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borderline Klientengeschichten

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I N H A LT S V E R Z E I C H N I S

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W I E A L L E S B E G A N N

Am 24. März 1986 gebar mich meine Mutter in einem kleinen Dorf inder Nähe des Bodensees. Mein Vater freute sich sehr über meine Geburt undfeierte tüchtig. Allerdings betrank er sich am selben Abend ziemlich stark.

Mein jüngerer Bruder kam zwei Jahre nach mir auf die Welt. Durch eineDrehung des Körpers schlang sich seine Nabelschnur zweimal um den Kopf.So wurde er mit akutem Sauerstoffmangel geboren, was die Krankheit ADSauslöste – vielleicht besser bekannt unter dem Namen POS oder Hyper-aktivität. Meine Eltern waren beide noch sehr jung und wohl auch geradedeshalb etwas überfordert mit zwei Kindern.

Auch an meine beiden Kindergartenjahre kann ich mich kaum erinnern.Die meisten Momente, die mir geblieben sind, haben mit Einsamkeit undAngst zu tun. Durch die vielen Umzüge viel es mir schwer, in der Schule einewirkliche Freundschaft zu schliessen.

Als ich in der dritten Klasse war, zogen wir ein weiteres Mal um, weildie Wohnung mit der Geburt meiner kleinen Schwester zu klein wurde.Meine beiden Hasen, die damals meine besten Freunde waren, musste ichweggeben. Ich weinte über den Verlust der Tiere sehr lange. Damals ahnteich noch nicht, welche schwerwiegenden Folgen dieser Umzug für michhaben würde.

Mein Bruder und ich waren wilde Kinder. Meistens waren wir in unsererFreizeit im Wald anzutreffen. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Lesen.Ich verkroch mich während Stunden, ja manchmal sogar ganze Nächte langin Bücher, um mich vor der Welt zu verstecken.

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D E R A N FA N G D E R H Ö L L E

In der fünften Klasse fing die Welt an unterzugehen.Meine Eltern gehören einer etwas aussergewöhnlichenReligion an. Meine Lehrerin stand mit den Anhängern dieser Religion auf Kriegsfuss, was mir die nächsten zweiJahre zur Hölle machen sollte. Ich wurde regelmässig vorallen Schülern gedemütigt und blossgestellt. Ich verkrochmich immer mehr in Tagträume, um mich vor ihrer Bosheitzu schützen. Gleichzeitig entwickelte ich ein sehr schlechtesSelbstwertgefühl. Ich begann meinen Körper von meinemGeist zu trennen. Ich fing an ihn zu hassen.

Ich fing an mein Essen regelmässig zu erbrechen undnahm damit rapide ab. Innerhalb eines halben Jahres hatteich fast 30 Kilo abgenommen. Ich fühlte mich mit meinemLeben so hilflos. Vor Angst, man könnte mir etwas an-merken, habe ich über ein Jahr lang nur weite Kleidunggetragen. Ich fühlte mich sehr alleine und hatte das Gefühl,ich sei verrückt.

Etwa zu dieser Zeit wurden meine bisher angenehmenTagträume zu richtigen Alpträumen. Ich sah lauter schreckliche Dinge, die mir oder anderen Personen passieren würden. Mit der Angst wuchs auch der Wunsch nachSicherheit. Ich wollte lernen mich zu verteidigen – nicht nur körperlich, auch geistig. Ichfragte meine Eltern, ob ich in eine Karateschule gehen dürfe. Doch meine Eltern warendagegen.

Durch meine immer grösser werdenden psychischen Belastungen waren meine Notennicht besonders gut. So kam ich nach der sechsten Klasse in die Realschule – also in dietiefere Stufe der Oberschule. Hier begann ein Zeitabschnitt, auf den ich nicht gerade stolz bin.

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Es ging keine drei Wochen, bis ich in der Real-schule anfing Zigaretten zu rauchen. Einen Monat später griff ich dann zum ersten Mal zu Drogen. Esfing sehr harmlos an mit schwachen Drogen. Sie wurden jedoch immer härter und manchmal war ichrichtig weggetreten.

Es war mir egal, was meine Eltern sagten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Meine Welt teilte ichunbewusst in zwei Hälften: weiss und schwarz. Weisswaren alle Tiere und meine beiden Geschwister.Schwarz waren meine Eltern und der Rest der Welt.Auch mich teilte ich in die schwarze Hälfte ein. Ichempfand mich selbst als böse. Ich wollte auch dunkelund böse sein. Ich wollte aus diesen starren Regelnausbrechen, in denen ich gefangen war.

