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Sozialistische Jugend www.sjoe.at Warum sind wir SozialistInnen!

Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!"

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Die Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!" der SJ Österreich

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Sozialistische Jugend www.sjoe.at

Warum sind wirSozialistInnen!

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deshalb?

TROTZDEM!

Widerstand jetztDie Zeitschrift der Sozialistischen Jugend

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Sozialistische Jugend www.sjoe.at

Warum sind wirSozialistInnen!

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Inhalt

Vorwort

Zur Person Josef Hindels

Wie diese Schrift entstand

Der utopische Sozialismus

Karl Marx ist jung geblieben

Die materialistische Geschichtsauffassung

Die Rolle des Klassenkampfes

Persönlichkeit und Marxismus

Wer war Karl Marx?

Was ist Kapitalismus?

Der neue Kapitalismus

Kommt nach dem Kapitalismus der Sozialismus?

Reform und Revolution

Parlamentarische Demokratie und Sozialismus

Die klassenlose Gesellschaft

Der Kommunismus und die SozialistInnen

Religion, Kirche und Sozialismus

Nachwort

Adressen & Impressum

Seite 5

Seite 8

Seite 10

Seite 14

Seite 20

Seite 26

Seite 29

Seite 32

Seite 37

Seite 41

Seite 45

Seite 49

Seite 53

Seite 56

Seite 61

Seite 66

Seite 74

Seite 80

Seite 82

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Vorwort

Drei nach links unten gerichtete Pfeile, die mit einem Ring umschlossen werden, sind ein altes Kampfsymbol der SozialdemokratieIn der Mitte der Schachtel befinden sich die drei Pfeile.Einleitende Worte von Andreas Kollross

I.

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Vorwort

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Immer häufiger, leider nicht nur von denGegnerinnen und Gegnern der Arbeiter-Innenbewegung, sondern auch von Sozialde-mokratinnen und Sozialdemokraten, hörenwir die Mär vom Ende des Sozialismus.Wirwerden mit weniger Staat – mehr privat,Flexibilisierung, Sonntagsarbeit, Aufwei-chung von Schutzbestimmungen, Elitebe-strebungen in unserem Schulsystem undvielem mehr, konfrontiert. Der Neoliberalis-mus, und somit nichts anderes als wie derKapitalismus, macht sich in den Köpfenunserer Gesellschaft, in der veröffentlichten

Meinung und auch in der Sozialdemokratiebreit, wird, offensiv oder defensiv, Schritt fürSchritt umgesetzt, und als Weg der neuenMitte, sowie als Instrument zur Bekämpfungvon Arbeitslosigkeit, die aber nach wie vorständig im Steigen ist, und anderem, alsLösungsmodell propagiert.

Wer sich heute nach wie vor kritisch undkämpferisch dem Kapitalismus entgegen-stellt, wer als Lösungsinstrument vonArmut, Elend und Not, Umverteilung unddie Überwindung des Kapitalismus auf demBoden marxistischen Denkens sieht, wersich heute nach wie vor zum Sozialismusbekennt, wird als TräumerIn, Sozialromanti-kerIn, altmodisch oder ewig gestrig abge-stempelt.

Die Gegnerinnen und Gegner der marxis-tischen Analyse, die gleichzeitig die Einpeit-scherInnen der nationalen und internatio-

nalen Ungerechtigkeiten, der Unfreiheit undUngleichheit sind, streuen in breitem Maße,in „großen Worten“ und in „großen Schrif-ten“ das Ende des Sozialismus, das Endedes Marxismus. Verbal kann durchaus fest-gehalten werden, dass diese Theorie vomEnde des Sozialismus, vom Ende einer Ge-sellschaft, in der der Mensch und nicht dieProfitlogik im Mittelpunkt steht, sich inihrer Hochkonjunktur befindet. Doch gleich-zeitig muss auch festgehalten werden, dassdie Theorie vom Ende des Marxismus so altist, wie diese selbst, und alleine die Flut von

Büchern, die produziert werden, um denangeblich sowieso bereits toten Sozialismus,und mit ihm den schon im Verwesungsstadi-um befindlichen Marxismus, noch tausend-fach zu töten, zeigen, wie lebendig dieserdoch ist, und wie realitätsnahe die „Toten-gräberideologen“ sind.

Sie wissen wie wir, dass der Kapitalismusein System das Widersprüche in allen Le-bensbereichen als Grundprinzip und Grund-element hat, immer wieder aufs neue Bewe-gungen produziert, die für ihre Interessenkämpfen und um eine Alternative zumherrschenden System, um den Sozialismus,um die Freiheit, ringen.

Den KapitalismusstrategInnen ist klar, dasserst die Verbindung von wissenschaftlichenSozialismus und der organisierten Arbeiter-Innenbewegung fähig ist, die bestehendenEigentums- und Machtverhältnisse, diebestehenden Ungerechtigkeiten und Wider-

Immer häufiger, leider nicht nur von den Gegnerinnen undGegner der ArbeiterInnenbewegung, sondern auch vonSozialdemokratinnen und SozialdemokratInnen, hören wir dieMär vom Ende des Sozialismus.

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sprüche umzuwälzen. Daher orientieren siesich daran, zum einen natürlich die Arbeiter-InnenInnenbewegung zu schwächen und siegleichzeitig ihrer handlungsleitenden Theoriefür immer zu entledigen, oder zumindestenszu versuchen, den Marxismus zu entstellen,zu verstümmeln oder ihn zum unzähligenMale zu Grabe zu tragen, da der Marxismusnicht einfach aus dem Denken der Mensch-heit gestrichen werden kann.

Der Marxismus als Theorie und Methodehat jedoch, zum Leidwesen seiner Kritiker-Innen, seiner TotengräberInnen, nichts vonseiner Wichtigkeit, nichts von seiner Reali-tät, nichts von seiner Anwendbarkeit in derheutigen Zeit, nichts von seiner Analyse-fähigkeit, natürlich verbunden mit dem

Blick auf die heutige Zeit und deren Aus-wüchse, eingebüßt. Umso wichtiger ist es,unser Wissen und Analysevermögen zu er-weitern und zu vertiefen, und dieses auchweiterzugeben.

Aus diesen Überlegungen heraus haben wirdie Broschüre „Warum sind wir Sozialist-Innen“ von Josef Hindels neu aufgelegt, dadiese wohl nach wie vor als der verständ-lichste und in seiner Themenauswahlumfassendste Einstieg in den wissenschaft-lichen Sozialismus angesehen werden kann,und als Standardwerk für jeden jungenSozialisten und jede junge Sozialistin dienensollte.Andreas KollrossVerbandsvorsitzender

Der Titel der Broschüre lautet im Original„Warum sind wir Sozialisten“. Wir habennicht nur den Titel von Hindels Werk ver-ändert, sondern auch den gesamten Textder Broschüre geschlechtsneutral überar-beitet.

Sprache beeinflusst unser Denken undunser Handeln. Wir finden es unentbehr-lich, Frauen in Sprache und Geschichtesichtbar zu machen. Die Geschichte derArbeiterInnenbewegung wurde lange Zeitvon Männern für Männer geschrieben undweitererzählt. Die Geschichte von Fraueninnerhalb der ArbeiterInnenbewegung fandnur nebenbei Platz. Immer wieder, auchheute noch, wurde mit dem Hauptwieder-spruch „Kapital und Arbeit“ argumentiert,wenn es um die Gleichberechtigung vonFrauen, sowohl in der Bewegung als auchin allen gesellschaftlichen Bereichen, ging.

Wir sind der Meinung, dass es einewichtige Aufgabe ist, auf bedeutende Ge-nossinnen, und auf deren Wichtigkeitinnerhalb der ArbeiterInnenbewegunghinzuweisen, und darüber hinaus in derAuswahl der geschlechtsneutralen Sprach-form deutlich zu machen, dass die„Arbeiter“ immer Frauen und Männerwaren, und dieses auch in Zukunft bleibenwerden. Nicht nur historisch wurden alleKämpfe gemeinsam ausgetragen, sondernauch gegenwärtig müssen wir erkennen,dass wir nur gemeinsam und gleichberecht-igt für ein neues System, für den Sozial-ismus kämpfen können.

Das heisst aber auch, dass wir alsSozialistInnen nie aufhören dürfen, für dieGleichberechtigung der Frauen, um einengleichberechtigten und erfolgreichenKampf gegen den Kapitalismus führen zukönnen, aufzutreten.

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8Die drei Pfeile wurden 1932 von Sergej Tschachotin erfunden.In der Schachtel befindet sich ein Standbein, eine Anleitung und eine Matrize mit den Bauteilen.Eine Kurzbiografie des Autors

II.

Zur Person Josef Hindels

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in Wien geboren Mitglied Sozialistischer Wanderbund,Vereinigung sozialistischer MittelschülerWienMitglied Kommunistischer Jugendverbandkaufmännische LehreMitglied Jugendgruppe des Zentralvereins der kaufmännischen AngestelltenÖsterreichs; Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO)erste Verhaftung wegen Teilnahme an einer DemonstrationGründungsmitglied Revolutionäre Kommunisten Österreichs (RKÖ)Ende April bis Juli neuerliche Haft

Flucht in die Tschechoslowakische Republik; Annahme des Namens„Karl Popper“ Aufbau des Auslandszentrums der RKÖAusreise nach Norwegen Mitarbeit im Sekretariat der InternationalenArbeiterfront gegen den Krieg (IAF)Trennung von den RKÖnach Einmarsch der Deutschen Wehrmacht einige Wochen imUntergrund, Flucht nach SchwedenVortragstätigkeit bei Sozialistischer Jugend Schwedens,Mitarbeit in Gruppe österreichischer Gewerkschafter in Schweden undÖsterreichische Vereinigung in Schweden

Rückkehr nach Wien unter dem Namen „Karl Popper“, Wiederannahmeseines richtigen NamensSchulungs- und Bildungssekretär der Sozialistischen Jugend ÖsterreichsZentralsekretär der Gewerkschaft der Privatangestellten und Redakteur desGewerkschaftsorgans „Der Privatangestellte“Tätigkeit im Verlag des ÖGB und als freier Publizist,Stellvertretender Vorsitzender des Bundes Sozialistischer Freiheitskämpferund Opfer des FaschismusVerleihung des Titels „Professor“

nach längerer Krankheit in Wien gestorben

10.1.1916

1930/31 1930-1933

19331935/36

1936

1937

1939

1939/401940

1940-1946

1946

1946-1951

1951-1970

Ab 1970

1976

10.2.1990

Page 10: Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!"

