige des sozialen Versicherungswesens". Von 1916 bis 1923 erschienen die Bibliographischen Jahresbe-richte iiber Soziale Hygiene, Demographie und Medizinalstatistik sowie alle Zweige des Sozialen Versiche-rungswesens^ ab 1925 bis 1934 das Archiv fur Soziale Hygiene und Demographie als Neue Folge der Bibliographischen Jahresberichte. Zudem gaben Grotjahn und Kriegel ab 1906 die Zeitschrift fiir Soziale Medizin, Medizinalstatistik, Arbeiterversicherung, Soziale Hygiene und Grenzfragen der Medizin und Volks-wirtschaft heraus. Deren Titel anderte sich ofters. Vgl. Kaspari 1989, 84ff.

^ Diese Forschungsanstalt wurde 1917 als Stiflung eingerichtet und begann ihre praktische Forschungstatigkeit 1918. Sie wurde 1924 an die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angegliedert. Ihr erster Leiter war bis zu seinem Tod 1926 E. Kraepelin, ihm folgte der Neuropathologe Walther Spielmeyer (1879-1935). 1931 iibemahm Rudin die Leitung des Gesamtinstituts. Weber 1993,164ff.

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Disziplinare Grenzen am Rande der Medizin 253

Die Beziehungen zur Demographie sind auffallend, well sich die Demographie in Deutsch-land - anders als in Frankreich - erst weit nach 1945 etablierte.^^ Das bedeutete jedoch nicht, dass der Begriff bis dato unbekannt war.

Unterschiede beider Projekte zeigen sich u.a. in den Motivationen Grotjahns und Rii-dins, sich mit Bevolkerungs- und Gesundheitsfragen zu beschaftigen: • Grotjahn, PoHtiker - zeitweise Reichstagsabgeordneter (ftir die SPD) - und Arzt, ver-

stand sich als 'medizinischer Kathedersozialist'. Dariiber kam er zur Beschaftigung mit der Sozialen Frage und zu Bevolkerungs- und Gesundheitsfragen. Sein Blick richtete sich auf die Haufung von Krankheiten in bestimmten Gruppen der Gesellschaft und deren spezifische, offenbar pathogene Lebensverhaltnisse.

• Riidin, in seinen wissenschaftlichen Interessen und seiner Weltanschauung durch den Schweizer Psychiater August Forel (1848-1931), den deutschen Rassenhygieniker Alfred Ploetz (1860-1940) und seinen psychiatrischen Lehrer Emil Kraepelin (1856-1926) gepragt,^^ schaute aus der Perspektive des Psychiaters, der von pathologischen Phanomenen, von Abweichungen ausgehend Gefahren erkennt und Normen zu setzen sucht. Er kam iiber das rassenhygienische Dogma der Degenerationsgefahren zur Beschaftigung mit Erbgesundheitsfragen in spezifischen Bevolkerungsgruppen und zur wissenschaftlichen Begriindung einer selektionistischen Bevolkerungs- und Rassenpo-litik.^2 Dies immer vor dem Hintergrund seiner rassenhygienischen Lobbyarbeit.

Beide Projekte trafen sich im Ziel einer pradikativen Medizin, die mit intervenierender se-lektiver bis totender Einflussnahme auf den generativen Prozess die eugenische Utopie zu verwirklichen beabsichtigt.^^ Vor diesem Hintergrund steht die Kritik in neueren medizin-historischen Arbeiten am Eugeniker Grotjahn und seiner Fortpflanzungshygiene (Eugenik) "^ wie die aktuellen Kontroversen tiber Riidin bzw. uber die erbprognostischen Arbeiten an sei-nem Institut. Erstere zeichnen die Folgen sozialtechnologischer Machbarkeitsideen im An-gesicht nationalsozialistischer Gesundheits- und Bevolkerungspolitik. Letztere sind mit Rii-dins methodischer Neuerung - der empirischen Erbprognose - verkniipft, mit der der Psych-iatric die Anbindung zur Humangenetik^^ gelang. Die Erbprognose, die Riidin intemationa-les Ansehen brachte, wurde die methodisch-empirische Basis der NS-Sterilisationspolitik und erhob Riidin zum wissenschaftlichen Experten der erbbiologischen Bestandsaufnahme der Bevolkerung wie der Rassen-, Gesundheits- und Bevolkerungspolitik im Nationalsozia-lismus.

Im Folgenden werden zunachst die Anfange der Sozialmedizin, -hygiene und Demo-graphie wie die friihen Entwicklungen in Deutschland skizziert. Dann gehen wir auf die Pro-jekte Grotjahns und Riidins und deren Beziehungen zur Demographie wie ihrer bevolke-rungs- und gesundheitspolitischen Konsequenzen ein. Den Beitrag schlieBt ein kritisches Fazit.

11 Schubnell 1963; Dienel 1995; Mackensen 2003a. Siehe Weber 1993, 22ff.

12 Roelcke 2003. 13 Baader 2001,288; Domer 1967, 1998. 14 Ferdinand 2004. 1 In Deutschlands verwendete man weitgehend bis 1945 statt „psychiatrische Humangenetik" die Begriffe

„psychiatrische Erbbiologie" oder „psychiatrische Erblehre". Weber 1993, 8.

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254 Ursula Ferdinand

I. Medicinische Policey - Anfange der Sozialmedizin und Demographic in den Staatswissenschaften

Bevolkerungswissenschaft wie die Gesundheitswissenschaften sind angewandte Wissen-schaften, gekennzeichnet dadurch, „dass ihre praktischen Probleme lange vor ihrer theoreti-schen Betrachtung und Durchdringung Gegenstand des Interesses gewesen sind." Bezogen auf die Bevolkerungslehre fuhrte dies 1920 Paul Mombert (1876-1938) zum Befund, dass sich in der nationalokonomischen Literatur viel Bevolkerungspolitik, kaum Bevolkerungs-lehre findet.^^ Zur selben Erkenntnis war fast 60 Jahre zuvor der Nationalokonom und Staatsrechtler Lorenz von Stein (1815-1890) in seiner Verwaltungslehre gekommen.^^ Er verwies auch darauf, dass das eigentliche Gesundheitswesen, das gezielt an der offentlichen Gesundheit orientiert ist, erst da entsteht,

„wo vermoge ihres offentlichen Werthes die Gesundheit, der Schutz und die Pflege derselben als solche dem Staate in seiner Verwaltung zum BewuBtsein kommen, und die Herstellung ihrer Be-dingungen zum selbstandigen Gegenstande seines Willens und der Gesetzgebung, seiner organi-sirten Kraft in seiner Organisation, und seiner wirklichen Thatigkeit in seiner inneren Verwaltung wird." ^

Mit diesem Befund fiir die Gesundheitswissenschaften sprach Stein deren enge Beziehung zur Politik an, eine Beziehung, die auch die Bevolkerungswissenschaft im Merkantilismus kennzeichnete. Die Gesundheitssicherung des Staates im eigentlichen Sinne war die „Medi-cinische Policey" ^ und entstammte dem Rahmen absolutistischer Wohlfahrtspolitik der Ka-meralistik.2^ Der Gedanke an die „Vermehrung der Bevolkerung" bzw. die Vorsorge gegen die „Verminderung der Einwohner" war in die Policeywissenschaft, damit in die Staats- und Verwaltungslehre eingeordnet. Mit ihr entstand neben der wissenschaftlichen (Individual-)Medizin jene Medizin, die sich in spezifischer Weise auf eine vorgegebene offentliche Ge-sundheit richtete. Dazu bedurfte es einer intervenierenden staatlichen Politik, fur die die de-mographische Quantifizierung ein unentbehrliches Instrument war. Dies umfasste die Be-stimmung der Bevolkerungszahl ebenso wie die Analyse qualitativer Merkmale der Popula-tion - Einkommen, Vermogensverteilung, Ethnic etc. und Angaben zum physischen und psychischen Zustand der Einwohner.^^

In der franzosischen Revolution wurde Gesundheit zu einem Biirgerrecht und das Staatsvolk als Souveran Gegenstand der offentlichen Gesundheit. Das richtete die Aufmerk-samkeit neben der Bevolkerungszahl verstarkt auf die differenzierte qualitative Bewertung und fand Ausdruck in der Verfeinerung statistischer Methoden bis hin zur „sozialen Physik" Adolphe Quetelets (1796-1874) wie in der monetaren Bewertung des Menschen innerhalb eines wirtschaftlich-machtpolitischen Kalkuls. Im zunehmenden Urbanisierungs- und Indus-

19

^ Siehe hierzu der Aufsatz von Rainer Mackensen in diesem Band. Vgl. auch Fuhrmann 2002. 7 Stein 1866. Siehe Mombert 1920.

18 Stein 1869, 1882 in Labisch 2001, 71f. Vgl. Fuhrmann 2002,207ff. Das „System einer voUstandigen medicinischen Policey" von Johann Peter Frank (1745-1821) zeichnete nicht nur Krankheit als notwendiges Attribut gesellschaftlicher Ungleichheit, sondem auch den politisch-rechtlichen und normativen Bezug zwischen offentlicher Medizin und Bevolkerungswissenschaft.

20 Labisch 2001. 21 Fuhrmann 2002, 244ff.

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trialisiemngsprozess und durch die Cholera-Pandemien richtete sich zunachst in Frankreich der Blick auf die Gesundheitsbedingungen der Stadte wie auf die Arbeitsbedingungen. Die sich hier formierenden friihen Hygienebewegungen starkten mit ihren Arbeiten zur differen-tiellen Mortalitat und zu den KJrankheitsursachen das Interesse am „menschlichen Faktor" in Wissenschaft und Politik.^^ Das gab Anstofi zu Diskussionen innerhalb der Statistik und der Medizin und beforderte die Herausbildung der Begriffe „Sozialmedizin" und „Sozialhygie-ne".23

Vor diesem Hintergrund und der in den 1840er Jahren in Frankreich in der PoHtischen Okonomie einsetzenden Debatte um Malthus kam der Begriff „Demographie" auf. Ihn prag-te 1855 Achille Guillard (1799-1876). Demographic umriss fur ihn das Fachgebiet der 'menschlichen Statistik' {statistique humaine), das er tiber die Kritik an der PoHtischen Oko-nomie und an der Statistik charakterisierte.^'^ Guillards Schwiegersohn, der Mediziner Louis Adolphe Bertillon (1821-1883), modifizierte dann im Rahmen der (sozialen) Hygiene das Konzept Guillards und stellte eine Beziehung zwischen Demographic und Anthropologic bzw. Anthropometric her. ^ Im Laufe seines Demographicprojektes ersetzte er den individu-alistischen Bevolkerungsbegriff Guillards durch einen „systemischen".^^ Lctztlich avancicr-te Bertillon mit scinem Projekt zu cinem wichtigen Exponcnten des Institutionalisicrungs-versuchs der Demographic in Frankreich. Seine Zeitschrift Les Annales de Demographie In-ternationale wie die von ihm angcstoBcnen intemationalen Kongrcsse fur Hygiene und De-mographic^^ waren friihe Plattformen fiir die intcrnationale Auscinandersetzung mit dem Demographie-Projekt.^^ Es bleibt das Verdienst Bertillons, dass die Demographie um 1890 international prasent war.

II. Entwicklungen im deutschsprachigen Raum

Anders als in Frankreich gestaltetcn sich die Entwicklungen in Deutschland. Hier wurde der Begriff „Demographie" zwar wichtiger Eckstein in den Diskussionen iiber den Status der Statistik als Wissenschaft und Methode, doch konnte sich Demographie als eigenstandige Disziplin nicht durchsetzen. Vorherrschend blieb eine Bevolkerungswissenschaft, die im ge-samten 19. Jahrhundert in Deutschland eng an der Lehre Thomas Robert Malthus' (1766-1834) gebunden und in der Nationalokonomie verankert war. ^ Die bevolkerungspolitische

22 Schnapper-Amdt 1912, 204f; Rosen 1975. 23 J. A. Rochoux verwandte 1838, der Arzt Fourcault 1844 den Begriff „Sozialhygiene". 1848 pragte der Arzt

Jules Rene Guerin (1801-1886) den Begriff der „Sozialen Medizin". Siehe Ferdinand 2004 und die dort ange-gebene Literatur.

24 Zum Projekt Guillards siehe ausfuhrlich Schweber 1996, 30ff Vgl. Wappaus 1881, 50f 25 Ausfuhrlich Schweber 1996. Erwahnt sei hier, dass die kurzzeitige Anbindung der Demographie an die

Soziologie Bertillon zum Konzept der Mesologie {science des milieux) fuhrte, die den Einfluss der Umwelt auf die lebenden Organismen studieren und angewandte Politik sein sollte. Ebd., 117ff; Sand 1952, 441. Siehe auch Mackensen 2003a und den Beitrag Rainer Mackensens in diesem Band.

26 Siehe Mackensen 2003; ders. 2003a. 2* Seinen Ursprung hatte der Kongress in dem 1878 u.a. durch Bertillon einberufenen KongressfUr Demogra-

phie und geographische Medizin (Paris). Dieser verschmolz 1882 mit dem Intemationalen Kongress fUr Hygiene und figurierte dann als Internationaler Kongress fiir Hygiene und Demographie. Vgl. Zahn 1911, 886f; Schnapper-Amdt 1912,23f

28 Schweber 1996, 63ff.

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malthusianische Politik umzeichnete seit den 1830er Jahren bis zur Reichsgriindung 1871 eine weitgehende Koppelung an Ehebeschrankungsgesetze, in die auch Arzte praktische Vorschlage zur Abwendung der Ubervolkerung einbrachten.^^ Demgegentiber griffen libe-rale Arzte auf die fruhen Studien der franzosischen Hygieneaktivisten zuriick und nutzten die in deren Umfeld entstandenen Begriffe, um auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Krankheiten aufmerksam zu machen und um innere Reformen der Arbeits-, Lebens- und Wohnbedingungen der groBen Masse der Bevolkerung wie im offentlichen Gesundheitswe-sen einzuklagen. Der Begriff „Soziale Medizin" wurde durch Rudolf Virchow, Salomon Neumann und Rudolf Leubuscher zur Leitidee ihres 1848er Programms der politischen Re-form des Heilwesens.^^ Dieses Engagement machte Virchow zum Anwalt eines sozialis-tisch-demokratischen Prinzips und Neumann zu einem wichtigen Bahnbrecher der sozialen Medizinalstatistik, wahrend Leubuscher zu einem fruhen Vertreter eines breiten Arbeits-und Schwangerenschutzes, zum Propagandisten des Verbots der Kinderarbeit wie der Hu-manisierung der Psychiatric avancierte.^^

Den Begriff „Soziale Hygiene" fiihrte 1870 der neomalthusianisch orientierte Arzt Eduard Reich (1836-1919) ein. Er unterschied die Hygiene in moralische, soziale, diateti-sche und Polizeihygiene und verstand als Aufgabe der Sozialen Hygiene die Untersuchung aller Erscheinungsformen des sozialen Lebens, um das Wohl der Gemeinschaft zu wahren.^^ Seit den 1860er Jahren obsiegte dann eine naturwissenschaftlich orientierte Hygiene, die sich der sozialen Aspekte entledigte. (Tab. 1)

Die deutschsprachigen Statistiker wiederum waren friih mit den Demographie-Projek-ten und Institutionalisierungsbestrebungen Guillards und Bertillons vertraut: Johann Eduard Wappaus (1812-1879) hatte den Demographiebegriff Guillards kritisiert, Georg von Mayr (1841-1925) in don Annales ... Bertillons publiziert und Wilhelm Lexis (1837-1914) auf dem ersten intemationalen Kongress der Demographic 1878 vorgctragen.^"^ In der Debatte liber den Status der Statistik als Wissenschaft wurde der Begriff „Demographie" wichtiger Eckstein.^^ Dabei woUten Statistiker - so der in Deutschland gebiirtige franzosische Statisti-ker Maurice Block (1816-1901) -

„[...] die Demographic (Volksbeschreibung) als das ausschliefilich ihnen gehorige Gebiet in An-spruch nehmen, und man macht sic ihnen nicht streitig; nur sind eben hier die Grenzen verschieb-bar, der Eine begreift mehr, der Andere weniger mit diesem Ausdruck. Der Erfinder der Demo-graphic, Achille Guillard, behandelte damnter die Entwicklung des Menschengeschlechts, die Verteilung der Bevolkerung, die Menge der Unterhaltsmittel, das Verhaltnis der Altersklassen, der beiden Geschlechter, der Berufsklassen, femer die Entwicklung des geistigen und morali-schen Lebens, endlich die Lebensdauer und Sterblichkeit."^^

31

Ferdinand 1999. Mediziner beteiligten sich vor allem an der neomalthusianischen Bewegung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts auch in Deutschland konstituierte. Ebd., 17Iff. Am bekanntesten ist das Infibulationsprojekt des Hallenser Arztes und Medizinprofessors Carl August Wein-hold (1782-1829) zur Abwendung der Ubervolkerung. Siehe Matz 1980, 76ff; Sieferle 1990, 163ff; Ferdi-nand 1999, 49ff; Fuhrmann 2002, 268ff; Jutte 2003, 172ff Grotjahn 1908, 8. Vgl. Oberschall 1965,38ff; Ackerknecht 1953; Schipperges 1999, 145ff

32 Ausfiihrlicher Ferdinand 1999, 85ff und die dort angegebene Literatur. 33 Reich 1870. Vgl. Rosen 1975, 107f Erwahnt sei hier, dass fiir den bereits erwahnten L. v. Stein 'sociale

Hygiene' bzw. 'sociale Gesundheitspflege' darauf zielte, „den Schutz des Lebens und der Gesundheit vom Mangel an Besitz unabhangig (zu) machen." Zit. in Stockel 1996, 25.

34 Schweber 1996. 35 John 1895-96; Flamingo 1895-96; Block 1879. Vgl. Schweber 1996, 376ff; Kohler [Nikolow] 1994, 106ff

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1 Hygiene Konditional- oder Umgebungshygiene

Auslosungshygiene (Bakteriologie)

Konstitutionshygiene

Rassenhygiene

Begriinder Max von Pet-tenkofer(1818-1901) Robert Koch (1843-1910)

Ferdinand Hueppe (1852-1938)

Alfred Ploetz (1860-1940), Wil-helm Schallmayer (1857-1919)

Beziige zu Chemie, Physik und Statistik

Mikrobiologie

Modell eines dynami-schen Wechselverhalt-nisses von Disposition, Exposition und vermit-telnden Umstanden bzw. Vektoren, Ver-erbungsfragen Zoologie, Statistik

Praxis Assanierimg -praventive Interven-tion Neue MaBnahmen staatlicher Sanitats-aufsicht Geschlossene Hygiene des Menschen

Negative und posi-tive Eugenik

Tabelle 1: Entwicklungen der naturwissenschaftlichen Hygiene^^

In diesem Ringen stieBen z.B. Gustav Rumelins (1815-1889) Vorschlag, den Begriff „De-mographie" fur Staatenkunde zu nutzen, ebenso wie der Versuch Ernst Engels (1821-1896), Demographie als Oberbegriff fiir die Statistik als selbstandige Wissenschaft einzufuhren, auf Ablehnung. Engel, der das Konzept Guillards begruBte, befand:

„Im weitesten Sinne ... ist die Demographie die Natur- und Socialgeschichte der menschlichen Gattung; in dem Sinne dieser Abhandlung und der Schriften ... [Guillards] ist sie die nach Zahl und MaaB bestimmte KenntniB der physischen, geistigen und moraUschen Beschaffenheit der Bevolkerung der Staaten." ^

Wappaus kritisierte den Befund Engels. Ihm war der Demographiebegriff Guillards, dessen Arbeit er als die eines „Dilettanten" sah, zu eng.^^ Wissenschaftliche Statistik soUte „nicht bloBe Bevolkerungs-, sondem Staatenkunde sein.'"^^ Dem Versuch Wappaus', der Statistik als 'methodologische Hilfswissenschaft' einen neuen Namen zu geben, um so den Inhalt dieser Wissenschaft gleichsam zu erweitem, zollte Jahre spater Ferdinand Tonnies (1855-1936) Anerkennung. Er identifizierte Soziographie mit dem friihen Anliegen Wappaus' und sah in der Soziographie einen Begriff, den jener hatte willkommen heiBen miissen." ^

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Block 1879, 63. Nach Labisch 2001, 75ff Engel 1855, 141. Wappaus 1881, 118. Siehe Schweber 1996, 62. Feig 1907-14, 351, betonte, dass Engel die „Statistik als voUgutige Wissenschaft [sah], deren Grenzen als „Demologie" er weit absteckte und auf deren Gebiet er eine reiche schriftstellerische Tatigkeit entfaltete." Vgl. Korosi 1891-92, 399; Wappaus 1881, 50f, 109. Tonnies 1931, ders. 1931a; ders. 1929; Heberle 1959. Vgl. Jacobi 1971, 200ff Zum Konzept der Soziogra-phie von Tonnies und anderen siehe Engberding 2004.

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Wilhelm Lexis ordnete die Demographie neben der Ethnologic als verwandtes Gebiet der Anthropologie zu. Sie war „vergleichende Bevolkerungsstatistik, die nur Kulturvolker in geniigender Weise ihrer Beobachtung unterwerfen kann und namentlich die zugleich biolo-gisch und gesellschaftlich bedeutsamen Tatsachen der Geburten, Sterbefalle und Altersver-haltnisse nach ihrer eigentumlichen Methode untersucht."^^ Innerhalb der Statistik umfasste Demographie (im deutschsprachigen Raum Bevolkerungsstatistik) „alle von den Geburten, Sterbefallen und EheschlieBungen abhangigen statistischen Tatsachen, also auch die durch diese Zustande der beobachtbaren Gesamtheit, wie sie durch die Volkszahl, die Altersvertci-lung der gleichzeitig Lebenden, die Zahl der bestehenden Ehen usw. charakterisiert wer-den.'"*^ Hier bezog Lexis Aus- und Einwanderung und Morbiditat ein, nicht aber die Anthro-pometric und die Moralstatistik. Fiir ihn waren Moralstatistik und Demographic Zwcige der Wissenschaft von groBcr Selbstandigkeit.^ Georg v. Mayr wiederum wollte Bevolkerungs-statistik als exaktc Bevolkcrungslchrc - Demologic - verstanden wissen und integrierte den demographischen Stoff in die „Statistik als Wissenschaft"."^^ Er bcvorzugte die Bezeichnung Demologic der „wciter verbrcitcten Bezeichnung Demographie", da letzterc den Anschein crwecke als

„mache die Bevolkerungsstatistik bei der Beschreibung und Entwicklung der Bevolkerung Halt und verzichte auf die Ergrundung abstrakter Gesetzmafiigkeiten, die doch gerade den wichtigsten Inhalt der wissenschaftlichen Statistik ausmachen."" ^

Lctztlich kamen die Statistiker zu keinem Konsens, doch fand der Begriff „Demographie" seit Anfang des 20. Jahrhundert in Hygieneprojekten Verbrcitung. Das war verbunden mit zunehmender medizinalstatistischer Durchforschung der Bevolkerungsschichtcn, wobei Studien der Gesundheitsverhaltnisse bestimmter Bevolkerungsgruppen sich der Methoden aus der Statistik, Anthropometric und der Nationalokonomie bedicnten.^^ Mit der Einfuh-rung der Sozialversicherung beschranktc man aber die Sozialc Medizin oft auf die Versichc-rungsmedizin bzw. nutztc den Begriff synonym mit dem der Sozialen Hygiene.^^ Die Sozia-lc Hygiene widmete sich den Zusammenhangen zwischen Krankhcit und sozialcr Lage. Es wurde das Verdienst Alfred Grotjahns, ihr cine „selbstandigc, cigene Stcllung im System der Wissenschaft" zu gcben."*

Eine enge Affmitat zur Rassenhygiene und zu gencalogisch-demographischen For-schungsweisen kennzcichncte demgegenuber die Psychiatric, nach dem sie die Wende zum naturwissenschaftlichen Denken vollzogen hatte. Wieder cingliedert als ein Each der Medi-

42 Lexis 1909, 523. 43 Lexis 1911, 830. Vgl. Lexis 1903, 60ff. ^ Vgl. Schnapper-Amdt 1912, 16. 45 Mayr 1914; ders. 1898/99; Winkler 1969, 18f. 46 Mayr 1897, 9. Erwahnt sei an dieser Stelle, dass auch der ungarische Statistiker Joszef Korosi (1844-1906)

den Begriff „Demologie" praferierte, weil jener im Unterschied zum Begriff Demographie „auf den systema-tischen Zusammenhang und auf die Erforschung von Kausalzusammenhangen" hinweise. Korosi 1891-92; Horvath 1983; Ferdinand 2004.

47 Vogele & Woelk 2002,121ff; SachBe 1986, 63ff; Moser 2002. 48 Harig & Schneck 1990, 248ff Vgl. Gottstein 1909, 75ff; ders. 1932. Angemerkt sei hier, dass der Begriff

„Soziale Medizin" allgemein in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhundert nicht klar definiert war. Herber 2002, 450 (FN 10).

49 Niedermeyer 1934, 214; Jahresbericht.. . 1913, 1; Schallmayer 1914, 330.

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zin gestaltete sie sich iiber das Bundnis mit der aufkommenden Genetik als angewandte Wissenschaft zur Diagnose und Therapie vorgeblicher Degenerationserscheinungen in der modemen Gesellschaft. Ihre psychiatrisch-humangenetischen Studien versprachen die „erb-lichen Belastungen" in der Bevolkerung mittels demographischer Statistik zu erfassen, zu systematisieren und berechnen zu konnen, letztlich die „Erbwerte" der Menschen zu bestim-men.^^ Hier wurde die erbprognostische Methode Riidins bald zum bedeutungsschweren be-volkerungspolitischen Bindeglied einer vorgeblich notwendigen „Rassenpflege", mit der unter dem Primat der kollektiven Pflicht zur Gesundheit eine generative Praventionspolitik betrieben werden sollte.

III. Soziale Hygiene - Alfred Grotjahn

In den 1890er Jahren wurde die Soziale Frage, unter die Gesundheitsfragen subsumiert wa-ren, wieder virulent. Zugleich stritt man iiber Gefahren durch Deutschlands Eintritt in die 'Ara der Weltwirtschaft'. Das kumulierte in der sog. „Agrar- versus Industriestaat"-Debatte, in der mit Blick auf die Wehrkraftsfrage und den 'Zug nach der Stadt' demographische Ge-fahrenszenarien gezeichnet wurden. Die im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung einsetzende Stadt-Land-Migration, die sich verandemden Berufs- und Bevolkerungsstruktu-ren und die neuen sozialen Stratifikationsprozesse waren Kennzeichen innerer Bevolke-rungsverschiebungen und struktureller Veranderungen, die nicht nur von Riickwartsge-wandten als Weg in den Untergang bzw. der zunehmenden 'Degeneration' des deutschen Volkes wahrgenommen wurde. Das gab AnstoB zu statistischen Erhebungen und verhalf der „Theorie der Stadt als Rassengrab" zu einem rassentheoretischen „Modemisierungsschub". In der sich anschlieBenden Debatte brach sich die bevolkerungsstatistische Entdeckung des demographischen Obergangs bahn. ^ Das wiederum gab AnstoB fiir statistische Studien iiber Fruchtbarkeits- und Mortalitatsunterschiede in unterschiedlich defmierten Gruppen, fiir so-zialdarwinistische Studien iiber den vorgeblichen „Rassen- bzw. nationalen Selbstmord", befbrderte ebenfalls das eugenische und rassenbiologische Denken wie soziologisch empiri-sche Forschungen zur Frage nach dem biologischen Fundament der modemen Klassen- und Schichtenbildung. Zugleich starkte es das Interesse reformorientierter Arzte an demographi-schen und sozialen Aspekten von Krankheit und Gesundheit.^^

Hier war neben anderen^^ auch Grotjahns Projekt verortet. Es grenzte sich als dezidiert kritische Antwort auf die Debatten „Agrar- versus Industriestaat"^"^ zudem von der naturwis-senschaftlichen Hygiene^^ wie von rassen-, sozialanthropologischen und rassenhygienischen Positionen iiber zunehmende Entartungs- bzw. Degenerationsgefahren ab.^^ Grotjahn ver-folgte die Schaffiing einer wissenschaftlich eigenstandigen und praktisch relevanten Diszi-plin. Dabei verwies er als praktischer Arzt, „medizinischer Kathedersozialist" und Wissen-

50 Weber 1993, 95ff. 51 Siehe Ferdinand 2005. 52 Nadav 1985. 53 Die Autorin hat sich andemorts mit den Projekten des Nationalokonomen Julius Wolf (1862-1937) im Kon-

text der o.g. Debatte auseinandergesetzt. Siehe Ferdinand 2005a. 54 Sieferle 1989; Ferdinand 2005. 55 Grotjahn 1925. 56 Schallmayer 1904.

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schaftler ' auf die sich verschlechtemde gesundheitliche Situation der Arbeiterschaft wie auf dringende Sozialreformen.

In einer Emahrungsstudie zeigte er, dass die Umgestaltung der Volksemahrung in ei-nen „rationellen Emahrungstypus" bei den unteren Schichten mit unzureichender Emahrung einherging.^^ Die schlechte Emahrungssituation breiter Bevolkerungsschichten verstand er als ein soziales Problem, dem durch sozialpolitische und -hygienische MaBnahmen Abhilfe geschafft werden konnte.^^ Der These, dass Urbanisierung und Industrialisierung Entartung verursache, setzte er die Depravationsthese entgegen, mit der er sich zugleich gegen das „zo-ologische" und „anthropologische" Entartungsverstandnis des Rassenhygienikers Alfred Ploetz wandte.^^

Grotjahn erweiterte mit der Betrachtung der Emahrungssituation einzelner Schichten die (neo-)malthusianische Sicht der Wechselbeziehung von Nahrungsspielraum und Bevol-kerung. Gleichzeitig grenzte er sich durch die Anbindung der Sozialen Hygiene an die Nati-onalokonomie bzw. Soziologie vom Verstandnis bakteriologisch arbeitender Hygieniker ab. ^ In der Auseinandersetzung mit der Rassenhygiene meinte Grotjahn, dass das Zusam-mengehen von Medizinem und Biologen mit Nationalokonomen und Soziologen eine Erfolg versprechende Basis habe,

„wenn beide Lager, aber jedes nur mit den ihm eigenen Mitteln, an ein Problem sich heranma-chen Oder auch ein und derselbe Forscher, der dann allerdings in beiden Satteln gerecht sein mu6, ein solches Problem eine Strecke weit als Mediziner und Biologe, eine weitere als Volkswirt und Soziologe verfolgt." 2

Vor solchem Hintergrund boten er und der Okonom Friedrich Kriegel mit den Jahresberich-ten uber die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demo-graphie eine Plattform fur facheriibergreifende Informationen aus der Sozialen Hygiene und der Demographic. Sie folgten dem Grundsatz,

„da6 sowohl alles auf dem Gebiete der Medizin und Hygiene, was fur den Volkswirt, als umge-kehrt auf dem Gebiete der Nationalokonomie und der Sozialwissenschaften alles, was fiir den Arzt von Interesse sein konnte, registriert zu werden verdiene."^^

Grotjahn suchte eine systematische Begrifflichkeit fur die neue interdisziplinar angelegte Wissenschaft zu erstellen. Darauf baute sein theoretisches Grundkonzept der Sozialen Hygi-ene auf, das er 1904 der Berliner Gesellschaft fur offentliche Gesundheitspflege vorstellte. Soziale Medizin definierte Grotjahn als eine deskriptive und normative Wissenschaft. Als deskriptive Wissenschaft war sie „die Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemei-nerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von ortlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehorigen Individuen und deren Nachkommen unterliegt"; als normative „die Lehre von den MaBnahmen, die die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Ge-

57 Grotjahn 1932, 116. 58 Grotjahn 1902. Vgl. Tutzke 1979, 25f. 59 Grotjahn 1902. Vgl. Lewin 1913, 19ff, 42f. 60 Grotjahn 1902a, 169. 61 Grotjahn 1903; ders. 1902b, 26. 62 HUB-Archiv, Nachlass Grotjahn, Bd. 324, Blatt 3-13; Kantorowicz 1931, 290. 63 Jahresbericht... 1902, iv. Vgl. Mayr 1902-04, 309.