Durch eine Kollegin in meiner Klasse erfuhr ich,dass es in einer nahegelegenen Stadt eine «Mystik-gruppe» gab. Ich ging dorthin, ohne meinen Elternetwas davon zu sagen. Das erste, was ich fühlte, als ich den Raum betrat, war Macht. Der Leiter lud mich zu einem weiteren Treffen ein und versprach mir die Lösung meiner Probleme. Das klang sehr verlockend, denn bisher hatten andere gar nicht viel von meinen innerlichen Schmerzen mitbekommen. Ich schlich mich also nachts heimlich ausdem Haus und ging zum ersten Mal zu einem geheimen Treffen dieser Satanistengruppe.Danach ging ich über ein halbes Jahr lang regelmässig an diese Treffen. Ich nahm zu dieser Zeit sehr viele Drogen und bestand eine Prüfung nach der anderen in dieserGruppe. Mit 13 Jahren war ich, glaube ich, die Jüngste in unserem Zirkel. Doch vor derletzten Prüfung hatte ich Angst. Ich fühlte mich definitiv zu jung dafür. Die letzte Prüfungbestand darin, sich mit dem Meister zu vereinigen.

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Ich haute ab und ging ab diesem Moment nichtmehr an die Treffen. Durch diese Erfahrung wurdenmeine Tagträume immer schlimmer. Ich fing dann an,mich selbst zu verletzen. Am Anfang tat ich dies miteinfachen Messern, mit denen ich mir kleine Schnittezufügte. Ich tat dies, um die Realität und meinenKörper zu spüren.

Im Februar im gleichen Jahr holte mich meinVergehen ein, dass ich mich dem Bösen zugewandthatte. Mein alter Meister wartete an einem Sonntagauf mich, als ich vom Reiten auf dem Weg nachHause war. Er redete auf mich ein, dass ich doch dieletzte Prüfung machen solle, damit ich vollends dieMacht des Bösen besitze. Doch ich hatte mich ent-schieden, nicht mehr böse zu sein. Ich wollte wiederVertrauen in die Welt gewinnen. Daraufhin versuchteer mich zu vergewaltigen. Ich verlor das Bewusstsein.Die Welt in meinem Herzen war untergegangen.

Ich redete mit niemandem über das Geschehene. Nicht einmal mit meiner Mutter.Wie sollte ich ihr das auch erklären? Ich konnte nicht.

Jetzt erst, fast fünf Jahre später, weiss ich dank der Hilfe von lieben Ärzten, dass esder Mann nicht geschafft hat, mich zu beflecken. Sie vermuten, er hätte wohl gedacht ichsei tot, hätte es dann trotzdem versucht – daher die Schmerzen – es aber nicht geschafft.

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Obwohl ich rauchte, mich schnitt undweiterhin mein Essen erbrach, wurden meineSchulleistungen besser. Nach einem Jahrschaffte ich sogar den Übertritt in dieSekundarschule. Anfangs lief es recht gut.Doch im Herbst kam mir zum ersten Mal inmeinem Leben der Gedanke, mich umzu-bringen. Ich hatte einfach zuviel erlebt. Ichkonnte nicht mehr. Soviel hatte ich durch-gestanden, doch niemand gab mir Hilfe.Nachdem ich diesen Gedanken in Drogen,Rauchen und Kotzen ertränkt hatte, tauchte erzwei Wochen später wieder auf.

Ich wusste, dass meine Mutter in ihremZimmer viele Medikamente hatte. Ich nahmwahllos irgendwelche Schachteln und schluckte alles runter. Daraufhin schlief ichzwei Tage lang. Meine Mutter allerdingsglaubte, ich hätte eine Grippe und liess michschlafen. Sie bemerkte also meinen Selbstmordversuch nicht einmal!

Weihnachten kam und ging. Mein Gewicht war über die Feiertage bei 38 Kilo an-gelangt. Und noch immer hatte niemand etwas von meiner Essstörung bemerkt. Schliess-lich wahr ich Meister geworden im «Schein wahren». Ich lernte, mir nicht anmerken zulassen, wie es mir ging. Meine Schulleistungen waren nicht überragend, aber sie ge-nügten, um nicht durchzufallen.