10Sie entstanden als Antwort auf die symbolbehaftete Propaganda des Nazismus. Kontrolliere, ob eventuell einpaar Stifte herausgebrochen sind und fehlen. Die Situationder Sozialistischen Jugend nach der Nazidiktatur

1.

Wie diese Schrift entstand

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Das Wort Tradition hat keinen guten Klang.Wir denken, wenn wir es hören, an Ewig-gestrige, die in einer muffigen Vergangenheitstecken geblieben sind, Soldatentreffen,Fahnenweihen, Habsburgerwirbel – all dashat mit Tradition zu tun und wird von denjungen, fortschrittlichen Menschen mitRecht abgelehnt.

Aber es gibt auch Traditionen, auf die wirstolz sein können. Dazu gehören nicht nurdas Pionierzeitalter der ArbeiterInnenbeweg-ung und die Periode des illegalen Kampfesgegen den Faschismus, sondern auch dieVergangenheit der Sozialistischen Jugendaus den Jahren nach 1945. Die vorliegende

Schrift ist mit dieser Zeit, von der uns heutemehr als zwei Jahrzehnte trennen, eng ver-bunden.

Im Jänner 1947 eröffnete der Obmannder Sozialistischen Jugend, Peter Strasser,die SJ-Akademie. Der Name Peter Strasserwar damals ein Begriff: Dieser junge, hagereMensch mit den lebhaften, tief liegendenAugen, der die Zeit des illegalen Kampfesund der Emigration als Jugendlicher erlebthatte, verkörperte nach 1945 die wiederer-standene Sozialistische Jugend Österreichs.Gemeinsam mit anderen „alten Jugend-lichen“ hatte er nach der Befreiung mit demAufbau der Jugendorganisation begonnen.Wie sah es damals in Österreich aus? UnserLand war bettelarm und von vier Groß-mächten besetzt. Jeden Tag berichteten dieZeitungen über Gewalttaten der Besatzungs-mächte. Überall gab es Elend, Mangel,

Chaos. Aber noch schlimmer als die mater-iellen waren die geistigen Verheerungen.Genosse Peter Strasser hat sie in seinerRede bei der Eröffnung der SJ-Akademiegeschildert. Er sagte damals unter anderem:„Der Hitlerkrieg hat auch einen ideellenTrümmerhaufen hinterlassen.Viele unsererjungen FunktionärInnen sind noch vor zweiJahren bei der Naziwehrmacht oder in derHitlerjugend gewesen. Sie bekennen sich heutegefühlsmäßig zum Sozialismus. Aber wissen sieauch was Sozialismus ist? Warum es sich lohnt,für dieses Ziel zu kämpfen? Den meisten vonihnen fehlt die theoretische und ideologischeGrundlage der sozialistischen Überzeugung.Wir

müssen daher damit beginnen, unseren Jugend-funktionärInnen die Grundbegriffe des Sozialis-mus und die Entstehung der sozialistischen Ideezu erklären. Das ist der Sinn der Akademie derSozialistischen Jugend – kurz: SJ-Akademiegenannt – die ich im Namen des Verbandsvor-standes eröffne.“

„Der Peter“, wie die Jugendlichen Genoss-Innen Peter Strasser nannten, beschäftigtesich sodann mit den praktischen Schwierig-keiten. Es gab fast keine sozialistische Litera-tur. Schriften von Marx und Engels, vonViktor Adler und Otto Bauer hatten Sel-tenheitswert.Was tun? Peter Strasser gabdarauf eine konkrete Antwort: „Früher war esin Schulungen der Sozialistischen Jugend üblich,dass der Referent die TeilnehmerInnen auf dieeinschlägige Literatur aufmerksam macht. Oftwurden auch Bücher und Broschüren verteilt.Wir müssen einen anderen Weg gehen: Der Refe-

„Der Hitlerkrieg hat auch einen ideellen Trümmerhaufenhinterlassen. Viele unserer jungen FunktionärInnen sind nochvor zwei Jahren bei der Naziwehrmacht oder in derHitlerjugend gewesen.“

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Wie diese Schrift entstand

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rent weist zwar auf die einschlägige Literaturhin, verfertigt aber über jeden Vortrag ein Skrip-tum.Wir wollen diese Skripten, die zunächst dieHörerInnen der SJ-Akademie bekommen, sam-meln. Daraus sollen die „Lehrbriefe der Akade-mie“ entstehen, die späteren Jahrgängen, wiewir hoffen, auch gedruckt zur Verfügung stehenwerden.“

Der Schreiber dieser Zeilen, der die Lei-tung der SJ-Akademie übernommen hatteund die Einführungsvorträge über die Grund-begriffe des Sozialismus hielt, verwirklichtediesen Vorschlag Peter Strassers: Nach jedemVortrag erhielten die TeilnehmerInnen einhektographiertes Skriptum. Die Skripten

wurden überarbeitet, gesammelt und fürden Druck vorbereitet.

Übrigens wurden an die TeilnehmerInnender SJ-Akadimie, viele von ihnen sind heuteals sozialistische FunktionärInnen tätig,große Anforderungen gestellt: Die Kurse derSJ-Akademie fanden an drei Abenden in derWoche zunächst im Keller des Parteihausesin der Löwelstraße statt.

Sie waren mit einem RednerInnenkursverbunden, der zu regelmäßigen Redeübung-en verpflichtete. Es gab auch schriftliche Ar-beiten über die behandelten Themen. Sohatten die TeilnehmerInnen, um ein Beispielanzuführen, in einem Aufsatz die Frage zubeantworten: „Welches sind die Eigenarten desutopischen Sozialismus und was haben uns dieLehren der großen Utopisten heute zu sagen?“

Im Herbst 1947 kam die erste, im Herbst1948 die zweite gedruckte Broschüre: „Lehr-briefe der SJ-Akademie“ heraus. Sie bildetenEnde der 40iger bis Mitte der 50iger Jahredie Grundlage für viele Lehrgänge der SJund der anderen sozialistischen Jugendorga-

nisationen. Seit über zehn Jahren sind sievergriffen. Die „Lehrbriefe der SJ-Akademie“tragen den Stempel ihrer Zeit. Sie sind, wiekönnte es anders sein, von der stürmischenEntwicklung überholt worden. Aber mancheswas damals geschrieben wurde, ist auchheute wert, wiederholt zu werden. Andereskann jetzt besser formuliert, überzeugenderdargestellt werden. Und es wäre töricht,leugnen zu wollen, dass auch Korrekturennotwendig geworden sind.

In Übereinstimmung mit dem Verbands-vorstand der Sozialistischen Jugend hat sichder Verfasser entschlossen, eine komprimier-te Neufassung beider Broschüren herauszu-

bringen. Den umfangreichen geschichtlich-en Teil, der sich mit der Entstehung derinternationalen und österreichischen Arbei-terInnenbewegung beschäftigt, haben wirzur Gänze weggelassen: Darüber informie-ren heute lesenswerte Bücher, die es damalsnicht gab.

Auf diese Weise ist eine neue Schrift ent-standen, die aber ihren Ursprung, die „Lehr-briefe der SJ-Akademie“ nicht verleugnet.Beim durchlesen der alten Broschürendrängt sich, zwei Jahrzehnte nach ihremErscheinen, von selbst die Frage auf: „Wares richtig, dass die Sozialistische Jugend, dienach 1945 einen materiellen und geistigenTrümmerhaufen vorfand, so großen Wert aufGrundsatzfragen des Sozialismus legte?“

Der Verfasser ist der Meinung, dass diesesHervorheben der Grundsatzfragen richtigwar und durch die seither eingetreteneEntwicklung bestätigt wurde: Ohne sozialis-tische Ideologie gibt es keine sozialistischeGesinnung und ohne sozialistische Theorie

Ohne sozialistische Ideologie gibt es keine sozialistische Gesinnung undohne sozialistische Theorie ist sozialistische Praxis nicht möglich.

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ist sozialistische Praxis nicht möglich. Jenen,die diesen Standpunkt vertreten und dahermit den Tendenzen des Praktizismus undder Entideologisierung, die es in unsererBewegung gibt, in Konflikt geraten, wird oftentgegnet: „Ihr seid altmodische MarxistInnen,die das Neue nicht erkennen, die nicht begreifen,dass die Welt von heute anders aussieht als zuMarxens Zeit.“

Grundsatztreuen SozialistInnen sollte esnicht schwer fallen, darauf zu antworten:Weil wir MarxistInnen sind, ist uns jede dog-matische Enge fremd.Wir sehen die einge-tretenen Wandlungen und sind bemüht, siemit Hilfe der marxistischen Untersuchungs-methode zu analysieren. Das gilt besonders

für die Veränderungen, die innerhalb deskapitalistischen Gesellschaftssystems vorsich gegangen sind. Ein moderner, elasti-scher, auch zu gewissen Konzessionen andie arbeitenden Menschen bereiter Kapital-ismus ist mit der Gefahr verbunden, dasssich die ArbeiterInnenklasse mit ihm abfin-det, sich darauf beschränkt, in seinen Gren-zen Verbesserungen anzustreben.

Wer könnte leugnen, dass es diesen Hangzum Arrangement mit der bestehenden Ge-sellschaft auch in unseren eigenen Reihengibt? Aber dieses Arrangement führt zurPreisgabe der sozialistischen Zielsetzung!Die SozialistInnen hören dann auf, eineBewegung zu sein, die die Welt verändernwill. Sie werden zu einer Partei unterParteien, zu einem Bestandteil des beste-henden Gesellschaftssystems.

Die seit Marx eingetretenen Veränderungendes Kapitalismus unterstreichen daher nachMeinung des Verfassers die Notwendigkeit,die Grundsätze des Sozialismus, die auchmit einem modernen Kapitalismus unver-einbar sind, klar herauszuarbeiten. Noch niewar sozialistische Grundsatztreue sonotwendig wie in der Zeit, in der wir leben!

Vor allem gilt es, eines klarzustellen: Wirsind nicht SozialistInnen, weil wir höhereLöhne, kürzere Arbeitszeit, mehr Wohn-ungen und soziale Sicherheit wollen. All dasist ungemein wichtig – aber es unterscheidetuns nicht prinzipiell von den anderen.Sozialismus bedeutet eine radikale, an dieWurzeln reichende Veränderung in den

Beziehungen zwischen den Menschen: eineklassenlose Gesellschaft frei von Ausbeu-tung, Entfremdung und Manipulation. UndSozialismus bedeutet – das kann nicht oftgenug gesagt werden – mehr Demokratie,mehr Freiheit, mehr Mitbestimmung als derliberalste Kapitalismus zu gewähren vermag.