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samtheit von ortlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehorigen Individuen und deren Nachkommen bezwecken."^"^

Grotjahn verschmolz in der Definition seine Forderung nach Wahmehmung und Be-schreibung der sozialen Faktoren im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen mit seinem Leitmotiv des 'sozialhygienischen Kalkiils' - der generationstiberspannenden Verbreitung der hygienischen Kultur. Zugleich legte er einen zweigeteilten Aufgabenbereich der Sozial-hygiene fest: Als deskriptive Wissenschaft hatte sie den „Status praesens hygienischer Kul-tur" umfassend aufzunehmen; als normative „die Verallgemeinerung der hygienischen MaB-nahmen", d.h. „eine fortschreitende Verbesserung des jeweiligen Status praesens" zu be-zwecken. Damit entriickte er die Soziale Hygiene der rein naturwissenschaftlichen Hygiene und erklarte Medizinal-, Bevolkerungsstatistik, beschreibende Naturwissenschaft, National-okonomie und Sozialwissenschaften wie die wissenschaftliche Analyse von Politik zu deren Hilfswissenschaften.^^

Dies bemangelten Hygieniker wie Statistiker. Jene kritisierten Grotjahns methodische Abgrenzung der Sozialen Hygiene von der naturwissenschaftlichen Hygiene wie ihre Erhe-bung zur selbstandigen DiszipHn.^^ Letztere begriiBten die 'Vemunftehe' zwischen Sozialer Hygiene und Demographic, mochten aber der Zuschreibung der Bevolkerungsstatistik resp. Demographic als Hilfswissenschaft fur die Soziale Hygiene nicht folgen.^^

IV. Die Beziehung von Sozialhygiene und Demographic

In ihiQnJahresberichten stellten Grotjahn und Kriegel Soziale Hygiene und Demographic in einen expliziten Zusammenhang, den sie der Struktur des Internationalen Kongresses fiir Hygiene und Demographie entlchnten:

„Unsere Anschauung, dafi die Gesundheitspflege und Krankheitsverhiitung, falls sie sich nicht in Kleinigkeiten verlieren sondem zu einer wirklichen sozialen Hygiene erheben will, sich im-mer wieder an den Ergebnissen der Demographie und Bevolkerungsstatistik orientieren mu6, ha-ben wir im beabsichtigten Anklang an die Bezeichnung der internationalen Kongresse fur Hygie-ne und Demographie schon im Titel zum Ausdruck gebracht." ^

Durch die Beziehung von Hygiene und Demographie/Bevolkerungsstatistik grenzten sich die Herausgeber der Jahresberichte wiederum von der physikalisch-biologischen Hygiene ab. Sie betonten so auch die richtungsweisende Kraft der Demographie fiir die Neugestal-tung der (Sozialen) Hygiene:

„Denn immer wieder muB sich die Hygiene an den Ergebnissen der Demographie orientieren, wenn sie sich nicht in den Kleinigkeiten des rationellen Spucknapfes oder des geruchlosen Wa-terclosets verlieren soil." ^

^ Grotjahn 1904, XlVf. Vgl. Kaspari 1989. 65 Siehe Hubenstorf 1987, 349; Moser 2 0 0 2 , 4 8 f 66 Grotjahn 1925, 393f; Hubenstor f 1987, 350; Nadav 1985, 105ff Vgl . Thissen 1968; Fischer, A. 1923. 67 May r 1902-04. 68 Jahresbericht... 1902, Illf 69 Grotjahn 1904, X .

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Daruber hinaus maBen sie den o.g. Kongressen eine groBe Bedeutung zu und konnten dann uber den 1907er Kongress befmden:

„Es ist nun eine besondere Genugtuung, an dieser Stelle, ..., feststellen zu konnen, dafi unsere auf rein theoretische Erwagungen gestutzte Anschauung sich schneller durchgesetzt hat, als wir annehmen konnten. Hat doch der im Berichtsjahr in Berlin tagende XIV. Internationale KongreB fur Hygiene und Demographie zum ersten Mai die tibliche Scheidung der Veranstaltung in zwei selbstandige Teile aufgegeben und die Demographie in den allgemeinen hygienischen Rahmen eingegliedert... "." ^

Diese Integration der Demographie „in den allgemeinen hygienischen Rahmen" zeichnete auch einen Wandel in Grotjahns Verstandnis des Zusammenhangs zwischen Sozialer Hygie-ne und Demographie.^^ Fiir ihn hatte die Demographie resp. Bevolkerungsstatistik zunachst als Hilfswissenschaft der Sozialen Hygiene fungiert. Sie war Instrument der KontroUe iiber Erfolg sozialhygienischer MaBnahmen. Nun passte sie sich als integrativer Teil der Sozialen Hygiene in den multidisziplinaren Facherkanon - Statistik, Sozialwissenschaften, Medizin, Nationalokonomie - ein. Das starkte den Stellenwert der Arbeiten von Medizinem iiber spe-zifische Aspekte der Bevolkerungsdynamik bzw. methodische Arbeiten auf dem Gebiet der Vererbung und Grotjahns Bestrebungen selbst, die Soziale Hygiene zu erweitem.

Den Begriff „Demographie" defmierte Grotjahn - so weit wir sehen - nirgends expli-zit, doch war er fur ihn offensichtlich mit der Bevolkerungsstatistik identisch. Ihr maB er in der Sozialen Hygiene neben der Medizinalstatistik, eine herausragende Bedeutung zu. ^ Sie gab „Aufschluss iiber die Menge und besonders iiber den ftir die Entwickelung so ungemein wichtigen Bevolkerungsauftriebe, d.h. den Uberschuss der Geburten iiber die Sterbefalle" und stand im Gegensatz zur Gebrechlichkeitsstatistik, die die gesundheitliche Gesamtbe-schaffenheit der Bevolkerung erfasste.' ^

V. Soziale Hygiene und sexuelle und generative Hygiene

Soziale Hygiene als normative Wissenschaft war teleologisch ausgerichtet. Sie diente einer stetig fortschreitenden Verbesserung der hygienischen Verhaltnisse und der Konstitution 'nachwachsender' Menschen. Eine so weit gefasste Hygiene hatte die kommende Genera-tion mit einzubeziehen.^^

Die Aufnahme des generativen Aspektes in den Planungshorizont der Theorie nahm Grotjahn zunachst strategisch vor und zwar als Abwehr gegeniiber und Schutz vor rassenhy-

70 Jahresber icht . . . 1908,111. 71 HUB-Archiv, Nachlass Grotjahn, Bd. 226, Bl. 2. 72 Grotjahn 1930, 182. 73 Grotjahn 1914, 16. 7" „Wir defmieren die Soziale Hygiene als die Lehre von den Bedingungen, denen die Vera l lgemeinerung

hygienischer Kul tur unter einer Gruppe von ortlich, zeitl ich und gesellschaftliche zusammengehor igen Indi-viduen und deren N a c h k o m m e n unterliegt, sowie weiterhin als die Lehre von den MaBnahmen, mi t Hilfe deren j e n e Bedingungen d e m korperl ichen Befinden der Menschen dienstbar gemacht werden konnen . " Grot-j a h n &. Kriegel 1906, If. Vgl . Grotjahn 1912, 410ff; Kaspar i 1989, 79ff. Erwahnt sei hier, dass der Generat i -onsbegriff in der Statistik der Lebensdauer in deren Methoden („wirkl iche" und sog. „ideeller Genera t ion") Aufnahme fand und spater innerhalb der Lebensvers icherung eine wesent l iche Bedeutung zukam. Siehe Schnapper-Amdt 1912, 162, 209.

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gienischer Kritik an den kontraselektiven Wirkungen sozialpolitischer, -medizinischer und -hygienischer MaCnahmen. Der generative Aspekt war auch wesentliches Charakteristikum des interdisziplinar breit angelegten Projektes selbst und bildete den Grundstein von dessen Erweiterung, Soziale Hygiene hatte sich sowohl mit den sozialen Bedingungen von Krank-heiten wie auch mit den 'Beeinflussungen' sozialer Zustande durch Krankheiten und der Prevention 'erblicher Belastungen' zu befassen. Hier stellte er nun die sexuelle und generati-ve Hygiene der Sozialhygiene zur Seite. Jene richteten sich auf die Prevention 'erbUcher Be-lastungen' zur Abwehr von 'Degeneration' und waren fur ihn eine das generative Verhalten des Menschen rationell regelnde SonderdiszipUn. Deren auf die Vererbungswissenschaft und bevolkerungsstatistischen GesetzmaBigkeiten gestiitzten MaBnahmen - so hoffte er -wiirden den Widerspruch zwischen dem aus humanitaren Griinden gebotenen 'Schutz min-derwertiger Elemente' und der vererbungsbiologisch angezeigten 'Prophylaxe der Verer-bung von Minderwertigkeit' harmonisieren.^^

In seiner Sozialen Hygiene nahm die Prophylaxe 'erblicher Belastungen' Einfluss auf die Gesundheit zuklinftiger Generationen einwirkte^^ Dies war dann Grotjahns Schulter-schluss mit der Eugenik, der Fortpflanzungshygiene:

„... Soziale Hygiene kann und darf nicht ohne die engste Verbindung mit praktischer Eugenik betrieben werden."' '

VI. Soziale Hygiene, Geburtenriickgang und Eugenik

Mit der Aufnahme des generativen Moments erweiterte Grotjahn auch den Bevolkerungsbe-griff. Bevolkerung sah er als 'Inbegriff aller eines Volkes Land bewohnender nach Abstam-mung, Geschlecht, Alter, leiblicher und geistiger Bildung generativ miteinander verbunde-nen Individuen'.^^ In einer die zukunftsorientierten Sozialen Hygiene bildete die Fruchtbar-keit das zentrale MomentJ^ Dies wurde Grotjahns Einstieg in die Diskussion um den Gebur-tenriickgang,^^ in der er bald zum anerkannten Experten avancierte.

Als demographische Erscheinung seiner Zeit hatte der Geburtenriickgang fiir ihn nicht nur unzahlige Beziehungen zur Sozialen Hygiene, sondem gehorte zu ihren wichtigsten und aktuellsten Problemen.^^ Das legitimierte wiederum die enge Beziehung zwischen Bevolke-rungsstatistik/Demographie und Sozialer Hygiene und verpflichtete gleichsam zur 'Rationa-lisierung der Fortpflanzung', letztlich zu einer planenden eugenischen Bevolkerungspolitik.

Grotjahn baute die Rationalisierungsthese, Basis seiner bevolkerungspolitischen Idee, in den 1920er Jahren zur Fortpflanzungshygiene - Eugenik - aus. Die Unterscheidung zwi-schen 'quantitativer' und 'qualitativer' Rationalisierung der menschlichen Fortpflanzung flihrte ihn zur Forderung, dass in der Geburtenregelung die Wissenschaft (Medizin) die Fiih-

"75 Grotjahn 1915, 17; ders. oJ., 227f; ders. 1926, 97ff. Vgl. Hubenstorf 1987, 350f; Moser 2002, 47f. 76 Grotjahn 1904, XIV. 77 Grotjahn 1926, 97. Vgl. zur Begriffsdefinition ebd., 9ff. Siehe auch Moser 2002, 57ff. 7 Grotjahn 1926, 25. Er iibemahm diese Definition von Albert Schaffle (1831-1903), erganzte diese aber um

den generativen Aspekt. Ebd. 79 Grotjahn 1926, 23ff. 80 U.a. Grotjahn 1915, 48Iff; ders. o.J. 81 Grotjahn 1914a; ders. 1930, 182.

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rung zu iibemehmen habe.^^ Die 'quantitative Rationalisierung' war fiir ihn Aufgabe planen-der Reformpolitik; die 'qualitative Rationalisierung' der Fortpflanzung eng an den men-schenokonomischen Ansatz Rudolf Goldscheids (1870-1931) gebunden.^^

Grotjahns in den 1910er Jahren entwickelte Rationalisierungsthese zur Erklarung des Geburtenriickgangs erfasste als Ursachen • die Demokratisierung des Wissens iiber Vorbeugung von Geburten, • die 'Selbstzucht' und Besonnenheit kulturell aufsteigender Schichten sowie • „die Ahnungslosigkeit der Bevolkerung iiber die dysgenische Wirkung einer maB- und

regellos angewandten Geburtenvorbeugung." ^^

Grotjahn bewertete den Geburtenriickgang als notwendiges Ventil bei zu starkem Bevolke-rungswachstum. Dieses gait es nicht zu schlieBen, sondem 'richtig' zu handhaben.^^

In der Kritik an Malthus und dem Neomalthusianismus^^, deren Verkennung der Euge-nik er bemangelte, erklarte Grotjahn die Kontroversen um Malthus durch die modeme Pra-ventivtechnik als iiberholt. Deren 'richtige' oder 'unrichtige' bevolkerungspolitische An-wendung bildete fiir Grotjahn den Gegenstand der praktischen Eugenik.^^ In Abwagung der Gefahren und Vorteile 'rationeller Geburtenregelung' stellte er Fortpflanzungsregeln auf und entwickelte seinen - in den 1920er Jahren prominenten - bevolkerungspolitischen MaB-nahmenkatalog. ^

Wiederum grenzte sich Grotjahn von sozialdarwinistischen Geburtenriickgangserkla-rungen und der Darwinschen Selektionstheorie wie von rassenanthropologischen oder anti-semitischen Bestrebungen ab. ^ Dabei warf er den Munchner Rassenhygienikem vor, durch Einbeziehung anthropologisch-politischer Rassephantasien die Eugenik zu komplizieren. Entsprechend wamte er seine Schuler und Mitstreiter vor der Vermischung von Eugenik und politischer Anthropologic (Rassenhygiene)^^, die nur zu

„pseudowissenschaftlichen theoretischen Gnmdlagen des Antisemitismus und des Arierfimmels, wie der Kreis der Autoren des Munchener Verlagshauses Lehmann von Lenz bis Gtinther zeigt, fuhre."9i

Grotjahn sucht nach der Klarung der Beziehung zwischen Sozialer Hygiene und (prakti-scher) Eugenik. Diese meinte er in deren Biindnis gefunden zu haben:^^

„Loslosung von der politischen Anthropologic, Verselbstandigung gegentiber dem Darwinismus und engste Verkntipfung mit der sozialen Hygiene - das sind die unerlaBlichen Voraussetzungen fiir cine in Theorie und Praxis entwicklungsfahige Eugenik. " ^

82 Grotjahn 1915, 4 8 9 , 4 9 3 , 509. 83 Grotjahn 1914-1915. Vgl . Schmiedebach 2 0 0 1 , 63ff. ^ Grotjahn 1915, 515; ders. 1926, 103. Vgl . Kaspari 1989, 138, 149. 85 Grotjahn 1926, 103f; HUB-Archiv , Nachlass Grotjahn, Bd. 330 , Bl . 1-50. 86 Grotjahn 1926, 52 . 87 Ebd., 44ff. 88 Ebd., 132. 89 Ebd., 47ff; Grotjahn 1915. 90 Grotjahn 1926, 162, erfasste Rassenhygiene als politische Anthropologie in Abgrenzung zur Eugenik, der

Hygiene der Fortpflanzung. 91 HUB-Archiv , Nachlass Grotjahn, Bd. 324 , Bl . 8, 13. 92 Grotjahn 1914-1915; 1926, ders., 98f, 152.

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Disziplinare Grenzen am Rande der Medizin 265

Eine so gestaltete Eugenik stiitzte sich auf biologisch-medizinisches Tatsachenmaterial. Sie basierte auf der Beobachtung groBer Zahlen von Individuen (Bevolkerung) und war iiber die Bevolkerungsstatistik methodisch mit der Sozialen Hygiene verbunden. Eugenik konnte wie die Soziale Hygiene sozialwissenschaftliche Gedankengange einbeziehen, zur Losung der eigentlichen Probleme vordringen und zu einer 'planvollen Eugenik fur alle' werden,^^ die die Einflussnahme auf das 'Gesamterbgut' einer Bevolkerung umfasste.^^ Hierzu lieferten neben der Bevolkerungsstatistik die Vererbungsforschung das Wissen iiber die menschliche Fortpflanzung^^, das es zu bixndeln gait. Das erforderte ein interdisziplinares Zusammenge-hen. Damit erklarte Grotjahn die Eugenik nicht nur zum Betatigungsfeld von Arzten, son-dem auch von Soziologen, Bevolkerungstheoretikem, Wirtschaftswissenschaftlem u.a. und forderte diese auf, die Bevolkerungsfrage als eine eugenische neu zu erfassen. '

Diese Uberzeugung hatte ihn Jahre zuvor zum Riicktritt als Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft fur Soziologie (DGS) bewogen. Anlass war, dass sein ehemaliger Lehrer Ferdinand Tonnies den Versuch, eine sozialbiologische Abteilung in der DGS einzu-richten, zwar begniBte, doch darauf beharrte, dass der Vorstand zu dieser Einrichtung nur dann seine Zustimmung geben sollte, wenn das „Programm der 'Rassenhygiene' oder 'Eu-genik' als praktisch-wissenschaftliche Bestrebung streng ausgeschlossen" blieb.^^ Das war fur Grotjahn nicht akzeptabel und das Statement Tonnies' ein „starkes Stuck schulmeisterli-cher Anmafiung".^^

Gleichwohl gab es auch fur Grotjahn, wie wir bereits gesehen haben, Abgrenzungen: u.a. beziiglich des Rassebegriffs wie der deszendenztheoretisch-darwinistischen Eugenik. Dabei pladierte er zum einen dafur, statt „Rasse" einen Terminus, „der den generativen Zu-sammenhang einer groBen Bevolkerung andeutet", einzufiihren. Diesen meinte er in Ab-grenzung zur volkischen Ahnenforschung mit dem Begriff „Konnubialkreis" - der Kreis ,Jener Personen, die untereinander heiraten"^^^ - gefiinden zu haben. Zum anderen suchte er den Begriff „Auslese" von der Beschlagnahmung durch die Darwinisten zu befreien. Hierzu unterschied er die natiirliche von der sozialen Auslese, fur die er den Begriff 'Siebung' be-nutzt wissen wollte. Dem ftigte er „eugenische Auswahl", die bewusste und planmaBige Be-einflussung durch die praktische Eugenik, hinzu. Aus seiner Sicht hatte die natiirliche Ausle-se inhumane Begleiterscheinungen und die soziale Auslese (Siebung) barg die Gefahr „dys-genischer Ausschaltung der Hoherwertigen". Demgegeniiber erwiese sich jedoch die euge-nische Auswahl „human in ihren Mitteln und sicher in ihrer Wirkung."^^^

93 Grotjahn 1926, 99. ^ Ebd., 90ff. 95 Ebd., 99f. 96 Ebd., 245. Vgl. Grotjahn 1914, 16. Dabei gait es vor allem aus den Kenntnissen der Vererbungsbiologie, der

Erblichkeitsstatistik und der medizinischen Stammbaumforschung feste Regeln zu Ziehen. Ders. 1930, 183. 97 Grotjahn 1926, 99, 152, 268f, 295. 98 Zit.inJacobil971, 167. 99 Fiir Jacobi 1971, 168, fiihrte dies zum Bruch der freundschaftlichen Beziehung zwischen Grotjahn und Ton-

nies, der bis Ende der 1920er Jahre andauerte. 100 Grotjahn 1926,21f. 101 Ebd., 13f. Mit dem Begriff „Siebung" beschaftigt sich die Autorin in der zweiten Phase des Forschungspro-

jektes am Beispiel der Arbeiten des (Gewerkschafts-)Soziologen Karl Valentin Miiller.

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VII. Grotjahns bevolkerungspolitisches Wirken in den 1920er Jahren

Das publizistische Projekt AQX Jahresberichte hatte wahrend des Ersten Weltkriegs bereits mit Problemen zu kampfen und musste 1923 aufgegeben werden. Wichtige Aspekte wurden 1925 im „Archiv fur Soziale Hygiene und Demographie" neu belebt. Die hier gleichwohl entstandene Liicke der einstigen breiten Dokumentation der Literatur, beanspruchte 1931 Hans Harmsen (1899-1989) mit dem „Archiv fur Bevolkerungspolitik, Sexualethik und Fa-milienkunde"^^^ zu fiillen. Er erinnerte u.a. 1933 an die „Arbeit an der kiinftigen Genera-tion", die sein 1931 verstorbener Lehrer Grotjahn als den wichtigsten Teil der Sozialen Hy-giene gesehen habe. Das wollte er fortgeftihrt wissen in der Zeit der „geistigen Neuorientie-rung" mit der Machtubemahme der Nationalsozialisten. Harmsen hegte keinen Zweifel dar-an, dass nun entsprechende praktische bevolkerungspolitische MaBnahmen folgen wurden. Dabei bezog er Friedrich Burgdorfers (1890-1967) modifizierte Eltemschaftsversicherungs-idee Grotjahns mit ein und stellte sie in den Kontext der „Rassenpflege", die „im volkischen Staat nur eine Forderung der gesunden Familie kennt".^^^

Hatten Harmsen u.a. 1931 bereits die erwahnte Modifikation Burgdorfers beschrieben und auch Grotjahns bevolkerungspolitische Idee der Eltemschaftsversicherung hervorgeho-ben, " griff seine 1933er „Ehrenrettung" doch zu kurz: Denn Grotjahn war sich des Dilem-mas seines generativen eugenischen Konzeptes durchaus bewusst und hatte gegen den Vor-wurf, dass Soziale Hygiene die Fortpflanzung „korperlich und geistig Minderwertiger" for-dere, auf die Unmenschlichkeit des Entzuges ihrer hygienischen Obsorge wie auf die Not-wendigkeit einer (praktischen) Eugenik, d.h. MaBnahmen der Geburtenpravention, verwie-sen. Das war sein Konigsweg - „Schutz der Minderwertigen" und „Vermeidung der Verer-bung der Minderwertigkeit auf die nachste Generation". ^

Grotjahn, der spatestens in den 1920er Jahren anerkannter (inter-)nationaler Experte der Sozialen Hygiene, Gesundheits- und Bevolkerungspolitik war, wirkte in der Weimarer Republik neben seiner Tatigkeit als akademischer Lehrer als Schopfer einer „sozialistischen Eugenik" wie iiber die Konzeption kommunalarztlichen Engagements jtingerer Mediziner bei der Ausgestaltung der Berliner kommunalen Gesundheitspolitik, einschlieBlich Sexual-und Eheberatung. Obwohl die publizistische Aktivitat der sog. Grotjahn-Schule im sozialis-tischen Eugenikdiskurs eine Hinwendung zur arztlichen Expertise, einer legitimierten und vermittelten eugenischen Praxis,^^^ wie die Beforderung angesichts der Krisenlage „um 1930" einer durch zunehmende Medikalisierung „neuen" Sozialhygiene kennzeichnete,^^^ fuhrte 1933 die Machtubemahme der Nationalsozialisten in Deutschland zum Einschnitt der Sozialen Hygiene im Sinne Grotjahns. Viele seiner Schtiler mussten Deutschland verlassen - eben zu jener Zeit als Harmsen sich um die Konvergenz von Grotjahns Konzept mit der

^ 2 Siehe zu dieser Zeitschrift den Beitrag von Sonja Schnitzler in diesem Band. ° Harmsen 1933, 3, 10. Zu Harmsen siehe Schleiermacher 1998; zu Burgdorfer siehe Vienne 2004.

104 Harmsen 1931, 65ff. 105 Grotjahn 1930, 182f. 106 Schwartz 1995, SOff; Grossmann 1995, 40f. 107 Moser 2002, 120ff; Kaspari 1989,151 ff, 264ff.

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bald im Nationalsozialismus praktizierten Bevolkerungspolitik der „Rassenpflege" bemiih-te.

Grotjahn, dessen Stem als Gesundheits- und Bevolkerungsexperte innerhalb der SPD sich seit 1922 im Niedergang befand,^^^ gait fur den Miinchener Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887-1976) weiterhin als Sozialist: Lenz' Beziige zu den wissenschaftlichen Arbeiten Grotjahns im Archivfur Rassen- und Gesellschaftsbiologie und in seinen Einzelpublikatio-nen betonten bestandig dessen sozialistische Weltanschauung, und das in diffamierender.^^^ Damit verfolgte Lenz eine doppelte Strategic: Zum einen meinte er zu zeigen, dass auch fur Sozialdemokraten wie Grotjahn Umwelteinfliisse sekundar waren, zum anderen, dass Sozi-alhygiene, die nicht im Kern Rassenhygiene ware, ohne nachhaltigen Erfolg bliebe.^^^ Doch Grotjahn fand auch die Sympathie einiger junger Gesinnungsgenossen wie die des Gewerk-schaftssoziologen Karl Valentin Mtiller (1896-1963), der in den 1920er Jahrenseine Partner-schaft suchte, um die Eugenik in der Sozialdemokratie hoffahig zu machen.

Es war aber vor allem Grotjahns pragmatisches Verstandnis einer quantitativen Bevol-kerungspolitik^^^ unter dem Dach der „positiven Eugenik", die ihn in der Weimarer Repub-lik zu einem Bundnispartner weltanschaulich unterschiedlich ausgerichteter Gruppen mach-te. Letztlich fiihrte das zu seiner Berufung in den 1930 vom sozialdemokratischen preuBi-schen Innenminister Carl Severing (1875-1952) geschaffenen „Reichsausschuss fur Bevol-kerungsfragen". Dort suchte er als Leiter der Arbeitsgruppe I „Geburtenproblem in seinen bevolkerungspolitischen Auswirkungen", seiner Politik einer wirtschaftlichen Bevorrech-tung der Eltemschaft zur Abwendung des Geburtenriickgangs den Weg zu ebnen. Das schei-terte an fmanziellen Ressourcen wie an der Missachtung der Arbeit des Ausschusses durch die Reichsregierung. Insbesondere letzteres bewog Grotjahn im Juni 1931 zur Aufkiindi-gung dieser Tatigkeit:

„...Als Leiter der Gruppe I (Geburtenproblem) muss ich schon aus Riicksicht auf die namhaften Mitglieder dieser Gruppe, die sich aus bevolkerungspolitisch interessierten Statistikem, Volks-wirten, Aerzten und Politikem zusammensetzt, gegen diese Nichtachtung Verwahrung einlegen.

Was mich personlich betrifft, so bin ich nicht gewillt, mich an Arbeiten des so missachtend behandelten und vollig sinnlos gewordenen Reichsausschuss fiir Bevolkerungsfragen zu beteili-gen. Ich trete daher hiermit von der Stelle eines Gruppenleiters zurtick und erklare gleichzeitig meinen Austritt.. ." ^

Dieser Riicktritt Grotjahns zeigte „um 1930" die engen Grenzen der vom ihm eingegange-nen Biindnispartnerschaften unter dem Dach der „positiven Eugenik". Derm dieser mangelte es ebenso wie der jungen Vererbungswissenschaft und der „negativen Eugenik", der sich Ernst Riidin verschrieben hatte, an fundierten wissenschaftlichen Kenntnissen.^^^

108 Siehe hierzu Schwartz 1995, 70ff, lOOf. HUB-Archiv, Nachlass Grotjahn, Bd. 130. 10 Siehe HUB-Archiv, Nachlass Grotjahn, Bd. 110 (Briefwechsel zwischen Fritz Lenz und Grotjahn). 110 z.B. Lenz 1931, 251, siehe hierzu Kaspari 1989. 111 Dies fand Ausdruck in dem am Paradigma „Bev6lkerungsschwund" orientierten bevolkerungspolitischen

MaBnahmenkatalog. 112 HUB-Archiv, Nachlass Grotjahn, Bd. 174, Bl. 174. 113 Geiger 1933 in Schwartz 1995, 159.

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VIII. Psychiatrie und Bevolkerungspolitik - Ernst Riidin

Anders als Grotjahn, der mit amtlichen Bevolkemngs- und Medizinalstatistiken seine The-sen belegte, arbeitete Ernst Riidin zumindest in den friihen Jahren seiner wissenschaftlichen Karriere selbst empirisch. Zielte Grotjahns Soziale Hygiene auf eine soziale und gesundheit-liche Verbesserung breiter Bevolkerungsschichten, suchte Riidin mit kulturpessimistischen Annahmen rassenhygienische Forderungen sowie forschungs- und bevolkerungspolitische Ziele zu verbinden. Im Einklang mit seinem Lehrer Emil Kraepelin^ " folgte er der Diagnose drohender 'Entartung' wie der Forderung nach systematischer Durchleuchtung der Bevolke-rung durch staatliche Ausschiisse von Arzten und Statistikem zur Begriindung und planma-Bigen Umsetzung einer erbbiologischen Bevolkemngs- bzw. Rassen- und Gesundheitspoli-tik. In seinem Forschungsprogramm verfolgte er die systematische Zusammenfuhrung und statistische Auswertung psychopathologischer, somatischer, genealogischer, demographi-scher und physisch-anthropologischer Daten fur eine moglichst groBe Anzahl von Proban-den. ^^ Er wollte eine generative Prognose fur einzelne Individuen erstellen und so die wis-senschaftlichen Grundlagen (zukiinftiger) staatlicher Bevolkemngs- und Gesundheitspolitik gestalten. Riidin war davon iiberzeugt, dass mittels Erbprognose „das gute rassenhygieni-sche Wollen auch wirklich mit rassenhygienischem Erfolg zu kronen" ware. Das „Streben nach einem gut ausgebauten empirisch erbprognostischen System" mittels empirischer Erb-prognose der Erberkrankungserwartung war fiir ihn adaquates Komplement der empirischen Erbprognose der Lebenserwartung der Lebensversichemngsgesellschaften.^^^

Die Notwendigkeit solcher Erfassung fuBte im eugenischen Credo, die natiirliche Aus-lese durch eine kiinstliche zu ersetzen. Hierzu versprach er, dass Ergebnisse der (psychiatri-schen) Genetik zukunftig das Wissen und die Techniken fur eine Politik der „praventiven Selektion" gegen die generative Weitergabe schlechter Erbanlagen lieferten.^^^ Das zielte auf die Erbgesundheit biologisch definierter Gmppen und verfolgte langfristig den Erhalt bzw. die Verbessemng der biologischen Ausstattung des Menschen. Das Werkzeug war die von ihm entwickelte Methode der empirischen Erbprognose. Gestutzt auf seine eigenen kli-nischen Erfahmngen und seine rassenhygienische Weltanschauung formte er seine Methode aus der Nosologic Kraepelins und aus den modemen statistischen Verfahren Wilhelm Wein-bergs (1862-1937).^^^ Mit der 1916 erschienenen Abhandlung „Zur Vererbung und Neuent-stehung der Dementia praecox" meinte er eine psychiatrische Humangenetik zu begriinden, was Gmndlage seiner intemationalen wissenschaftlichen Anerkennung wurde. Mit dieser Arbeit initiierte Riidin einen Wandel der humangenetischen Forschung und der wissen-schaftlichen Psychiatrie: Hier wandte er sich methodisch von der (einseitigen) Betrachtung von Stammbaumen und Sippschaftstafeln ab und nutzte statt atiologischer Vorstellungen die Mendelschen Gesetze zur Ergebnisinterpretation.^^^

114 Neben diesem gelten auch die Psychiater Ludwig Wille (1835-1912) und Eugen Bleuler (1857-1912) als Rudins Lehrer. Becker 1988, 122.