Mein Körper versagte mir immer öfters den Dienst. Meine Tagträume wurden schlimmer. Sie verwandelten sich in richtige Horrorfilme. Obwohl ich nie zuvor toteMenschen oder stark verletzte gesehen hatte, war mein Kopf voll von solchen Bildern!

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Als ich wieder anfing zu essen, war das wie ein Energieschub. Ich fing an, Kurz-strecken von 50 bis 80 Meter zu rennen und wurde dabei immer schneller. Ich trainiertedrei Stunden am Tag. Mein Ziel war es, die persönliche Bestleistung zu übertrumpfen, die ich vor einem Jahr geschafft hatte. Im Sport vergass ich meinen Schmerz, meine Trauerund meine trüben Gedanken.

Ich wurde immer schneller und nach fünf Wochen hatte ich meine Bestleistung bereitsübertroffen. Doch Ende Februar geschah es dann: Ich hatte mich abends wieder aus demHaus geschlichen, um noch etwas zu trainieren. Doch schon nach 10 Minuten spürte ich einen starken Schmerz im linken Knie. Ich fiel zu Boden und Tränen liefen mir über die kalten Wangen. Ich hielt vor Schmerz den Atem an. Meine Tage wurden wieder malschwarz. Mit Sport war es nun vorbei. Heute weiss ich, dass ich damals den Meniskusbeschädigt hatte.

Anfang März ging es mirimmer schlechter. Irgendwiebrach mein Lebensbodendurch. Mein Wunsch nachdem Tod wurde wieder stärker. Ich war bereit zu sterben. Ich erinnere michnoch sehr genau an diesenTag: Ich stand am Morgen auf und verabschiedete michvon der ganzen Familie. Ichlegte eine kleine Blume aufmein Kopfkissen und ging. Ich verbrachte meinen letztenTag in der Schule und ging.An der Hauptstrasse hielt ichmein Velo an und wartete, bis

der erste Raser die Strasse kreuzte. Ein lautes Motorgeräusch kam näher, ich hielt die Luftan – und fuhr ...

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Nach diesem «Unfall» kam ich ins Kantonsspital. Ich hatte nur eine starke Prellung amKnie und eine Gehirnerschütterung, sowie zahlreiche Schürfungen. Irgendetwas Höheresoder Mächtigeres wollte, dass ich lebe. Doch wozu?

Ich kam auf die Station im oberen Stockwerk zur Beobachtung. Ich hatte in diesemZimmer die ganze Nacht geweint. Am nächsten Morgen kam ich in ein normales Zimmer.Dann teilte man mir mit, ich könne wieder nach Hause. Panik ergriff mich. Ich sah ineinem Gang einen Rollkorpus mit ganz vielen Medikamenten. Ich öffnete meine Tascheund schmiss rein, bis kein Platz mehr übrig war.

Wieder zu Hause, entschloss ich mich am nächsten Morgen, meinen Körper endgültigzu töten. Ich wartete, bis meine Eltern und mein Bruder das Haus verlassen hatten.Eigentlich hätte ich auf meine kleine Schwester aufpassen sollen, doch diese schlief noch.Ich nahm meinen Rucksack voller Medikamente, schloss mich im Badein und fing an zu schlucken. Es dauerte eine ganze Stunde lang,bis ich alles runtergeschluckt hatte.

Da kam mir plötzlich meine kleine Schwester in denSinn. Ich wollte nicht, dass sie mich tot finden würde.Also kroch ich wie ein krankes Tier in den Wald. DerReithof kam immer näher, mir ging es schon richtigschlecht. Ich sehnte mich nach meinen Freunden, denTieren. Als ich jedoch dort ankam, merkte mein Lieblings-pferd Aramis, dass etwas nicht stimmte. Aramis tobte solaut, bis die Frau vom Reitlehrer kam und mich sofort insnächste Spital brachte.

Zum Auspumpen des Magens war es zu spät. Die Ärztesteckten mir eine Magensonde ein mit der sie mir Kohle einflössen konnten. So musste ich erbrechen. Nach etwa dreiStunden war ich in einem einigermassen passablen Zustand.Und dann kam meine Mutter. Ich habe sie noch nie so wütendgesehen. Sie rauschte in diesen Raum herein. Sie kam mir vorwie der Rachegott höchstpersönlich. Sie schrie mich an – nichtetwa, weil ich sterben wollte, sondern weil ich meine Schwesteralleine zu Hause gelassen hatte. Alle im Raum erstarrten. EinPfleger packte dann meine Mutter und warf sie kurzerhand raus.