Möge diese Schrift dazu beitragen, ausjungen Menschen, die sich als SozialistInnenfühlen, bewusste KämpferInnen für dieklassenlose, sozialistische Gesellschaft zumachen.

Josef Hindels,Wien im Herbst 1969

Sozialismus bedeutet eine radikale, an die Wurzeln reichendeVeränderung in den Beziehungen zwischen den Menschen:eine klassenlose Gesellschaft frei von Ausbeutung,Entfremdung und Manipulation.

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14Der erste Pfeil ist gegen den Kapitalismusgerichtet. 3 Spitzen, 2 Halbkreise, 3 lange unddrei kurze Schäfte, Viele kleine und grössereStifte Vorläufer des wissenschaftlichenSozialismus.

2.

Der utopische Sozialismus

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Das Wort Sozialismus ist aus dem Sprach-schatz der Menschheit nicht wegzudenken.Aber kann sich auch jeder/jede, der/die eshört, liest oder selbst verwendet, darunteretwas Konkretes vorstellen? Und seien wirehrlich: Gibt es nicht auch SozialistInnen,die verlegen werden, wenn ihnen die Fragegestellt wird: Was ist Sozialismus?

Wer im Lexikon nachschaut, wird erfah-ren, dass dieses Wort aus dem Lateinischenkommt, von socius, dem Genossen, und da-mit eine brüderliche Gesellschaft gemeint ist.Um aber wirklich zu begreifen, was Sozialis-mus ist, müssen wir uns mit der Geschichteder sozialistischen Idee beschäftigen. Das isteine aufregende, an dramatischen Ereigniss-en reiche Geschichte, die vor allem jungeMenschen fasziniert:

Es ist die Geschichte von DenkerInnenund KämpferInnen, die eine neue, bessereWelt bauen wollten und die den Mut hatten,gegen den Strom zu schwimmen. Oder mo-dern ausgedrückt: Es ist die Geschichteder Protestierenden und Revoltieren-den, die der Welt der Etablierten, derSatten und Saturierten Widerstandgeleistet haben.

Seit wann gibt es die Idee des Sozialis-mus? Wie ist sie entstanden und welcheWandlungen hat sie durchgemacht?Wodurch unterscheidet sich der moderneSozialismus von seinen Vorläufern?

Darüber gibt es eine umfangreiche Lite-ratur, die hier aus Raumgründen nichtzitiert werden kann. Wir müssen uns damitbegnügen, eine flüchtige Skizze zu entwer-fen, die den jungen SozialistInnen nichtbefriedigen, sondern zu weiterem Studiumanregen soll. Die Frage nach dem Alter derSozialistischen Idee lässt sich nicht mit einerJahreszahl beantworten. Diese Idee gibt esseit Jahrtausenden. Sie ist so alt, wie Un-recht und Unterdrückung, wie Ausbeutung

und Elend. Aber wie kann, wird mancheRfragen, eine uralte Idee junge, moderneMenschen begeistern? Das hängt mit ihrenunaufhörlichen Wandlungen zusammen:Jede Geschichtsperiode hatte ihren eigenenSozialismus, der gegen das Alte, gegen dasBestehende Sturm lief. Daher ist die Ideedes Sozialismus jung geblieben. Jungseinbedeutet doch: nicht stehen bleiben, sondernständig in Bewegung sein. Und in diesemSinne gehört der Sozialismus, obwohl es ihnbereits vor unserer Zeitrechnung gab, zu denjungen Ideen. Er ist seinem Wesen nach un-dogmatisch. Das bedeutet: Es gibt für ihnkeine ewigen Glaubenssätze, sondern ermacht eine nie zum Stillstand kommendeschöpferische Entwicklung durch, er korri-giert unaufhörlich sich selbst und lernt ausden eigenen Irrtümern.

Freilich gibt es etwas, das allen Sozialis-men gemeinsam ist, das sie miteinander ver-bindet: das ist die Überzeugung, dass einegerechte, menschenwürdige Gesellschafts-ordnung möglich ist. Wie dieses Ziel erreichtwerden kann und wie diese gerechte, men-schenwürdige Gesellschaft im einzelnen aus-sehen soll – darüber gab und gibt esverschiedene Meinungen.

Grob skizziert unterscheiden wir zwi-schen dem utopischen und dem wissen-schaftlichen Sozialismus. Der erste ent-wickelte sich unter Gesellschaftsverhält-nissen, die für den Sozialismus noch nichtreif waren, während der zweite in jener Zeitentstand, als die Voraussetzungen für einesozialistische Gesellschaft bereits gegebenwaren. Um welche Voraussetzungen es sichdabei handelte – darüber wird noch viel zusagen sein. Die antike Gesellschaft beruhteauf der Arbeit von SklaveInnenmassen. Sieerwies sich als unfähig, die Produktivkräfteweiterzuentwickeln, neue technische Metho-den hervorzubringen. Sklaverei bedeutet,dass schlecht und unrationell gearbeitet

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Der utopische Sozialismus

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wird. Der Sklave oder die Sklavin kann wohlmit der Peitsche dazu gezwungen werden,schwere Lasten zu schleppen, riesige Bau-werke zu errichten und seinen Herren oderseiner Herrin wie ein gut dressiertes Haus-tier zu dienen.

Aber es ist aus psychologischen Gründenunmöglich, aus den SklavInnen qualifizierteArbeiterInnen zu machen, und sie an derguten Behandlung und Verbesserung derProduktionsmittel zu interessieren.

Die antike Gesellschaft, deren herrschen-de Klasse die produktive Arbeit verachtete,war daher zum Untergang verurteilt. Aber inden Jahrhunderten ihres Bestandes brachtesie große DenkerInnen und lebendige gesell-schaftliche Bewegungen hervor, die unver-kennbar sozialistische Züge trugen. Wennsich auch dieser antike Sozialismus grund-legend vom modernen Sozialismus unter-scheidet, sollte dennoch seine ideengeschich-tliche Bedeutung nicht unterschätzt werden:haben doch Jahrhunderte später die sozial-kritischen DenkerInnen des Mittelalters undder beginnenden Neuzeit aus diesen Quellendes antiken Sozialismus zu schöpfen be-gonnen. Und ist doch bis zum heutigen Tagdas Wirken der urchristlichen Gemeindenaus der Geistesgeschichte des Sozialismusnicht wegzudenken. In der verfallenen römi-schen Gesellschaft war die Sehnsucht nacheinem sozialen Ausweg, wie immer in Kri-senzeiten, unbändig stark. Für das damalsentstehende Christentum war die maßge-bende Klasse, deren Wünsche, Bedürfnisseund Hoffnungen es zum Ausdruck brachte,das städtische Proletariat, das große Not litt,aber zum Teil der Arbeit entwöhnt war, dieals Sache der SklavInnen betrachtet wurde.

Das Produzieren erschien diesen römi-schen ProletarierInnen (ProletarierIn bedeu-tet hier nicht IndustriearbeiterIn, sondernarmer, besitzloser Mensch) als eine ziemlichgleichgültige Angelegenheit.

Ihr Vorbild waren die Lilien auf dem Felde,die nicht säen und nicht spinnen und dochgedeihen. Wenn diese ProletarierInnen eineandere Verteilung des Eigentums anstrebtenso hatten sie nicht die Produktionsmittel imAuge, sondern die Genussmittel. Ihr Idealwar ein Sozialismus des Teilens, des Konsu-mierens.

Der jüdische Historiker Josephus beschreibtin seinem Werk „Geschichte des jüdischenKrieges“ sehr anschaulich jene sozialrevoluti-onäre, primitiv-sozialistische Bewegung, ausder das Christentum hervorgehen sollte. Dalesen wir über den Bund der Essener: „DenReichtum halten sie für nichts, hingegen rühmensie sehr die Gemeinschaft der Güter, und manfindet keinen unter ihnen, der reicher wäre alsder andere. Sie haben das Gesetz, dass alle, diein ihren Orden eintreten wollen, ihre Güter zumgemeinsamen Gebrauch darreichen müssen,daher man bei ihnen weder Mangel noch Über-fluss merkt, sondern sie haben alles gemein wieBrüder …

Sie wohnen nicht in einer Stadt zusammen,sondern haben in allen Städten ihre besonderenHäuser und wenn Leute, die ihres Ordens sind,anderswo zu ihnen kommen, teilen sie mit den-selben ihren Besitz, und diese können ihn wieihr eigenes Gut gebrauchen.Sie kehren ohneweiteres beieinander ein, auch wenn sie einandernie gesehen haben und tun, als ob sie ihr Lebenlang in vertrautem Verkehr gewesen wären.Wennsie über Land reisen, nehmen sie nichts mit sichals eine Waffe gegen die Räuber. In jeder Stadthaben sie einen Gastmeister, der den FremdenKleider und Lebensmittel austeilt …

Sie treiben keinen Handel miteinander,sondern wenn jemand einem, der Mangel hat,etwas gibt, so empfängt er hingegen wieder vonihm, was er bedarf. Und wenn er auch nichtsdafür bieten kann, so mag er doch ohne Scheuvon wem er will begehren, was er braucht.“

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Diesen Sozialismus des Teilens, der die sozi-alen Unterschiede verringert, finden wirsehr stark ausgeprägt in den ursprünglichenLehren des Christentums und – was nochwesentlicher ist – in der Praxis der erstenChristInnengemeinden.

So sagt Jesus zum reichen Jüngling:„Willst du vollkommen sein, so gehe hin, ver-kaufe was du hast und gib es den Armen.“

Und in der Apostelgeschichte wird dieerste Gemeinde zu Jerusalem folgenderma-ßen charakterisiert: „Keiner sagte von seinenGütern, dass sie seine wären, sondern es warihnen alles gemein …

Es war aber auch keiner unter Ihnen, derMängel hatte, denn jene, die da Häuser undÄcker besaßen, verkauften sie und brachten dasGeld des verkauften Gutes und legten es zu derApostel Füße; und man gab einen jeglichen, wasihm Not war.“

Wir sind uns heute darüber im Klaren,dass ein Sozialismus, der nicht das Produ-zieren, sondern das Verteilen der vorhanden-en Güter in den Mittelpunkt stellt, letztenEndes zum allgemeinen Niedergang, zumAufhören der Erzeugung führen müsste.Aber es hätte wenig Sinn, von der Warte derErkenntnisse die wir im 20. Jahrhundert ge-wonnen haben gegen die Irrtümer und Illu-sionen jener antiken SozialphilosophInnenzu polemisieren, die zu Beginn unserer Zeit-rechnung in einer zusammenbrechendenGesellschaftsordnung nach einem Auswegsuchten.