115 Rtidin 1911. Vgl. Roelcke 2003,46. 116 Riidin 1933, 187. 117 Riidin 1911. Vgl. Roelcke 2003,46f. 118 Weber 1993, 95ff 119 Rudin 1916. Siehe Weber 1993, 109ff.

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IX. Rassenpolitik und wissenschaftliche Methode

Rtidins empirische Erbprognose wurde das methodische Instrument der wissenschaftlichen Arbeiten der Genealogisch-Demographischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt fur Psychiatrie}'^^ Obgleich diese Methode die „fruher vereinfachte Annahme zur Atiologie psychischer Storungen", auf denen die Rassenhygienebewegung bis dahin aufgebaut hatte, in Frage stellte,^^^ fiihrte das den Wissenschaftler und Aktivisten der rassenhygienischen Bewegung der ersten Stunde^^^ nicht zur Abkehr von rassenhygienischen Konzepten.^^^

Riidins psychiatrisches und rassenhygienisches Interesse ging vom Degenerationsbe-griff aus. Fur ihn waren seeHsche und geistige Storungen bzw. Defekte Zeichen fortschrei-tender genetischer Verschlechterung der „Rasse", die durch die ziviHsatorischen Errungen-schaften verursacht waren. Diesem wie dem vermeintHchen Dilemma in der Psychiatrie -die Einschrankung der 'natiirlichen Auslese' durch die Behandlung und Fiirsorge geistig kranker Menschen - woUte er etwas entgegensetzen. Hierzu suchte er die rassenhygienische Diagnose - 'Tendenz zur Entartung in Kulturvolkem' - durch eine erbbiologische Erfassung der Gesamtbevolkerung empirisch nachzuweisen und zeichnete im szientistischen rassenhy-gienischen Programm als nachhaltigen therapeutischen Weg zur „neuen Bliite der Kultur" -zur Emeuerung des Menschen^^"^ - die medikaHsierte Einflussnahme auf das menschUche Reproduktionsverhalten, konkret (Zwangs-)Sterilisation bei eugenisch indizierter Zeu-gungsprophylaxe.

ZwangssteriUsation hatte Riidin schon friih offentHch gefordert. Das stieB Anfang des 20. Jahrhunderts noch weitgehend auf Ablehnung^^^ und fand erst in den 1920er Jahre eine breitere positive Resonanz. Doch bezweifelten weiterhin viele Humangenetiker und Medizi-ner die Legitimitat „zwangsweiser Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger und sonsti-ger Entarteter" wie den nachhaltigen Erfolg solchen Eingriffes. Allgemein war man sich be-wusst, dass das Wissen iiber die Vererbung und die Erbgange psychischer Erkrankungen noch weitgehend ungeklart war. ^^ Auch Riidin folgte 1912 dem wissenschaftlichen Credo, dass exakte Untersuchungen fehlten, um die Frage der Mendelschen Vererbung in der Psy-chiatrie zu beantworten. 16 Jahre spater stand fur ihn jedoch fest, dass eine exakte Vorhersa-ge geistiger Krankheiten bzw. Begabungen innerhalb der Grenzen des Wahrscheinlichkeits-gesetzes moglich sei. ^^

Riidin, der seit den 1920er Jahren vorrangig als Wissenschaftsorganisator tatig war, verpflichtete seine Mitarbeiter zum unerschiitterlichen Glauben an die Vererbung psychi-scher Krankheiten. Das pragte die Forschungsprojekte der Genealogisch-Demographischen

120 Rudin 1938. Siehe Weingart et al. 1988, 245. 121 Weber 1993, 147. 122 Neben Alfred Ploetz gehorte Riidin zu den Mitbegriindem der Deutschen Gesellschaft fiir Rassenhygiene

(1905) und dQS Archivs Jiir Rassenhygiene und Gesellschaftsbiologie (1904). 123 Wetzell 2003, 70. 124 Vgl. Becker 1988,123ff. 125 Siehe hierzu Ganssmiiller 1987, 13; Weingart et al. 1988, 284. 126 Leitsatze ... 1922, 374. Stemmler 1925/26.

Weingart et al. 1988, 302; Riidin 1928, 395. 127

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Abteilung der Miinchener Forschungsanstalt^^^ wie Riidins Tatigkeit als Sachverstandi-ggj. 129

Letztlich strebte Riidin mit der empirischen Erbprognoseforschung den massenstatisti-schen Nachweis an, dass Geisteskrankheiten (Schizophrenie, manisch-depressives Irresein) mit einer bestimmten Haufigkeitsrate in den folgenden Generationen auftreten. Er war da-von iiberzeugt, den Weg fur die Therapie der rassenhygienisch motivierten „Beseitigung der kranken Erbstrome" erkannt zu haben. Hierzu erganzte er die psychiatrischen Familienfor-schungen durch Erhebungen in „auslesefreien", d.h. 'nicht gesiebten Bevolkerungsanteilen', einem Verfahren der Zwillingsforschung.^^^ Auf solcher Basis wollte er ein „bevolkerungs-biologisches Gesamtkataster" erstellen, das die Klassifikation der Bevolkerung in 'Minder-wertige', 'Durchschnittsmenschen' und 'Hochwertige' ermoglichte.^^^

Riidin begriiBte die rechtliche Regelung fur Zwangssterilisation - „Gesetz zur Verhii-tung erbkranken Nachwuchses"^^^ - durch die Nationalsozialisten:

„Die wissenschaftlichen Gnmdlagen fur eine Verhixtung erbkranken Nachwuchses muBten erst in jahrelanger Vorarbeit aufgebaut werden, ehe der Fiihrer durch seine geniale, die pohtischen Wi-derstande iiberwindende Tat den Ideen der rassenhygienischen Forschung in einem besonderen Gesetz zur Verhtitung erbkranken Nachwuchses Bahn brechen konnte." ^

Er ruckte im „Dritten Reich" zu einem Berater bei der Ausarbeitung des SteriHsationsgeset-zes durch die Berufung in den „Ausschuss fur Rassenhygiene" (spater „Sachverstandigenrat fur Bevolkerungs- und Rassenpolitik") des Reichsinnenministeriums, wie zum neuen Vor-sitzenden dor Deutschen Gesellschaft fur Rassenhygiene auf. ^ Riidin gehorte zu den Kom-mentatoren des Erbgesundheitsgesetzes. Durch die explizite Referenz in dem Kommentar auf seine Methode der Erbprognose avancierte diese zum offiziellen Bestandteil der Bevol-kerungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik im NS-Staat.^^^ Unter seiner Agide (1931-1945) profllierte sich dann auch die Deutsche Forschungsanstalt fur Psychiatric international mit populationsgenetisch-eugenischen Forschungen. Riidins Forschungsprogramm zielte darauf, mittels empirischer Erbprognoseziffem die wissenschaftliche Grundlage der positiven und negativen Rassenhygiene zu liefem.^^^ Dabei verfolgte er die Untermauerung und differen-zierte Anwendung der Sterilisationsgesetzgebung, ebenso die Erweiterung des Kreises der zu Sterilisierenden.^^^

Neben erbbiologischer Bestandsaufhahme suchte man u.a. einen „Belastungskanon" der haufigsten psychi-schen Erkrankungen in bestimmten Regionen zu erfassen. Weber 1993; Rickmann 2002. Weber 1993, 125ff. Als Sachverstandiger fungierte Riidin u.a. 1923 fur das Reichsministerium des Innem fur das Vorhaben der Einrichtung einer „Reichsanstalt fur menschliche Vererbungslehre und Bevolkerungs-kunde", das wegen der hohen Kosten bereits in der Planungsphase scheiterte, wie ftir das preuBische Ministe-rium fiir Volkswohlfahrt, hier in Sachen eugenischer Indikation des Schwangerschaftsabbruchs. U.a. fuhrte Otmar Freiherr von Verschuer (1896-1969) „auslesefreie Serien" in die Zwillingsforschung ein, Riidins Mitarbeiter, Hans Luxenburger, wandte sie erstmals in der Schizophrenieforschung an. Verschuer 1940, 377f; Luxenburger 1940. Riidin 1930, 229f. Vgl. Rickmann 2002, 30f.

^ 2 Es wurde am 14. Juli 1933 erlassen und trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Gesetz zur Verhiitung ... 1934, 13. 133 Riidin 1935, 23.

Vgl. Rickmann 2002, 68ff. Gesetz zur Verhiitung ... 1934.

136 Weber 1993,239f. 137 Das verfolgten in ihren Forschungen auch der Erbpathologe Heinrich Wilhelm Kranz (1897-1945) und der

Statistiker Siegfried KoUer. Siehe Kranz & Koller 1941.

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Riidin und seinen Miinchner Mitarbeiter(inne)n war bewusst, dass die empirische Erb-prognose mit hypothetischen Pramissen arbeitete. Die Gegenstande der Forschung wie z.B. die „psychopathischen Anlagen" waren begrifflich sehr unprazise und deren Erbgange wis-senschaftlich bei weitem nicht geklart.^^^ Auch hatte Riidin selbst den Erbgang der Schizo-phrenie durchaus nicht geklart, wie dessen Mitarbeiter, Hans Luxenburger (1894-1976), feststellte. Doch betonte dieser, dass Rudin der Erbpathologie, jenen ganz unvergleichlichen AnstoB" verliehen habe, dessen „Auswirkungen wir heute in der eugenischen Bevolkemngs-politik des neuen Deutschland bewundem." Fiir Luxenburger lag die Bedeutung der Arbeit Rtidins „neben der ideologischen Glaubigkeit in der unvergleichlichen und fur die damalige Zeit vollig neuen methodischen Exaktheit."^^^

Mit der politischen und wissenschaftlichen Anerkennung erhob sich Riidin nun (inter-) national zum unerschiitterlichen Propagandisten der deutschen Zwangssterilisationspra-xis. " ^ Er war taub gegenuber Kritik von Fachkollegen oder Statistikem aus Deutschland wie aus intemationalen Fachkreisen der Eugeniker, der Bevolkerungswissenschaftler und Psychiater. Unter den erstgenannten kritisierten z.B. der Rassenhygieniker Fritz Lenz (1887-1976) und der Statistiker Siegfried Koller (1908-1998) Riidins Schlussfolgerungen aus der empirischen Erbprognose. "^^ Auf intemationaler Ebene wurde betont,

„that no agreements exist to the amount of famiHal or hereditary feeble-mindedness. Estimates range from 10 to 80 per cent; and whereas eugenicists favour the latter figure, chnicians who are thoroughly acquainted with each particular case adopt the former percentage as more likely. And if this character depends on the co-operation of several recessive genes, their reduction and elim-ination would be no easy or quickly solved task. [...] Until we know more of the type of inherit-ance of feeble-mindedness and of the mathematical effects of selection on the composition of the people, there is no short cut to a solution of the problem. Sterilization and other eugenic meas-ures, however necessary, will not eliminate the need for institutional care and for training the fee-ble-minded in some occupations." ' ^

Seine intemationale Reputation wie seine wissenschaftsorganisatorische Erfahrung ver-schafften Riidin nicht nur Einfluss auf die Ausgestaltung der nationalsozialistischen Wissen-schaftspolitik, sondern auch auf die Bevolkerungswissenschaft und -politik dieser Zeit. Letzteres speiste sich aus der Zuschreibung, dass die erbbiologische Bestandsaufnahme der Bevolkerung eine Methode sei, „die zusammen mit der empirischen Erbprognostik" die Aufgabe habe, „einer eugenisch ausgerichteten Bevolkerungspolitik jene Grundlagen zu lie-fern, auf denen sie mit Aussicht auf Erfolg ihre Massnahmen aufzubauen vermag", "^^ wie Riidins Forschungsziel, den Fortbestand und die „Qualitat" des „deutschen Volkskorpers" zu erhalten und zu verbessem. ' ' Solche Zielstellungen prasentierte Riidin auch auf intema-tionalen bevolkerungswissenschaftlichen Konferenzen der International Union for Scientific

^^^ Roelcke 2003, 60f Siehe auch Wetzell 2003, der insbesondere auf die kriminalbiologischen Studien an Riidins Forschungsanstalt und auf deren dem rassenhygienischen Credo Rudins widersprechenden Ergebnis-sen eingeht.

139 Vgl. Roelcke 2003, 57. 140 Kuhl 1997; Ferdinand 1997; dies. 2004a. 141 Siehe Weber 1993, 142, 142 Rumney 1935,18. 143 Luxenburger 1938, 149. 144 Roelcke 2003, 66.

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272 Ursula Ferdinand

Investigation of Population Problems (lUSIPP) in den 1930er Jahren, wo er z.B. - so sein Mitarbeiter Karl Thums (1904-1976) - auf der Konferenz 1935 in Berlin gezeigt hatte,

„dass die menschliche Erbbiologie, ihre Methoden und ihre Ergebnisse, zu den wesentlichen Gmndlagen der praktischen Rassenhygiene und der Bevolkenmgspolitik gehoren und dass alle Disziplinen der Heilkunde durch systematische Forschungen auf ihren Spezialgebieten dazu be-rufen seien, die Unterlagen fiir rassenhygienische und bevolkerungspolitische Massnahmen zu schaffen." ^^

X. Riidin auf bevolkerungswissenschaftlichen Konferenzen

Im nationalsozialistischen Deutschland gait der Bevolkerungs- und Rassenfrage besondere Aufmerksamkeit; das Hauptaugemerk lag auf einer „richtigen Bevolkerungspolitik" auf der Basis von „Ausmerze" und „Auslese". Das starkte die Beziehung zwischen (Bevolkerungs-) Statistik und Biologie: „Biologische GesetzmaBigkeiten" waren ihrem Wesen nach „statisti-scher Natur", Erbstatistik fiir das „Wohl und Wehe der Menschheit" von herausragender Be-deutung, die Anwendung statistischer Methoden in der „Erb- und Rassenforschung" not-wendig.^^^ Zudem zeichnete sich eine Abwendung von einem individualistischen Bevolke-rungsbegriff durch die Hinwendung zum Volkskorper ab, „dessen Zellen ... Familien sind, die bluts- und rassemaBig sowie nach Sprache, Sitte und Kultur dem gleichen Volkstum an-gehoren."^^^ Letztlich basierte die offizielle Umgestaltung der Bevolkerungswissenschaft auf der (politischen) Forderung der „Pflege der bevolkerungspolitischen Wissenschaften" als „Grundlage der Erbgesundheits- und Rassenpflege" und als „Voraussetzung einer auf-bauenden Staats- und Familienpolitik".^^^

Das pragte die deutschen Beitrage auf der Berliner bevolkerungswissenschaftlichen Konferenz der lUSIPP 1935. In seiner Eroffnungsrede defmierte der Anthropologe Eugen Fischer (1874-1967) die Bevolkerungswissenschaft als eine biologische Disziplin und be-tonte deren enge Verbindung zur menschlichen Erblehre und Rassenhygiene. Als wichtige Leistung der Erbforscher sah er, dass durch sie die generative Verantwortung zur qualitati-ven Seite der Bevolkerungsvermehrung werden konnte.^^^ Der Prasident des Reichsgesund-heitsamtes, Hans Reiter (1881-1969), definierte Bevolkerungswissenschaft als erbbiologi-sche Hygiene und beschrieb den Weg dahin liber die erbbiologischen Forschungserkenntnis-se, die „die Innenstruktur des Menschen als eine erbbiologisch bedingte Konstitution" be-greifen, als „richtig begriffene" Bevolkerungswissenschaft:

„Das bevolkerungswissenschaftliche Denken der Gegenwarts- und Zukunftshygiene lauft ... nicht in die Breite (Familie und Volk von heute), sondem gleichzeitig in die Tiefe (Generationen gestem, heute und morgen). Die Denkweise der bevolkerungswissenschaftlich durchdrungenen Hygiene ist zeitlos und raumlos, und ihre Aufgaben stehen iiber Raum und Zeit!" ^

145 Thums 1938, 151. J46 Fischer 1940; Koller 1940; Burgdorfer 1940a. 147 Burgdorfer 1940b, 162. 148 Frick 1934. 149 Fischer 1936,41f 150 Reiter 1936, 857.

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Riidin legitimierte seine empirische Erbprognose als das Instrument, das ermogliche, „die Mafinahmen der qualitativen Rassenhygiene zu den Erfordemissen der quantitativen Bevol-kerungspolitik fortlaufend in das richtige Verhaltnis zu bringen."^^^ Sein Miinchner Mitar-beiter Albert Harrasser (1903-1977) erganzte dies mit Ausfuhrungen zur „Rassenlehre", je-nem „neuen Angelpunkt der medizinischen Forschung" und im medizinisch-anthropologi-schen Programm wichtigen Baustein der Bevolkerungswissenschaft. Sie liefere „theoreti-sche Erkenntnisse fur die rassischen Grundlagen" der modemen Bevolkerungslehre und zu-dem „praktische Richtlinien fur eine qualitative Bevolkerungspolitik".^^^

Kritik gab es auf der politisch instrumentalisierten Berliner Konferenz kaum. Nur der Franzose Jean Dalsace, einem den Kommunisten nahestehenden Eugeniker, erhob in seinem Beitrag Zweifel an der Zulassigkeit der Sterilisationspraxis. Er verwies mit zwei Deszen-denztafeln auf simplizistische Verkiirzungen des Vererbungsglaubens bestimmter Geistes-krankheiten und verwarf jede Sterilisation, die der Rassenpolitik diente, als wissenschaftli-che Absurditat und moralisch als Monstrositat.^^^ Dalsace betonte, dass auch die Umweltbe-dingungen und die Erziehung zu beachten waren. Sterilisation nur in sehr seltenen Fallen Anwendung fmden sollte, zudem hatte sie niemals eine bestrafende MaBnahme zu sein. "

Riidin meinte Irrtumer im Vortrag Dalsaces festmachen zu konnen und verwies auf vorgeblich giinstige Massenbeobachtungen iiber die Durchfiihrung des Eingriffes. Er beton-te, dass wenn fur viele Arzte die Ursachen der Erbkrankheiten noch im Dunkeln lagen, dies nicht an der Wissenschaft lage, sondem an den Arzten selbst. ^^ In seinem Vortrag stellte er dann die Beziehungen zwischen quantitativer und qualitativer Bevolkerungspolitik ins Zen-trum. Er hob hervor, dass man in Deutschland absichtlich die 'Auslese- und Ausmerzevor-gange' durch „Hebung der Fortpflanzung der guten und durch Hemmung der Fortpflanzung der schlechten" starkte. Das erforderte das „rechtzeitige" Erkennen der - schlechten und gu-ten - Gruppen von „Erbvarianten" „vor dem Eintritt in das fortpflanzungsfahige Alter". ^ Dem in Berlin versammelten intemationalen Auditorium verkiindete er, dass sein Institut und seine Mitarbeiter entschlossen waren, die „fur die Rassenhygiene und Bevolkerungspo-litik hochst praktische Wissenschaft der empirischen Erbprognosebestimmung ... fur alle anderen Krankheiten und Abnormitaten, welche auf erblicher Grundlage entstehen, weiter auszubauen." Das ermogliche, „allen Angehorigen einer Volksgemeinschaft hinsichtlich der Art, des Grades und der Gefahrlichkeit krankhafter Erbanlagen, welche sie beherbergen, auf einer langen Stufenleiter ihren Platz, ihre Erbrangstelle anweisen zu konnen." Nur so - so sein Fazit - konnen „die MaBnahmen der qualitativen Rassenhygiene zu den Erfordemissen der quantitativen Bevolkerungspolitik fortlaufend in das richtige Verhaltnis" gebracht wer-den. ^^ Der Konigsweg hierflir war „kunstliche Ausmerze" durch Unfruchtbarmachung oder sonstige Verhutung der Befruchtung. Letztlich meinte er, dass das „Verhaltnis zwischen Fortpflanzungsfbrderung der Erbgesunden und Fortpflanzungshemmung der Erbschlechten ... bevolkerungswissenschaftlich durch empirische Erbprognose, biologische Bestandsauf-

151 Rudin 1936, 656 . 152 Harrasser 1936, 625 . 153 Dalsace 1936. Vgl . Harmsen 1935, 359; Kiihl 1 9 9 7 , 1 3 3 ; Ferdinand 1997; dies. 2 0 0 4 c . 15 Dalsace 1936,711. 155 Harmsen & Lohse 1936, 7 1 1 ; Harmsen 1935, 359 . Vgl . Kiihl 1997, 135. 156 Riidin 1936, 655 . 157 Rudin 1936, 656 .

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nahme und die iibliche Bevolkerungsstatistik erkennbar und feststellbar und bevolkerungs-politisch beherrschbar [ware]."^^^

StieBen auch Vortrage aus dem Umfeld Rtidins u.a. bei Lenz auf Kritik, so bestimmte aber der erbbiologisch determinierte generative Aspekt Riidins weitgehend die hier vertrete-nen bevolkerungspolitischen Auffassungen der deutschen Teilnehmer.^^^

In Deutschland feierte man die Berliner Konferenz euphorisch, im Ausland stieB hinge-gen die NS-Rassen- und Bevolkerungspolitik zunehmend auf Kritik und Gegnerschaft. Das war u.a. AnstoB fiir die Anthropologen Franz Boas (1858-1942) und Ignaz Zollschan (1877-1948), den Psychologen Maximilian Beck und fiir die franzosische 'Gruppe gegen Rassis-mus' auf dem 1937 in Paris stattfmdenden bevolkerungswissenschaftlichen Kongress der lUSIPP der nationalsozialistischen Rassen- und Bevolkerungspolitik offensiv entgegen zu treten.

In Deutschland, wo man die vorbereitenden Aktivitaten der Kritiker durchaus wahr-nahm, war die Teilnahme deutscher Wissenschaftler an dieser Pariser Konferenz offiziell er-wiinscht. Aufgabe der ausgewahlten Wissenschaftler war, „deutschfeindliche" Positionen abzuwehren und zugleich der Wissenschaft und Politik im NS-Deutschland intemationale Reputation und Legitimation zu verschaffen.^^^ Dem kam als Delegationsleiter Riidin^^^ durch sein offensives Eintreten fiir die deutsche Bevolkerungswissenschaft und -politik und eine rassenhygienische Psychiatric auch nach,^^^ was Karl Thums retrospektiv als Erfolg und Leistung Riidins innerhalb der intemationalen Wissenschaft wertete:

„...; es wird alien Teilnehmem unvergesslich bleiben, wie Riidin vor zwei Jahren auf dem Inter-nationalen KongreB ftir Bevolkenmgswissenschaften in Paris die deutsche Erbprognose und Be-volkerungspolitik gegeniiber den hafierfiillten weltanschaulichen Gegnem vertrat und der deut-schen Wissenschaft zu einem vollen Siege verhalf." ^

Riidin antwortete auf die Beitrage der o.g. Kritiker gegen die „deutsche Rassenidee" und auf die vehemente Kritik an der rassenhygienischen Sterilisationspolitik, die zwar nicht neu war, aber offensichtlich fiir die deutsche Delegation iiberraschend kam.^^ Letzterer Kritik suchte die deutsche Delegation in Paris durch den fast stereotyp vorgetragenen Hinweis, dass quali-tative Bevolkerungspolitik als Erbpflege neben den MaBnahmen der „Ausmerze" vor allem positive, geburtenfordernde MaBnahmen umfasse. Diese Darstellung meinte man mit den Referaten Ernst Rudins, Hans Luxenburgers u.a. ausreichend erklart zu haben. ^^

Riidin hatte in seinem Beitrag darauf verwiesen, dass es fiir die qualitative Bevolke-rungspolitik der Zukunft noch wissenschaftlicher Grundlagen bedarf, dass diese Politik ein

158 Rudin 1936, 658 . 159 Siehe ausfiihrlich Ferdinand 1997. 160 Vgl. Weber 1993, 232f. 161 Ursprunglich war Eugen Fischer als Delegationsleiter emannt worden. Er musste aber kurzfristig aus Krank-

heitsgriinden zurucktreten. Losch 1 9 9 7 , 2 6 9 f 162 Im Rahmen der Pariser Weltausstellung fanden nacheinander sowohl der II. Intemationale Kongress ftir Psy-

chische Hygiene, der I. Intemationale Kongress ftir Kinderpsychiatrie und der Intemationale Kongress ftir Bevolkemngswissenschaft statt. Bei alien dreien flingierte Riidin als Leiter der deutschen Delegation. Weber 1993, 233.

163 Thums 1939, 126. 164 SoPfeill937,297f. 165 Riidin 1938a; Luxenburger 1938.

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langfristiges grofies Untemehmen sei. Gleichzeitig betonte er, dass der Wissenschafitler, der sich jahrzehntelang klinisch, soziologisch und erbbiologisch mit Erbkranken beschaftigt hat, erkennen musste,

„was Eugenik der Geistesstorungen fiir die Menschheit bedeutet und welches ungeheure Elend durch eine folgerichtige Verhinderung der Fortpflanzung der Geisteskranken aus der Welt ge-schafft wiirde. Und da es sich heute bei einer emsten und durchfuhrbaren ausmerzenden Eugenik nur um die Elimination der Nachkommen von zweifellos Erbkranken handeln kann, stellen auch berechtigte Forderungen einer qualitativen Bevolkemngspolitik ... keinen Einwand dagegen dar."i66

Sein Mitarbeiter Luxenburger, der die Methodik der psychiatrischen Erbforschung vorge-stellt hatte, meinte in seinen Ausfuhrungen, dass Familienforschung, Zwillingsforschung und erbbiologische Bestandsaufnahme der Bevolkerung geeignet seien, das genetische Ex-periment zu ersetzen, wobei er auch die Bedeutung der genealogischen und demographi-schen Vorarbeiten hervorhob.^^^ Der Statistiker Friedrich Zahn (1869-1946) wiederum zeig-te, auf welche Weise die Grundlagen fiir eine umfassende Erbprognose der deutschen Be-volkerung gewonnen wurden. Er verwies darauf, dass Ansatze zu erbbiologischen Erhebun-gen fiir bestimmte Personenkreise und Bezirke in Deutschland bereits vorlagen^^^ und zollte den „feineren Methoden biologischer Betrachtung der Bevolkerungsvorgange" Anerken-nung. Durch sie v^are es moglich geworden, auf „die Hebung der Geburtlichkeit" hinzuvv ir-ken und „dabei den Bestand der gesunden Erbmasse im Volke nachdriicklich zu fordem." Zwar erkannte er, dass bisherige statistische Unterlagen nicht fiir erbbiologische Zusam-menhange taugten, doch verwies er auf- wenn auch noch begrenzte - erbbiologische Unter-suchungen liber Sippschaftstafeln und andere von Wissenschaftlem oder Arzten durchge-flihrte Untersuchungen, die spezifische Personengruppen erfassten, etw a die, die ein Ehe-standsdarlehen beantragten. Dazu kamen jene erbbiologischen Untersuchungen von Perso-nen, die aufgrund des 'Blutschutzgesetzes' - veranlasst durch Standesbeamte - untersucht vmrden. Auch lobte er Riidins Forschungsanstalt und deren erbbiologische Bestandsaufnah-men. ^^ Ergebnisse systematischer Einzeluntersuchungen erganzten den Reigen und zeigten, dass "die deutsche Wissenschaft auf den ganzen Problemkreis: Rasse, Konstitution, Umwelt gerichtet ist.'' ' ^

Kritik richtete sich u.a. gegen Riidins Schatzungen iiber den Verbreitungsgrad der Erb-krankheiten, ca. 300.000 Menschen als Minimalzahl, und gegen die Sterilisationspraxis. Ja-cob Sanders z.B. stellte eine eugenisch indizierte Sterilisation prinzipiell in Frage und fragte, ob unter der Bedingung, dass die Schizophrenic heilbar v^erde, man noch immer ihre Anla-gentrager sterilisieren wolle. Der Psychiater Fishl Schneersohn (1887-1958) verglich die Erbchirurgie mit der Chirurgie in ihren Anfangsjahren, wo das Messer mehr Schaden ange-richtet als Heil gebracht habe. Er rief nach einem „Aseptiker der Eugenik" und stellte den Eugeniker mit dem Henker in eine Reihe. ^^

166 Riidin 1938a, 214 . 167 Luxenburger 1938, 146. 168 Zahn 1938. 169 Zahn 1938, 199ff. 170 Pfeil 1937, 298 . 171 Pfeil 1937, 298f.

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276 Ursula Ferdinand

Riidin selbst wie die Gruppe um ihn reagierten aggressiv und offen diffamierend.^^^ In seiner Schlussbemerkimg konstatierte Rudin, dass sein Vortrag Eugenik der Geistesstorun-gen hier „wohl augenscheinlich ganz besonders den weltanschaulichen Widerspruch der nicht-arischen Zuhorer herausgefordert" hatte. Er war tiberzeugt davon, dass es ihm in der Erwiderung gelungen sei, „den deutschen Standpunkt wiirdig" zu wahren und somit „sach-lich und moralisch zweifellos einen Sieg davongetragen" zu haben. Mit einem solchen blin-den Glauben stand er nicht allein in der deutschen Delegation wie das Fazit Richard Ko-rherrs(*1903)zeigt:

„Deutschland kaiin zufrieden auf den KongreB zuriickblicken. Die deutsche Sprache war die zweitstarkste des Kongresses neben der franzosischen. Die Vortrage tiber deutsche Bevolke-rungspolitik waren die besuchtesten. Die Auseinandersetzimgen endeten mit einem sachlichen und charakterlichen Siege Deutschlands. Auch die Statistik kann mit Stolz auf den KongreB zu-ruckblicken[...]."i^3

Also waren die deutschen Bevolkerungswissenschaftler und Rassenhygieniker mit ihrem Auftreten auf dem Pariser Kongress insgesamt zufrieden. Sie zweifelten nicht daran, weiter-hin ihren Einfluss innerhalb der lUSIPP behaupten zu konnen, trotz der seit 1935 auch in dieser intemationalen Organisation der Bevolkerungswissenschaftler laut werdenden Kritik gegeniiber der NS-Rassen- und Bevolkerungspolitik. Das zeigte sich an der Kritik gegen die politische Instrumentalisierung der Berliner Konferenz durch das deutsche Komitee ebenso wie in der Forderung einiger amerikanischer und hollandischer Kollegen nach einer kriti-schen und konsequenten Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Grundlagen des nationalsozialistischen Rassismus. Innerhalb der lUSIPP blieb dies ohne praktische Konse-quenzen. Im Gegenteil: Es gelang Riidin seinen Einfluss zu starken, u.a. wurde aufgrund sei-nes Vorschlages Adolphe Landry (1876-1947) als neuer Prasident der lUSIPP gewahlt. ' '

XI. Fazit

Die beiden hier vorgestellten Akteure weisen eine jeweils spezifische Beziehung zur Demo-graphic auf. Beide wurden in den letzten Jahren Gegenstand medizinhistorischer Debatten. Dies ist der pradikativen Ausrichtung ihrer Medizin geschuldet, das Bevolkerungs- und Ge-sundheitspolitik zum Instrument der Verwirklichung einer eugenischen/rassenhygienischen Utopie machte.