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Nach vier Tagen imKinderspital mit starkenSchlafmitteln fingen dieTherapien an. Ich bekamBewegungstherapie,Ergotherapie, Mal-therapie und Gesprächs-therapie. Doch wegenmeinem Misstrauengelang es mir nicht, mich gegenüber diesenMenschen zu öffnen.Weil die Ärzte mir hiernicht helfen konnten,wurde ich in die Kinder-psychiatrie eingewiesen.Die ersten Wochen hierwaren der Horror: Ichhatte Angst, ich durftenicht raus, bekamTherapien, die ich nicht

wollte. Mehrmals versuchte ich abzuhauen, versuchte mich zu verletzen, mich umzubrin-gen usw. Ich war so durcheinander und gab mir selbst die Schuld an allem. Ich dachte, all dieses Leid verdient zu haben.

Nach und nach lernte ich mich zurecht zu finden. Doch meine Krankheit hatte sichverschlimmert. Ich sah wirklich nur noch schwarz-weiss. In dieser Zeit war alles schwarz.Irgendwann konnte ich wieder nach Hause. Ich besuchte meine alte Schule wieder. Dochmein Leben ging nicht besser weiter. Ich brach die Psychotherapie ab und kotzte wieder.Mein Gewicht ging wieder runter. Ich wog wieder nur noch 50 Kilo. Ich nahm auch wieder Drogen, um meinen Schmerz zu vergessen.

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D E R N Ä C H S T E U M Z U G

Ende des Jahres erfuhr ich, dass wir erneut umziehenwürden. Meine Eltern hatten in der Nähe meines Geburts-orts ein Haus gebaut. Es war ein sehr schönes Haus, dochich versank ein weiteres Mal in völligem Elend. Ich war soverschlossen und krank, dass ich einfach keinen Anschlussin meiner neuen Klasse fand. Ich schwänzte den Unter-richt, kotzte, rauchte und fing an regelmässig irgend-welche Medikamente zu schlucken. Innerhalb von zweiWochen war ich total abhängig, und so kam zu allemauch noch eine Tablettensucht dazu.

Meine Situation spitzte sich wieder zu. Die Anspan-nung mit meinen Eltern war auf dem Höhepunkt. Da dieGesellschaft mich ablehnte, hatte ich vor, für immer zumeiner Clique nach Zürich zu gehen um dort mein Lebenals Junkie zu verbringen und schliesslich an den Drogenzu sterben. Zuerst wollte ich mich jedoch noch von meinerCousine verabschieden. Es ging ihr in dieser Zeit ebenfallssehr schlecht. Sie war im Spital auf der psychiatrischen Station – auf derselben Station,wo ich auch schon war.

Ich sass bei ihr auf dem Bett und sprach mit ihr. Und dann geschah es. Meinganzes Inneres bäumte sich auf, es wollte an die Oberfläche. Der ganze

Schmerz kam hoch und ich fing an zu weinen. Keine zwei Stundenspäter war ich vom Besucher zum Patienten geworden und wurde

auf die Station eingewiesen. Heute kann ich sagen: dies warmeine Rettung.

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Nach einem Monat auf dieser Station begann ich, mich den Therapeuten zu öffnen.Es gelang mir, über meine Essstörung zu sprechen. Zum ersten Mal erfuhr ich, dass vieleFrauen eine solche Krankheit haben. Die Pfleger zeigten mir Heilungswege und nach und

nach gelang es mir besser, mit der Krankheit umzugehen. Ich wurde durch die vielen verständnisvollen Menschen um

mich herum immer sicherer und nach langer Zeit lernte ich,den Menschen wieder zu vertrauen. Meine Krankheit wurde

zwar auch hier noch nicht richtig erkannt, doch es wurde vielgetan für meine offenen Wunden in meinem Innern.

Doch die Realität verschwand nicht. Es war ein sehr harterKampf. Ich begann, mich des öfteren stark zu schneiden.Immer wieder musste ich mich selbst bestrafen und quälen.Ich dachte, ich sei Abschaum und man schäme sich fürmich. Mein Selbstvertrauen war völlig zerstört.