Hingegen ist es von größter geistesgesch-ichtlicher Bedeutung, den eigentumsfeind-lichen und extrem-kollektivistischen Charak-ter des Urchristentums zu erkennen. UnterBerufung auf das umfassende Geschichts-

werk J.L. Vogels über die Anfänge desChristentums finden wir eine treffendeDarstellung der urchristlichen Eigentums-verhältnisse bei Karl Kautsky: „Es war alsodie Gemeinschaft der Güter nur eine Gemein-schaft des Gebrauchs. Ein jeder Christ/eine jedeChristin hatte nach der brüderlichen Verbindungein Recht zu den Gütern aller Mitglieder derganzen Gemeinde und konnte im Fall der Notfordern, dass die begüterten Mitglieder ihm/ihrsoviel von ihrem Vermögen mitteilen, als zuseiner/ihrer Notdurft erforderlich ward. Ein jederChrist/eine jede Christin konnte sich der Güterseiner/ihrer Brüder und Schwestern bedienenund die ChristInnen, die etwas hatten, konntenihren bedürftigen Brüdern und Schwestern dieBenutzung und den Gebrauch derselben nichtversagen.

Ein Christ/eine Chistin zum Beispiel, der/diekein Haus hatte, konnte von einem anderen

Christen/einer anderen Christin, der/die zweioder drei Häuser hatte, begehren, dass er/sieihm/ihr eine Wohnung gebe.“

Ein aktueller Kommentar lässt sich dakaum unterdrücken: Wie unfassbar weit istjedoch diese Ideenwelt des Urchristenrumsvon den heute in allen so genannten christ-lichen Parteien verbreiteten Eigentumsphilo-sophien (Miteigentum, Verherrlichung desAktienerwerbes, „Volkskapitalismus“ usw.)entfernt. Und wie hat sich auch die Einstell-ung zum Kollektiv, zur Gemeinschaft, geän-dert! Das Urchristentum erwartet alles Gutevom kollektiven Zusammenwirken derMenschen. Der sich als christlich bezeich-nende Konservatismus der Gegenwart hatdie Begriffe Kollektiv und Kollektivismus zuSchimpfworten gemacht. Seine Idealgestaltist der/die bornierte, auf sein/ihr Eigentum

Der sich als christlich bezeichnende Konservatismus der Gegenwart hatdie Begriffe Kollektiv und Kollektivismus zu Schimpfworten gemacht.

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Der utopische Sozialismus

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pochende, mit seiner/ihrer Aktion prahlende,in den vier Wänden einer Eigentumswohn-ung hockende „kleine EigentümerIn“. DasMittelalter war nicht nur eine Zeit des geist-igen Verfalls der kulturellen Rückständigkeit.Es gab auch damals, vor allem in der Periodedes Überganges zur Neuzeit, gewaltige sozi-alrevolutionäre Bewegungen, die in heroisch-en BäuerInnenaufständen ihren Höhepunkterreichten.

Die sozialen Gegensätze zwischen Groß-grundbesitzerInnen und Bauern und Bäuer-innen, zwischen kirchlicher Hierarchie undstädtischem BürgerInnentum wurden inreligiösen Formen ausgetragen. Es wurdeüber die Auslegung einer Bibelstelle gestritt-en, aber in Wirklichkeit ging es um sehrreale, mit der feudalen Ausbeutung zusam-menhängende Dinge. Sozialistische Ideen,sozialistische Vorstellungen spielten auch beidiesen Auseinadersetzungen eine wesentlicheRolle. Es genügt, an den deutschen Bauern-krieg oder die Kämpfe der Hussiten zu er-innern.

In den Anfängen des Kapitalismus, als dieArbeiterInnenbewegung noch schwach undohne eigene gesellschaftliche Zielsetzungwar, entstanden vielfältige Schulen undRichtungen des so genannten utopischenSozialismus.

Nicht von ungefähr kommt das Wortutopisch aus einem Roman, in dem eineInsel Utopia (Nirgendwo) die Hauptrollespielt. Auf dieser Phantasieinsel lässt sichder Verfasser dieses Romans, der EngländerThomas Morus, die Menschen jene gesell-schaftlichen Verhältnisse verwirklichen, dieer auch in der Gegenwart herbeisehnt. Derutopische Roman war jahrzehntlang diewirksamste literarische Form der Propagan-da für ein sozialistisches Gesellschaftssystem.

Vor und nach den bürgerlichen Revoluti-onen gab es so genannte Utopisten, die Pläne

einer neuen sozialistischen Gesellschaft bisins letzte Detail entwarfen. Wir können hierdie einzelnen Systeme nicht beschreiben,sondern müssen uns darauf beschränken,jene zwei Merkmale anzuführen, die für denganzen utopischen Sozialismus bezeichnendsind, die – um nur wenige Namen zu nennen– für den Engländer Owen ebenso zutreffenwir für die Franzosen Saint Simon undFourier: Die Utopisten sind der Meinung,dass die „Einführung des Sozialismus“lediglich vom Willen der Menschen abhängt.Erkennen sie die Vorzüge des sozialistischenSystems, dann kann jederzeit – unabhängigvon der jeweils erreichten Stufe der wirt-schaftlichen Entwicklung – das Reich dersozialen Gerechtigkeit beginnen. So heißt esin der Schrift des englischen UtopistenOwen: „Die Menschheit ist bisher im Irrtumgewesen. Alle Menschen haben eine Binde vorden Augen gehabt. Ich brauche ihnen nur dieBinde von den Augen nehmen und sie werdensofort einsehen, dass die neue, moralische Welt,welche ich entdeckt habe, unvergleichlich vielschöner und besser ist als die alte, unmoralischeWelt, in der wir uns abrackern und abquälenund tausendfaches Ungemach erleiden.“

Und das andere Merkmal: die Utopistensehen in der ArbeiterInnenklasse keinegesellschaftliche Kraft, die imstande seinkönnte, den Sozialismus zu erkämpfen. IhreBeziehung zu den ArbeiterInnen ist geprägtvom Gefühl des Mitleides. Sie wollen ihnenhelfen, weil sie überzeugt sind, dass die Be-freiung der ArbeiterInnenklasse nicht dereneigenes Werk sein kann. In der Regel erhof-fen die utopischen SozialistInnen die Hilfefür die Verwirklichung ihrer Pläne von denGroßen und Mächtigen, von den weisenRepräsentantInnen der herrschenden Klasse.

Es wäre ein großer Fehler, diese beidenMerkmale des utopischen Sozialismus ausden persönlichen Unzulänglichkeiten seiner

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DenkerInnen zu erklären. Wir dürfen nichtvergessen, dass die Bedeutendsten unterdiesen DenkerInnen eine einigermaßen ent-wickelte kapitalistische Gesellschaft nichtgekannt haben. Auch die ArbeiterInnen-klasse, die es damals nur in geringer Zahlgab, war noch weit entfernt vom Charaktereines modernen Industrieproletariats. AlsKarl Marx sein großes Werk schuf, gab eszumindest in einem europäischen Land, inGroßbritannien, bereits eine kräftig entwi-ckelte Gesellschaft der kapitalistischenWarenproduktion.

„Die geschichtliche Bedeutung des Werkesvon Karl Marx“, schrieb Otto Bauer, „bestehtdarin, dass er den Sozialismus aus diesemTraumzustand (der Utopie) herausgehoben hatund den Nachweis erbrachte, dass in der Gesell-schaft durch den Kapitalismus Tendenzen wirk-sam werden, die zu seiner eigenen Überwindungführen und den Sozialismus ermöglichen.“

Dieser treffenden Darstellung Otto Bauers,des großen Theoretikers der österreichisch-en SozialistInnen, wollen wir noch eine Be-merkung über die positive Rolle der Träumeder Utopien, in der Geschichte der Mensch-heit hinzufügen: „Es gibt kaum einen großenFortschritt auf wissenschaftlichem und technisch-em Gebiet, der nicht lange bevor er Wirklichkeitwurde von Träumern, von Utopisten vorausge-sagt, oft mit unzähligen Details geschildertwurde. Die Phantasie hat schon oft eine fort-schrittliche Rolle in der Geschichte gespielt. Diekonservativen Spießbürger haben gelacht undgehöhnt, wenn davon die Rede war, dass dieMenschen fliegen, den Boden des Meeres erfor-schen, oder in die Tiefe des Erdballs eindringenwerden. Aber die Entwicklung hat nicht denkonservativen Spießbürgern, sondern den schein-bar weltfremden Utopisten und ihren Phanta-sien Recht gegeben. Heute wagen es die konser-vativen Spießbürger kaum mehr, den weiterenwissenschaftlichen und technischen Fortschritt,

zum Beispiel im Bereich der Weltraumfahrt, zubezweifeln.Wer einen Flug zu einem anderenPlaneten voraussagt, gilt nicht mehr alsverrückt.

Aber dass die Menschen auf dieser Erde eineGesellschaftsordnung verwirklichen, die denTräumen der Urchristen und utopischen Sozia-listInnen nahe kommt, eine Gemeinschaft, wo eskeine Ausbeutung, keine Unterdrückung, keineKlassen mit gegensätzlichen Interessen gibt –das wird noch immer als "unmöglich" bezeich-net, weil angeblich die menschliche Natur nichtgeändert werden kann, weil es arm und reich,oben und unten „immer“ gegeben hat und„immer“ geben muss.“

In der Auseinandersetzung mit dieserkonservativen Geisteshaltung ergibt sich dieerste Antwort auf die Frage: Warum sindwir SozialistInnen?

Wir sind SozialistInnen, weil wir nicht nurden wissenschaftlich-technischen, son-dern auch den gesellschaftlichen Fort-schritt für möglich halten: Wenn dieMenschen es fertig gebracht haben,Raketen, Raumschiffe und Computer zukonstruieren, dann sind sie auch imstan-de, eine neue Gesellschaft zu verwirklich-en, in der alle die gleichen Chancenhaben, in der es keine Klassenunterschie-de mehr gibt.