In den Diskussionen um den Sozialhygieniker Grotjahn, der 1931 starb, geht es um die Frage nach einer unterbrochenen Kontinuitat der Sozialhygiene und Eugenik der Weimarer Republik nach 1945: Dabei figurierte Grotjahn zunachst als „Heros eines 'sozialistischen Gesundheitswesens'" und wurde dann „auf die Anklagebank als intellektueller Forderer des

Kiihl 1997, 150, fasst dies wie folgt zusammen: „Emst Rodenwaldt diffamierte die Kritik von Boas, Zoll-schan und Beck als 'rabbinische' Argumentationsweise [...] Elisabeth Pfeil, [...], als politisch motivierte *Entgleisungen'. Karl Thums, Mitarbeiter Riidins am Kaiser-Wilhelm-Institut in Munchen tonte, dass die Vortrage der 'Juden Beck, Prag, Zollschan, Frag, Boas, New York' [...] eines wissenschaftlichen Kongresses unwurdig seien."

173 Korherr 1937/38, 331. Ahnlich auch Pfeil 1937, 301. Als Vizeprasidenten wurden gewahlt Eugen Fischer, Ernst Mahaim, Warren Thompson, Charles Close, H. W. Methorst, Livio Livi und Karl Edin. Vgl. Kuhl 1997, 151.

174

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Nationalsozialismus" gesetzt. Als problematisch zeigte sich in seiner Konzeption der Sozia-len Hygiene und im Konzept seiner Fortpflanzungshygiene die (bis heute) ungeloste Frage, wie eine „an elementaren Menschenrechten orientierte Kontrolle und Begrenzung techno-kratischer Sozialhygiene aussehen konnte." ' ^ Mit Grotjahns Schritt von der Sozialen Hygi-ene zur Ausformulierung der Fortpflanzungseugenik veranderte sich konzeptionell auch die Beziehung zwischen Sozialer Hygiene und Demographie. Obgleich in Abgrenzung zur Ras-senhygiene von Ploetz und anderen, bezog er uber den pradikativen Aspekt der Verantwor-tung fiir zukiinftige Generationen die Erblichkeitsforschung in das Konzept einer nachhalti-gen Bevolkerungs- und Gesundheitspolitik ein.

Im Unterschied zu Grotjahn verbanden sich Rtidins Vorstellungen eng mit dem Rassen-hygiene-Begriff Ploetz', was wichtiger Grundstein seiner (friihen) methodologisch empiri-schen Forschung wurde. Entsprechend Uegt der Gegenstand der Kontroverse iiber Riidin in der Einschatzung methodologisch zeitgemaBer empirischer Forschung. Es geht um die Fra-ge des Verhaltnisses empirischer Wissenschaft und Weltanschauung, konkret um die Frage nach der personlichen Verantwortung des sich als modemer Empiriker gerierenden Wissen-schaftlers Riidin an der Ausgestaltung der morderischen NS-Politik durch die bewusste Ne-gation der Inkongruenz zwischen empirischen Befunden und politischer Empfehlung.^^^ Rii-din war sich durchaus bewusst, dass die Ergebnisse der Erbprognose seines Instituts keines-wegs eine so weit gefasste Zwangssterilisationspraxis legitimierten. Er arbeitete mit dem Nimbus des Empirikers und gait als Pionier einer neuen Methodologie.

Riidins wissenschaftlich auBerst ambitioniertes Programm der psychiatrischen Genetik - so der Medizinhistoriker Volker Roelcke - zielte von Anfang an auf politische Umset-zung, konkret auf die Erhaltung und Verbesserung der 'Rasse', der Rassebegriff bildete so-mit das Schamier zwischen Wissenschaft und Politik.^^^ Mit diesem Befimd begegnet Roel-cke dem Psychiater Matthias A. Weber, der in seiner Biographic iiber Riidin darauf ver-weist, dass Rudin seine empirischen Befimde stets unkritisch zugunsten seiner eugenischen Konzepte interpretierte. Der Historiker Richard F. Wetzell konzediert beiden Positionen eine Berechtigung. Er meint jedoch, dass dies „das Spannungsfeld zwischen der methodisch fortschreitenden empirischen Forschung an dieser Forschungsanstalt, die einfache geneti-sche Erklarungsmodelle in Frage stellten, und den von Riidin vertretenen rassenhygieni-schen Forderungen und nach 1933 MaBnahmen, die sich auf eben diese Erklarungsmodelle stiitzte, deshalb nicht weniger wichtig" mache. Er zeigt, dass diese Diskrepanz ein zentrales Merkmal der Geschichte der Deutschen Forschungsanstalt fur Psychiatric vor und nach 1933 war. ^^ Laut Wetzell gab es selbst innerhalb der Miinchener Forschungsanstalt beziig-lich des genetischen Determinismus Riidins sehr wohl Abweichungen und Meinungsver-schiedenheiten. Einige folgten nicht dem genetischen Determinismus Riidins, blieben aber weitgehend wirkungsohnmachtig.

175 Hubenstorf 1987, 358; Ferdinand 2004. ^''^ Hier sei angemerkt, dass es auch um die Verstrickung Riidins mit der Euthanasie-Problematik eine aktuelle

Diskussion gibt. Gegen die von Weber 1993; ders. 2000, vertretene These der Relativierung einer diesbeziig-lichen Verantwortung verweisen Roelcke et al. 2000 darauf, dass Riidin der Euthanasie keineswegs ableh-nend gegeniiberstand. Siehe auch Rickmann 2002,27Iff.

177 Roelcke 2003,41. 178 Wetzell 2003, 70.

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Zeigt sich im Grotjahn-Projekt die Problematik der Beziehung zwischen Medizin und Bevolkerungswissenschaft und -politik in der sozialtechnokratischen Idee, so ist es bei Rii-din augenscheinlich ein biologischer Determinismus, der die empirischen Arbeiten unter dem NS-System zu einem Werkzeug totender und ausgrenzender Politik macht. Dass Riidin dabei auch international die Bevolkerungswissenschaft vertrat, zeigt, dass weder die diszip-linare Zugehorigkeit noch die Avanciertheit der Methodologie als gute Indikatoren fur die Involviertheit von Wissenschaftlem in die NS-Politik erscheinen. Politische Uberzeugungen scheinen wirkungsmachtiger, wirkungsmachtiger selbst als eigene wissenschaftliche Er-kenntnisse.

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Page 288: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus^

Wolfgang WoelkundJorg Vogele

I.

Die Geschichte verschiedener Wissenschaften im Nationalsozialismus war in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Mittlerweile liegen auch fur das For-schungsfeld „Bevolkerung" detailliertere Einblicke in die Bezugsdisziplinen Rechtswissen-schaften,^ Geographie,^ Soziologie,"^ sozialwissenschaftliche Raumforschung,^ Nationaloko-nomie^ oder in die Funktion der „Volksforschung" innerhalb der Geschichtswissenschaft^ vor. Diese Bilanz gilt, allerdings schon fiir einen etwas langeren Zeitraum, fiir die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus.^ Es ist unbestritten, daB die Medizin nach 1933 zu einer der wichtigsten Wissenschaften in der Umsetzung der nationalsozialistischen Rassen- und Vemichtungspolitik wurde. Auch auf die Bevolkerungswissenschaften im allgemeinen und die Bevolkerungspolitik im besonderen libten die Mediziner starken EinfluB aus. Zu unter-suchen ist aber, und dies ist der Ansatz dieses Beitrages, wie es zu dieser EinfluCnahme und zu einer solchen Machtposition der Medizin kommen konnte und welche Auswirkungen dies auf die Bevolkerungswissenschaften hatte.

Um diese Aspekte klaren zu helfen, werden im folgenden zuerst die Verbindungen zwi-schen Medizin und Bevolkerungswissenschaften in den Kontext der Ausdifferenzierung der modemen Gesundheitswissenschaften seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gestellt (II).

AnschlieBend wird das Verhaltnis zwischen Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus thematisiert und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Be-volkerungspolitik hierauf untersucht (III). Es wird dabei ausschlieBlich auf die engen Bezie-hungen zwischen der Medizin und den Bevolkerungswissenschaften eingegangen. Hierbei ist festzuhalten, daB die Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus „ihren auBe-ren Hohepunkt an staatlicher Anerkennung, Forderung und Umsetzung vermeintlicher be-volkerungswissenschaftlicher Erkenntnisse in bevolkerungspolitische Aktionen ..." erleb-ten.9

2

Der Vortragsstil des Beitrages wurde weitgehend beibehalten. In den FuBnoten finden sich nur die wichtig-sten Verweise auf weiterftihrende Literatur. Vgl. Riithers 1988; Stolleis 1994.

3 Rossler 1990. Klingemann 1996. Gutberger 1996. Vgl. Janssen 1998. Oberkrome 1993; Schottler 1997; Fahlbusch 1999; Haar2000. Vgl. aus der Flille an Literatur als Auswahl folgende Uberblicksdarstellungen (in zeitlicher Reihenfolge) Wuttke-Groneberg 1982; Proctor 1998; Kater 1989; Broszat 1988; Frei 1991; sowie die weiter unten ange-fiihrte Literatur. VomBrockel998,99.

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286 Wolfgang Woelk und Jorg Vogele

Nicht thematisiert wird, daB es auch unter den Bevolkerungswissenschaftlem Kritiker der nationalsozialistischen Politik gab. Auch wurden wichtige Disziplinen der Bevolke-rungswissenschaften durch die Machtiibertragung an die Nationalsozialisten 1933 ge-schwacht beziehungsweise Forschungsansatze „verdrangt oder verfalscht".^^ So verloren die Medizin und die Nationalokonomie durch Vertreibung und Emigration Schliisselfiguren. Die Nationalokonomie wurde aber zusatzlich, im Gegensatz zur Medizin, auch durch wis-senschaftsimmanente Entwicklungen beeintrachtigt.^^

Nicht thematisiert wird auch der grundsatzlich in der Medizin der Modeme angelegte ausgrenzende Charakter medizinischen Handelns, der liberall dort deutlich wird, wo iiber knappe Outer oder Dienstleistungen entschieden wird. Auch auf intemationale Aspekte, die gerade in dem hier prasentierten Forschungsfeld bedeutend sind, wird nicht eingegangen.^^

II.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden prinzipiell samtliche Bereiche des Lebens durch die medizinischen Wissenschaften erschlossen.^^ Die modemen Gesundheits-wissenschaften, alien voran die Sozialhygiene und die Rassenhygiene,^^ zogen daraus ihre wissenschaftlichen SchluBfolgerungen, die sich auch in politischen MaBnahmen widerspie-geln sollten. Diese prinzipielle Erfassung aller menschlichen Lebensvorgange hatte aller-dings auch besondere Folgen: Alles, was zuvor als „naturlich" und damit als gegeben und hinzunehmen gait, wurde nunmehr wissenschaftlich durchleuchtet und damit gestaltbar -und eben auch in medizinischer Perspektive entscheidungspflichtig. Hierin wurde insbeson-dere zwei Aspekten besondere Beachtung zugesprochen:

Erstens der Frage, wie sich die Bevolkerung zusammensetzen soUte. Vor dem Hinter-grund des friihen 20. Jahrhunderts bedeutete dies zuerst, sich mit der hohen Sauglingssterb-lichkeit und den Problemen von Urbanisierung und Industrialisierung zu beschaftigen.^^ Mit den bevolkerungspolitischen Folgen des Ersten Weltkrieges trat schlieBlich die ebenfalls seit der Jahrhundertwende bereits thematisierte Angst vor dem „Volk ohne Jugend",^^ festge-macht am Thema Geburtenriickgang, eindeutig in den Vordergrund. Dieses Thema wurde zu einem wichtigen Forschungsfeld von Medizinem und Bevolkerungswissenschaftlem, insbe-sondere von Statistikem, deren Methoden nunmehr von den Fachwissenschaftlem der in diesem Forschungsfeld beteiligten Disziplinen starker nachgefragt wurden.

Zweitens wurde die prospektive Gesunderhaltung des - noch ungeborenen - Nach-wuchses seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem allgemeinen wissenschaftlichen Problem. Die, wie sie der Sozialhygieniker Alfred Grotjahn defmierte, „Fortpflanzungshygiene" war damit ein wesentlicher Bestandteil der Sozial- und der Rassenhygiene dieser Zeit.^^ Somit hatte sich die Medizin in die Themengebiete eingebracht, die auch fiir Bevolkerungswissen-

JO KoUmann & Marschalck 1972, 11. Vgl. hierzu auch Reulecke 1988, 17. 1J Vgl. vom Brocke 1998, 101 ff. 2 Vgl. hierzu fur den Bereich der Eugenik Kiihl 1997.

13 Labisch & Woelk 1998,49ff 14 Vgl. hierzu grundlegend Schmuhl 1987; GanssmuUer 1987; Pollack 1990. 15 Vgl. hierzu Vogele & Woelk 2000. 16 Vgl. Burgdorfer 1932. 17 Vgl. Kaspari 1989, 208ff.

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Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus 287

schaftler von Interesse waren, zumal diese, wie etwa in der Statistik, das notige Wissen be-saBen, um Medizinem und den in diesem Kontext ebenso bedeutenden Biologen wichtige Interpretationshilfen an die Hand zu geben.

Parallel hierzu kam es auf administrativer Ebene zu einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen".^^ In diesem ProzeB durchlebten die Verwaltungseinrichtungen und Institutionen, die sich auf unterschiedliche Weise mit Fragen des Konstrukts „Bevolkerung" beschaftig-ten, nicht nur einen Professionalisierungsschub, sondem auch eine Form der Verwissen-schaftlichung, in der Sozial- und Humanexperten zu Entscheidungstragem wurden.^^ Den Anfang machten die Mediziner, die den Alleinvertretungsanspruch der Juristen in der of-fentlichen Verwaltung aufbrachen.^^ Dies war insbesondere fiir die Eugeniker unter den Be-volkerungswissenschaftlem wichtig, da sie auf weitergehende Untersttitzung hoffen konn-ten, besaBen sie doch nunmehr mit den in den offentlichen Verwaltungen und Ministerien tatigen Arzten, Natur- und Geisteswissenschaftlem Ansprechpartner ihrer Fachdisziplinen. Da die Eugeniker - ganz in der Tradition von Francis Galton stehend - vor allem dem Staat die Verantwortung uber die Quantitat und Qualitat der Bevolkerung im Sinne einer dahinge-hend ausgerichteten Gesetzgebung ubertrugen,^^ entstand eine enge Zusammenarbeit, die sich auch an einzelnen Biographien festmachen laBt.

Medizin und Biologic griffen in diesem ProzeB volkswirtschaftliche Uberlegungen auf, erganzten die bevolkerungswissenschaftliche Debatte und erarbeiteten sich spatestens seit diesem Zeitraum zunehmend die Deutungsmacht in Bevolkerungsfragen. Im Zuge dieser Entwicklung setzte sich ein neues Bild vom Wert des aktuellen und zukiinftigen menschli-chen Lebens und seiner Leistungsfahigkeit durch, das zu unterschiedlichen Deutungsmus-tem des Konstrukts „Bevolkerung" fiihrte. Damit anderten sich auch die demographischen Bezugspunkte: Die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gefuhrten Debatten uber Degene-rationstendenzen in der deutschen Gesellschaft wurden durch die neuen Disziplinen auf „qualitative" Veranderungen der Bevolkerung hin gefuhrt.

Es ist somit festzuhalten, daB Mediziner und Arzte bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die Debatten um das Konstrukt „Bevolkerung" eindrangen. Und dieses Eindringen geschah nicht nur, weil sich die Nationalokonomie als bis dahin bestimmende Leitdisziplin aus der Beschaftigung mit Bevolkerungsfragen zuriickzog, sondem weil Arzte und Mediziner gezielt aufgrund ihrer wachsenden Deutungsmacht iiber gesellschaftspoli-tisch relevante Bereiche zentrale Begriffe und Arbeitsfelder ftir sich besetzten.^^ Karl Lenz beschreibt dieses Phanomen in seinen Konsequenzen auf die Bevolkerungswissenschaften zurecht als „erbbiologisch-medizinisches Paradigma", das sich systematisch in den Wissen-schaften etablierte.^^

Dabei gingen Medizin und Bevolkerungswissenschaften insbesondere iiber die Schnitt-stelle Rassenhygiene eine enge Symbiose ein, deren Wurzeln weit vor der nationalsozialisti-schen Machtiibertragung lagen. " Denn Rassenhygieniker und Bevolkerungswissenschaftler

18 Vgl. hierzu ausfuhrlich Raphael 1996, 165ff, hier: 167ff 1 Vgl. zur weiteren Bedeutung dieses Prozesses im Nationalsozialismus Raphael 2001. 20 Vgl. hierzu Gockenjan 1985; Huerkamp 1985. 21 Vgl. Pollak 1990, 15f 22 Vgl. hierzu Vogele & Woelk 2002. 23 Lenz 1983, 104. 24 Vgl. hierzu Schmuhl 1987; Weingart & Kroll & Bayertz 1992.

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288 Wolfgang Woelk und Jorg Vogele

wiesen zahlreiche Schnittmengen auf, etwa hinsichtlich ihres Forschungsgegenstandes, dem gesamtgesellschaftsbezogenen Ansatz („Menschenkollektiv"), der angewandten Methoden (der Statistik)^^ oder hinsichtlich der gemeinsamen wissenschaftlichen Interessen etwa in Fragen des Geburtenriickgangs, der differentiellen Fmchtbarkeit oder der Abtreibung. Auch waren sie bereits in den 1920er Jahren in Fachgesellschaften, als Herausgeber von Zeit-schriften und Biichem oder auf Konferenzen haufig gemeinsam vertreten. Als Beispiel die-ser engen Verbindung kann der promovierte Mediziner und Okonom Hans Harmsen ange-fiihrt werden.^^ Es entstanden Gemeinschaftsarbeiten zwischen Wissenschaftlem scheinbar unterschiedlichster Ausrichtung und wissenschaftlichen Renommees,^^ die aber ein gemein-sames Femziel verfolgten, die „Rassenreinheit" der deutschen Bevolkerung.

Die engen Vernetzungen zwischen Medizinem und Bevolkerungswissenschaftlem muBten insbesondere dann zu einer Radikalisierung fiihren, wenn, wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und in der Weimarer Republik, Bevolkerungsfragen verstarkt auf euge-nischer Grundlage debattiert wurden. Zum einen stellte man der „ini Felde gebliebenen bes-ten Jugend" Versehrte, Kranke und sozial Benachteiligte gegeniiber, zum anderen wurde eine deutliche Beziehung zwischen sozialer Herkunft und Degeneration hergestellt. Es wur-de femer postuliert, daB die sozialen Dispositionen vererbbar seien. ^

Fiir den Themenbereich „Bevolkerung" ist die Feststellung besonders wichtig, daB die eugenischen Interpretationen des Bevolkerungsprozesses spatestens mit der Weltwirt-schaftskrise an Zulauf gewannen, als die Grenzen des von Detlev Peukert so treffend cha-rakterisierten „sozialtechnischen Machbarkeitswahns" der Weimarer Republik offensicht-lich wurden.29 Auf Staats-, Lander- und kommunaler Ebene wurde nunmehr heftig dariiber gestritten, wie eine Sozial- und Bevolkerungspolitik im Kontext eingeschrankter fmanzieller Handlungsspielraume zu gestalten sei.^^ Hierbei riickten rasch zwei Aspekte in den Vorder-grund: Zum einen die Debatte iiber den grundsatzlichen Wert des Menschen, insbesondere des „Kranken" fiir die Gesellschaft, zum anderen die Frage nach der Forderung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen im Sinne des angedeuteten Zieles, die Bevolkerung qualitativ zu verandem.

Die Nationalsozialisten fanden hierauf in der Weimarer Republik eine klare Antwort. Sie gab Adolf Hitler in seinem Werk „Mein Kampf . ^ Hitler entwarf ein Konzept, das als

25 Vgl. Kroner 1998, 147. 26 Vgl, hierzu ausfuhrlich Schleiermacher 1998; Kaupen-Haas 1984. 2*7 PoUak 1990, 36, verweist hierbei als Beispiel auf das von Eugen Fischer und Hans F. K. Giinther publizierte

Werk „Deutsche Kopfe nordischer Rasse", Miinchen 1930. Hierbei ist in Erganzung zur Deutung Pollacks hervorzuheben, daB sich Eugen Fischer auch in den folgenden Jahren Fragestellungen annehmen sollte, die jenseits seiner wissenschaftlichen Leistungsfahigkeit lagen. Zu verweisen ist in diesem Kontext auf das weit-gehend unbekannte Werk „Das antike Weltjudentum. Tatsachen, Texte, Bilder", Hamburg 1943, das Eugen Fischer zusammen mit Gerhard Kittel in der Schriftenreihe des „Reichsinstituts fur Geschichte des neuen Deutschlands" veroffentlichte, dessen Einleitung wie folgt beginnt: „Niemand kann sich im Blick auf die modeme Judenfrage dem verschliefien - voUends nicht im gegenwartigen Schicksalskampf Europas -, daB von alien ihren Hintergrunden derjenige eines iiber die Welt hin ausgebreiteten und allenthalben seine Macht-positionen haltenden und von ihnen her das politische, wirtschaftliche und geistige Leben der Volker durch-setzenden Weltjudentums der drohendste ist." Zwischen diesem Werk und den Schriften Hans F. K. Giinthers sind kaum noch Unterschiede festzustellen.

28 Vgl. Fleischhacker 1998,133. 29 Vgl. Peukert 1987, 137. ^ Vgl. zu den Auswirkungen auf die Sozialpolitik vor allem SachBe & Tennstedt 1988; und Sachfie & Tenn-

stedt 1992.

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Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus 289

Manifestation des nationalsozialistischen Gesnndheits- und Bevolkerungsverstandnisses an-gesehen werden kann und nach 1933 auch von den Bevolkerungswissenschaften mitgetra-gen wurde. Hitlers langfristiges Ziel war demnach ein moglichst groBer, „rassenreiner" und „erbgesunder" „arischer Volkskorper". Der Weg dorthin sollte zunachst iiber die „rassische Entmischung" des „arischen" Volkes von „rassisch fremden" und „minderwertigen" Men-schen fiihren. Hierzu sollte ein rassisch orientiertes Staatsbiirgerrecht dienen. AnschlieBend war geplant, die Trager „kranken" oder „minderwertigen" Erbgutes von der Fortpflanzung auszuschlieBen und gleichzeitig den „erbgesunden arischen Nachwuchs" zu fordem. Dies sollte bei standig wirkender Auslese des „Volkskorpers" tiber mehrere Jahrhunderte durch-geftihrt werden.

In diesem propagierten Konzept verbanden sich sowohl eugenische Uberlegungen hin-sichtlich des gezielten Eingriffes in das generative Verhalten der Bevolkerung als auch For-derungen nach einer „Rassenreinheit". Diese Verkniipfung wurde seitdem zur Grundkon-stante nationalsozialistischer Bevolkerungspolitik. Sie manifestierte sich in der Formulie-rung der „Erb- und Rassengesetze", insbesondere der sogenannten „Niimberger Gesetze", an der auch Reichsarztefiihrer Gerhard Wagner intensiv beteiligt war. Die angestrebte „Ras-senreinheit" sollte die nationalsozialistische Herrschaft sichem helfen und langfristig ge-wahrleisten.^2

Es ist allerdings wichtig, festzuhalten, dai3 die vor 1933 diskutierten, geplanten und, etwa in der Form der freiwilligen Eheberatung oder der freiwilligen Sterilisation, durchge-fuhrten MaBnahmen keineswegs allein auf die Rassenhygiene zuriickgingen. Es gab keine gesundheitswissenschaftliche Disziplin der Weimarer Zeit, keine gesellschaftliche Gruppe und politische Stromung, die nicht von diesen Gedanken auf unterschiedlichste Art und Weise durchdrungen war und hinsichtlich des hier thematisierten Forschungsfeldes ver-schiedene exkludierende Modelle vorschlug.^^

Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Medizin im Nationalsozialismus und dem Wechselverhaltnis zwischen Medizin und Bevolkerungswissenschaften. Nach ei-ner kurzen Zusammenfassung allgemeiner Entwicklungslinien werden diese in der gebote-nen Kiirze an einigen Fallbeispielen erlautert, und zwar am Umgang der Nationalsozialisten mit der sogenannten Erbstatistik, der Frage des Geburtenriickganges und der Malthus-Re-zeption.

III.

Nach der Machtiibertragung 1933 war der Weg fiir die Nationalsozialisten frei, ihre Utopie einer iiber Individualrechte hinwegtretenden Bevolkerungspolitik in die Tat umzusetzen. Als gesundheitswissenschaftliche Leitdisziplin trat an die Stelle der Sozialhygiene nahtlos die rassenkundlich ausgerichtete Rassenhygiene. Dies erfolgte zunachst in der Pragung, wie sie in dem 1921 erschienenen medizinischen Standardlehrbuch von Erwin Baur, Eugen Fi-scher und Fritz Lenz, „GrundriB der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene",

31 Vgl. hierzu ausfiihrlich Labisch 1992, 217 ff. und zusammenfassend Labisch & Woelk 1998, 68. 32 So auch Pollack 1 9 9 0 , 2 1 . 33 Vgl. Kaiser & Nowak & Schwartz 1992; Herlitzius 1995; Schwartz 1995.

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290 Wolfgang Woelk und Jorg Vogele

vorgegeben worden war. Unter den Gesundheitswissenschaftlern der friihen NS-Zeit herrschte Ubereinkunft daniber, daB die „praktische Rassenhygiene" im Sinne der Arbeiten von Fritz Lenz faktisch die Fortftihrung der Sozialhygiene unter geanderten politischen Be-dingungen sei. Auf dieser Grundlage bauten dann die weiteren, jetzt forciert vorangetriebe-nen Forschungen und MaBnahmen der nationalsozialistischen Bevolkerungspolitik auf. Grundlage ihrer Konzeptionen bildete die „Erblehre", wobei die Rassenhygieniker strikt erbbiologisch argumentierten. So bestimmten die Ideen der Rassenhygiene nach 1933 dann auch zumindest die theoretische Grundlegung der bevolkerungswissenschaftlichen Lehre und Forschung.^^ Dies hatte, wie Raphael herausgearbeitet hat, auch Konsequenzen fur die an diesem ProzeB Beteiligten:^^

„Die Umwertung der Medizin zur zentralen Disziplin im Umfeld einer rassenhygienischen Be-volkerungspolitik mag die Eilfertigkeit zahlreicher Arzte mit beeinflusst haben, sich den Instan-zen des Regimes als Forscher, Gutachter und Experten bei der Prufung psychiatrischer, sozial-pflegerischer und dami rassenpolitischer Probleme und Einzelfalle bereitwillig zur Verfugung zu stellen."

Im Gesellschaftsmodell des Nationalsozialismus bestand eine wichtige Aufgabe der Medi-zin darin, Menschen aufgrund biologischer Kriterien aus der propagierten „Volksgemein-schaft" auszuschlieBen. Die Medizin wurde fur die Nationalsozialisten zu einer Leitwissen-schaft. Ab Januar 1934 fiel Arzten im Rahmen der Durchfiihrung des „Gesetzes zur Verhii-tung erbkranken Nachwuchses" und spater im Rahmen des „Gesetzes zum Schutze der Erb-gesundheit des deutschen Volkes" die Aufgabe zu, iiber das Recht der Fortpflanzung und EheschlieBung eines GroBteils der Bevolkerung zu entscheiden. Durch das „Gesetz iiber die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens" vom Juli 1934 wurden gerade die Arzte in den Gesundheitsamtem zu den organisatorischen Treibriemen nationalsozialistischer Bevolke-rungs- und Rassenpolitik.^^ Daher ist dieses Gesetz auch weniger, wie allenthalben in der Bundesrepublik geschehen, als Organisationsgesetz, sondem vielmehr mit Blick auf die um dieses Gesetz gruppierten und gerade erwahnten „Erb- und Rassengesetze" zu interpretie-ren. ^ Das „Vereinheitlichungsgesetz" wies den Gesundheitsamtem die zentrale Aufgabe zu, diese durchzusetzen.^^

In alien von den Nationalsozialisten eingefuhrten MaBnahmen, um die Fortpflanzung der „erbgesunden" und „rassenreinen" Telle der Bevolkerung zu fordem, war das Gesund-heitsamt involviert. So wurden als eine der ersten MaBnahmen die Ehestandsdarlehen und die Gewahrung des Kindergeldes an die erbbiologische Erfassung durch das Gesundheits-amt geknupft.^^ Somit bedeuteten Rassenhygiene und Rassenlehre im Nationalsozialismus ftir die Mediziner und Arzte die Moglichkeit der „Selektion einer neuen, rassisch-volkisch ausgerichteten (Leistungs-) Elite, die sich nach ganzlich anderen Kriterien zusammensetzen sollte."40

34 Vgl. hierzu Lenz 1983, 84. 35 Raphael 2001, 20. 36 Hierzu grundlegend Labisch & Tennstedt 1985. 37 Vgl. hierzu ausfiihrlich Woelk 2001, 215ff. 38 Vgl. hierzu Labisch & Tennstedt 1985, Bd. 2, 281ff. 39 Vgl. hierzu Aly & Roth 2000, 116. 40 Labisch 2001, 82.

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Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus 291

Die hieraus abgeleitete Bevolkerungspolitik orientierte sich auf einer anderen Betrach-tungsebene an Bildem, die eindeutig der Medizin entlehnt waren. Pragendste Metapher war hier das Bild von der „Gesundung des Volkskorpers",^^ das in seiner praktischen Umsetzung von der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung bis bin zur millionenfachen Vemichtung von Menschen gefuhrt hat." ^

Arzte und Mediziner wurden damit zu wichtigen Tragem einer im Sinne der National-sozialisten aktiven Bevolkerungspolitik. Sie erhielten in diesem Zeitraum eine bis dato nicht gekannte Machtposition zugesprochen, die nach Kriegsbeginn auch dazu fiihrte, daB sie iiber die physische Vemichtung der vorher bereits sozial und rechtlich ausgegrenzten Menschen entschieden. Insofem stellte dann auch die nicht rechtlich abgesicherte und geheime, aber vollig aus der inneren Rationalitat begriindete Position des Arztes an der Rampe der Kon-zentrationslager die hochste Definitions- und Machtzuweisung an die Medizin dar, die es bis dahin gegeben hatte.