Nach über zwei Monaten kamen meine Eltern und machten ihre Ansprüche geltend. Die Vormundschaftsbehörde

konnte nichts machen. Ich musste zu meiner Patentante, diesich bereit erklärt hatte, mich aufzunehmen. Es wurde verein-

bart, dass ich bei ihr wohnen würde, bis in der nahegelegenenPsychiatrie ein Platz frei würde

Es war eine Notlösung und ich war nicht allzu glücklich.Schon nach einigen Wochen ging es mir nicht mehr gut. MeinPatenonkel hatte ein schweres Alkoholproblem und wurde sehrschnell zornig. Er war fies zu seiner Frau. Ich schnitt mich imDurchschnitt zweimal pro Woche so tief, dass ich die Wunden nähen lassen musste. Meine Arme sahen immer schlimmer aus.

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A B S T U R Z

«Es ist 14.00 Uhr. Mir geht es schon den ganzen Morgen schlecht. Meine Gedanken stürmen durch meinen Kopf und ich höre Stimmen.»

«Es ist 15.00 Uhr. Die Stimmen, die ich höre, sind zu Schreien geworden. Ich habe dasGefühl, mein Kopf platzt. Ich habe jeden Bezug zur Realität verloren. Ich irre zwischenBad und Balkon hin und her. Ich rauche eine Zigarette.»

«Es ist 15.30 Uhr. Ich spüre meinen Körper nicht mehr. Ich habe jedes Gefühl für dieRealität und meinen Körper verloren.»

«Es ist 16.00 Uhr und ich habe mich im Bad eingeschlossen und eine Rasierklinge auseinander genommen. Ich habe keine Gefühle mehr für alles um mich herum. InSekundenschnelle wird alles in schwarz und weiss eingeteilt. Gut, böse, gut, böse. Ich bin bei mir angelangt. Ich bin böse.»

«Ich komme zu mir. Ich höre nichts um mich herum. Es herrscht Stille. Ich höre nichts. Sind sie weg, die Stimmen? In meinem Kopf herrscht wohltuende Ruhe. Ich wage es, dieAugen aufzumachen. Im gleichen Moment spüre ich den Schmerz mit voller Macht. Wasist geschehen? Ich schaue auf meine Arme. Ein grauenerregender Anblick bietet sich mir.Ich habe mich noch niemals zuvor so tief geschnitten. Alles ist rot.»

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E I N S T E I N I G E R W E G

Heute weiss ich, was damals passiert war: Ich erlebte einen meiner heftigstenBorderline-Schübe. Ich kam daraufhin wieder ins Spital. Willenlos liess ich alles mit mirgeschehen. Ich war völlig apathisch. Die Ärzte stuften mich als schizophren ein – eine derschlimmsten psychischen Krankheiten. Im September wurde ich auf die halboffene Stationder psychiatrischen Klinik S. eingewiesen.

Die ersten drei Monate waren buchstäblich die Hölle. Je nach Besserung meinesZustands bekam ich mehr Freiheiten und durfte mich auch mal ausserhalb der Stationbewegen. Doch ich fiel immer wieder in die unterste Stufe zurück und musste insIsolierungszimmer. In diesem Zimmer gab es nur eine Matratze und sonst gar nichts. Ichschnitt mich, kotzte und bekam haufenweise Medikamente. Wieder einmal war ich innerlich zerbrochen und alles in mir bestand aus Hass auf mich selbst, aus Hass aufmeine Vergangenheit und auf alles, was sich bewegte. Ich vertraute niemandem.

Tagebuchauszug 24. November 2001:Ich bin jetzt seit zwei Wochen in einem Einzelzimmer. Am Anfang habe ich mich in jeder Ruhezeit geschnitten. Jetzt kommt es langsam wieder. Ich habe heute nichts z’ Nacht gegessen. Wenn ich könnte, würde ich den ganzen Tag nichts essen. Aberirgendwie habe ich nicht die Kraft dazu.

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D E R L A N G S A M E A U F S T I E G

Ich schaffte es nach fast vier Monaten völliger Dunkelheit, mich langsam auf das Lichtam Ende des Tunnels zu bewegen. Nach unzähligen Selbstverletzungen und Suizid-versuchen gelang es einem Pfleger, mein Vertrauen zu gewinnen. Er war Experte auf demGebiet der Borderline-Krankheit. Ich öffnete mich langsam wie eine Blume im Morgen-grauen. Mein geknickter Stängel wurde durch die Zusammenarbeit mit Pflegern, Ärzten,durch Medikamente, Mal- und Bewegungstherapie gestützt.