Wir sind SozialistInnen, weil uns dasArgument, dass etwas „immer“ so warund daher auch „immer“ so bleibenmuss, nicht überzeugt. SozialistIn seinbedeutet: den menschlichen Fortschrittauch im gesellschaftlichen Bereich zubejahen.

Wir sind SozialistInnen, weil wir aneine unveränderliche Natur des Men-schen nicht glauben, sondern überzeugtsind, dass menschliche Eigenschaftenweitgehend von den Umwelteinflüssen,vom sozialen Milieu abhängen.

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20Der zweite gegen den Faschismus. Verbinde zuerst dielinke Spitze mit der mittleren. Verwende dazu einen mit-telkleinen Stift. Kritik und Gegenkritik zu Marx

3.

Karl Marx ist jung geblieben

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Karl Marx wird selbst von intelligentenGegnerInnen als Riese des Geistes bezeich-net. Für die Größe seiner wissenschaftlichenLeistung spricht eine einfache, jederzeitüberprüfbare Erkenntnis: Als er und seinFreund Friedrich Engels in der Mitte des19. Jahrhunderts die Grundlagen der mo-dernen, später Marxismus genannten, sozia-listischen Theorie legten, gab es vielebedeutende, von den ZeitgenossInnen starkbeachtete DenkerInnen, die das Wesen dermenschlichen Gesellschaft zu ergründenversuchten.

Aber sie alle gehören im 20. Jahrhundertder geistesgeschichtlichen Vergangenheit an.Ihre Namen spielen nur mehr in akademi-schen Untersuchungen oder in den Vorles-ungen von UniversitätsprofessorInnen eineRolle. Nur Karl Marx – und in dem vonihm selbst gewählten respektvollen Abstand:Friedrich Engels – ist bis zum heutigen Tagjung, lebendig, aktuell geblieben.

Seine Lehren werden in den Auseinan-dersetzungen der Gegenwart, wenn auch oftvergröbert oder verfälscht wiedergegeben,häufiger zitiert als die jedes anderen Gelehr-ten/jeder anderen Gelehrten. Auch die wü-tendsten AntimarxistInnen bestätigen durchihren Antimarxismus, dass die MarxschenIdeen der Menschheit von heute sehr viel zusagen haben, dass sie weit davon entferntsind, geschichtlich überholt zu sein. Im März1933 gab die Sozialdemokratische ParteiÖsterreichs, an deren Spitze damals OttoBauer stand, ein kleines, vor allem für dieSozialistische Jugend bestimmtes Büchleinheraus:„Willst Du Marxist werden?“ Und dalesen wir über das „KommunistischeManifest“, also jene klassische Schrift vonMarx und Engels, die mit Recht als dieGeburtsurkunde des modernen Sozialismusbezeichnet wird, unter anderem:„Ihre vollen-dete Prägung finden die Gedankengänge desMarxismus zum ersten Mal im „Kommunis-

tischen Manifest“, das heute noch als die Ge-burtsurkunde des modernen Sozialismus anzu-sehen ist.Wenige Wochen vor dem Ausbruch derFebruarrevolution des Jahres 1848 erschienen,atmet es den revolutionären Geist jener Zeit,ohne deshalb – bis auf nebensächliche Einzel-heiten – lediglich zeitbedingt zu sein. Es lässtsich wohl kaum ein besseres Zeugnis für dieGenialität von Marx und Engels denken, als dieTatsache, dass ihr gemeinsamer Aufruf an die„Proletarier aller Länder“ heute noch, nach dreiVierteljahrhunderten, für jeden, der sich ernst-lich mit den Problemen des Marxismus befassenwill, die unentbehrliche Grundlage bildet.“

Vergleichen wir die Zeit von 1933 mit dervon 1848: Wie vieles hat sich in den da-zwischen liegenden Jahrzehnten auf techni-schem, ökologischem, soziologischem undnicht zuletzt auch politischem Gebiet geän-dert! Marx hat weder den gewaltigen Auf-stieg der ArbeiterInnenbewegung miterlebt,noch war ihm die Erscheinung des Faschis-mus je begegnet. Er war auch nie in die Lagegekommen, die russische Oktoberrevolutionund die aus ihr hervorgegangene Sowjet-gesellschaft zu analysieren, weil es das allesim 19. Jahrhundert nicht gab. Dennoch wardie Sozialdemokratische Partei Österreichs(die Vorgängerin der SPÖ) 1933 der Mei-nung, dass das „Kommunistische Manifest“keineswegs einer vergangenen Zeit angehört,sondern auch im 20. Jahrhundert die unent-behrliche Grundlage des WissenschaftlichenSozialismus bildet.

Dieses Festhalten an den klassischen Schrif-ten von Marx und Engels hat absolut nichtsmit Traditionskult oder Dogmatismus (An-beten von Glaubenssätzen) zu tun, sondernes entspricht der in sachlicher Untersuch-ung gewonnenen Erkenntnis: Auch die seitMarx eingetretenen Wandlungen dermenschlichen Gesellschaft sind mit

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Hilfe der von ihm entwickelten Methodezu erforschen, um sie in das Weltbilddes modernen Sozialismus einfügen zukönnen.

Nicht wenige bürgerliche HistorikerInn-en, NationalökonomInnen und Soziolog-Innen geben in ihren wissenschaftlichenAbhandlungen, die freilich nicht für das„gewöhnliche“ Volk bestimmt sind, nachden üblichen Wenn und Aber zu, dass derBeitrag von Marx aus dem Geistesleben deszwanzigsten Jahrhunderts nicht wegzudenk-en ist.

Die Behauptung, alles was Marx gelehrthabe, sei typisch für das 19. Jahrhundert,wird nur in den Konfektionsläden des vul-gären Antimarxismus an anspruchsloseKundInnen abgegeben. Keine bedeutendenWissenschafterInnen nehmen das ernst.

Nicht von ungefähr hat der nichtmarxist-ische englische Philosoph und MathematikerBertrand Russell – bekannt nicht nur durchseine wissenschaftlichen Leistungen, son-dern auch durch seinen mutigen Kampfgegen den Atomtod – über die MarxscheAuffassung der Geschichte gesagt: „Ich fürmeinen Teil vermag diese These in dieser Formnicht anzunehmen, glaube aber, dass sie sehrbedeutende Wahrheitselemente enthält, und binmir bewusst, dass sie meine eigenen Ansichtenbeeinflusst hat.“

Was der ehrliche Bertrand Russell hieroffen zugibt, gilt seit der Veröffentlichungder Marxschen Schriften für alle großenGeister, gleichgültig, in welchem weltan-schaulichen Lager sie stehen: KeineR konntesich der Titanenkraft eines Karl Marx ent-ziehen. Alle wurden von Marxschen Ideendirekt oder indirekt beeinflusst.

Ohne uns einer Übertreibung schuldig zumachen, können wir sagen: Marx ist junggeblieben, weil die Wahrheit nicht altert.Unter dieser Wahrheit ist freilich nicht derBuchstabe, nicht das Zitat, nicht die zeit-

und lokalbedingte Einzelheit zu verstehen,sondern das Kernstück des MarxschenLehrgebäudes: die materialistischeGeschichtsauffassung.

In das Wesen dieser Theorie einzudringen– das ist die Hauptaufgabe jeder echtenmarxistischen Schulung. Darin unterscheid-et sie sich von der Zitatlitanei „marxisti-scher“ Kerzelweiber, die an Marx „glauben“wie ein gläubiger Katholik an die Dogmenseiner Kirche. Aber der Marxismus ist wederReligion noch Religionsersatz, sondern einewissenschaftliche Lehre von den Bewegungs-gesetzen der Gesellschaft. Ein guter Marxistund eine gute Marxistin zeichnet sich nichtdadurch aus, dass er oder sie ehrfürchtigwiederholt, was Marx und Engels einstgeschrieben haben, sondern er oder sieerprobt seine oder ihre eigenen Fähigkeiten,indem er oder sie die Marxsche Methode inder Gegenwart schöpferisch anwendet, umall das zu erkennen, was es zur Zeit derAltmeister des wissenschaftlichen Sozialis-mus noch nicht gegeben hat (Diese Fest-stellung darf freilich nicht missverstandenwerden: Wörtliche Wiedergaben aus denWerken von Marx und Engels sind bei derDarstellung ihrer Lehren unvermeidlich.)

Bevor wir uns mit der materialistischenGeschichtsauffassung auseinandersetzen,müssen wir ein Missverständnis beseitigen,müssen wir ein Vorurteil widerlegen. Man/-frau versteht im gewöhnlichen Sprachge-brauch unter „MaterialistInnen“ Menschen,die nur an ihre materiellen Vorteile denken,also unsympathische, egoistische Personen.Unter „IdealistInnen“ versteht man/frauindessen edle Wesen, die für hohe Idealekämpfen und bereit sind, dafür die größtenOpfer zu bringen.

Man/frau mag darüber streiten, ob dieseBezeichnungen zutreffend sind oder nicht.Auf jeden Fall hat diese landläufige Vor-stellung von Materialismus und Idealismus

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nichts mit der materialistischen und ideal-istischen Strömung in der Philosophie undder Geschichtswissenschaft zu tun. Wennjemand auf dem Boden der materialistisch-en Geschichtsauffassung steht, so bedeutetdas nicht, dass er oder sie ein auf seine oderihre materiellen Vorteile bedachter Menschist. Und umgekehrt braucht ein Anhängeroder eine Anhängerin der idealistischenPhilosophie nicht ein edles, opferbereitesGeschöpf zu sein.

Während die Begriffe IdealistIn undMaterialistIn in der Umgangssprache mora-lische Werturteile bedeuten, bedeuten in derWissenschaft die gleichen Begriffe etwasganz anderes: Da versteht man/frau darunterdie AnhängerInnen verschiedener philoso-phischer Richtungen, verschiedener Natur-und Geschichtsauffassungen. Um jedesMissverständnis auszuschalten, wollen wirein Bespiel anführen: Die Nazis waren, so-weit sie sich überhaupt mit geistigen Dingenbeschäftigten, fanatische GegnerInnen dermaterialistischen Geschichtsauffassung. Siebekannten sich zu einer verkrampften idea-listischen Philosophie des Herrenmenschen-tums. Sie waren also „IdealistInnen“.