Das biologistische Gesellschaftsmodell des Nationalsozialismus iibte tiefe Faszination auf Mediziner und Arzte aus. Dies macht zum Teil deutlich, warum sie - im Vergleich zu anderen Funktionseliten des Staates - weit uberdurchschnittlich in NS-Organisationen repra-sentiert und mindestens zwei Drittel aller deutschen Mediziner und Arzte institutionell in ir-gendeiner Form an den nationalsozialistischen Staat gebunden waren." ^ Dies erklart auch, warum sie sich gerade auf dem sehr einfluBreichen und offentlichkeitswirksamen Feld der Bevolkerungspolitik so stark engagierten. Die hohe Zahl von medizinischen Vortragen auf bevolkerungswissenschaftlichen Kongressen und die steigende Zahl derartiger Aufsatze in speziellen Publikationsorganen sind ein Ausdruck dieser gezielten EinfluBnahme."*^

Die daraus fiir die Bevolkerungswissenschaften entstehenden neuen Aufgaben machte etwa Eugen Fischer,"^^ Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts far Anthropologic, menschli-che Erblehre und Eugenik, deutlich. Habe sich die Bevolkerungswissenschaft vor 1933 nur als „zahlende und rechnende Disziplin" prasentiert, so habe sich deren Aufgabengebiet durch die neuen Anforderungen des NS-Staates deutlich gewandelt, „seitdem" wie es Fi-scher umschrieb, „der biologische, das heiBt der naturwissenschaftlich-medizinische Ge-sichtspunkt die ganze Bevolkerungswissenschaft beherrscht." Daher miisse nunmehr die „Erforschung des menschlichen Erbgutes" im Mittelpunkt der Arbeiten stehen.^^ Eine Auf-gabenbeschreibung, die zum einen die Erwartungen der Mediziner an die Bevolkerungswis-senschaftler verdeutlicht, zum anderen die Eingrenzung von Forschungsfragen und For-schungsfeldem der Disziplin auf die aktive Bevolkerungspolitik offensichtlich macht. Die qualitative Bevolkerungspolitik ruckte somit in den Mittelpunkt des Interesses der National-sozialisten an der Bevolkerungspolitik. Fragen quantitativer Bevolkerungspolitik wurden in

41 Vgl.hierzuF6llmer2001. ^^ Vgl. Ebbinghaus 2000, 26. Vgl. hierzu auch den von Lifton betonten Begriff der „Medizinalisiemng des

Totens", der dem Morden das Stigma des Verbrechens nehmen sollte. Vgl. Lifton 1988. 43 Vgl. hierzu Kater 1989, 315. 44 Vgl. hierzu etwa detailliert Lenz 1983, 119ff. am Beispiel des „Archiv fur Bevolkerungswissenschaft" und

des „Archiv fur Rassen- und Gesellschaftsbiologie". 45 Zu Fischers wissenschaftlichem Wirken liegt noch immer keine umfassende Studie vor. Fiir die Zeit bis zur

Mitte der Weimarer Republik siehe die medizinische Dissertation von Gessler 2000. 46 Fischer, Einleitender Vortrag, in: Harmsen & Lohse 1936, 39ff, hier: 39. Zitat fmdet sich auch bei Lenz 1983,

71 .

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292 Wolfgang Woelk und Jorg Vogele

dem MaBe auf ein rein statistisches Phanomen reduziert, wie sich das „erbbiologisch-medi-zinische Paradigma" durchsetzte.' '

Ein Teil der Bevolkerungswissenschaften loste sich somit von den urspriinglichen Dis-ziplinen, den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, und wandte sich dem Konstrukt „Volkskorper" zu. ^ Dies fiihrte zu engen konzeptionellen und inhalthchen Gemeinsamkei-ten zwischen Medizinem und Bevolkerungswissenschaftlem, wie folgende Beispiele zweier exponierter Vertreter ihrer jeweiUgen Fachdisziphn zeigen. Der Arzt Walter GroB, spaterer Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP,"^^ definierte kurz nach der Machtiibertra-gung die neuen Aufgaben der Medizin und die daraus abzuleitenden Konsequenzen fur die Bevolkerungspolitik wie folgt:

„Denn das Problem besteht ja gerade darin, den wertvollen Teil der Nation [ ...] besonders zu fordem, wahrend gleichzeitig der nicht voUwertige [ ...] allmahlich aus dem Strom der Verer-bung auszuschliefien ist. Eine solche Aufgabe kann nicht ohne die Mitwirkung derer erftillt wer-den, die das Erkennen von Krankem und Gesundem [ ...] zu ihrem Bemfe gemacht haben. Eine Blickrichtung, die nur den hochwertigen Teil des Volkes sieht und in seiner Forderung allein die Aufgabe der rassischen Emeuerung erblickt, ist deshalb unzulanglich. [...] Das Problem besteht ja gerade darin, die geeigneten MaBnahmen im Laufe der Generationen zu fmden, den heute ein-mal vorhandenen und nicht mit einem Federstrich zu beseitigenden minderwertigen Teil des Vol-kes allmahlich zuruckzudrangen."^^

Auch die Bevolkerungswissenschaftler, insbesondere die Statistiker, erkannten die neuen Aufgaben und Moglichkeiten ihres Faches. Friedrich Zahn faBte das neue Ziel wie folgt zu-sammen:

„Die Bevolkerungspolitik muB daher auch nach den Grundsatzen der Rassenhygiene auf Forde-rung der wertvollen Erbwerte, auf Verhinderung der Fortpflanzung minderwertigen Lebens, der erbgesundheitlichen Entartung bedacht sein, eine Hochwertigenauslese einerseits, eine Ausmerze erbbiologisch unerwiinschter Volksteile andererseits zielbewusst betreiben. Zur Durchftihrung dieser Aufgabe ist eine volksbiologische Diagnose unerlasslich."^^

Das Verhaltnis zwischen Medizin und Bevolkerungswissenschaften gestaltete sich denmach zum einen auf einer pragmatischen Ebene der Festlegung eines gemeinsamen Forschungs-feldes. Zum anderen erfolgte innerhalb der Medizin ein sich seit den 1920er Jahren andeu-tender inhaltlicher Wechsel, indem auch Telle der Medizin dem Biologismus huldigten und eine Internationale eugenische Debatte auf das nationale Element, „den Volkskorper", und zunehmend auf das Konstrukt „Rasse" zuschnitten. Dies geschah auch in den Bevolkerungs-wissenschaften. Fachvertreter losten sich zum Teil von ihren Bezugsdisziplinen, den Wirt-schafts- und Sozialwissenschaften, und widmeten sich nunmehr diesem eugenisch motivier-ten Forschungsfeld.^^

Gunther Ipsen etwa pladierte in seiner Bevolkerungslehre dafiir, die bisherigen Begriffe „umzudenken".^^ So verschmolz die Bevolkerung im „Volkskorper" zu einer Einheit, der

^"^ Lenz 1983, 126, der dies am Beispiel der Debatte iiber die Ursachen des Geburtenruckganges herausarbeitet. 48 Vgl. hierzu auch Reulecke 1988, 23. 49 Vgl. hierzu Uhle 1999. 50 Vortrag GroB 1933, hier: 606. 51 Zahn zitiert nach: Aly & Roth 2000, 117. 52 Vgl. hierzu Reulecke 1988,23.

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Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus 293

bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden konnten. In diesem Sinne ist das im „Volkskorper" aufgehende Volk dann kein handelnder Akteur mehr, sondem wird auf seine Funktion als „Tragkorper" reduziert, und, wie Axel Fliigel herausgearbeitet hat: „Volk ver-weist komplementar immer auf Fiihrung, sei es durch den Staat oder den Fuhrer."^"*

Diese „Volksforschung" besaB in Teilen der Bevolkerungswissenschaften eine deutli-che StoBrichtung gegen die Nationalokonomie, deren klassische Untersuchungsaspekte (okonomisches Handeln individueller Akteure und deren Interessen, Produktivitat und Ren-tabilitat) als nicht mehr diskussionswurdig erachtet wurden.^^

Gerade was zentrale Fragestellungen dieser neuen Ausrichtung angeht, gingen Medizi-ner auf der einen, Bevolkerungswissenschaftler auf der anderen Seite rasch eine Symbiose ein. Diese zeigte sich etwa in der Untersttitzung sogenannter „positiver" bevolkerungspoliti-scher MaBnahmen, so etwa bei der im Oktober 1934 eingefiihrten neuen Steuergesetzge-bung oder in der Debatte um „Familienausgleichskassen".^^ Sie wurden ebenso von Fried-rich Burgdorfer und Hans Harmsen wie von fahrenden Rassenhygienikem der Zeit wie Fritz Lenz oder Martin Staemmler gefordert und unterstiitzt.

Bevolkerungsstatistiker und Mediziner waren in enger Zusammenarbeit auch darum bemiiht, die Moglichkeiten zu verbessem, die Bevolkerung systematisch zu erfassen. Hierin sahen gerade Statistiker wie Friedrich Zahn und vor allem Siegfried KoUer einen Ansatz-punkt ihrer Arbeit. Da Mediziner und Biologen in den 1930er Jahren die wahrscheinlich-keitstheoretischen Probleme ihrer Facher kaum beherrschten, waren es die Statistiker, die hier im Sinne nationalsozialistischer Vorgaben wichtige Grundlagenarbeit leisteten. Der Na-tionalsozialismus bot die rechtlichen und administrativen Moglichkeiten, die bei einzelnen Statistikem vorherrschende Idee einer genauen, auch unter erbbiologischen und rassenhygi-enischen Gesichtspunkten moglichen Erfassung der Gesamtbevolkerung in die Tat umzuset-zen.^^ Und gerade die Forschungen Kollers zur theoretischen Erbstatistik zeigen exempla-risch, wie stark sich Bevolkerungswissenschaftler in dieser Politik engagierten und damit wichtige Vorgaben ftir die Ausgrenzung und „Ausmerzung" sogenannter „Minderwertiger" aus der Gesellschaft lieferten.

Durch den Versuch, die bevolkerungswissenschaftliche Lehre und Forschung und die umfassende Bedeutung des Bevolkerungsprozesses auf die „Erbbiologie" und den „Volks-korper" zu fokussieren, sind dann auch umfassende bevolkerungsbiologische Bestandsauf-nahmen zu erklaren. Erinnert sei hier nur an die bereits vor 1933 begonnenen Arbeiten von Walter Scheidt^^ oder die Studien von Ludwig Schmidt-KehP^ an ausgewahlten, moglichst abgeschlossenen Kleinraumen und deren Populationen.

Eine ahnliche Reduktion eines komplexen Prozesses laBt sich, um das vielleicht prag-nanteste Beispiel anzufiihren, im Umgang mit den Ursachen des Geburtenruckganges fest-stellen. Als Erklarungsmuster wurde nach 1933 vor allem die angebliche „Gesinnung" der Menschen angefiihrt.^^ Dies lieB differenziertere Argumente kaum zu, wie sie etwa bereits

53 Ipsen 1933, 426. Vgl. zu Ipsen auch Ehmer 1992/1993, 60ff. 5 Vgl. hierzu Flugel 2000, 667. 55 Vgl. Flugel 2000, 669. 56 Vgl. hierzu Lenz 1983,45. 57 Vgl. hierzu Aly & Roth 2000, 118ff. 58 Scheldt 1932. 59 Schmidt-Kehl 1936; Schmidt>Kehl 1937.

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1932 von Roderich von Ungem - Sternberg in seinen international anerkannten Studien liber die Ursachen des Geburtenruckgangs angestellt hatte.^^

Des weiteren zeigt dieses Beispiel auch den Versuch der Nationalsozialisten, und dies bildete eine der zentralen Forderungen an eine nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, Ergebnisse der Forschung starker mit der Praxis zu verbinden.^^ Wahrend eine komplizierte Argumentationsstruktur zu den Ursachen des Geburtenriickganges im nationalsozialisti-schen Sinne wenig hilfreich erschien, war das praxisnahe Element einer fehlenden „Gesin-nung" ein leicht vermittelbarer Ansatz, der sich auch in die aktive bevolkerungspolitische Planung und Gesetzgebung eingliedem konnte. Hierzu gehorte es dann, „erbbiologisch" ge-dacht, die Bevolkerung durch rechtliche und sozialpolitische MaBnahmen in „Hoch-" und „Minderwertige" zu differenzieren. Zur nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft" sollte nur mehr derjenige gehoren, der nicht nur „erbbiologisch und rassisch rein" war, sondem der zudem „durch sein Verhalten beweist, daB er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deut-schen Volk und Reich zu dienen", so die Formulierung des „Reichsbtirgergesetzes" vom September 1935. Dies sollte sich dementsprechend auch im Fortpflanzungsverhalten zei-gen. ^

Ein anderes Beispiel der engen Verbindung zeigt die nationalsozialistische Auseinan-dersetzung mit den Thesen von Robert Malthus.

„Es ist nun die Aufgabe der Wissenschaft [gemeint ist die Bevolkerungswissenschaft], der prak-tischen Bevdlkerungspolitik unter der nationalsozialistischen Regierung mit Rat und Tat beizu-stehen und nach Kraften eine neue Bevolkerungslehre theoretisch zu fundieren, in deren Mittel-punkt der Rassengedanke steht, eine Lehre, die derjenigen von Malthus entgegengesetzt ist und sein muB."^

Mit diesen Satzen schlieBt Johannes Oestreich seine 46seitige wirtschaftswissenschaftliche Dissertation 1935 ab, die sich zum Thema gesetzt hatte, die Stellung des Nationalsozialis-mus zur Bevolkerungslehre von Malthus und seinen Anhangem zu klaren. In der Arbeit macht er die Unterschiede zu den diesbeziiglichen Vorstellungen des Nationalsozialismus deutlich. Sie lassen sich demnach wie folgt zusammenfassen:^^ Nicht der Staat als solcher, sondem das Volk stehe im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Bevolkerungspolitik. Die Ehe werde nicht als christliche Einrichtung, sondem als Zweck fur die „Volksgemeinschaft" inteipretiert. Dementsprechend miisse es auch eine gezielte staatliche Familienpolitik geben. Es gehe im Nationalsozialismus weder um ktinstliche Enthaltsamkeit noch ungehemmte Fortpflanzung, sondem um die Fortpflanzungsbeschrankung durch gesetzliche MaBnahmen und eine qualifizierte Fortpflanzung. Der Nationalsozialismus stehe nicht vor den Proble-men einer wachsenden oder gar einer Uberbevolkemng, sondem vor denen eines ausster-benden Volkes.

Oestreich unterstrich auch die neue Machtposition der Medizin in Bevolkemngsfragen:

60 SobereitsLenzl983, 138. 6' Vgl. von Ungem-Stemberg 1932. Vgl. hierzu auch vom Brocke 1998, 98. 62 Vgl. z u m Wissenschaftskonzept der Nationalsozialisten zusammenfassend Griittner 1997, hier: 14Iff. 63 Vgl . hierzu auch Pollack 1990, 24. 64 Oestreich 1935, 46 . 65 N a c h Oestreich 1935, 22ff

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Medizin und Bevolkerungswissenschaften im Nationalsozialismus 295

„Die Gesunderhaltung der Rasse ist der oberste Gnmdsatz der nationalsozialistischen Bevolke-nmgspolitik."^^ [...] „Weiin wir heute Bevolkerungspolitik betreiben, so betreiben wir gleichzei-tig Rassen- und Familienpolitik."

IV. Zusammenfassung

In alien angefiihrten Beispielen ging es um die direkte politische Verwertbarkeit von Ergeb-nissen. Dies hatte zur Folge, daB entweder differenzierte Analysen auf fur die Nationalsozi-alisten bestimmende Kemaussagen reduziert wurden oder aber direkt bevolkerungspoliti-sche Forschungen betrieben wurden, die in enger Zusammenarbeit zwischen Medizinem und Bevolkerungswissenschaftlem durchgefuhrt wurden.

Durch das „erbbiologisch- medizinische Paradigma" wurden wichtige Aspekte der be-volkerungswissenschaftlichen Forschung Teil jener Biowissenschaften, deren Arbeitsgebie-te sich wahrend der nationalsozialistischen Diktatur auf die Konstrukte „Volksk6rper" und „Rasse" und deren Ubersetzung in praktische und aktive Bevolkerungspolitik konzentrier-ten. Massiven EinfluB iibten in diesem Kontext die Medizin als wissenschaftliches Fach und der autoritare Machtanspruch vieler Mediziner und Arzte als Reprasentanten aus. Sie prag-ten damit das gesamte Forschungsfeld der Biowissenschaften.

Die Bevolkerungswissenschaften wurden zu einer wichtigen Disziplin innerhalb dieses Forschungsfeldes. Damit wurden aber zentrale wissenschaftliche Aufgaben zurtickgedrangt, Forschungen zur Rechtfertigung nationalsozialistischer Vorgaben eingesetzt oder manchmal auch miBbraucht. Durch ihre enge Verbindung zur Medizin und besonders zur Rassenhygie-ne waren auch die Bevolkerungswissenschaften Teil der nationalsozialistischen Rassen- und Vemichtungspolitik. Die Folgen dieser engen Vernetzung erftihren die Bevolkerungswis-senschaften nach 1945 um vieles deutlicher als die Medizin, die sich zumindest nach auBen hin viel leichter und sichtbarer von ihrem nationalsozialistischen „Ballast", der Rassenhygi-ene, befi-eien konnte.

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Page 302: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Diskussionsbericht der Tagung „Bev61kerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert"!

Michael Engberding

„Fur den lembegierigen Laien, dem die allgemeine Anregung und geistige Bewegtheit solcher Zusammenkunfte wichtiger sind als Resultate, werden die Tage [hier die Soziologentage] doch wieder zum Fest. - Die geistigen Personlichkeiten interessieren ja mindestens so sehr wie das von ihnen dargebotenen Wissen. Und nichts veranschaulicht sie lebendiger als die freie Rede, bei der Gebarde und Tonfall noch mehr von den Menschen mitteilen als ihre Worte. Und mag auch dieser Kreis nicht frei sein von den besonderen Berufsfehlem des Gelehrten, das wird gut ge-macht durch die Wiirde einer durch lange miihsame Denkarbeit erworbenen Geistigkeit. Das Fluidum ihres Austausches ist berauschend, es macht gliicklich, wenigstens alles zu verstehen. "

Mit den Worten einer AuBenstehenden hatte Marianne Weber einst die Diskussionen auf den Sitzungstagen der „Deutschen Gesellschaft fiir Soziologie" umschrieben; auch v^enn Max Weber, der Rechner der Gesellschaft, tiber die Zusammenkunfte der Soziologen, auf-grund deren akademischen Eitelkeiten und Individualinteressen, keine allzu positiven Worte mehr verlieren konnte.^

Die Aufgabe des Berichts tiber die Diskussionen der Tagung „Bevolkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert" erfordert eine unbefangene Herangehens-weise und die Einnahme einer objektiven Position, die einer teilnehmenden Beobachtung gleicht, um die gesamten Diskussionsinhalte und -verlaufe strukturiert zusammenzufassen, damit alles Gesprochene moglichst vollstandig erfasst und subjektive Ansichten und Beur-teilungen nicht in die vorliegende Analyse einflieBen. Die Zusammenfassung der Diskussio-nen sind keine Interpretationen, sondem stellen eine sachliche Wiedergabe der Diskussions-inhalte dar. Infolgedessen sind die sachlichen Feststellungen, die im nachfolgenden Text enthalten sind, auch nicht als objektive Tatsachenbehauptungen zu werten, sondem als indi-viduelle Aussagen in der Diskussion. Insgesamt konnten 21 Diskussionspunkte isoliert v^er-den, die in sieben groBeren Sachzusammenhangen vorgestellt werden und einen biindigen Uberblick iiber das Themenspektrum ermoglichen. Bevor die inhaltlichen Ertrage vorge-stellt werden, sollen zunachst einige methodologische Uberlegungen und ein die Diskussio-nen quantifizierender Ansatz folgen.

I. Methodologische und methodische Uberlegungen

Gegenstand des Berichts sind die tatsachlich gefiihrten transkribierten Diskussionen."* In der quantitativen Betrachtung des Diskussionsmaterials werden die realisierten Diskussionsbei-

Ich danke den Mitorganisatoren der Tagung Rembrandt Scholz und Matthias Forster fur die technische Ermoglichung des Berichts und meinen Kollegen Ursula Ferdinand und Rainer Mackensen sowie Meike Mieke fur die Unterstiitzung. Weber 1950,428. Vgl. ibid., 428f.

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300 Michael Engberding

trage hinsichtlich der zahlenmaBigen Bezugnahmen untersucht. Die Bezugnahmen veran-schaulichen den inner- und interdisziplinaren Diskussionsbedarf der Tagung. Um das Mate-rial einer qualitativ orientierten Auswertung zuzufuhren, werden sodann die Diskussionen auf ihre Struktur bin analysiert. SchlieBlicb werden die Argumentationsstrange und Gegen-stande der Diskussionen zusammengefasst, um dem Leser ein iibersichtliches und verstand-liches Bild der Themen, Inhalte und Fragekomplexe anzubieten. Die systematische Analyse soil zum einen subjektiven Interpretationen und Wertungen entgegenwirken und zum ande-ren eine Rekonstruktion der Themenschwerpunkte mittels des Aufzeigens von Verdichtun-gen der Redebeitrage zu Diskussionsschwerpunkten erlauben. DemgemaB ist die Auswahl der nachgezeichneten Inhalte methodisch angeleitet. Im Vordergrund stehen nicht der zeitli-che Verlauf der Diskussionen und Redebeitrage, sondem deren Inhalte als auch ihr innerer Zusammenhang.

II. Die quantitative Betrachtung

II. 1 Die Diskussionsbeziige als Indikator fiir Diskussionsbedarf

Die quantitative Betrachtung der Diskussion intendiert die Diskussionsbeitrage unabhangig von deren jeweiligen Eingebundenheit in Einzelsitzungen und Sitzungsblocke als Bestand-teile einer einzigen Diskussion aufzufassen, um den allgemeinen und relativen Diskussions-bedarf sowie den inner- und interdisziplinaren Diskussionsbedarf, unbeachtet der Themati-ken, Problematiken und Fragen, festzustellen.

Fiir dieses Vorhaben bietet sich die Erstellung einer Diskussionsmetrik^ an, der der Ge-danke zugrunde liegt, dass mit jedem Beitrag in einer Diskussion einer oder mehrere Sit-zungsteilnehmer angesprochen oder befragt werden. Das Metrische besagt lediglich, dass die Bezugnahmen zahlbar sind und damit vergleichbar; sie dann als GradmaB bzw. Indikator fur Diskussionsbedarf dienen konnen.

Die Aufbereitung des Materials fiir eine Diskussionsmetrik erfordert, dass zum einen die einzelnen Diskussionsbeitrage des gesamten Diskussionsverlaufs identifiziert, gezahlt und den jeweiligen Diskutanten^ zugeordnet werden. Zum anderen miissen dafur die Disku-tanten ihrer jeweiligen fachlichen Betatigung gemafi eindeutigen entsprechenden Diszipli-nen zugeordnet werden. Daraus ergibt sich eine Verteilung der Diskutanten auf drei Diszi-plinen: fiinf Sozialwissenschaftler (Soziologen), sieben Statistiker (akademische, amtliche und Demographen) und neun Historiker (Wissenschaftshistoriker, Sozial- und Wirtschafts-historiker, Bevolkerungshistoriker); dass dabei ein Ungleichgewicht in der Verteilung auf die drei Disziplinen resultiert, muss zunachst hingenommen werden.

In Tabelle 1 werden alle absoluten Zahlen der inner- und interdisziplinaren Bezugnah-men gezeigt, insgesamt wurden 245 Bezugnahmen auf der Tagung realisiert.

Zusammengerechnet ergibt das eine tatsachliche Gesamtlange von 4h 57min der Diskussionen, die transkri-biert 136 Normseiten entsprechen. Zu diesem Konzept vgl. Serbser 2001. Allerdings geht Serbser nur im Manuskript auf sein Konzept der Dis-kussionsmetrik ein, das Buchkapitel beinhaltet nur wenige methodische Ausfuhrungen. Diskutanten sind die Personen, die aktiv als Referent oder mit einem Redebeitrag an den Diskussionen teil-nehmen; sie sind von den bloB Teilnehmenden der Tagung unterschieden.

Page 304: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Diskussionsbericht der Tagung 301

Beitrage Sozialwissen-von schaftler (5)

Statistiker (7) Historiker (9) 1(21)

Beitrage an Sozialwissen-schaftler (5) 18

14 45 11

Statistiker (7)

20

11 28 59

Historiker (9)

49

36 24 109

1(21)

87

61 97 245

Tabelle 1: Diskussionsmetrik der Diskussionsbeziige

Auf den ersten Blick zeigt sich, dass insbesondere zwischen den Sozialwissenschaftlem und Historikem ein reger Diskussionsbedarf besteht, gefolgt von Bezugnahmen von Statistikem an Historiker. Die geringsten Bezugnahmen sind innerdisziplinar, wobei die Statistiker unter sich den geringsten Diskussionsbedarf aufweisen.

Um die ohnehin nur begrenzt aussagefahigen Resultate, da die GruppengroBen un-gleichgewichtig sind und nicht alle realisierbaren Bezugnahmen vollstandig ausgeschopft werden, zu erhohen, sollen die tatsachlich realisierten Bezugnahmen mit einer Normalver-teilung verglichen werden."^ Die Normalverteilung zeigt den mathematischen Moglichkeits-raum an, in dem jeder Teilnehmer jeden anderen einmal ansprechen wiirde und bringt eine Summe von 420 Diskussionsbeziigen (= n • [n-1]) hervor. Zur Vergleichbarkeit werden die Bezugnahmen aus Tabelle 1 prozentual beztiglich einer Normalverteilung hochgerechnet. Im Anschluss wird die Hochrechnung mit der Normalverteilung verglichen (rechnerisch: die Zahlenangaben der Felder der Hochrechnung werden durch die der Normalverteilung divi-diert), was durch Tabelle 2 angezeigt wird.

Beitrage Sozialwissen-von schaftler (5)

Statistiker (7) Historiker (9)

Beitrage an Sozialwissen-schaftler (5) 0,90

0,68 171 1,32

Statistiker (7)

0,97

0,45 0,76 0,72

Historiker (9)

1,86

0,98 0,56 1,03

1,49

0,75 0,75 1,00

Tabelle 2: Vergleich der Hochrechnung mit der Normalverteilung

Der Unterschied zwischen der Normalverteilung (420) und der Summe der realisierten Be-zugnahmen (245) deutet darauf, dass von Ausgewogenheit hinsichtlich von inner- und inter-disziplinarem Diskussionsbedarf nicht auszugehen ist. Da obige Tabelle fiir eine Normalver-teilung in jedem Feld den Wert 1 aufweisen wiirde, sind hier insbesondere die Werte mit der davon groBten Abweichung interessant. Die oben genannten Befunde werden durch das Er-gebnis hier nur teilweise gedeckt. So wird bestatigt, dass zwischen den Historikem und So-

Vgl. Serbser2001.

Page 305: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

302 Michael Engberding

ziologen die angegebenen Werte einen 1,71 bzw. 1,86-mal hoheren Gesprachsbedarf als im Vergleich zur Normalverteilung anzeigen. Zugleich weisen die innerdisziplinaren Werte der Statistiker und Historiker einen 0,45 bzw. 0,56-mal niedrigeren Wert, im Vergleich zur Nor-malverteilung auf.

Insgesamt lasst das den vorsichtigen Schluss zu, dass aufs Ganze besehen eher interdis-ziplinar wie innerdisziplinar diskutiert wurde, mit Ausnahme der Statistiker, die die gerings-te Diskussionsteilnahme aufweisen; umgekehrt verhalt es sich mit den Historikem.

II. 2 Die Struktur der Diskussionen

Wurden im vorigen Abschnitt die gesamten Diskussionen der Tagung als ein Einzelereignis betrachtet, so sollen nun ihre Eingebundenheit in die jeweiligen Einzelsitzungen betrachtet werden. Relevant ist hier die Tatsache, dass nicht alle Diskutanten ein Referat gehalten ha-ben: DemgemaB haben von den funf Sozialwissenschaftlem vier, von den sieben Statistikem einer und von den neun Historikem sieben ein Referat gehalten.

Operationelles Ergebnis dieser Betrachtung ist, das alle Diskussionen der zwolf Sitzun-gen, die den Referaten folgten, nahezu die gleiche Struktur^ aufweisen. So bildet der Refe-rent stets das Diskussionszentrum, da sich vorwiegend an ihn Fragen, Anmerkungen und Kritik richten. Damit nimmt der Referent in den Diskussionen eine Sonderrolle ein. Von ein-fachen Nachfragen, Anmerkungen oder Kritik werden Diskussionssituationen unterschie-den, die auf eine Verdichtung von Diskussionsbeitragen hinweisen, wenn mindestens drei Diskutanten sich zu einem Thema oder Themenkomplex auBern. Wenn ein Thema oder Themenkomplex liber eine oder mehrere Einzelsitzungen hinweg wiederholt aufgegriffen wurde, deuten sie einen Diskussionsschwerpunkt an. Gegenstand der folgenden inhaltlichen Zusammenfassung sollen maBgeblich jene Diskussionsgegenstande sein, die im vorgestell-ten Sinn einen Themenkomplex oder einen Diskussionsschwerpunkt anzeigen. Erganzungen und Nachfragen werden synoptisch nachgetragen.

III. Zusammenfassung der Diskussionsertrage - Es gilt das gesprochene Wort -

Die Objekte und Inhalte der Tagung, die Wahl der Referenten, die thematische Strukturie-rung des Tagungsverlaufs durch die Veranstalter und nicht zuletzt die Realisierung dersel-ben, waren ausgerichtet an der forschungsleitenden Fragestellung nach der Erorterung des Zusammenhangs von deutscher Bevolkerungswissenschaft - in ihrer personellen und gegen-standlichen Konstituierung im Vorfeld und wahrend des Nationalsozialsozialismus - mit der propagierten und praktischen Bevolkerungspolitik des Nationalsozialsozialismus. Dieser Zusammenhang pragte in vielfacher Weise die Inhalte der Diskussionen, die hier Gegen-stand sind. Der Diskussionsbericht soil schlieBlich auch fiir zukiinftige Forschungsbemu-hungen und -fragen Anregungen bieten und denkbare Forschungsrichtungen anzeigen. Zu-

Quantitativ lassen sich die Eckdaten einer so typischen Einzeldiskussion bestimmen: Teilnehmerzahl betragt im Durchschnitt 6,3, die Dauer 21 min.

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Diskussionsbericht der Tagung 303

gleich leistet er einen Einblick in den aktuellen Stand der Fachgeschichte der Bevolkerungs-wissenschaft zur Zeit des Nationalsozialismus.

Die Darstellung der Diskussionspunkte erfolgt nicht in chronologischer Folge, noch sollen einzelne Uberschriften paradigmatisch fur einen Diskussionskomplex stehen, der vie-le Verastelungen in inhaltlich zu scheidende Richtungen aufweist, vielmehr wird versucht, die Fragen und Argumentationsstrange inhaltslogisch und themenorientiert wiederzugeben.

IV. Vergangenheit und Gegenwart

IV. 1 Geburtenriickgang

Der friihe Geburtenriickgang in Frankreich, der mehr im Kontext der Sorge um die Macht und das Verschwinden der Nation und weniger in der Uberalterung der Nation stand, bietet Ankniipfungspunkte an die aktuelle Diskussion der auBerst niedrigen Geburtenhaufigkeit in Deutschland, die im Hinblick auf die demographische Alterung das Problem der Rentenfi-nanzierung und Altersabsicherung thematisiert. Zwar hat die amtliche Statistik der Bundes-republik Deutschland bereits vor 30 Jahren auf diese Probleme hingewiesen, dessen unge-achtet wird aber erst seit kurzem das Thema offentlich und politisch wahrgenommen und diskutiert. Gemeinsamkeit der Diskussionen liber den Geburtenriickgang in Geschichte und Gegenwart ist, dass sich des Themas immer wieder politisch oder ideologisch angenommen wird. Wichtige Aspekte des eigentlichen Problems werden dabei auBer Acht gelassen, wie z.B. Fragen „Warum?" werden so wenig Kinder geboren und: konnen wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen, fur den Geburtenriickgang verantwortlich gemacht werden?

Es stellt sich die Frage, was aus Problemen in der Vergangenheit gelemt werden kann. Die Fertilitat hat eine zentrale demographische Bedeutung und unbestritten wiirden bevolke-rungspolitische MaBnahmen, die die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Kindem garan-tieren, fiir die Zukunft in einer hoheren Erwerbspersonenzahl resultieren. Aus der Vergan-genheit zu lemen hieBe aber auch, sich mit der Dekonstruktion von Kategorien wie Frucht-barkeit, Fertilitat, Geburtenpolitik usw. historisch auseinanderzusetzen, um darin enthaltene ideologische Kategorien zu erkennen und herauszustellen. Die diskursiven Relationen zwi-schen den Motiven einer propagierten Geburtenpolitik und denen der Migrationspolitik vor dem Hintergrund der Nationalstaatlichkeit, lassen historische Kontinuitaten erkennen, die Ankniipfungspunkte fur weitere Diskussionen bieten konnen - z. B. die Politisierung demo-graphischer Probleme.