Nach weiteren Fortschritten kam ich auf eine offene Station. Ich hatte mit der Unter-stützung meines Therapeuten viel über meine Gefühle und meine Krankheit erfahren. Esgelang mir immer besser, mich den Pflegern gegenüber zu öffnen.

Einmal sass ich bei meinem Therapeuten im Zimmer. Die Last der Überlegungen zuSterben oder zu Leben lag über mir. Die Betreuerin M. kam nach der Sitzung auf mich zuund ging mit mir ins Zimmer. Ich weinte wie ein kleines Kind. Die ganze Anspannung derletzten Monate brach aus mir heraus. Die Betreuerin hielt mich auf dem Schoss und ichheulte so fast eine Stunde lang mein Elend heraus. Dann erzählte ich ihr, dass ich ihretwas geben müsste. Ich holte einen Sack aus der Schublade und gab ihn ihr. In diesemSack hatte ich während Monaten Medikamente gesammelt, um mich umzubringen.

Am nächsten Morgen hatte ich eine kleine Nachricht von meinem Thearpeuten aufdem Nachttisch:

«Liebe J.Die Menge hätte gereicht! Ich bin froh, dass du sie abgegeben hast und ich bin stolz aufdich.»

Dies war mein letzter Suizidversuch.

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Gegen Ende des Jahres musste ich meine Zukunftsplänedefinieren. Ich versuchte es mit einer Schnupperwoche imBüro und dem Wohnen in einem Wohnheim. So kam dasBrüggli in mein Leben.

Mein erster Tag im Brüggli begann mit einemGespräch. Ich war übernervös und hatte einfach nurAngst. Überall Leute, die ich nicht kannte und alles warfremd. Die erste Woche war nicht einfach, aber sieging vorbei. Ich konnte mir gut vorstellen, einenBüroberuf auszuüben.

Es folgte eine dreimonatige Abklärung in der sozialen Einrichtung Brüggli. Ich war zwischen Hoffenund Bangen. Ich hoffte sehr, dass ich in dieser Firmaeine Lehre beginnen durfte, denn ich wusste, dass diesmein Leben verändern würde. Nach der Abklärungszeitfand das IV-Gespräch statt. Ich hatte grosse Angst davor.Doch dann kam die grosse Überraschung: Ich durfte imBrüggli eine Lehre als Kauffrau beginnen! Ich glaubte,mein Herz würde zerspringen: Ich, jemand der psychisch krank war und in derGesellschaft dauernd unterging, hatte eine Lehrstelle.

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Der Beginn der Lehre im Brüggli war für mich ein Schritt in die Realität. Zwei Tage inder Woche hatte ich Schule, an den anderen drei Tagen war ich im Betrieb. Zweimal inder Woche hatte ich meine Gespräche mit dem Betreuer. In meiner Arbeit wurde ich unter-stützt und nach und nach übergab man mir mehr Verantwortung.

Mein Arbeitstag:«Ich stehe um 6.30 Uhr auf. Um 7.15 Uhr laufe ich los. Im Cafiti gibts zuerst mal etwasWarmes zu trinken. Um 7.45 Uhr brechen wir alle auf zu unseren Abteilungen. Ich grüsse meinen Chef mit einem Lächeln und er begrüsst mich auf die gleiche Art undWeise. Fröhlich begrüsse ich auch die anderen Mitarbeiter, die mich ebenfalls anlächeln.

An meinem Arbeitsplatz starte ich den Computer auf und überlege, welche Termine ichheute habe. Ich ordne die verschiedenen Aufgaben nach Abgabetermin und bereite dieerste Arbeit vor. Ich beginne mit der Datenliste für meinen zweiten Chef und erfasse dafürerst einmal 300 Hunderassen, die ich später verschiedenen Boxen zuteilen werde. DieArbeit hat zum Ziel, die Kundenbetreuung zu erleichtern. Ich habe diesen Vorschlag ander letzten Hundemesse gemacht, die Idee fand guten Anklang.