Die revolutionären SozialistInnen, dieunter Einsatz ihres Lebens den illegalenKampf gegen den Faschismus führten, be-kannten sich als MarxistInnen zur materia-listischen Geschichtsauffassung. Sie warenalso „MaterialistInnen“. Niemand wird aberbehaupten wollen, dass die Nazis uneigen-nützige, nur ihren Idealen lebendenMenschen, und die illegalen KämpferInnenschnöde EgoistInnen waren.Wir sehen: Die Begriffe Materialismus undIdealismus haben, wenn wir sie wissen-schaftlich anwenden, nichts mit moralischenWerturteilen zu tun.

Jede/jeder von uns hat in der Schule Ge-schichte gelernt. Er/sie hörte von fernen

Zeiten, in denen es Krieg und Frieden, guteund schlechte HerrscherInnen, mächtigeReiche, die entstanden und wieder zerfielen,gab. Wenn wir ein beliebiges Geschichtsbuchzur Hand nehmen und von den Kriegenund BürgerInnenkriegen des Altertums, vonden Religionskämpfen des Mittelalters, vonden Revolutionen und Gegenrevolutionender Neuzeit lesen, drängt sich unwillkürlichdie Frage auf: Welcher Sinn steckt in diesemgeschichtlichen Geschehen? Warum nimmtder historische Prozess diesen und keinenanderen Verlauf? Warum kam es in Frank-reich im achtzehnten Jahrhundert zu einergroßen Revolution, während zur gleichenZeit in Deutschland von einer revolutionärenBewegung noch nichts zu merken war?Regiert in der Geschichte die göttliche Vor-sehung, der Zufall, oder gibt es geschich-tliche Grenzen, die man/frau kennen mussum das historische Geschehen zu begreifen?

Die wirkliche Geschichte der Menschheit istviel älter als die uns bekannte, das heißt: alsdie geschriebene Geschichte. Am Anfangder menschlichen Entwicklung stand nichtdie Erfindung der Schrift. Die Menschenhaben erst vieles andere gelernt, bevor sie soweit waren, schreiben zu können. DasNiederschreiben von Worten war anfangsmit so kolossalen Schwierigkeiten verbun-den, dass nur kurze Mitteilungen möglichwaren. Auch in dieser Zeit konnten die ge-schichtlichen Ereignisse nicht schriftlichfestgelegt, nicht als Dokumente der Nach-welt erhalten werden.

Trotzdem hatten auch damals die Men-schen das Bedürfnis, zu wissen wie ihreAhnen gelebt und gekämpft hatten. Statt derGeschichtsschreibung gab es die mündlicheÜberlieferung. In HeldInnenliedern, inSagen und Erzählungen wurde die Geschich-te der VorfahrInnen berichtet. Freilichspielte die Phantasie der SängerInnen und

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ErzählerInnen dabei eine große Rolle. Meis-tens überwucherte die Legende diegeschichtliche Wahrheit.

Erst nachdem die Schrift soweit entwick-elt war, dass die Menschen auch längerezusammenhängende Berichte niederschrei-ben konnten, wurde die Geschichtsschreib-ung möglich. In den Werken des wissen-schaftlichen Sozialismus finden wir denSatz: „Die geschriebene Geschichte war eineGeschichte von Klassenkämpfen.“

Wenn wir die Entstehung der Klassenund des Staates untersuchen, werden wirsehen, dass es in der Geschichte der Men-schheit eine Epoche gab, die keine Klassen,keinen Staat und keine Familie kannte, dieso genannte Epoche des Urkommunismus.Damals konnte es auch keinen Klassen-kampf geben.

Die Geschichte dieser Kindheitsperiodeder Menschheit ist nicht geschrieben wor-den, da es damals die Schrift noch nicht gab.Das Entstehen der Schrift fällt ungefährzusammen mit der Bildung von Klassen, mitder Gründung von Staaten. Erst von dieserZeit an gibt es eine Geschichtsschreibung.

Die Tatsache, dass die Menschen nach derErfindung der Schrift imstande waren, dieBegebenheiten ihrer Zeit dokumentarischfestzuhalten, beweist noch nicht, dass dievon ihnen gelieferten Berichte auch richtigsind.

Besteht nicht die Gefahr, dass die Geschi-chtsschreibung vorwiegend aus Lügenbesteht? Und wenn dem so ist, hat es dannüberhaupt einen Zweck, nach dem Sinn derGeschichte zu forschen, ihre Gesetze auf-decken zu wollen? Ohne Zweifel enthält dieGeschichtsschreibung sehr viele Unwahr-

heiten, die geschrieben wurden, weil sie imInteresse der herrschenden Klasse lagen.Jahrhundertelang waren die Schriftkundigennur Angehörige der herrschenden Klassenund privilegierte Schichten. Das Volk konntenicht schreiben, meistens nicht einmal lesen.Zu gewissen Zeiten wurde die Geschichte,wurden alle gelehrten Werke in einer Spracheverfasst, die das Volk nicht einmal sprechenkonnte.Aber auch heute, wo in den entwickeltenLändern der Analphabetismus längst über-wunden ist, wird die Geschichte nicht vonMännern und Frauen des Volkes, sondernvon Intellektuellen geschrieben, die in ihrerüberwiegenden Mehrheit der herrschendenKlasse dienen. Es ist deshalb klar, dass dieGeschichtsschreibung im Interesse der Aus-beuterInnenklassen tendenziös gefärbt ist.

Aber deshalb ist es den MarxistInnendoch möglich, Geschichtswissenschaft zubetreiben, nach dem Sinn der Geschichte zuforschen. Die in der Geschichtsschreibungenthaltenen Lügen beziehen sich nämlichnur zu einem geringen Teil auf die tatsäch-lichen Ereignisse, meistens sind es dieKommentare, die verlogen sind. Wenn zumBeispiel berichtet wird, dass die Bauern undBäuerinnen sich gegen die Grundbesitzer-Innen erhoben, dass sie diese oder jeneForderungen stellten, dass sie schließlichbesiegt und ihre FührerInnen hingerichtetwurden, so ist dieser Bericht im Allgemeinenrichtig.Wenn die HistorikerInnen, die imDienste der GutsbesitzerInnen standen, inihren Kommentaren die Bauern und Bäuer-innen beschimpft und die Herrschaft derAdeligen verherrlicht, so braucht uns dasweiter nicht zu stören. Nicht nur bei derLektüre der bürgerlichen Presse, sondern

„Die geschriebene Geschichte war eine Geschichte von Klassenkämpfen.“

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auch beim Studium der Geschichtsschreib-ung ist es notwendig, zwischen den Zeilenzu lesen, das geschichtlich Wichtige von demideologischen Beiwerk zu scheiden.

Geschichtsschreibung und Geschichtsauf-fassung sind verschiedene Dinge. Die Auf-gabe der Geschichtsschreibung bestehtdarin, über die geschichtlichen Ereignisse zuberichten, sie zu ordnen und in ein bestim-mtes System zu bringen. Geschichtsauffass-ung bedeutet die Vorstellung, die man/frausich von der Art des Zusammenhanges undder Gesetzmäßigkeit der geschichtlichenEreignisse macht. Es hat nicht immer eineGeschichtsauffassung gegeben. Auch nach-dem es bereits eine geschriebene Geschichtegab, haben die Menschen lange Zeit in ihrereigenen Geschichte bloß ein buntes Gewirrvon Zufällen aller Art, von Gewalttaten,Glücks– und Unglücksfällen gesehen. Es warein großer geistiger Fortschritt, als die Men-schen dazu übergingen, sich eine bestimmteAuffassung von der Geschichte zu bilden,sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wel-ches die treibenden Kräfte der Geschichtesind.

Wir können nicht alle Geschichtsauffassun-gen, die es gab und gibt, anführen. Begnü-gen wir uns mit den drei bedeutendsten:der religiösen, der idealistischen undder materialistischen. Die Anhänger-Innen der religiösen Geschichtsauffassunggehen davon aus, dass die Geschichte vonGott gelenkt wird. Den historischen Ge-schehen, die den Menschen oft sinnlos,grausam und ungerecht erscheinen – liegtein göttlicher Plan zugrunde. Ereignisse,unter denen die Menschen leiden, werdenals Prüfungen, Ereignisse, die sie glücklichmachen als Segnungen des Himmels be-zeichnet. Nach dieser Auffassung gibt eswohl in der Geschichte eine Gesetzmäßig-

keit, aber diese ist nicht menschlicher,sondern göttlicher Natur. Am häufigstenwar die religiöse Geschichtsauffassung imMittelalter verbreitet. In dem Maße, in demsich die Wissenschaft entfaltete, wurde diereligiöse Betrachtung der Geschichteverdrängt. Die Menschheit gelangte all-mählich zur Erkenntnis, dass nicht Götter,sondern Menschen die Geschichte machen.

An Stelle der religiösen trat die idealis-tische Geschichtsauffassung. Diese geht da-von aus, dass es die Ideen der Menschensind, die ihre Geschichte gestalten. Diemenschlichen Vorstellungen von dem, waswahr, gut und moralisch ist, lenken dieGeschichte, bestimmen die Richtung deshistorischen Prozesses.

Nehmen wir ein Bespiel, das uns dasWesen der idealistischen Geschichtsauffass-ung näher bringen, das uns ihre Unzuläng-lichkeit zeigen wird: Unter dem Naziregimesind in den von Deutschland besetztenLändern und in den KZs entsetzliche Gräuelverübt worden. Millionen Menschen wurdengequält, gefoltert, ermordet. Wie war dasmöglich, wie konnte so etwas im zwanzigstenJahrhundert geschehen?

Nach der idealistischen Geschichtsauf-fassung ist die Ursache dieser Erscheinungin den schlechten Ideen, in den unmora-lischen Vorstellungen zu suchen, welche dieMenschen unter dem Nazismus hatten. DieIdee des Nationalsozialismus war verbre-cherisch – deshalb bestand auch seine Praxisaus einer Kette furchtbarer Verbrechen.Diese Auffassung ist teilweise richtig, aberdrückt nur die halbe Wahrheit aus. Freilichstimmt es, dass die Nazis von schlechtenIdeen, von verbrecherischen Vorstellungenbesessen waren. Aber woher kamen dieseIdeen? Wer hat sie in die Köpfe der Nazisverpflanzt?Darauf vermag nur die materialistischeGeschichtsauffassung zu antworten.

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26Und der dritte gegen die Reaktion. Verbinde nun die zweiSpitzen mit der rechten Spitze. Verwende dazu ebenfallseinen mittelgrossen Stift.

4.