Als statistisch-demographisches Problem hat der amtliche Statistiker Friedrich Burg-dorfer den Geburtenruckgang in der Weimarer Republik erkannt. Burgdorfer prognostizier-te, dass bei Beibehaltung der Zwei-Kinderfamilie Deutschland im Jahr 2000 eine Bevolke-rungszahl von 46,6 Millionen Menschen aufweisen wurde; das trifft nicht annahemd die heutige Bevolkerungszahl von ca. 82 Millionen, auch unter Abzug von 12 Millionen Zuge-wanderten und der Tatsache, dass die Geburtenrate seither weiter auf 1,4 Kinder pro Frau gesunken ist. Burgdorfer folgerte als Konsequenz seiner Annahmen die Notwenigkeit bevol-kerungspolitischer MaBnahmen und pladierte fur die Drei-Kinderfamilie. Dass seine Be-rechnungen nicht eintrafen, lag unter anderem daran, dass er die gestiegenen Lebenserwar-tungen nicht einkalkulierte. Bevolkerungsvorausberechnungen sind auch heute noch Ange-

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304 Michael Engberding

legenheit der Statistik bzw. der Demographic, allerdings durfen dicse nicht mit Prognosen verwcchsclt werden, insofcm die Vorausbcrechnungen ftir die abhangigen Variablcn (Ferti-Htat, Mortalitat, Wandcrungen) nur begrenztc Giiltigkeit beanspruchen. Folgcrichtig ist cs zutreffend, dass die Bevolkerungszahl unter heute gleich blcibendcn Bedingungen zuriick-gehen wird. Glcichzeitig konncn auch Auskiinftc dariiber gcgcbcn werden, was geschehen konnte, wenn die Bedingungen sich verandem oder verandert werden.

IV. 2 Identitat der Demographic

Die Konstruktion einer historischen Identitat der Demographic zur NS-Zeit, die zum einen gleichgesetzt wird mit der Bevolkerungsstatistik und zum andcren Verbindungen zur Ras-senhygiene und zu ethnischer Segrcgationspolitik hervorhebt, soil der Herausstcllung und Explikation demographisch begrundeter sozialbiologischcr und rassischer Ordnungsmodelle dienen. In Rekurs auf Michel Foucault soil angenommen werden, dass der demographischen Expertise rassisches und sozialbiologischcs Ordnungsdenken zugrunde liegt. Eine derartig konstruierte Identitat der Demographic wiirde aber weder dem zeitgenossischen Verstandnis von Demographic, die sich als akademische Disziplin noch nicht etabliert hat, noch ihrem heutigen Verstandnis entsprcchen. Das, was unter Demographic fur die NS-Zeit zusammen-gefasst wird, sollte historisch-tcrminologisch gepruft werden, da bcvolkerungsstatistischc Modclle wic beispielswcise Friedrich Burgdorfers „bereinigte Lcbensbilanz" - in die Altcrs-vcrtcilung werden die Verlustc aus dem Ersten Weltkrieg zur Berechnung der Geburtenzif-fem cinbezogen und mit den Sterbeziffem der 1925er Stcrbetafcln bilanzicrt - nicht im Zu-sanmienhang mit sozialbiologischcn Ordnungsmodcllen genannt werden konncn. Aus dic-sem Grund sollen die genannten Disziplincn im Hinblick auf die Demographic auscinander gehaltcn werden, damit sic historisch unbelastet die gcgenwartigen Bcvolkerungsproblemc aufgreifen und bearbeiten konncn. In ihrer Hinwendung zu aktucllcn Bcvolkcrungsfragcn wird zuglcich ihre konstitutive Politiknahe bekrafligt, insofcm sic auch in wcchselndcn poli-tischen Systcmen fortwahrend politischc Problcme aufgrcift und Losungen anzubieten ver-sucht.

IV. 3 Demographiegeschichtsschreibung

Die Aufarbcitung und Auseinandcrsetzung mit der Fachgeschichtc der Demographic im Na-tionalsozialismus hat wenig Nutzen ftir die Demographic, wenn sich ausschlicBlich Histori-ker oder Wissenschaftshistoriker dariiber austauschcn. Viclmchr soil angeregt werden, fach-gcschichtliches Wissen weiter zu strcuen, so dass cs uber die wissenschaftlich historischen Diskussionen akademischer Zirkcl hinaus auch die Fachvertrcter in der amtlichcn Statistik erreicht. Andcrerscits kann die Demographic als ein intcrdisziplinarcs Projekt begriffen wer-den, das neben der historischen Demographic sich auch mit ihrer cigcnen Gcschichte befas-sen muss. Dicsbcziiglich wird auf die „Dcutsche Gcsellschaft flir Demographic" verwicsen, die den institutioncllcn Rahmen einer Fachgeschichtsforschung ftir die Demographic abstc-cken soil.

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Diskussionsbericht der Tagung 305

IV. 4 Geschichtsaufarbeitung in nationaler Hinsicht

Die Gemeinsamkeit der Erfassung der Japanese Americans mit der Absicht sie zu intemie-ren, Anfang der 1940er Jahre in den USA, und der Erfassung der Juden in der Volkszahlung von 1939 im Dritten Reich ist, dass in beiden Fallen die amtliche Statistik beteiligt war, und dass diese Beteiligung iiber einen langen Zeitraum negiert wurde. Fiir die deutsche amtliche Statistik im Dritten Reich hat das Buch von Jutta Wietog^ Aufklarungsarbeit hinsichtlich der Beteiligung der amtlichen Statistiker bei der Erfassung der Juden geleistet. Es soil, um einer intemationalen Leserschaft Einblicke in diese Aufarbeitungsbemiihungen deutscher Bevol-kerungsstatistik im Dritten Reich zu gewahren, dem Wunsch einer Ubersetzung des Buchs von Wietog ins Englische entsprochen werden. Auf europaischer Ebene sind die Bemiihun-gen, sich mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit und den Geschehnissen mit und Ver-wicklungen der amtlichen Statistik bei der Erfassung der Juden auseinanderzusetzen, sehr unterschiedlich fortgeschritten. Hervorgehoben werden diese Bemiihungen fur Deutschland und Frankreich, wobei in den Niederlanden der Beginn einer solchen Aufarbeitung noch aussteht. In Frankreich beschaftigte man sich besonders mit dem Thema Immigration, eine Gesamtschau der Bevolkerungspohtiken fiir diese Zeit fehlt jedoch noch weitgehend.

IV. 5 Volkstumskampf in der Historiographie

In der Geschichtswissenschaft sollte zwischen der soziologischen Wirklichkeit und der his-torischen Konstruktion des Volkstumskampfes oder Grenzlandkampfes im Deutschen Osten zur Zeit des Nationalsozialismus unterschieden werden. Fest steht, es war erlebbare Wirk-lichkeit, die Deutsche als auch Slawen gepragt hat. Nichtsdestotrotz gibt es Beispiele gelun-gener Integration bzw. Assimilation slawischer Bevolkerungen im Ruhrgebiet, in deren Dar-stellung nicht ausschheBlich auf ein Kampfdenken rekurriert zu werden braucht. SchHeBlich ist zu fragen, wie Konzepte der Nation oder Ethnic entstehen und hervorgebracht werden. Ergebnisse mikrogeschichtlicher Studien ergeben, dass diese Konzepte insbesondere von Lehrem, Historikem und PoHtikem getragen und verbreitet werden, sie von den Bevolke-rungen aber nur partiell aufgenommen werden. Denn es gibt auch interessengeleitete und ethnische Kooperation. Das lasst den Schluss zu, nicht allzu streng zwischen Konstruktion und Wirklichkeit zu differenzieren.

IV. 6 Vererbungsbiologie

Das problematische Verhaltnis von Erbforschung und qualitativer Bevolkerungspolitik im Nationalsozialismus und den folgenschweren Resultaten fiir mehrere soziale Gruppen, wird heute oftmals instrumentalisiert, um Erkenntnisse der Vererbungsbiologie fiir den Menschen auszuklammem. Problematisch ist hierbei allerdings nicht, dass einwandfreie Forschungser-gebnisse und Erkenntnisse wie z. B. aus der Biologic fiir den Menschen keine Geltung haben sollen, sondem dass diese Erkenntnisse in der bevolkerungspolitischen Politikberatung des Nationalsozialismus missbraucht wurden, und dass es eine deterministische Wissenschaft gab, die bevolkerungspolitisches und ideologisches Handeln legitimierte.

Wietog 2001.

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306 Michael Engberding

V. Begrifflichkeiten

V. 1 Bevolkerungsbegriff

Historische Bevolkerungsvorgange wie Assimilation und Dissimilation oder dem Konzept der Grenze liegen Konstruktionen von Bevolkerung zugrunde, die operationalisierbar ge-macht werden konnen, um diese Konstruktionen von Bevolkerung abbildbar und vergleich-bar zu machen. In den Schriften von Bevolkerungshistorikem zur Zeit des Nationalsozialis-mus sind eine Vielzahl von Variationen in der Verwendung des Begriffs Bevolkerung vor-fmdbar, die bevolkerungsstatistisch, sprachlich, rassisch oder biologisch und empirisch oder analytisch begnindet sind.

In der Betrachtung von Assimilation und „Umvolkung" konnen verschiedene Kon-strukte von Bevolkerung zu verschiedenen Auffassungen iiber „Umvolkungsprozesse" fuh-ren. So konnen sowohl physiologische Dispositionen wie „Rasse" und Blut als auch die sprachliche Aneignung innerhalb bevolkerungsgeschichtlicher Diskurse „Umvolkungsvor-gange" erklaren. Zugleich wird konstatiert, dass es mafigeblich biologische Konzeptionen sind, die das Verstandnis von Bevolkerung und Assimilationsvorgangen bestimmen und Auswirkungen auf die praktische Bevolkerungspolitik haben. Um diese bevolkerungspoliti-schen Mafinahmen erklaren zu konnen - auch innerhalb bevolkerungshistorischer Diskurse - , muss Klarheit iiber die zugrunde liegenden biologischen Auffassungen beste-hen.

V. 2 Statistische Konstruktion von Bevolkerung

Im Wesentlichen lassen sich drei Dimensionen zur Bestimmung von Bevolkerung heranzie-hen: die Grenze , die innere Differenzierung und die Konstruktion einer Identitat. Eine sol-che Konstruktion basiert jedoch auf einer angenommenen (nationalen) Homogenitat der Be-volkerung, die mittels statistischer Kategorien erhoben werden kann. In gegenwartigen Sta-tistiken kann iiber Staatsangehorigkeit, die rechtlich defmiert ist, keine Homogenitat erfasst werden. Erschwerend wirken die Wechsel oder Erwerbungen von Staatsburgerschaften, sie lassen auf eine innere Differenzierung schlieBen, die die angenommene Homogenitat unter-. miniert und die Statistik zudem vor das Problem der Erfassung dieser Differenzierungen stellt.

Bereits in den 1870er Jahren wurde ein Diskurs iiber die Erhebung von Sprache als pri-marer Indikator fiir Nationalitat gefiihrt. Es ging um die Eignung der Sprache fiir die Erfas-sung der Nation als eine homogene Masse und ihrer Funktionalitat oder Brauchbarkeit in der Nachzeichnung innerer Differenzierungen (Herkunft, Abstammung). Sprache wurde in der Vergangenheit, in PreuBen 1869 und im Deutschen Reich 1890 und seitdem mehrfach statis-tisch erhoben. Zum Beweis der Reichszugehorigkeit Elsass-Lothringens zum deutschen Sprachgebiet und damit zur Nation, erhob der Statistiker Richard Bockh in den friihen 1870er Jahren die Sprachen der dort ansassigen Bevolkerung.

Heute hingegen wird Sprache nicht mehr als Indikator fiir Nationalitat verwendet. Nicht zuletzt weil in Deutschland Auslander seit den 1960er Jahren in der zweiten oder drit-

Vgl. dazu den Aufsatz von Alexander Pinwinkler in diesem Band.

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Diskussionsbericht der Tagung 307

ten Generationen leben, die fliefiend deutsch sprechen, aber dennoch ihre urspriingliche Staatsbiirgerschaft beibehalten.

Im Polen und der Tschechoslowakei der 1920er Jahre wurde jiidisch als ein Ersatz fur Nationalitat erhoben. In der Volkszahlung von 1939 im Nationalsozialismus wurde ahnlich verfahren, um zu zeigen, dass Juden einer anderen Nation als der deutschen zugehorig sind. Noch in der Sowjetunion wurde jiidisch stellvertretend fur Nationalitat erhoben.

V. 3 Rassenbegriff

Bei der Verwendung des Begriffs „Rasse" stehen sich verschiedene Grundintentionen ge-gentiber. Die Definition von Rassen hinsichtlich der Erbmasse oder mittels Blutgmppen soil in historischen Auseinandersetzungen mit „Rasse" in bevolkerungspolitischen MaBnahmen nicht von zentraler Bedeutung sein. Neben der Moglichkeit, verwendete Rassebegriffe histo-risch als anthropologisch oder populationsgenetisch zu benennen, bietet der Rassebegriff von Michel Foucault einen Erklarungsansatz dafur, wie Ethnien als homogene Bevolke-rungsgruppen konstruiert und Konflikte zwischen diesen homogenen Bevolkerungsgruppen dann instrumentalisiert werden, um MaBnahmen zur Durchsetzung bevolkerungspolitischer Ziele zu rechtfertigen.

VI. Deutschland im internationalen Kontext

VI. 1 Deutsche Rassenhygiene und ihre Kritiker

Die Rassenhygiene in Deutschland konnte sich als eine angewandte Wissenschaft institutio-nalisieren, die vermittels einer wachsenden Datengrundlage zu einer machtigen Sozialtech-nologie heranreifte. Arzte, Demographen, Kriminologen und entstehende anwendungsbezo-gene Wissenschaften wie die Rassenhygiene selbst, haben eine immense Datengrundlage nachgefragt und geschaffen - 1919 entstand in Bayem eine kriminalbiologische Datenbank und in Sachsen baute Rainer Fetscher eine erbbiologische Kartei auf. Diesen Datensamm-lungen wurden unter dem Nationalsozialismus weitere hinzugefugt. In Thtiringen fiihrte Karl Astel demographische Untersuchungen tiber Homosexualitat, Tabakmissbrauch u. a. m. durch, die schlieBlich auch genutzt werden konnten, um unerwtinschte Personen, Grup-pen und Ethnien zu identifizieren und auszusondem.

Die deutsche Rassenhygiene wurde nicht nur von einzelnen Wissenschaftlem kritisiert. Vielmehr kann von einer internationalen „lockeren" Koalition von Anthropologen, Psycho-logen, Genetikem und anderen Wissenschaftlem gesprochen werden, die sich verstarkt seit 1930 dem deutschen rassenhygienischen und -ideologischen Denken entgegenstellten. Deut-sche Emigranten wie beispielsweise Friedrich Hertz und Ignaz Zollschan waren mit der Un-terstutzung durch Exilregierungen in der Formierung dieser Koalition tatig. Und auch ande-re Wissenschaftler wie der Anthropologe Franz Boas, der die NS-Rassenideologie mit sei-nem kulturellen Rassebegriff kritisierte, oder der Psychologe Maximilian Beck waren dieser Bewegung zuzurechnen.

Aus heutiger Sicht auf die Entwicklungen und Folgen der Rassenhygiene ist fraglich, wieso das nationalsozialistische Komitee, bestehend aus deutschen Rassenhygienikem, von

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308 Michael Engberding

dem Kongress der „Intemationalen Union ftir Bevolkerungswissenschaft" (lUSIPP) 1937 in Paris nicht ausgeschlossen wurde. Deutschland war Mitglied der lUSIPP seit ihrer Griin-dung 1928, ein Ausschluss wurde seinerzeit iiberhaupt nicht thematisiert. Ein Ausschluss der Deutschen ware ohnehin nur schwer zu begriinden gewesen, da eugenisches und rassen-hygienisches Denken - bis hin zu Sterilisationsgesetzgebungen wie z. B. in den USA - nicht nur in Deutschland, sondem auch woanders herrschte. Eine umfassende Kritik des deut-schen Komitees und dem deutschen rassenhygienischem Denken, bis auf die Vertreter oben genannter Koalition, fand nicht statt. Nicht zuletzt sollten die Kongresse der lUSIPP auch als Foren verstanden werden, in denen kontroverse Meinungen staatlicher Reprasentations-gruppen gehort und diskutiert werden sollten. Dennoch wurde beschlossen die Beitrage des deutschen Komitees alle in einer Sitzung zu verhandeln, um sie gewissermaBen zu separie-ren und besser beobachten zu konnen.

VI. 2 Beziehungen zwischen Vichy Regime und NS-Deutschland

Im Vergleich zum NS-Deutschland, ftir das das Entstehen einer Vielzahl von rassenpoliti-schen, eugenischen und erbbiologischen Instituten konstatiert wird, gab es auch in Frank-reich unter Vichy institutionelle Neugriindungen die rassenhygienisch orientiert waren. Diesbeziiglich wird auf das Forschungsinstitut „Foundation Alexis Carrel"^ verwiesen, des-sen Griindung von der Besatzungsmacht ausdriicklich begriiBt wurde. Die Radikalisierung rassenhygienischen Denkens und MaBnahmen im Nationalsozialismus kann als AnstoB ftir eine verstarkte Diskussion der Eugenik Ende der dreiBiger und Anfang der vierziger Jahre in Frankreich angeftihrt werden. Der Einfluss des NS-Regimes auf die Vichy Regierung erfor-dert allerdings eine differenzierende Betrachtung, wenn bekraftigt wird, dass in Frankreich kurz nach der Niederlage von Vichy unabhangig und eigenstandig Gesetze erlassen wurden, die Auslander auf dem Arbeitsmarkt diskriminierten oder mit denen intendiert wurde, Juden aus den offentlichen Amtem zu entfemen.

VII. Statistik, Bevolkerung und Individuen

VII. 1 Gefahrenpotentiale der Statistik

Aufgabe der amtlichen Statistik ist die Bereitstellung statistischer Informationen ftir den Kreis der Nutzer und Nachfrager, was auf die Trennung von der Bereitstellung und Produk-tion und der Auswertung und Analyse statistischer Daten hinweist. Damit ergeben sich ftir die Statistik Probleme hinsichtlich der Vertraulichkeit von Daten und einem den Daten inne-wohnenden Gefahrenpotential: die Gefahren der Veroffentlichung von personenbezogenen Daten und das Risiko mittels statistischer Erhebungen Individuen, Subpopulationen oder Bevolkerungen Schaden zuzuftigen. Die Diskussion uber Risiken der Bekanntgabe perso-nenbezogener Daten wird als ein genuin statistisch-mathematisches Problem vorgestellt, nach dem es mathematische Modelle gibt, die die Gefahren und Moglichkeiten untersuchen, wie von bereitgestellten Daten auf Subpopulationen geschlossen werden kann. Die andere

Das Institut wurde 1941 gegriindet, dazu siehe den Aufsatz von Petra Overath in diesem Band.

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Diskussionsbericht der Tagung 309

Problematik bezieht sich auf die Verwendung oder Anfertigung von Statistiken sowie darin enthaltenen Potentialen fiir Menschenrechtsverletzungen. In diesem Zusammenhang handelt es sich um ethische, politische und rechtlich gesetzliche Probleme sowie insbesondere der ethischen Verantwortlichkeit des Statistikers fiir sein Handeln. Wenn die Statistik betreffen-de Gesetze mittels politischer Verfiigungen durch hoherrangige Gesetze auBer Kraft gesetzt werden oder einer politisch-ideologischen Revision unterworfen werden, konnen die eige-nen ethischen Auffassungen mit den vom Staat iibertragenen Amtsaufgaben in Konflikt ge-raten. Die Losung des Konflikts obhegt dann nur dem Verantwortungsbewusstsein und den Einstellungen der Einzelnen.

Statistische Erhebungsmerkmale wie Sprache, „Rasse" und Religion sind demogra-phisch interessierende Merkmale, da durch sie auf die Binnendifferenzierungen von Bevol-kerungen geschlossen werden kann. Es sind aber auch Merkmale die, weil sie in unter-schiedlichen legalen Kontexten oder politischen Systemen ein unterschiedlich hoheres Ge-fahrenpotential als andere aufweisen, rechtlicher Regelung bedtirfen. Z. B. unterscheidet sich die Sondererhebung der jiidischen Bevolkerung im Zensus Polens von 1921, auch wenn sie auf antisemitische Einstellungen in der Staatsfiihrung zuriickgefiihrt werden kann, grundlegend von Erhebungen deutscher Statistiker tiber die jiidisch-polnische Bevolkerung im Generalgouvemement zum Zweck rassischer Selektionsmafinahmen. Das Erhebungs-merkmal Religion benotigt rechtliche Regelungen, um sicherzugehen, dass mit diesen Infor-mationen kein Missbrauch betrieben wird. Zwischen der Gewahrung von Sicherheit und Zweckdienlichkeit statistischer Daten besteht ein Austauschverhaltnis, denn Kenntnisse iiber Sprachunterschiede innerhalb von Bevolkerungen konnen sowohl zum Zweck der Aus-grenzung missbraucht werden oder mit der Absicht Sprachintegration anzubieten oder zu fordem erhoben werden. Ein wirksames Mittel zur Minimierung der Gefahrenpotentiale sta-tistischer Erhebungen, die sich in den Dienst von Staat und Gesellschaft stellt, ist die offent-liche Diskussion.

VII. 2 Vertraulichkeit und Forschung

In der historischen Forschung konnen gesetzliche Bestimmungen, die den Umgang mit per-sonenbezogenen archivarischen Informationen regeln, Auflklarungs- und Wiedergutma-chungsprozessen behindem. Beispielsweise existieren in Deutschland keine sicheren bzw. nur falsch errechnete Statistiken iiber die Zahlen ermordeter Roma und Sinti, Asozialer, Ho-mosexueller sowie Euthanasie- und Sterilisationsopfer - die Angaben uber die jiidischen Opfer der Nazi-Grausamkeiten scheinen besser fundiert. Die arbeitsintensive und schwieri-ge Anfertigung derartiger Statistiken, deren Realisierung stark bezweifelt wird, da sie auf unzuverlassigem statistischem Material der NS Herrscher aufbauen miissten, konnen hilf-reich fur die Regelung von Kompensationszahlungen sein. Auf individueller Ebene verhin-dem Vertraulichkeitsregelungen die personliche Trauer um die Opfer. Handelt es sich um Forschungs- und Erkenntnisinteressen im Namen oder im Auftrag der Opfer miissten diese Vertraulichkeitsregelungen jeweils fur den spezifischen Fall thematisiert und ausgehandelt werden.

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VII. 3 Volkszahlungen

Mit der Volkszahlung von 1983, die durch das Volkszahlungsurteil des Bundesverfassungs-gerichts verhindert wurde, war der Abgleich der Melderegister im Sinne einer Registerberei-nigung von Karteileichen der kommunalen Melderegister intendiert, da diese Register fur die Zeit zwischen den Volkszahlungen eine wichtige Arbeitsgrundlage der Statistiker dar-stellen - in Osterreich und der Schweiz wurden die letzten Volkszahlungsergebnisse fur den Registerabgleich verwendet.

Bin Zusammenhang zwischen dem Scheitem der Volkszahlung von 1983 und Volks-zahlungspraktiken im Nationalsozialismus wurde allgemein vemeint. Allerdings fallt in den Zeitraum der Debatte um das Volkszahlungsurteil die Studie von Gotz Aly und Karl Heinz Roth.^2 Sie zeigte das eigentlich Skandalose der Volkszahlung von 1939: neben der Sonder-erfassung der Juden bestand bei dem Statistischen Reichsamt die Bereitschaft und die Inten-tion, bereits im Vorfeld der Volkszahlung personenbezogene Daten in Form einer Judenkar-tei fur Deportationszwecke dem Reichssicherheitshauptamt zu libermitteln. Damit war keine Geheimhaltung statistischer Daten mehr gesichert, bzw. wurde mit dem Grundsatz gebro-chen, dass niemanden durch die Volkszahlung Schaden zugeftigt werden durfe. Jedoch er-hielt das Reichssicherheitshauptamt diese Judenkartei nie. Jutta Wietog zeigte, dass Aly und Roth die Judenkartei mit der Volkstumskartei, die die slawischen Fremden im deutschen Reich enthielt, offensichtlich verwechselten.^^ Um der Frage nachzugehen, wie das Reichs-sicherheitshauptamt sich die Informationen uber die jiidische Bevolkerung ftir ihre Deporta-tionsabsichten selbst beschaffte, miissten die Zentralstelle fur judische Auswanderung, regi-onalhistorisch die kommunalen Amter und deren Kontakte zum Reichssicherheitshauptamt naher untersucht werden.

VII. 4 Wurzeln der Demographic

In die naturwissenschaftlich sozialwissenschaftliche Bewegung in Frankreich - in der auch Adolphe Quetelets „Soziale Physik" und Auguste Comtes Soziologie beheimatet sind - ist Achille Guillards Konzept der Demographic^"^ einzuordnen. Er intendierte mit seiner Demo-graphic empirische Daten zur Besserung der sozialen Zustande zu gewinnen. Damit gehort er der sozialhygienischen Bewegung an, die nicht zuletzt infolge der fortschreitenden Indus-trialisierung und aus der Sorge der Reformer und Hygieniker um die Volksgesundheit ent-stand. Die Feststellung, dass die Anfange der Demographic in der Sozialhygiene lagen, wird zweifach problematisiert. Dabei wird auf die Bedeutung der Demographic im Ausbau des modemen Anstalts- und Verwaltungsstaates, dem Frankreich unter Fiihrung Napoleon Bo-napartes vorausging, hingewiesen. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Griindungen der statistischen Amter wieder: Frankreich 1800, Italien 1803, PreuBen 1805 und Bayem 1833. In einem Vergleich mit Deutschland konnte die Rolle der Nationalokonomie und der Staats-wissenschaften in der Ausbildung der Demographic hinterfragt werden.

Die Anfange der Demographic sind jedoch auch in der Wissenschaftsorganisation zu suchen. Libby Schweber^^ stellte fur Frankreich eine Trennung hinsichtlich Akademie und

12 Aly 2000. 13 Wietog 2001. 14 Guillard 1855.

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Diskussionsbericht der Tagung 311

Administration fest - zwischen Universitaten und grande ecoles - wo die Mathematik vor-nehmlich auf administrativer Ebene Pflege erflihr, die Nationalokonomen in den Akademien batten mit dieser kaum Beruhrung; im Unterschied dazu waren in England Akademie und Administration eng miteinander verflochten. Als Resultat der franzosischen Konstellation lasst sich die Entwicklung der Demographie aus der Sozialhygiene aufgrund ihrer gemeinsa-men Nahe zur Administration erklaren. Louis Adolphe Bertillon bat den Begriff der Demo-grapbie von Guillard ubemommen, er begriff im Unterscbied zu dessen individuabsierender Demograpbie und zur Massenstatistik Quetelets, unter Demograpbie einen Systembegriff ei-ner kollektiven Bevolkerung - seine Konzeption ist aucb flir das beutige Verstandnis von Demograpbie als Modelllebre von Bedeutung. Bertillon initiierte ab 1878, aucb als Reaktion und in Abgrenzung zu den „Intemationalen Statistiscben Kongressen", denen Quetelet vor-stand, den „Intemationalen Kongress ftir Hygiene und Demograpbie".^^ Uber diese Kon-gresse kam der Mediziner Alfred Grotjabn^^ in Kenntnis von der Demograpbie, die er als zweckmaBig fur seine Soziale Medizin ansab. Allerdings entspricbt seine Konzeption von Demograpbie eber den Intentionen Guillards, nicbt zuletzt weil sein Interesse an statisti-scben Informationen aucb mit geringeren matbematiscben Fertigkeiten befriedigt werden konnten.

Das Aufkommen der Demograpbie seit der Mitte des 19. Jabrbunderts gebt ebenfalls einber mit der Betracbtung von der Bevolkerungsmenge im Merkantibsmus als Merkmal fiir Woblstand und bei Maltbus im Hinblick auf den Nabrungsspielraum bin zur Bewegung der Bevolkerung. Die Betracbtung der Bevolkerungsbewegung wird besonders durcb das wacb-sende mediziniscbe und sozialbygieniscbe Interesse am massiven Sterblicbkeitsruckgang motiviert, wo Sterblicbkeit die Lebenserwartung anzeigt und als Indikator far Volksgesund-beit fungiert. Infolge wurden Sterblicbkeitsstatistiken von den Medizinem zur Durcbsetzung von Gesundbeitseinricbtungen und der Sozialen Hygiene genutzt. In der Betracbtung der Bevolkerungsbewegung ging das mediziniscbe Interesse der sicb verandemden Mortalitat der Fertilitat voran. Die Fertilitat riickte mit der Wabmebmung des Geburtenruckgangs erst in Frankreicb und dann in Deutscbland ins Zentrum der Interessen. Der Geburtenriickgang veranlasste Frankreicb als erstes Land zu einer aktiven pronatalistiscben Politik^^ - eine Niederlage wie 1871 diirfe sicb nicbt wiederbolen - , was ebenfalls fur eine friibe Hinwen-dung zur und Ausbildung der Bevolkerungswissenscbaft respektive Demograpbie in Frank-reicb interpretiert werden konnte.

15 Schweber 1996. 1 Bis 1882 ftihrten die Kongresse den Namen „Demographie et Geographic medicale", dazu vgl. den Beitrag

von Rainer Mackensen in diesem Band. 1* Zu Alfred Grotjahn, vgl. den Beitrag von Ursula Ferdinand in diesem Band. 1 Zur Bevolkerungspolitik Frankreichs vgl. den Beitrag von Petra Overath in diesem Band.

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VIII. Bevolkerungswissenschaft im Nationalsozialismus

VIII. 1 Das ..Blaue Archiv"^^ Hans Harmsens • 9 9 ^

Die Griindungsintention des „Archivs fiir Bevolkemngspolitik, Sexualethik und Familien-kunde"^^ Hans Harmsens bestand unter anderem darin, die infolge des Auslaufens des bibli-ographischen Nachschlagewerks „Jahresberichte uber die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demographie" Alfred Grotjahns entstandene Liicke ein Stlick weit zu schlieBen; damit erwies Harmsen seinem 1931 verstorbenen Lehrer Grot-jahn Referenz und beabsichtigte zugleich, sich von den unzahligen Publikationen auf dem Gebiet der Sexualwissenschaft abzugrenzen. 1934 wurde die Zeitschrift in „Archiv fiir Be-volkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkemngspolitik" umbenannt. Angesichts der Umbenennung des Archivs stellt sich die Frage, ob sie sich auf einen ausgepragten Op-portunismus Harmsens zuriickflihren lasst, oder ob sie seitens des neuen Herausgebersta-bes^^ politisch angeregt wurde. Angedeutet werden kann, dass Friedrich Burgdorfer, einer der Mitherausgeber, das Programm fur eine Bevolkerungswissenschaft entwarf, das im „Blauen Archiv" verwirklicht werden sollte, und dass Falk Ruttke am Verschwinden des Begriffs „(Volkskunde)" im Titel nach 1937 beteiligt war, ^ In naherer Betrachtung der Per-son Harmsen kann festgehalten werden, dass, obwohl sein volkisches und sozialhygieni-sches Gedankengut sich problemlos in die nationalsozialistische Ideologic einfiigen lieB, er nach dem Kjieg, vom NS-Regime relativ unbelastet (Harmsen war kein Mitglied der NS-DAP), seine Karriere fortfahren konnte; unter anderem intendierte er in den 1950er Jahren das „Blaue Archiv" wieder zu beleben. Harmsens Haltung zur Bevolkemngspolitik ist ins-gesamt sehr differenziert zu betrachten, denn obwohl er ein Befurworter der Sterilisation war, war er zugleich aus religiosen Grunden Gegner der Euthanasie.