Nach und nach gehen alle in die Mittagspause. Ich freue mich darauf, meine Freunde zutreffen. Wir haben eine ganze Stunde Pause, was mir meistens sehr lange vorkommt.

Am Nachmittag arbeite ich weiter an meinem Prozess, der von der Erstellung einesDateisystems handelt. Dieses beinhaltet den ganzen Arbeitsablauf der Abteilung sowie alleDokumente, Vorlagen und Archivdaten. Da ich sehr in die Arbeit vertieft bin, ist es schnell17.00 Uhr und mein Arbeitstag ist zu Ende. Ich beeile mich, nach Hause zu kommen, weilich heute Abend noch ein Training habe. Auf dem Heimweg bin ich sehr müde, freue michaber auf den Abend und finde, dass es heute gut gelaufen ist.»

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K A R AT E

Als ich einmal mit meinem Chef über meinen Kindeswunsch Karate sprach, war erbegeistert von der Idee. Er gab mir genau zwei Stunden Zeit, meine Freizeit zu planen.Ich suchte im Twixtel nach Karateschulen. Zwei Wochen später vereinbarte ich einSchnuppertraining.

Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Abend. Meine Kollegin fuhr mich hin,weil ich so Schiss hatte. Der Sensei zeigte mir die Garderobe und erklärte mir die Dojo-Regeln. Als ich das erste Mal drin stand, musste ich vor Freude lächeln.

Zwei Wochen später wurde ich in seine Karateschule aufgenommen.

Das Karate ist ein Seil, an dem ich mich halten kann. Seit diesem Moment gehe ichzwei bis drei Mal pro Woche ins Training. Bereits nach kurzer Zeit lernte ich eine wunderbare Freundin kennen. Ich hatte also auch einmal eine Kollegin ausserhalb desgschützten Rahmens, ein Mensch, der mich so annahm, wie ich war. Von da an ging es in meiner Lebensleiter Stufe für Stufe aufwärts.

«Oberflächlich betrachtet sind die Kampfkünste ein Mittel, andere zu besiegen. Dochdahinter steht ein viel grösseres Ziel. Durch das Beherrschen der Angst, kann der Geübteden Kampf durchdringen und einen Zustand erreichen, in dem es kein Kämpfen mehrgeben muss.» (Auszug aus meinem Vortrag in der Schule)

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Z U K U N F T

Während meiner Klinikzeit hatte ich nur sehr spärlichenKontakt zu meinen Eltern. Durch die Therapiesitzungen habeich gelernt, meine Eltern zu verstehen und erkenne jetzt,warum für sie vieles so schwer war. Und ich kann ihnen heutehelfen und Wertvolles mitgeben, weil auch mir jemand geholfen hat. Jetzt habe ich wieder regelmässigen Kontakt zu meinen Eltern. Es ist eine wahnsinnige Entlastung für sie,mich wieder glücklich und gesund zu sehen.

Im Oktober werde ich für vier Tage in ein buddhistischesKloster hier in der Schweiz gehen, um Ruhe zu finden undmehr über diese Lehre zu erfahren. Ich möchte endlich einmalrichtig Zeit haben, um lange meditieren zu können.

Ich werde auch weiter regelmässig ins Training gehen undim Dezember die nächste Prüfung im Karate absolvieren. EinesTages möchte ich den schwarzen Gürtel haben.

In zwei Jahren werde ich hoffentlich erfolgreich meineLehre abschliessen und zurück in die offene Wirtschaft kehren.Vielleicht werde ich Marketing studieren oder selbst Kampf-kunst unterrichten.

Ich wünsche mir, dass ich anderen Menschen mit einerpsychischen oder körperlichen Behinderung helfen kann. Vielleicht gründe ich zusammenmit meiner Cousine eine Selbsthilfegruppe.

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D A S B O R D E R L I N E - S Y N D R O M

Auf der Internetseite www.borderline-syndrom.ch finden Sie weitere hilfreiche Informationen zur Borderline-Krankheit. Es ist eine Kommuni-kations-Plattform, die auch ein Forum, Newsletter und Telefonnummern fürNotfälle zur Verfügung stellt. Ausserdem können dort Gedichte und Bildervon Betroffenen veröffentlicht werden.

Link: www.borderline-syndrom.ch

I M P R E S S U M

Namen und Örtlichkeiten wurden bewusst zensiert. Die abgedrucktenBilder sind alle von der Autorin gemalt worden.

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