Die Materialistische Geschichtsauffassung

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Die erste und populärste Darstellung dermaterialistischen Geschichtsauffassungfinden wir in der Schrift „Die Deutsche Ideo-logie“ von Marx, die lange verschollen warund erste 1932 einer breiteren Öffentlichkeitbekannt wurde. Wer in das Denken der Be-gründer des wissenschaftlichen Sozialismuseindringen, wer selbst beobachten will, wiesie aus idealistischen Philosophen zu Marx-istInnen wurden, kann auf das sorgfältigeStudium dieser kostbaren Frühschrift nichtverzichten.

Hier wollen wir uns mit der Wiedergabeeiner mit Recht häufig zitierten Stelle ausdem Buch „Zur Kritik der politischen Ökono-mie“ von Karl Marx begnügen:„In der gesell-schaftlichen Produktion ihres Lebens gehen dieMenschen bestimmte, notwendige, von ihremWillen unabhängige Verhältnisse ein, Produkt-ionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwick-lungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfteentsprechen.

Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnissebildet die ökonomische Struktur der Gesell-schaft, die reale Basis, worauf sich ein juristi-scher und politischer Überbau erhebt undwelcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseins-formen entsprechen. Die Produktionsweise desmateriellen Lebens bedingt den sozialen, politi-schen und geistigen Lebensprozess überhaupt.

Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen,das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaft-liches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklunggeraten die materiellen Produktivkräfte der

Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhan-denen Produktionsverhältnissen oder, was nurein juristischer Ausdruck dafür ist, mit denEigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sichbisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformender Produktivkräfte schlagen diese Verhältnissein Fesseln derselben um. Es tritt dann eineEpoche sozialer Revolution ein.

Mit der Veränderung der ökonomischenGrundlage wälzt sich der ganze ungeheureÜberbau langsamer oder rascher um. In derBetrachtung solcher Umwälzungen muss man

stets unterscheiden zwischen der materiellen,naturwissenschaftlich treu zu konstatierendenUmwälzung in den ökonomischen Produktions-bedingungen und den juristischen, politischen,religiösen, künstlerischen, philosophischen, kurzideologischen Formen, worin sich die Menschendieses Konfliktes bewusst werden und ihnausfechten.

Sowenig man/frau das, was ein Individuumist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt,ebenso wenig kann man/frau eine solche Um-wälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beur-teilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstseinaus den Widersprüchen des materiellen Lebens,aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesell-schaftlichen Produktivkräften und Produktions-verhältnissen erklären.“

Machen wir uns bewusst, was der wesent-liche Inhalt der Marxschen Geschichtsbe-trachtung ist: Da ist zunächst der Satz „Esist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihrSein, sondern, umgekehrt, ihr gesellschaftlichesSein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein,sondern, umgekehrt, ihr gesellschaftliches Sein, das ihrBewusstsein bestimmt.“

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Nehmen wir ein Beispiel aus der Gegenwart:Da veröffentlichte eine angesehene bürger-liche Zeitschrift den Bericht eines Mitarbei-ters über eine Begegnung zwischen west-europäischen und asiatischen Intellektuellen.Es heißt in dem Bericht unter anderem:„… Und täuschen wir uns nicht: Es waren zweiWelten, die hier in kultivierter, höflicher Formmiteinander sprachen. Auch das gemeinsameBand der Bildung konnte daran nichts ändern,nicht einmal die Übereinstimmung in der beruf-lichen Sphäre. Ein Arzt, der aus einem Landkommt, wo die Menschen im Durchschnitt mitdreißig Jahren sterben – viele ohne eigenesZimmer, ohne eigenes Bett, irgendwo im Rinnsal–, denkt, fühlt und urteilt anders als ein Arztaus einem jener wohlhabenden Länder, wo derKampf gegen Fettleibigkeit, Managerkrankheitund Altersneurosen zu den wichtigsten medizi-nischen Aufgaben gehört … Man spricht ver-schiedene Sprachen, denkt in unterschiedlichenKategorien, selbst wenn keine sachlichenMeinungsverschiedenheiten vorliegen.“

Der Verfasser dieses Berichts würde sichbestimmt gegen den „Vorwurf“ Marxist zusein zur Wehr setzen. Und die Zeitschrift,die gewissen amerikanischen Stellen nahesteht, müsste einen solchen „Verdacht“energisch zurückweisen. Indessen steht fest,dass jede Zeile die Richtigkeit einer derwesentlichsten Erkenntnisse der materialis-tischen Geschichtsauffassung bestätigt: Dasgesellschaftliche Sein der unterentwickelten,Not leidenden asiatischen Länder hat beiden dort lebenden Intellektuellen einanderes Bewusstsein entstehen lassen als beiihren KollegInnen aus wohlhabenden, hoch-industrialisierten Gebieten. Es fiele unsnicht schwer, weitere Beispiele, auch solchemit unverdächtigen bürgerlichen ZeugInnen,anzuführen.Marx knüpfte an die Philosophie Hegels(einer der bedeutendsten Vertreter der

Idealistischen Philosophie des aufsteigendenBürgerInnentums) an und übernahm vondiesem die dialektische Methode. Es ist hiernicht der Raum, um diese Methode, derenAnfänge bereits bei den Philosophen desantiken Griechenland zu finden sind, er-schöpfend zu erklären. Wir müssen uns miteinem flüchtigen Hinweis begnügen: DieMarxsche Dialektik geht davon aus, dassscheinbar selbständige Erscheinungen (zumBeispiel ökonomische Verhältnisse undReligion oder wirtschaftspolitische Inter-essen und nationale Ideologie) in Wirklich-keit voneinander abhängen und miteinanderverbunden sind. Aufgabe des dialektischenDenkens ist es, diese verschleierten Zusam-menhänge aufzudecken.

Die Entwicklung in Natur und Gesell-schaft vollzieht sich nicht geradlinig, sondernin Widersprüchen. Diese Widersprüche auf-zuspüren, ihren realen Inhalt zu erkennen –das ist der Zweck der dialektischen, jedeErscheinung in ihrer Bewegung betrachten-den Denkmethode.

Während bei Hegel die Widersprüchebloß geistige, bloß gedachte Widersprüchesind, erblickt Marx in ihnen die Widerspie-gelung der materiellen Wirklichkeit, alsoechte, wirklich vorhandene Widersprüche.

MancheR wird diese Darstellung „zu theo-retisch“ finden und darauf hinweisen, erhabe nicht Philosophie studiert. Beeilen wiruns daher am Beispiel des Klassenkampfeszu zeigen, zu welcher Entdeckung diematerialistische Geschichtsauffassunggekommen ist, und welche Rolle dieseEntdeckung im historischen Geschehenspielt.

Die Lehre vom Klassenkampf bildetdas Fundament des marxistischenDenkens der modernen ArbeiterInnen-bewegung.

Die materialistische Geschichtsauffassung

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Der Kreis zeigt die Einigkeit der ArbeiterInnenbewegung.Verbinde den linken und den mittleren, langen Schaft.Verwende dazu einen mittelgrossen Stift. Klassenkampfkontra Sozialpartnerschaft.

5. 29

Die Rolle des Klassenkampfes

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Marx hat nachgewiesen, dass gesellschaft-liche Widersprüche, Konflikte zwischen denProduktivkräften und den Eigentumsver-hältnissen, in der bisherigen Geschichte derMenschheit – abgesehen von der urkommu-nistischen Kindheitsperiode – eine über-ragende Rolle spielen. In diesen Konfliktenkommen die Interessen gegensätzlicherKlassen – SklavInnen und Sklavenhalter-Innen, feudale GroßgrundbesitzerInnen undabhängige Bauern und Bäuerinnen, Kapital-istInnen und LohnarbeiterInnen – inkämpferischen Handlungen zum Ausdruck.

Es ist die geniale Entdeckung von KarlMarx, den Klassenkampf als Triebkraft dergeschichtlichen Entwicklung bloßgelegt zuhaben. Nur die dümmsten SpießerInnenstellen sich vor, der böse Marx habe denKlassenkampf „erfunden“. In Wirklichkeithat es Klassenkämpfe – denken wir bloß andie blutigen SklavInnenaufstände unterSpartakus in der antiken Gesellschaft –Tausende Jahre vor Marx gegeben.

Dieser hat es nur verstanden –und das isteine der größten Taten der Geistesgeschichte– den Klassenkampf in den Köpfen derMenschen bewusst zu machen und ihnenseine geschichtliche Funktion zu erklären.

Das beste, auch sprachlich wunderbareDokument über die geschichtliche Bedeut-ung des Klassenkampfes ist das „Kommunis-tische Manifest“. Es hätte wenig Sinn, diesegrandiose Skizze hier mit einigen Worten,die nur schwächer sein könnten als die vonMarx, wiedergeben zu wollen: Die Lektüredes Manifestes ist nicht nur ein geistigesErlebnis, sondern auch ein ästhetischerGenuss: Wie in einem Film sieht der/dieLeserIn die von den gewaltigen Stürmen desKlassenkampfes bewegten Geschichtsperi-oden aufsteigen, zerfallen und versinken.

Er oder sie begreift, dass alles, was wirheute auf zivilisatorischem und kulturellem

Gebiet erreicht haben, nie erreicht wordenwäre ohne die Klassenkämpfe unserer Vor-fahrInnen: Hätten sich die Bauern undBäuerinnen zu allen Zeiten damit abgefun-den, den feudalen Herren zu dienen, undwären die ArbeiterInnen nie auf den Gedan-ken gekommen, der kapitalistischen Ausbeu-tung Widerstand zu leisten – wie erbärmlichsähe die Welt heute aus!

Was wir an sozialen und demokratischenErrungenschaften besitzen – sei es das Wahl-recht, der bezahlte Urlaub oder der gesetz-liche Krankenschutz –, all das ist, geschicht-lich betrachtet ein Produkt des Klassen-kampfes.Wer stolz verkündet: „Ich bin gegenden Klassenkampf“, sagt damit in Wirklich-keit „Ich lehne jeden sozialen Fortschritt ab,ich wünsche die Versteinerung der bestehen-den Gesellschaftsverhältnisse.“

Denn in einer Klassengesellschaft – das giltfür die feudale ebenso wie für die kapital-istische – ist der soziale Fortschritt nur imKlassenkampf zu verwirklichen, wobei sichdie Formen des Klassenkampfes natürlichhäufig ändern.

Diese einfache Wahrheit erkannt, bewie-sen und klar formuliert zu haben, das ist diezutiefst revolutionäre Entdeckung, die dievon Karl Marx und Friedrich Engels be-gründete materialistische Geschichtsauf-fassung enthält.