Die Rezeption des „Blauen Archivs" zur Zeit des Nationalsozialismus ist in ihrer Tie-fen- und Breitenwirkung noch nicht geklart. Im Vergleich mit auflagenstarken „rassenkund-lichen" oder anthropologischem Zeitschriften wie „Volk und Rasse" oder „Der Erbarzt" konnen Erkenntnisse Uber Einfluss und Tragweite des „Blauen Archivs" gewonnen werden. Hinderlich bei einer solchen Realisiemng ist, dass beim Hirzel Verlag keine Unterlagen mehr zum und iiber das Archiv existieren, so dass Informationen iiber das „Blaue Archiv" miihsam iiber die Nachlasse der Herausgeber und anderer Beteiligten erarbeitet werden mtissten.

VIII. 2 Rudolf Heberle

Rudolf Heberle, der in der Fortfuhmng der Soziographie von Ferdinand Tonnies eine bedeu-tende RoUe fiir die Entwicklung der empirischen Sozialforschung in Deutschland einnimmt, hat mehrfach im „Blauen Archiv"^^ publiziert. Dass er mafigeblich die Bevolkemngssozio-

^ Den Kurztitel „Blaues Archiv" erhielt das „Archiv fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkemngspolitik" aufgrund dessen blauen Einbands.

20 Anfangs trug das Archiv den Titel: „Archiv fiir Bevolkemngspolitik, Sexualtehtik und Familienkunde", spa-ter, ab 1934, „Archiv fiir Bevolkemngswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkemngspolitik".

2 Vgl. der Aufsatz von Sonja Schnitzler in diesem Band. 22 Zu diesem Punkt vgl. den Beitrag von Carsten Klingemann in diesem Band.

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Diskussionsbericht der Tagung 313

logie des nationalsozialistischen „Blauen Archivs" konstituiert haben soil, wird bezweifelt. Gefragt wird, ob seine Aufsatze inhaltlich den Interessen der Schriftleiterin Elisabeth Pfeil entsprochen haben, und ob seine vereinzelten Publikationen im Archiv vielmehr auf der Tat-sache beruhen, dass ihm bis zu seiner Emigration 1938 kaum noch Publikationsmoglichkei-ten verblieben. SchlieBlich stand er dem nationalsozialistischen Geist oppositionell gegenii-ber. Dagegen wird bemerkt, dass Heberle in wenigstens zwei Aufsatzen^"^ die empirische Sozialforschung dem Regime andienen wollte - was ebenfalls in der Biographie von Rainer WaBner ^ unerwahnt bleibt - , und dass er noch nach seiner Emigration weiterhin Kontakte mit Elisabeth Pfeil pflegte. Er signaUsierte ihr seine Bereitschaft ihrem „GroBstadtsammel-werk"^^ einen Beitrag beizusteuem. Nicht zuletzt ist die Person Heberle fiir das „Blaue Ar-chiv" dahingehend von Interesse, da durch ihn der Kontrast zwischen so genannter Pseudo-wissenschaft und Sozialforschung veranschaulicht werden kann.

VIII. 3 Wissenschaftsentwicklungen im NS

Es kann im Hinblick auf die Entwicklung der Wissenschaften in der zwolfjahrigen NS-Herr-schaft davon ausgegangen werden, dass es, gemessen an den Erkenntnisbedtirfnissen des Regimes, eine sequentielle politische Forderung unterschiedHcher Fachrichtungen gab, die zu Verschiebungen der Bedeutungsgewichte zwischen den Disziplinen ftihrten; anfangs Volksgesundheit und Sozialhygiene, die von kriegswirtschaftlichen Interessen, der Raum-forschung einerseits und der visionaren Schaffung einer Nachkriegsordnung andererseits spater uberlagert wurden. Innerhalb der Raumforschung wurde ein Raumdenken propagiert, in dessen Folge die Bedeutung der Bevolkerungswissenschaft auch marginalisiert wurde. Es gait dieses Raumdenken umzusetzen, zu dessen Erfiillung Raumforscher wie beispielsweise Konrad Meyer die Schaffung idealer Raumstrukturen erhoben. Nach seiner Ansicht bedurfte es keinerlei empirischer Bevolkerungsforschung oder dergleichen mehr. Sein Motiv war, die alten Raumstrukturen aufzulosen und den Raum, d. h. die Platzierung der Stadte, Industrien, StraBen usw. konzeptionell neu zu gestalten. Friihestens nach Abschluss dieser Planungsvor-haben ware eine empirische bevolkerungswissenschaftHche Forschung sinnvoll. Relativie-rend kann eingewendet werden, dass die Raumplanung aber auch in Konkurrenz mit ande-ren Feldem der Bevolkerungs- oder Volkstumspolitik stand. Bezeichnend hierfiir sind wis-senschaftliche Expertisen unter anderen von Eugenikem und Anthropologen hinsichtlich von „UmvolkungsmaBnahmen" oder Zwangsmigrationen von polnischen, tschechischen und deutschen Bevolkerungsgruppen im Generalgouvemement und in Tschechien. Auf der anderen Seite erscheint es far die Sozialhygiene fraglich zu behaupten, sie sei im Laufe der zwolf Jahre von anderen Disziplinen uberlagert oder verdrangt worden. Denn denkbar ist, dass der Raum- bzw. Umweltbegriff, wie er in der Raumforschung operationalisiert wurde, auch fiir die Sozialhygiene sehr wichtig war. In der Vorbereitungsphase der Siedlungspolitik fiir das Generalgouvemement war das Aufgabengebiet von Heinz Zeiss die Seuchenpraven-

23 Gemeint ist die Zeitschrift: „Archiv fiir Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkerungspolitik" siehe auch vorigen Abschnitt in diesem Bericht.

'^^ Gemeint sind damit vermutHch die Aufsatze: Heberle 1935; ders. 1936. 25 WaBner 1995. 26 Vgl ZU dem Grofistadtsammelwerk der Aufsatz von Sonja Schnitzler in diesem Band.

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tion (Fleckfieberbekampfung), die zu einer wichtigen praktischen militarischen und politi-schen Aufgabe erhoben wurde.

VIII. 4 Wissenschaftlicher Fortschritt der Medizin

Die Bedeutung und Stellung der Medizin zur NS-Politik und damit auch ihre Fortschritte sind sehr ambivalent einzustufen. Von politischer respektive parteilicher Seite kann von ei-ner ideologischen Inanspruchnahme der Medizin gesprochen werden. Der Ftihrer als Vor-bild rauchte und trank nicht. Auf breiterer Ebene gab es dementsprechend eine Anti-Drogen Bewegung der Nazis gegen Alkohol, Nikotin und besonders gegen die im heutigen Sinne modemen Drogen. Zugleich wird festgestellt, dass diese modemen Drogen wie Pervetin ' zur NS-Zeit fur Zwecke eingesetzt wurden, die die Ausdauer der Soldaten fur militarische Operationen fordem sollten, in diesen Fallen wurde die Suchtgefahr bewusst in Kauf ge-nommen.

Der wissenschaftliche Fortschritt auf medizinischem Gebiet ist jedoch nicht ausschlieB-lich auf politisches Engagement der Nazis bzw. des Fiihrerstabs zuriickzufuhren. Vielmehr sind verschiedene Krafte wirksam, wie am Beispiel der Geomedizin und dem Kreis um Heinz Zeiss sichtbar wird. Zeiss intendierte, die Geomedizin in Abgrenzung zur Anthropo-logic und zur Rassenhygiene - Spannungen mit Fritz Lenz veranschaulichen das - innerhalb der SS zu etablieren. Fiir sein Vorhaben wurde ihm der SS-Mann Lothar Stengel-von Rut-kowski wichtig, der fiir die Geomedizin im politischen Feld eine Schliisselfigur einnahm. Der Kreis um Zeiss war aber auch in militarischer und politischer Hinsicht von auBerordent-licher Bedeutsamkeit in ihrer Aufgabe der Seuchenpravention und Fleckfieberbekampfung fur den besetzten Osten.

IX. Formalien

Vorliegender Band umfasst die Ergebnisse der dritten Tagung einer bisher im zweijahrigen Tumus stattgefundenen Veranstaltungsreihe zur Bevolkerungswissenschaft und Bevolke-rungspolitik im Dritten Reich unter der Agide der „Deutschen Gesellschaft fur Demogra-phic" (DGD). Diese Veranstaltungsreihe war das erste gemeinsame Projekt der beiden deut-schen demographischen Gemeinschaften nach deren Zusammenschluss zur „Deutschen Ge-sellschaft ftir Demographic".^^ Auf der Tagung wurden die Pramissen fur eine Fortfiihrung der Veranstaltungsreihe erortert, denn schlieBlich mache es einen Unterschied, ob die „hier" stattfmdende Diskussion als Abschlussdiskussion der gesamten Reihe einzustufen sei oder nicht. Obwohl auch auf dieser Tagung wiederum nur Teilaspekte hervorgehoben werden konnten, da andere Forschungsergebnisse sich noch im Prozess der Aufarbeitung befanden, wurde verstarkt fiir eine inhaltliche und thematische Verschiebung der Tagung pladiert; die Fortfiihrung der Tagungsreihe unter Beteiligung der DGD wurde an sich nicht infrage ge-stellt - diesbeziiglich wurde mitgeteilt, dass dariiber beim Vorstand der DGD, der im Begriff

Pervitin ist ein Arzneimittel, das zu den Weckaminen bzw. Amphetaminen gehort. Die „Deutsche Gesellschaft fur Demographic" entstand aus der Zusammenfuhrung der beiden Vorgangerge-sellschaften - der 1952 gegriindeten „Deutschen Gesellschaft ftir Bevolkerungswissenschaft" und der 1990 gegriindeten „Johann Peter SiiBmilch-Gesellschaft fiir Bevolkerungswissenschaft" - im Jahr 2001.

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Diskussionsbericht der Tagung 315

war sich neu zu konstituieren, noch keine Klarheit herrschte. In diesem Sinne sollten zu-kunftige Themen starkeren Bezug zur Gegenwart aufweisen. Die Entwicklung und der Auf-bau der Bevolkerungswissenschaft und der Demographie nach dem Krieg wiirden sich daftir besonders anbieten, was auch fur das Selbstverstandnis der heutigen Bevolkerungswissen-schaft und Demographie von Wichtigkeit ware. Einerseits wird eingewendet, dass die im Werden begriffenen Projekte hinter neuen thematischen Ausrichtungen nicht zuriickfallen diirften und andererseits wurde gefragt, ob denn Wissenschaftler sich bereits mit diesen The-men beschaftigen oder wie welche dafur gewonnen werden konnen.

Der Bezug der DGD zur Fachgeschichtsaufarbeitung wurde zuweilen ungemein kri-tisch reflektiert. Z. B. kann es als Aufgabe der DGD angesehen werden einen wissenschafts-historischen Arbeitskreis einzurichten. Dieser Forderung liegt das Selbstverstandnis einer interdisziplinar ausgerichteten Demographie zugrunde, die den Kontakt mit anderen Diszi-plinen pflegen soll.^^ Denn schlieBlich konne das Fembleiben - obwohl eingeladen - ange-sehener Wissenschaftler von Tagungen der DGD auch als Stellungnahme interpretiert wer-den, die unter anderem auf den Umgang der DGD in der Aufarbeitung ihrer eigenen Ge-schichte zuruckgefiihrt werden kann. Solche Ressentiments konnten durch eine interdiszipli-nare Demographie und durch Bemiihungen in der Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte begegnet werden.

X. Erganzungen und Nachfragen

An dem Erfolg der Verbreitung der Rassenanthropologie in Deutschland als Pseudowissen-schaft, waren im Grunde nur wenige Personen beteiligt. Rassenanthropologisches Gedan-kengut wurde von den Nationalsozialisten begriiBt und gefordert. Am Beispiel des Buchs vom „Rasseforscher" Hans F. K. Giinther^^, das nicht zuletzt auch aufgrund der personli-chen Beziehungen von Fritz Lenz und Giinther zu dem Miinchner Verleger Julius Friedrich Lehmann publiziert werden konnte, wird ersichtlich, wie technische Moglichkeiten zur visu-ellen Darstellung verwendet wurden, um die Existenz verschiedener Rassen zu belegen. In-dem verschiedene „Rassenangehorige" nebeneinander abgedruckt wurden, soUte die Exis-tenz einheitlicher sich unterscheidender „Rassen" bewiesen werden. Ebenso wie Kraniomet-rie zur Feststellung von „Rassen" oder als sozialanthropologischer Versuch des Beweises geistiger Minderwertigkeit der Frauen, miissen solche Ambitionen als pseudowissenschaft-lich tituliert werden.

Der Soziologe und Bevolkerungshistoriker Dietrich von Oppen promovierte 1942 mit dem Thema „Die Umvolkung in WestpreuBen von der Reichsgrtindung bis zum Weltkriege" bei Theodor Schieder an der Grenzlanduniversitat Innsbruck. Seine Dissertation, die offen-sichtlich stark von einem Buch des jtidischen Nationalokonomen Ludwig Bemhards beein-flusst war, den er auch mehrfach zitierte, schuf ihm im Nationalsozialismus keine Probleme. Nach dem Krieg machte von Oppen eine typische westdeutsche Karriere und wurde schlieB-lich Professor fur Sozialethik in Marburg. Zuvor veroffentlichte er 1955 seine Dissertation

2 Diesbeziiglich siehe auch den Abschnitt „Demographiegeschichtsschreibung" in diesem Bericht. ° Gunther veroffentlichte eine Vielzahl von Buchem iiber „Rassenkunde", seine „Rassenkunde des deutschen

Volkes" erschien in der ersten Auflage 1922 und wurde immer wieder erweitert und neu aufgelegt.

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316 Michael Engberding

von 1942 noch einmal unter dem geanderten Titel „Deutsche, Polen und Kaschuben in WestpreuBen 1871-1914" im „Jahrbuch ftir die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands" von 1955 und mit geanderter Terminologie - fur Erbbiologie schrieb er Humangenetik u. a. m.. Es fragt sich, ob er hatte Professor werden konnen, wenn der Kontext der Entstehung seiner Doktorarbeit bekannt gewesen ware. Nichtsdestotrotz geriet von Oppen schlieBlich doch ins Zielfeuer von Angriffen auf seine Person, die seinen Werdegang kritisch hinter-fragten. Von Oppen zeigte daraufhin offentlich Reue.

Der Bevolkerungshistoriker Erich Keyser, der „Danziger Archivar", war nach dem Krieg in Marburg am Aufbau des Herder-Instituts beteiligt, dessen Aufgabe darin bestand, die Kultur und Wirtschaft des Ostens im „KaIten Krieg" zu studieren und zu beobachten. Spater, nachdem es unter Willy Brandt liberalisiert wurde, wurde es zu einem Kulturinstitut mit lebhaften Kontakten nach Polen, Tschechien und anderen Landem und in dem Vertrie-bene aus dem Osten eine Anstellung fmden konnten.

Das Begriffspaar „ Gemeinschaft und Gesellschaft" formulierte Ferdinand Tonnies be-reits 1887. ^ Nach dem Entstehungskontext zu urteilen, steht es der nationalsozialistischen Ideologic fern, dennoch popularisierten die Nationalsozialisten diese Begriffe. Sie instru-mentalisieren sie, indem sie der negativ bewerteten Gesellschaft die positiv konnotierte Ge-meinschaft gegeniiberstellten. Herrman Schmalenbach erganzte 1922^^ das Tonnies'sche Begriffspaar um den Begriff des Bundes, der ungefahr zwischen Gemeinschaft und Gesell-schaft zu verorten ist, den die Nationalsozialisten ebenfalls flir sich nutzbar machten. Es ist ein emotional unterlegter Begriff, der die biindisch strukturierten und organisierten Vereini-gungen der SS, GeStaPo und anderer NS-Gruppierungen bezeichnet. Diese Mannerbiinde waren nicht in den Kategorien von Stand oder Klasse zu denken, vielmehr sollten sie auf eine denkbare nationalsozialistische Zukunftsgesellschaft verweisen, die sich gewisserma-6en biindisch aufbauen sollte. Anhand des Begriffspaars „Gemeinschaft und Gesellschaft" konnen die von den Nationalsozialisten vorgenommenen Popularisierungen und Politisie-rungen fiir den Bereich der Soziologie veranschaulicht werden, ahnliche politisch-histori-sche Kontexte der Popularisierung oder TriviaHsierung wissenschaftlicher Theorien sind wissenschaftshistorisch auch fur die Bevolkerungswissenschaft auffindbar.^^

Das Programm der Sozialhygiene des sozialliberalen Alfred Grotjahns am Anfang des 20. Jahrhunderts, das neben der bloBen Bestandsaufnahme auch die kommenden Generatio-nen mit einschlieBt, steht in dem breiteren Kontext einer sozialen Bewegung, die aus einer positiven Zivilisationskritik versucht einen ,,neuen Menschen'' abzuleiten, mittels dem die Zukunft gestaltbar wird. Allerdings ebbt diese Euphoric in Konsequenz des Ersten Welt-kriegs ab.

Aufgrund Robert Rene Kuczynskis Beteiligung an der Durchsetzung des Volksbegeh-rens zur Fiirstenenteignung (1926), das zunachst von der KPD, dann auch von der SPD ge-tragen wurde, stellt sich die Frage, ob er Kommunist war. Kuczynskis Engagement fiir den letztendlich gescheiterten Volksentscheid lassen ihn als Kommunist erscheinen, dennoch ist er als ein fortschrittlicher und demokratischer Wissenschaftler einzustufen.

^ Tonnies 1887. Der Text ist die iiberarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1881 bei Benno Erdmann in Kiel.

32 Schmalenbach 1922, 35ff. 33 Fiir solche „Kontexte" vgl. den Beitrag von Rainer Mackensen in diesem Band.

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Diskussionsbericht der Tagung 317

Marc Blocks Argumentation und Begriindungen fiir Frankreichs Niederlage gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg, die sich nicht auf die Aussage „zu wenige Kinder" redu-zieren lasst, wurden zur Zeit Vichys nicht gehort. In diesem Fall liegt das Problem nicht da-rin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse keine Chance hatten offentlich wahrgenommen zu werden, sondem weil Bloch bereits 1944 erschossen wurde und sein Buch „L'etrange defai-te", das er 1940 geschrieben hatte, erst 1946 veroffentlicht wurde.

Die Bedeutung von Praktiken der Sozialforschung in der Soziographie und in der De-mographic oder Bevolkerungsstatistik ist zweifach zu exemplifizieren. Soziographie als eine Friihform empirischer Sozialforschung, wie sie in der Studie „Die Arbeitslosen von Mari-enthal" (1933) von Paul F. Lazarsfeld und Marie Jahoda erprobt wurde, hat mit Demogra-phic oder Bevolkerungsstatistik nichts gemein. Die dort verwandten Forschungspraktiken wurden namentlich aus der Psychologic iibemommen, wie sie bereits von Charlotte Biihler konzipiert wurden. Erst im Vorwort zur zweiten Auflage der Marienthalstudie betont La-zarsfeld, dass die Soziographie der Marienthalstudie dieselben Ideen beriicksichtigte, die Tonnies fiir seine Soziographie schon benannt hatte: eine Enquete, die die direkte Beobach-tung, Erhebung von Haushaltsrechnungen, Beschreibung der Umwelt und des geschichtli-chen Gewordensein zum Objekt hat. Lazarsfeld stammt aus der empirischen Richtung der Wiener Schule. Tonnies hingegen intendierte mit seinem Konzept der Soziographie auf den Soziologentagen die theoretisierenden soziologischen Diskussionen aufzubrechen - der Durchfiihrung von Enqueten fiihlte sich auch Max Weber verpfiichtet - , um die Soziologie empirisch zu fiindieren. Der Zusammenhang von Tonnies' Soziographie und der Bevolke-rungsstatistik ist in seiner Auseinandersetzung mit Georg von Mayr zu fmden. Tonnies stell-te im Hinblick auf die biologische Grundlage der Soziologie die Frage nach dem Sinn und Nutzen der Bevolkerungsstatistik fiir die Soziologie. Von Mayr hingegen strebte eine Statis-tik als exakte Soziologie an.

Bereits in den 1850er Jahren wurden das Bevolkerungswachstum in den urbanen Zen-tren und die Wohnsituation unter sozialhygienischen Aspekten von Sozialmedizinem spater dann auch von den Kathedersozialisten problematisiert. Die Forderungen, die Stadte luftiger und lebensfreundlicher zu machen resultieren in der Gartenreformbewegung, in die eben-falls Franz Oppenheimers „Eden" einzuordnen ist.

Das demographische Schrifttum des osterreichischen statistischen Landesamts fiir die Reichsgaue der Ostmark wahrend des Zweiten Weltkriegs erfiihr einen Rtickgang, der nicht von anderen Publikationsorganen aufgefangen wurde. Im Gegensatz dazu kann fiir ganz Os-terreich ein Anwachsen demographischer Veroffentlichungen konstatiert werden.

Das Volksgruppenrecht war kein gesetztes Recht, auf der Basis des Volksgruppenbe-griffs diente es zur Bestimmung von Zugehorigkeiten zu bestimmten Bevolkerungsgruppen und gait mitunter als politisches Instrument so im Miinchner Abkommen. Zur Umsetzung des Wiener Schiedsspruchs waren vermehrt Kenntnisse liber die demographische Zusam-mensetzung der Bevolkerungen der betreffenden Gebiete notig. Bevolkerungswissenschaft-liche Forschungen - von zeitlichen und territorialen Unterschieden abgesehen - sind vor Ort zur Bestimmung der GroBe von Volksgruppen und deren Vermogenswerte durchgefiihrt worden und, um einerseits Transportmoglichkeiten fur die Umsiedlungen zu eruieren und iiber Abgrenzungsmoglichkeiten fiir Assimilationspolitiken aufzuklaren. Die so identifizier-ten Gruppen wurden in den Heimatlandem zusammengefasst und dann geschlossen umge-

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318 Michael Engberding

siedelt. Zugleich wurden sie durch die „Einwandererzentralstellen" (EWZ) zum Zweck indi-vidueller Rasseprufiing geschleust.

Literatur

Aly, Gotz; Roth, Karl Heinz 2000: Die restlose Erfassung. Volkszahlen, Identifizieren, Aussondem im Nationalsoziahsmus, Frankfurt/Main.

Guillard, Achille 1855: Statistique humaine ou Demographie comparee, Paris. Heberle, Rudolf 1935: Die praktische Bedeutung der Soziologie fur Volk und Staat, in: Geistige

Arbeit. Zeitung aus der wissenschaftlichen Welt, 2. Heberle, Rudolf 1936: Bau und Gefiige der Truppe, in: Soldatentum. Zeitschrift fur Wehrpsychologie,

Wehrerziehung, Fiihrerauslese. 112ff Schmalenbach, Herman 1922: Die soziologische Kategorie des Bundes. In Die Dioskuren - Jahrbuch

fur Geisteswissenschaften I., 35ff Schweber, Libby 1996: The Assertion of Disciplinary Claims in Demography and Vital Statistics:

France and England, 1830-1885. (unveroffentlichte Dissertation), Princeton. Serbser, Wolfgang 2001: Diskussionsertrage, in: Mackensen, Rainer; Serbser, Wolfgang ed.: Akteure

beim Bodenschutz, Opladen. 427ff Tonnies, Ferdinand 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des

Socialismus als empirische Culturformen, Leipzig. WaBner, Rainer 1995: Rudolf Heberle. Soziologie in Deutschland zwischen den Weltkriegen, Ham-

burg-Harvestehude. Weber, Marianne 1950: Max Weber - Ein Lebensbild, Tiibingen. Wietog, Jutta 2001: Volkszahlungen unter dem Nationalsoziahsmus. Eine Dokumentation der Bevol-

kerungsstatistik im Dritten Reich, Berlin.

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Personenindex

Ackerknecht, Erwin 256, 278 Adomo, Theodor 182, 183, 197 Ahlheim, Klaus 38, 39, 44 Alonso, William 115, 116 Althaus, Claudia 20 Aly, Gotz 128, 134, 137, 138, 139, 155, 290,

292 ,293,295,310,318 Ainmon,Otto 105, 112 Anderl, Gabriele 152, 155 Anderson, Margo 90,106,112,119,123,124,

125, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 135 Angenot, Laurent 174 Apel, Hans Jurgen 86 Arel, Dominique 25, 46, 90, 96, 102, 105,

109,114,115 Arendt, Hannah 20 Arnold, A. 114 Aschkewitz, Max 39, 40, 41 , 44, 45, 46 Astel, Karl 307 Aubin, Hermann 35, 36, 44, 46 Azema, Jean-Pierre 55, 57, 58, 59, 63

B

Baader, Gerhard 253, 278 Bach, Adolf 224, 225, 226, 227, 248 Bader, Erich 145, 156 Bahr, Ernst 44 Baker Schut, Frits 164, 165, 168, 177 Baker Schut, Piet 164, 165, 168, 177 Baltes,Paul 17,20 Bamberger-Stemmann, Sabine 28, 44 Bartsch, Rudolf Hans 75, 85 Bastlein, Klaus 47 Batkai,A. 89, 112 Baumann, Zygmunt 23, 45 Baumeister, Reinhard 161, 166, 176, 177 Baur,Erwin4, 11,289 Bayer, Karin 203, 211, 218, 249 Bayertz, Kurt 284, 287, 298 Beck, Maximilian 274, 276, 307 Beck, Robert 29 ,35 ,45 ,47 ,48 ,105,112,248 Becker, Emil Peter 268, 269, 278 Bedarida, Francois 55, 57, 58, 59, 63

Begeer,W. 129, 134 Bellebaum, Alfred 191, 193, 194 Ben-David, Joseph 197 Benz, Wolfgang 142, 155, 296 Berger, Luise 86 Berger, Peter 233 Bergmann, Werner VI Bemhard, Ludwig 315 Bemsdorf, Wilhelm 45, 201 Bersselaar, Dmitri van der 90, 112 Bertillon, Adolphe 255 Bertillon, Alphonse 188, 197 Bertillon, Georges 188, 197 Bertillon, Jaques 52, 56, 63, 186, 188, 197 Bertillon, Louis Adolphe 5, 184, 186, 187,

188,197,255,256,311 Beyer, Hans-Joachim 24, 30, 34, 35, 36, 37,

3 8 , 4 1 , 4 2 , 4 3 , 4 5 , 4 8 Bielefeld, Uli 45 Birkenhauer, Renate 26, 45 Bitterling, Richard 76, 85 Black, Edwin 125, 127, 134 Blackboum, David 104, 112 Blanke, Richard 100, 112 Blau, Bruno 252 Bleuler, Eugen 268 Bloch,Marc59, 63, 317 Block, Maurice 187, 256, 257, 278 Blucher, Fanz 233 Blucher,Viggo Graf 18,20 Blum, Alain 127, 134 Blunck, Hans Friedrich 81, 85 Boas, Franz 274, 276, 307 Bober, Hans 108, 112 Bock, Gisela 224, 248 Bockh, Richard 96, 112, 196, 306 Bodaar, Annemarie 179 Bodeker, Hans Erich 25, 45 Boehm, Max Hildebert 27, 28, 29, 31, 45, 198 Bollenbeck, Georg 46 Booth, Charles 3 Booth, Heather 109, 112 Bordeaux, Michele 57, 58, 63 Bormann, Martin 246 Borries-Pusback, Barbel 203, 204, 209, 210,

218 Bosma, Koos 163, 177 Botz, Gerhard 148, 155 Bouhler,Philipp228, 231

Page 323: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

320 Personenindex

Bourdelais, Patrice 54, 59, 63 Boverat, Femand 49, 50, 53, 55, 56, 57, 62 Boyens, Dr. 233 Brackmann, Albert 204 Brackmann, Karl-Heinz 26, 36, 45 Bramer, Karl 102, 112 Braun, Wemher von 15 Brepohl, Wilhelm 31, 32, 45, 207, 218 Brian, Eric 98, 112 Brix,Emil98, 112 Brocke, Bemhard vom 64, 95, 96, 106, 112,

204,211,212,214,218,221,231,243, 248, 285, 286, 294, 295

Broszat, Martin 285, 295 Brubaker, Rogers 104, 112 Briill, Adolf 95, 112 Brunner, Otto 46 Buck, Joseph 94, 112 Buhle, Henri 125 Btihler, Charlotte 317 Billow, Friedrich 45, 244, 248 Burch, Thomas K. 115, 170, 177, 178, 196,

197, 198, 199,281 Burgdorfer, Friedrich 2, 78, 85, 96, 108, 113,

115,155, 170,181,182,196,208,211, 212,218, 219,223,224,225,226,246, 247,248, 266,272,278,279,280,281, 284, 286, 293, 295, 303, 304, 312

Bussat, Virginie 63

Calker, Fritz von 246 Capdevila, Luc 57, 63 Carmille, Rene 125, 128 Carol, Anne 51,63 Carrel, Alexis 60, 61, 62, 63, 64, 308 Chamberlain, Houston Stewart 82 Chervin, Arthus 188 Choldin, Harvey 129, 134 Christaller, Walter 231 ClaB, Heinrich 33, 45 Clegg, Steward 90, 112 Close, Charles 276 Cohn, Bernard 90, 112 Cohn, Selig Siegmund 195, 197 Cole, Joshua 197 Colesco 104

Collins, Rendall 197 Comte, Auguste 184, 187, 310 Conti, Leonardo 246 Comwall, Mark 98, 100, 113, 116 Cromm, Jurgen 67, 68, 69, 84, 87 Czomig, Karl 97, 98, 113

D

Daladier, Edouard 58 Dalsace, Jean 273, 278 Damaschke, Adolf 75, 85 Daniel, Ute 13, 14, 15,20 Darre, Richard Walther 77, 209, 235 Darwin, Charles 3, 64 Daston, Lorraine 199 deGans,HenkA. 8, 115, 161, 165, 166, 168,

169,170,171,172,173, 174,177,178, 185, 196, 197, 198, 199

deMast,Frans 171, 178 de Rudder, Bemhard 205 de Ruijter, Peter 168, 178 De Vries Reilingh, H. D. 197 deVries,F. 171, 178 deWitt,Johan 175 Delfgaauw, Gerardus 174 Demeny, Paul 133 Deppe, Hans-Ulrich 282 des Forges, A. 127, 134 Deussen, Julius 282 Dienel, Christiane 52, 53, 63, 253, 278 Dieterici, Wilhelm 91, 113 Domer, Klaus 253, 278, 281, 297 Dreyer, Heinrich 86 Drobisch, Klaus 146, 147, 152, 155 Drouard, Alain 60, 61, 64 Diickers, Tanja 18,20 Duller, Eduard 70, 85 Dupaquier, Jaques 175, 178 Dupaquier, Michel 175, 178 Durth, Werner 243, 248

E

Ebbinghaus, Angelika 278,281,291, 296,297 Eckart, Wolfgang Ulrich 215, 218 Edin, Karl 276 Ehling, M. 89, 114

Page 324: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Personenindex 321

Ehmer, Josef 1,11,16,20,252,278,293,295 Eichmann, Adolf 147, 148, 151, 152, 153 Eickstedt, Egon Freiherr von 205 Eisfeld, Jens 64 Eley, Geoff 98, 113 Emge, Carl August 246 Enebuske, Claes 106, 113 Engberding, Michael 9, 181, 251, 257, 299 Engel, Ernst 85, 106, 111, 257, 278 Erdmann, Benno 316 Erkelenz, H. 85 Emstberger, Anton 42, 45 Essen, Werner 27 Etzin, F 85 Evans, R.J.W. 98, 113 Exner, Gudrun 8, 25, 137, 139, 155

Fahlbusch, Michael 25, 33, 45, 285, 295 Faludi, Andreas 163, 164, 166, 167, 170, 178 Fedem,Paull9,21 Feery, L.M. 98, 113 Feig, Johannes 257, 278 Feld,Wilhelml97 Fellner, Fritz V. 104 Ferdinand, Ursula 1, 9, 181, 196, 197, 199,

200,201,251,252,253,255,256,258, 259,271,273,274,277,278,279,280, 299,311,316,318

Fetscher, Rainer 307 Flamingo, Guiseppe 256, 279 Ficker, Adolf 97 Fiedler, Rudolf 86 Finckh, Ludwig 73, 85 Fink, Carole 99, 100, 113 Fircks, A. Freiherr v. 91, 95, 96, 97, 106, 111,

113 Fischer 86 FischerAlfons261,279 Fischer, Erika 233, 248 Fischer, Eugen 4 ,11,114,272,274,276,279,

281 ,288 ,289 ,291 ,296 Fischer, G. 281 Fisher, Ronald A. 175, 188 Fleischhacker, Jochen 170, 177, 178, 196,

197,198,199,288,296 Fletcher, Willard Allen 89, 113

Fliedner, Friedrich 86 Fliigel, Axel 293, 296 Foldes, Bela 96, 97, 99, 100, 102, 104, 113 Follmer,Moritz291,296 Forel, August 253 Forster, Matthias VI Foucault, Michel 63, 64, 304, 307 Fourcault 255 Frank, Hans 27 Frank, Johann Peter 254 Franke, Walter 86 Frei,Norbert285,296 Freisler, Roland 45 Freud, Sigmund 18 Freyer, Hans 46, 198, 228, 233, 236, 250 Freytag, Gustav 70, 85 Frick, Wilhelm 105, 213, 246, 272, 279 Friedlander, Henry 89, 113 Friedrichs, Jiirgen 203, 209, 218 Fuhrmann, Martin 251, 254, 256, 279 Fussier, Wilhelm 75, 77, 85

Gabler, E. 85 Gabler, L. 86 Gal, Susan 126, 129, 134 Galloway, Patrick 96, 102, 113 Galton, Francis 3, 50, 175, 188, 287 Ganssmiiller, Christian 269, 279, 286, 296 Garbitz, Helge 47 Gamier, Joseph 185, 198 Geddes, Patrick 166 Gehart, Alois 144, 155 Gehlen, Arnold 46, 209 Geiger, Theodor 194, 198, 267 GeiBler, Heinrich 30, 35, 45 Geissler, Rainer 297 Geistbeck 85, 86 Gelinek, Oskar 143, 234, 235, 248 Gellately, Robert 89, 113 Gessler, Bemhard 291, 296 Geulen, Christian 52, 64 Geuter, Ulfried 236, 248 Giedion, Sigfried 167, 178 Gierlichs, Willy 28, 35, 45 Gini,Corradol70, 171 Clatter, Eduard 97

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322 Personenindex

Goch, Stefan 25, 45, 207, 218 Gockenjan, Gerd 287, 296 Goldman, Lawrence 90, 113 Goldscheid, Rudolf 264 Gorges, Irmela 190, 191, 198 Gorzig,HeikeVI, 251 Gottstein, Adolf 258, 279 Gotz, Josef 105, 106, 107, 108, 109, 113 Graf,Jakob79, 80, 81,85 Graml, Hermann 155, 296 Grimm, Jacob 26 Grimm, Wilhelm 26, 45 Gr6ning,Gert243,248 Gross, Walter 211, 212, 213, 219, 223, 292,

296, 297 Grossmann, Attina 266, 279 Grotjahn, Alfred 214, 251, 252, 253, 256,

258,259,260,261,262,263,264,265, 266,267,268,276,277,278,279,280, 281 ,284 ,286 ,296 ,311 ,312 ,316

Gruttner, Michael 294, 296 Guerin, Jules Rene 255 Guillard, Achille 184, 185, 186, 187, 188,

198, 199, 255, 256, 257, 310, 311, 318 Gunther,Adolf28,45, 198 Giinther, Hans F. K. 4, 5, 11, 108, 264, 288,

315 Gutberger, Hansjorg 204, 218, 242, 243, 248,

285, 296 Gutmann, M. J. 252, 280 Gutschow, Niels 243, 248 Giitt, Arthur 55, 211, 213, 279

H

Haacke, U. 76, 85 Haar, Ingo VI, 24, 25, 34, 45, 285, 296 Habermann, Hermann 131, 132, 134 Habermann, Paul 82, 85 Hacking, Ian 91, 113, 198 Hackmann, Jorg 46 Hagen, William 98, 113 Hammerstein, Notker 243, 244, 248 Hanauer, W. 95, 113 Hanisch, Ernst 149, 156 Hansen, Jorgen 86 Harig, Georg 258, 280 Harms, H. 76, 86

Harmsen, Hans 2, 53, 54, 55, 64, 181, 203, 204,210,211,214,215,218,219,222, 248,266,273,278,279,280,282,283, 288,291,293,296,297,312

Harrasser, Albert 273, 280 Hartenstein, Michael H. 242, 243, 248 Haufe, Helmut 42, 45, 198 Haury, Paul 58 Haushofer, Albrecht 204, 215, 222, 237, 239 Hausmann, Frank-Rutge 233, 249 Heberle, Rudolf 29, 45, 191, 194, 198, 201,

215,216,217,218,219,223,257,280, 312,313,318

Heckmann, Friedrich 23, 46 Hedemann, Justus Wilhelm 45 Heidelberger, Michael 198, 199, 201 Heim, Robert 19, 21 Heinecken, Klaus 137, 155 Heinemann, Isabel 24, 41 , 46, 246, 249 Helbok, Adolf 35, 36, 224, 226, 227, 249 Helczmanovskzi, Heimold 155 Henssler, Patrick 190, 198 Herber, Friedrich 258, 280 Heriitzius, Anette 289, 296 Herrmann, Ulrich 18, 21 Hertz, Friedrich 307 Herzfeld, Hans 42, 43, 46 HeB, Rudolf 23 7 Hesse, Philippe-Jean 59, 64 Hilberg,Raul 139, 148, 152, 155 Hildebrandt, Walter 235, 236, 249, 250 Hildesheimer, Esriel 149, 155 Himmler, Heinrich 84, 213 Hindess, Barry 90, 114 Hippius, Rudolf 30, 46 Hirschfeld,G.v. 91, 114 Hitler, Adolf 236, 246 Hoetjes, Perry 179 Hoffmann, Georg 145, 155 Hoffmann, Walther G. 194, 200 Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim VI, 200 Hofstee, Evert W. 166, 178 Hohmann, Walther 77, 86 Hohn, Charlotte VI Holder, E. 89, 114 Honigsheim, Paul 199 Hoomeijer, Pieter 172, 178 Hopf, Hans 35, 46 Horstmann, Kurt 212

Page 326: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Personenindex 323

Horvath, Robert 186, 199, 258, 280 Hubbard, Gustave 187 Hubenstorf, Michael 261, 263, 277, 280 Hudde, Johan 175 Hueppe, Ferdinand 257 Huerkamp, Claudia 287, 296 Hunsicker, Kathrin 251 Huygens, Christian 175

I

Idenburg, Ph. J. 169, 170 Inama-Stemegg,KarlTheodorv. 98, 192, 199 Ipsen, Cari 170, 178 Ipsen, Gunther 29, 36, 38, 46, 194, 198, 199,

221, 231, 233,235,249, 292,293,295, 296

Jacobi, Eduard Georg 257, 265, 280 Jacobsen II 239 Jahn, Gunnar 125 Jahoda, Marie 194, 199, 201, 317 Janssen, Hauke 285, 296 Jantzen, W. 237, 249 Jaworski, Rudolf 46 Jennings, Eric 57, 58, 60, 64 John, V. 256, 280 Jiitte, Robert 256, 280

K

Kaesler, Dirk 48 Kaiser, Jochen-Christoph 283, 289, 296 Kantorowicz, Miron 260, 280 Kappert, H. 86 Karwinsky-Karvin, Karl 143 Kaspari, Christoph 252, 261, 262, 264, 266,

267, 280, 286, 296 Kateb,Kamelll4 Kater, Michael 285, 291, 296 Kaufmann, Doris 50, 51, 64, 284 Kaup, Ignaz 279 Kaupen-Haas, Heidrun 288, 296 Keleti, Karoly 97, 101 Keller, Kari 108, 109, 114 Kern, Horst 191, 199

Kersseboom, Willem 175 Kertzer, David I. 25, 46, 90, 96, 102, 105,

109,114,115 Kessler, Wolfgang 26, 46 Keynes, John Maynard 195 Keyser, Erich 24, 36, 37, 38, 39, 40, 44, 46,

227,228,229,249,316 Kittel, Gerhard 288 Klaasen,L.H. 166, 178 Klagges, Dietrich 83, 86 Klarsfeld, Serge 63, 64 Klep, Paul M.M. 171, 175, 178, 179 Klersch,J. 191, 192, 199 Klezl, Felix 143 Klingemann, Carsten 9, 24, 29, 30, 31, 38, 46,

163,178,181,191,199,204,205,207, 208, 209,211,217,218,221,228,234, 236, 243, 247, 249, 285, 296, 312

Klippel, Diethelm 197 Klocker, Michael 86 Kloos, Willem Bernard 164, 178 Kloosterman, Robert 161 Kluger, Alfons 86 Knobloch, Clemens 25, 46 Kn6pfel,L. 91,95, 114 Koch, Hans 34, 35 ,47 ,201 Koch, Robert 14, 257 Koehler, Wilhelm 86 Kohler [Nikolow], Sybilla 256, 280 Kolb, Stephan 278 Koller, Siegfried 2, 181, 196, 199, 270, 271,

272,280,281,293 Kollmann, Wolfgang 231, 286, 296 K6nig,Rene 197 Korherr, Richard 2, 181, 276, 280 Komrumpf, Martin 233, 249 Korosi, Joszef 97, 107, 257, 258, 280 Korte, Hermann 203, 218 Koselleck, Reinhart 19, 20, 21 Koste, Klaus 239 Koster, Werner 243, 249 Kovacs, Aloyse 93, 95, 96, 98, 99, 101, 102,

103,114 Koyck,L.M. 166, 178 Kraepelin, Emil 252, 253, 268 Kraly, Ellen Percy 126, 134 Kramer, Adolf 211 Kranz, Heinrich Wihelm 196, 199, 270, 281 Krauss, Lutz 85

Page 327: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

324 Personenindex

Krebs, D. 282 Kriegel, Friedrich 252, 260, 261, 262, 280,

281 Kroh, Oswald 30, 34, 35, 47 Kroll, Jurgen 108, 114, 284, 287, 298 Kroner, Hans-Peter 288, 296 Krose,H.A. 91 ,92 ,95 , 114 Kriiger, Gerhard 228 Kriiger, Lorenz 198, 199, 201 Kuczynski, Robert R. 173,177, 178, 196, 198,

199,316 Kiihl, Stefan 271, 273, 276, 281, 286, 296 Kuhn, Karl 80, 86 Kuhn, Thomas 13, 14, 21 Kuhn, Walter 29, 34, 47 Kunz, Andreas 114 Kuske, Bruno 233

Labbe, Morgane 94, 97, 100, 103, 105, 107, 108, 109,114

Labisch, Alfons 254, 257,281,286,289, 290, 296, 297

Laborier, Pascale 63 Ladstatter, Johannes 139, 155 Lammers, Heinrich 246 Lamprecht, Karl 9 Landry, Adolphe 276 Laser, Ulrich 296 Laudien, Arthur 85 Lausecker, Werner 24, 25, 47 Lawton, Richard 94, 98, 114, 116 Lazarsfeld, Paul F. 191, 192, 194, 199, 201,

317 LeBras,Herve51,52,64, 114 Le Rider, Jaques 41 , 47 Lebovics, Herman 56, 64 Lee, Robert W. 8, 89, 95, 109, 115 Lehmann, Julius Friedrich 315 Leibbrandt, Georg 42, 47 Lendl, Egon 25, 47 Lengerken, H. V. 86 Lenoir, Remi 58, 64 Lentz,J.L. 128 Lenz, Fritz 4, 11, 264, 267, 271, 274, 281,

287,289,290,291,292,293,294,297, 314,315

Lenz, Karl 89, 115, 205, 210, 211, 218, 287, 289, 290,291, 292, 293, 294, 297

Lepsius, Mario Rainer 207, 218 Leubuscher, Rudolf 251, 256 Levasseur,E. 94, 104, 106, 115 Lewin, David 260, 281 Lewy, Guenter 89, 115 Lexis, Wilhelm 256, 258, 281 Lie,Einar 126, 134 Liedecke, Ewald 241, 242, 249 Lifton, Robert Jay 291, 297 Lind, Erwin 94, 104, 106, 115 Linke, Franz 205 Livi, Livio 276 Livi,M. 106, 115 Lobatto, Rehuel 175 Loesch, Karl C. v. 26, 27, 28, 29, 47 Lohse, Franz 273, 278, 279, 280, 282, 283,

291,297 Lommatsch, Georg 91, 115 Loning, George Anton 45 Lorenz,Karl70, 71,72, 86 Lorenz, Konrad 30 Losch, August 195, 199 Losch, Niels C. 274, 281 Loth, Wilfried 42, 47 Luckmann, Thomas 233 Luschen, Giinther 218 Lutz, Hansheinz 145, 156 Lutzleb, Hjalmar 86 Luxenburger, Hans 270, 271, 274, 275, 281

M

Mackensen, Rainer V, 1, 6, 9, 11, 14, 21, 46, 47, 53, 64, 87,107,114, 115, 116,134, 135,162,177,178,181,182,187,188, 190,191,195,196,197,198,199,200, 211,218,219,231,248,249,251,253, 254,255,278,279,281,284,296,298, 299,311,316,318

MacKenzie, Donald A. 188, 200 Mahaim, Ernst 276 Mai, Uwe 234, 250 Malthus, Thomas R. 2, 185, 186, 189, 195,

255, 264, 278, 289, 294, 297, 311 Mannheim, Karl 16 Marschalck, Peter 286, 296

Page 328: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Personenindex 325

Matz, Klaus-Jtirgen 256, 281 Maus, Heinz 191, 200 Mayo-Smith, Richmond 106, 115 Mayr, Georg v. 95, 106, 107, 111, 114, 115,

185,189,191,193,194,200,256, 258, 260,261,281,282,317

McNeil, Melissa 127, 134 McNicoll, Geoffrey 133 McQuilton, John 126, 134 Meerkatz, A. 77, 86 Mehrtens, Herbert 15, 21 Melching, L. 35, 47 Methorst, Henri W. 128, 129, 170, 171, 172,

173,174,177,178,179,185,276 Meuriot, Paul 94, 95, 115 Meyer, Erich 80, 83, 86 Meyer, J. 95, 115 Meyer, Konrad 234, 239, 241, 242, 243, 245,

246,249,313 Michel, Harald 89, 115 Mill, John Stuart 184 Milz,Helga204,218 Mitgau, Hermann 205, 208, 218, 227, 246,

249 Mitscherlich, Alexander 19, 21 Mohler,Armin214,219 Mombert, Paul 183, 188, 189, 195, 200, 254,

282 Mommsen, Hans 24, 41, 47 Moore, Bob 128 Morant,G.M. 109, 115 Moser,C.A. 109, 115 Moser, Gabriele 252, 258, 261, 263, 266, 282 Moser, Jonny 138, 139, 140, 141, 142, 147,

148, 150, 151, 152, 154, 156 Moses, Julius 282 Mucchielli, Laurent 54, 64 Muel-Dreyfiiss, Francine 57, 64 Mueller, Berthold 282 Mtihlmann, Wilhelm Emil 46, 211 Mtiller, Albert 74, 86 Muller,D. 70, 71,86 Muller, Johannes 92, 95, 115 Mtiller, Karl Valentin 28, 30, 47, 265, 267 Muller, Senya 31, 47 Munk, Dieter 243, 249 Miinz, Ludwig 232, 249 Murard, Lion 51, 64 Murr, Erich 227, 249

N

Nadav, Daniel 259, 261, 282 Nadler, Josef 198 Nathans, Eli 103, 115 Neubacher, Hermann 144 Neugebauer, Wolfgang 156 Neumann, Josef 251, 256, 283 Neumann, Julius 32, 33, 45, 47, 48 Neumann, Salomon 251, 256, 283 Neumann, Spallart M.F.X. de 110, 115 Neumann-Spallert, Franz Xaver v. 192, 200 Neundorfer, Friedrich 191, 194 Neundorfer, Ludwig 233, 234, 249 Niedermeyer, Albert 258, 282 Niethammer, Lutz 17, 21 Nikolow, Sybilla 77, 78, 85, 87, 189, 199,

200, 256, 280 Nipperdey, Hans Carl 45 Nobles, Melissa 90, 106, 115 Noiriel, Gerard 52, 54, 56, 60, 62, 63, 64 Nowak, Kurt 283, 289,296 Nuthmann, Reinhard V

O

Oberkrome, WilH 33, 47, 285, 297 Oberschall, Anthony R. 105, 110, 115, 191,

199,200,256,282 Oestreich, Johannes 294, 295, 297 Ohayon, Annick 51, 64 01y,JohnC. 174 Oppen, Dietrich V. 38, 39, 41 , 47, 315, 316 Oppenheimer, Franz 317 Overath, Petra 7, 49, 50, 52, 53, 54, 64, 308,

311

Pahlow, Louis 64 Pappert, Steffen 7, 67, 87 Pareto, Alfredo 195 Paxton, Robert 59, 64 Pearl, Raymund 196 Pearson, Karl 175, 188 Pemot, Georges 58 Peschel,Karinl99 Petain, Henri-Philippe 58, 59

Page 329: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

326 Personenindex

Petersen, Carl 46 Petersen, William 106, 111, 115 Pettenkofer, Max v. 257 Peukert, Detlev 288, 297 Pfeffer, Karl Heinz 200, 236 Pfeil, Elisabeth 9, 203, 204, 205, 206, 207,

208, 209, 210,211,217,218,219,222, 223,225,227,232,233,234,235,236, 237,241,246,248,249,274,275,276, 282,313

Philippsthal, Herbert 95, 115 Pichot, Andre 51, 64 Pickl, Othmar 33, 47 Pinkster, Fenne 179 Pinnow, H. 86 Pintschovius, Karl 205, 208, 223, 238, 250 Pinwinkler, Alexander 7, 23, 24, 32, 33, 47,

48 ,98 ,100 ,116 ,143 ,156 ,306 Plate, Roderich 145, 156 Plessner, Helmuth 250 Ploetz, Alfred 253, 257, 260, 269, 277 Pohl, Walter 35, 48 Pollack, Michael 286,287,288,289,294,297 Popp, Wolfgang 297 Porter, Theodore 185, 188, 200 Presser 128 Proctor, Robert 285, 297 Putzger, F. W 85, 86

Qin,Dan 126, 129, 134 Quetelet, Adolphe 175, 184, 185, 187, 193,

254,310,311

R

Radebold, Hartmut 18, 19, 21 Rammstedt, Otthein 48 Raphael, Lutz 287, 290, 297 Rappaport, P.A. 168 Rasche, K.E

85,86 Raseri,H. 98, 116 Rauchberg, Heinrich 98 Rauschning, Hermann 46 Reggiani, Andres Horacio 54, 64 Regus, Michael 282

Reich, Eduard 256, 278, 281, 282 Reiter, Hans 272, 282 Reithinger, Anton 89, 116 Remond,Rene 125, 126, 134 Renan, Ernest 52 Reulecke, Jurgen 6, 11, 13, 14, 18, 19, 21, 47,

87, 196, 197, 198, 218, 252, 279, 281, 282, 286, 292, 297

Rheinwald, Rosemarie 198, 201 Ribbe, Wolfgang 280 Rickmann, Anahid 270, 277, 282 Rikkert, AJ.A. 168 Ritterbusch, Paul 233, 249 Rochoux, J. A. 255 Rodenwaldt, Ernst 215, 276 Rodiger, W. 85 Roegholt, MJ.W. 168 Roelcke, Volker 253, 268, 271, 277, 282 Roloff, Hermann 244, 250 Ronsin, Francis 49, 55, 64, 114 Roos, K. 85 R6pke,Wilhelml95 Roscher, Wilhehn 188, 189, 200 Rosen, George 251, 255, 256, 282 Rosenberg, Alfred 82 Rosenkranz, Herbert 148, 151, 156 Rosental, Paul-Andre 50, 64 Rossler, Mechthild 243, 250, 285, 297 Roth, Karl Heinz 24, 30, 36, 48, 128, 134,

137, 138,139,155,230,290,292,293, 295,296,310,318

Rothhacker, Erich 198 Rouquet, FranVois 63 Rudin, Ernst 213, 252, 253, 259, 267, 268,

269,270,271,272,273,274,275,276, 277, 278, 279, 282, 283, 284

Riimelin, Gustav 189, 200, 257 Rumney,J.271,283 Rumpf,Maxl98 Ruppin, Arthur 252, 281 Ruth, Paul Hermann 46 Ruthers, Bemd 285, 297 Ruttke, Falk 211, 213, 223, 224, 225, 226,

227, 229, 230, 246, 247, 250, 279, 312

Sachfie, Christoph 258, 283, 288, 297

Page 330: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Personenindex 327

Salzbom, Samuel 31, 48 Sand, Rene 251, 255, 275, 283 Sarasin, Philipp 25, 48, 63, 64 Sauvy,Alfred7, 57, 61 Schad, Susanne Petra 191, 200 Schader, Anna 36, 48 Schaffle, Albert 188, 200, 263 Schallmayer, Wilhelm 257, 258, 259, 283 Scheldt, Walter 293, 297 Schelsky, Helmut 17, 203, 209, 248, 250 Schieder, Theodor 38, 43, 48, 315 Schimany, Peter 8, 137 Schipperges, Heinrich 256, 283 Schissmacher, Frank 17, 21 Schleiermacher, Sabine 54, 64, 214, 215, 219,

243, 250, 266, 283, 288, 297 Schleifer, Wilhelm 144, 157 Schmalenbach, Herman 316, 318 Schmeil, O. 78, 86 Schmid, Ferdinand 190, 192, 193, 198, 199,

200 Schmid, Josef 16, 21 Schmidt, Carl 239, 250 Schmidt, Daniel 64 Schmidt-Kehl, Ludwig 293, 297 Schmidt-Rohr, Georg 25, 28, 35, 48 Schmiedebach, Heinz-Peter 264, 283 Schmitthenner, Paul 84, 86 Schmitz-Beming, Cornelia 26, 27, 48 Schmoller, Gustav 279 Schmuhl, Hans-Walter 282, 283, 284, 286,

287, 297 Schnapper-Amdt, Gottlieb 200, 255, 258, 262,

283 Schneck, Peter 258, 280 Schneersohn, Fishl 275 Schneider, B. 85 Schneider, Carl 282, 283 Schneider, Hans 138, 156 Schneider, William H. 51, 54, 61, 64 Schnitzler, Sonja 9, 203, 266, 312, 313 Schnurr, Otto 86 Scholz, Rembrandt 299 Schone, Walter 200 Schottler, Peter 48, 285, 297 Schrammen, E. 85 Schroeder-Gudehus, Birgit 53, 64 Schubert, Werner 27, 48, 247 Schubnell, Hermann 199, 253, 283

Schuhmacher, Rupert v. 238, 239, 240, 250 Schultz, Bruno Kurt 211 Schulz, Hermann 18, 19, 21 Schulze, Eduard Otto 35, 48 Schulz-Hageleit, Peter 18, 21 Schwartz, Michael 266, 267, 283, 289, 296,

297 Schweber, Libby 183, 185, 186, 187, 188,

200,251,255,256,257,283, 310,311, 318

Scott, James C. 110, 116 Segall, Jacob 252 Seiler, Karl 235, 236, 246, 249, 250 Seithe, Horst 278 Seligman,R.A. 201 Seltzer, William 8, 89, 116, 119, 123, 124,

125,126,127,128,129,130,131,132, 133, 134, 135

Senner, Anton 86 Serbser, Wolfgang 300, 301, 318 Severing, Carl 267 Seydlitz, E. von 73, 85 Sieferle, Rolf 256, 259,283 Simmel, Georg 28, 48 Skala, Jan 27, 48 Skriewe, Paul 86 Sobye, Espen 125, 126, 135 Sokal, Robert 90, 116 Sparing, Frank 249 Spencer, Herbert 184, 191, 193, 201 Spielmeyer, Walther 252 Staak, Gerhard 86 Staemmler, Martin 82, 84, 86, 293 Stamhuis, Ida H. 171, 175, 178, 179 Stark, Ulrich 114 Starr, Paul 90, 109, 115, 116 Stegmann v. Pritzwald, Kurt 29, 48 Stein, Lorenz von 254, 256, 283 Steinacher, Hans 34 Steinacker, Harold 34, 35, 36, 38, 48 Steinmetz, SebaldR. 9, 191, 194, 201 Stemmler, L. 269, 283 Stengel-von Rutkowski, Lothar 314 Stepen, Nancy 106, 116 Stingelin, Martin 64 Stockel, Siegrid 256, 284 Stolleis, Michael 285, 297 Stoltzfus, Nathan 113 Stolzenburg, Richard 166, 179

Page 331: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

328 Personenindex

Struyck, Nicolaas 175 Stiibben, Josef 161, 166, 176, 179 Stucki, Regula 7, 67, 87

t'Hooft,F.W. 174 Talos, Emmerich 156 Tanzer, Aron 95, 116 Tellegen, J.W.C. 167 Temistedt, Florian 288, 290, 296, 297 TerHeide,Henkl70, 179 Tesfaye, Facil 251 Thebaud, FranVoise 49, 55, 56, 57, 58, 65 Thieme, Frank 210, 211, 219 Thill-Thouet, Lydia 114 Thirring, Gustave 100, 116 Thissen, Rudolf 261, 284 Thompson, David M. 94, 116 Thompson, Warren 276 Thums, Karl 272, 274, 276, 284 Thumwald, Richard 107 Tobler, Rudolf 85 Tonnies, Ferdinand 4, 5, 6, 9, 11, 182, 191,

192,193,194,201,216,257,265,280, 284,312,316,317,318

Trom, Danny 63 Tromnau,Adolf72, 86 Tutzke, Dietrich 260, 284

U

Uhle, Roger 212, 219, 292, 297 Ungem-Stemberg, Roderich Frhr. v. 294, 297 Usbome, Comelie 53, 65 Utermann, Kurt 201

Vallentin, Wilhelm 32, 48 van Braam, A. 166, 179 van Dam, Frank 164, 179 van deKaa, Dirk 129, 135 van den Bogaard, Adrienne 169, 172, 173, 179 van der Heijde, Wouter 179 van der Laan, Paul 129, 135 van der Valk, Arnold 163, 164, 166, 170, 178 van Dongen, D.H. 166

van Dulmen, Richard 64 van Gheel-Gildemeester, Frank 150, 151, 152,

153, 155, 156 van Lohuizen, Th. K. 168, 174, 179 van Poelje, G.A. 168 van Praag, Philip 163, 164, 172, 179 vanZanten, J.H. 171, 172, 173, 174, 177, 179 Vasterling, Christian 30, 48 Veiter, Theodor 31, 48, 145, 156 Venhoff, Michael 222, 243, 244, 248, 250 Verhulst, Pierre Francois 196 Verijn Stuart, C.A. 171, 172, 173, 174, 178 Verschuer, Otmar Frhr. v. 270, 284 Vienne, Florence 212, 219, 266, 284 Vierhaus, Rudolf 64 Vierkandt, Alfred 182, 201, 280 Virchow, Rudolf 251, 256, 278 Virgili, Fabrice 63 Vogele, Jorg 9,184, 258,284, 285, 286, 287,

297 Voldman, Daniele 63 Volkmann, Hans-Erich 47 Vowinckel, Kurt 211, 222, 223, 224, 225,

226, 227, 232, 238, 240, 241, 249, 250

W

Wagenaar, Cor 163, 177 Wagner, Adolf 246 Wagner, Adolph 189, 201 Wagner, Gerhard 289 Wagner, R. 232 Walras, Leon 195 Walther, Andreas 198, 201, 230 Walzl, August 151, 156 Wappaus, Johann Eduard 255, 256, 257, 284 Wasser, Bruno 243, 250 Wasserab, K. 279 WaBner, Rainer 215, 219, 313, 318 Weber, Marianne 299, 318 Weber, Mathias M. 252, 253, 259, 268, 269,

270,271,274,277,284 Weber, Max 28, 48, 199, 201, 299, 317, 318 Weber, Wolfgang 36, 48 Weinberg, Wilhelm 268 Weinberger, Franz 99, 101, 102, 104, 105,

106,108,111,116 Weindling, Paul 53, 65

Page 332: Bevölkerungsforschung und Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert

Personenindex 329

Weinelt, Herbert 29, 35, 48 Weingart, Peter 108, 114, 213, 219, 269, 284,

287, 298 Weinhold, Carl August 256 Weipert, Matthias 16, 21 Weisbrod, Bemd 16,21 WeiB, Ernst-Paul 105, 116 WeiB, Hermann 155, 296 Welter, Theodor Bemhard 70, 87 Welzer,Haraldl8,21 Wenz, Gustv 85 Wetzell, Richard 269, 271, 277, 284 Weyer, Johannes 15, 21 Weyr, Franz 104 Wichtmann, Christoph 251 Wiebols, G.A.H. 174 Wiedemann, Andreas 34, 48 Wiese, Leopold v. 201 Wietog, Jutta 8, 11, 94, 103, 107, 109, 116,

128, 135,138,139,143,144,146,149, 153, 154, 156,212,213,219, 305,310, 318

Wilhelm 156, 157 Wilhelm, Loos 85 Wille, Ludwig 268 Winkler, Wilhelm 32, 48, 100, 116, 143, 156,

258, 284 Winter, Jay 20 Wipplinger, Hans 95, 116 Wise, Norton M. 201 Wlacher, Kurt 282 Woelk, Wolfgang 9, 184, 258, 284, 285, 286,

287, 289, 290, 296, 297, 298 Wolf, Julius 53, 197, 259, 279 Wolfe, A.B. 187,201 Wolschke-Bulmahn, Joachim 243, 248 Woltereck, Heinz 86 Worster, Peter 39, 46 Wiilker, Heinz 246 Wtirzburger, Eugen 97, 116 Wuttke-Groneberg, Walter 285, 298

Zahn, Friedrich 108, 113, 114, 116, 155, 191, 211, 212, 255, 275, 278, 284, 292, 293

Zeisel, Hans 191, 194, 199, 201 Zeifi, Heinz 223, 250 Zeiss, Heinz 205, 208, 211, 214, 215, 219,

313,314 Zeller, Wilhelm 155, 156 Zeman, Z.A.B. 97, 98, 102, 116 Zimmermann, F.W.R. 110, 116 Zimmermann, Karl 80, 83, 86 Zollschan, Ignaz 274, 276, 307 Zukker-Rouvillois, Elisabeth 114 Zylbermann, Patrick 51, 64 Zizek, Franz 191, 192,201

Yagil, Limore 59, 65 Yule, George Udny 175