Eine sozialistische Bewegung, die austaktisch-opportunistischen Gründen (etwamit Rücksicht auf geistig unterentwickelteRandschichten aus dem kleinbürgerlichenoder bäuerlichen Milieu) auf die MarxscheLehre vom Klassenkampf verzichtet, handeltebenso falsch wie eine Armee, die ihre wirk-samsten Waffen wegwirft – weil ein paarneue, schüchterne Rekruten davor Angsthaben.

In beiden Fällen ist es klüger, den Neuendie Technik der von ihnen gefürchteten

Die Rolle des Klassenkampfes

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Waffen geduldig zu erklären. Wir wollendamit sagen: Nicht die Theorie des Sozial-ismus soll dem tiefen Niveau neuer, zurArbeiterInnenbewegung strömender Schich-ten angepasst werden, sondern der umge-kehrte Vorgang ist erstrebenswert: Es gilt,diese neuen Schichten allmählich auf dashohe Niveau marxistischer Erkenntnis zubringen.

Und zu dieser Erkenntnis gehört dasWissen über die geschichtlich-fortschrittliche

Rolle des Klassenkampfes. In der kapitalis-tischen Gesellschaft hat der Klassenkampfdie Entfaltung der modernen Technikkolossal beschleunigt. Die ArbeiterInnen,die in harten Kämpfen Lohnerhöhungenund Arbeitszeitverkürzungen durchsetzten,zwangen die UnternehmerInnen neue Er-findungen anzuwenden, die Produktionrationeller zu gestalten. Es ist kein Zufall,dass Länder mit hohen Löhnen und kurzerArbeitszeit in der Regel auch ein hohestechnologisches Niveau erreichen. Hier hatsich der Klassenkampf als Motor des Fort-schritts betätigt.

Der Klassenkampf ist aber auch einLernprozess für die arbeitenden Massen.Die/der einfache ArbeiterIn und Angestelltewird nur selten durch Vorträge und Bücherüber gesellschaftliche Zusammenhängeaufgeklärt. Aber in der Schule des Klassen-kampfes sammelt sie/er Erfahrungen, er-weitert sie/er ihren/seinen Horizont. In dengroßen Klassenkämpfen der Vergangenheithaben die ArbeiterInnen, und etwas späterund mit größeren Hemmungen auch dieAngestellten, die große Bedeutung der Soli-darität, des Zusammenhaltens aller arbeiten-den Menschen, kennen gelernt. Darüberhinaus entwickeln die politischen und

gewerkschaftlichen FunktionärInnen derArbeiterInnenbewegung im Klassenkampfdie Fähigkeit zu organisieren, zu leiten undzu verwalten. Das sind Fähigkeiten, die siespäter bei der Mitbestimmung, bei der Kon-trolle der Produktion, dringend brauchen.

Der Klassenkampf ist daher ein Stückechte, lebendige Demokratie. Er bringtMassen in Bewegung, die früher passivwaren und ihre eigenen Interessen nichterkannten.

Diese erzieherische Rolle des Klassenkamp-fes, der die Funktion eines Lernprozesses fürdie breiten Massen erfüllt, ist im Ringen umden Sozialismus von größter Bedeutung: Inder Stickluft des viel gepriesenen „sozialenFriedens“ vermag sich das Bewusstsein derarbeitenden Menschen, das von den Herr-schenden mit den raffiniertesten Mittelnmanipuliert wird, nicht weiterzuentwickeln.Es verkümmert und verspießert.

Dabei darf nicht übersehen werden, dassder Klassenkampf von oben auch dann gef-ührt wird, wenn die ArbeiterInnen und An-gestellten „brav“ sind, und auf soziale Aus-einadersetzungen verzichten. Je „braver“ siesind, desto rücksichtsloser verhält sich der/-die KlassengegnerIn bei der Wahrnehmungihrer Interessen. Wer daher den Verzicht aufden Klassenkampf in einer kapitalistischenGesellschaft verlangt, tritt, ob ihm dasbewusst ist oder nicht, dafür ein, dass eslediglich den Klassenkampf von oben gebensoll.

Die Theorie von der „Sozialpartner-schaft“, die dem Klassenkampf gegenüber-gestellt wird, ist eine typische Vernebelungs-theorie: Sie soll von den tiefreichenden,unversöhnlichen Gegensätzen zwischen denKlassen ablenken.

Der Klassenkampf ist aber auch ein Lernprozess für die arbeitenden Massen.

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32Ebenfalls 1932 wurden die drei Pfeile von der österreichis-chen Sozialdemokratie übernommen. Füge jetzt denrechten, langen Schaft hinzu, indem du diesen ebefallsmit einem mittelgrossen Stift verbindest. Wer machtGeschichte? Für wen?

6.

Persönlichkeit und Marxismus

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Die bürgerliche Geschichtsbetrachtung stelltdie Geschichte als eine Geschichte vonPersönlichkeiten dar: DieseR KaiserIn wargut – also ging es den Menschen unterseiner/ihrer Herrschaft gut. JeneR KaiserInwar schlecht – also ging es ihren/seinenUntertanInnen schlecht. Diese Geschichts-auffassung können wir bei den Nazis genau-so wie bei den bürgerlichen GegnerInnendes Nazismus beobachten.

Die Nazis vergötterten ihren „Führer“,alle vermeintlichen Segnungen des DrittenReiches schrieben sie seiner Genialität,seiner Einmaligkeit, seinem Übermenschen-tum zu. Der Nationalsozialismus war für siedas Werk Hitlers.

Die bürgerlichen GegnerInnen des Nazis-mus sahen in Hitler den Teufel. Er war es,der alles Unglück über Deutschland, überÖsterreich, über ganz Europa gebracht hatte.Hätte es ihn nicht gegeben, so wäre derMenschheit namenloses Unglück erspartgeblieben. Also auch die bürgerlichen Geg-nerInnen des Nazismus sahen und sehen imDritten Reich ein Werk Hitlers, das Werkeiner Persönlichkeit.

Die materialistische Geschichtsauffassungbetrachtete die Rolle Hitlers ganz anders.Sie untersucht die Bewegung, die ihn zurMacht führte. Aus welchen Menschen be-stand diese Bewegung, welcher Parolen be-diente sie sich, von welchen Klassen wurdesie unterstützt? Und weiter fragt die mater-ialistische Geschichtsauffassung: Was tatHitler, als er zur Macht kam? Im Interessewelcher Klassen betrieb er seine Politik,führte er seinen Krieg?

Bei dieser Untersuchung, die wir hier nichtführen, sondern nur andeuten können,gelangt man/frau zu Ergebnissen, die sehrverschieden sind von denen der bürger-lichen Geschichtsbetrachtung. Es stellt sichheraus, dass Hitler, schon als er um die

Macht kämpfte, die Interessen bestimmterKlassen der deutschen Gesellschaft vertrat.Es waren die Herren der Rüstungsindustrie,die Mächtigen des Finanzkapitals, die hinterihm standen, die ihn unterstützten und mitreichlichen Geldmitteln versorgten.

Die Massen, die Hitler Gefolgschaft leiste-ten, die bei den Wahlen seine Partei wähl-ten, waren vor allem Angehörige des Klein-bürgerInnentums, Angehörige einer Klasse,die ständig zwischen ArbeiterInnenklasseund BürgerInnentum schwangt. Die durchdie Krise verelendeten KleinbürgerInnenwaren von einer tiefen antikapitalistischenSehnsucht, von einem unklaren sozialistisch-en Wollen erfüllt. Sie wollten den Kapitalis-mus zerschlagen, hatten aber Angst vor demSozialismus, vor der ArbeiterInnenbewegung.Diese Massen wurden die Opfer Hitlers, siefielen auf seine Demagogie herein.

In Hitlers Person verkörperten sich die bei-den Klassen, die ihn zur Macht gebrachthatten: die KapitalistInnen und die verelen-deten KleinbürgerInnen. In seinen Redenblieb er stets der wildgewordene Klein-bürger, der polternde Stammtischpolitiker.Seine Taten aber lagen im Interesse dermächtigsten deutschen KapitalistInnen, vorallem im Interesse der Rüstungsindustrie.Die bürgerliche Geschichtsauffassung tut so,als hänge das Verhalten der Menschen aus-schließlich von ihnen selbst ab. Die materia-listische Geschichtsauffassung beweist, dassdas nicht zutrifft: Der menschliche Willevermag viel - aber nur in bestimmten Gren-zen. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn vorhundert Jahren ein Mensch festen Willenhatte, in einigen Stunden von Wien nachParis zu gelangen, so war ihm das nichtmöglich, mochte sein Wille auch noch sostark sein. Der Wille allein konnte noch keinFlugzeug hervorbringen.

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Die Kunst der marxistischen Politik bestehtdarin, in jeder Epoche durch genaueste Ana-lysen festzustellen, was möglich und wasnicht möglich ist, und danach ihre Haltungabzustimmen.

Die materialistische Geschichtsauffassunggeht davon aus, dass die materiellen Verhält-nisse, unter denen die Menschen leben, dieGrundlage ihrer Beziehungen sind. Man/fraukann diesen Gedanken nicht klarer ausdrü-cken, als dies Engels tat, als er einmalschrieb: „Die Menschen müssen erst essen undtrinken, wohnen und sich kleiden, bevor siePolitik machen, Philosophie und Kunst treibenkönnen.“

Was die Menschen zu essen haben, wie siewohnen, wie sie sich kleiden – das wirkt sichin sehr starkem Maße auf ihre politische,künstlerische und philosophische Tätigkeitaus. In der marxistischen Ausdrucksweisebezeichnet man/frau die wirtschaftlichenBeziehungen als den gesellschaftlichenUnterbau, das politische, künstlerische undphilosophische Schaffen als den ideologisch-en Überbau. Der Überbau wird letztenEndes vom Unterbau bestimmt.

Aber man/frau darf sich dieses Verhältnisnicht als etwas Starres, immer Gleichblei-bendes vorstellen. Es gibt auch eine Wech-selwirkung: Gedanken, Ideen, geistigeStrömungen, aus dem Unterbau hervor-gehend, können unter bestimmtenBedingungen auf diesen zurückwirken, ihnverändern und umgestalten. Nehmen wirwieder ein Beispiel: Die Idee des modernenSozialismus, die heute breite ArbeiterInnen-massen erfüllt, ist aus den gesellschaftlichenVerhältnissen des Kapitalismus entstanden,sie ist also aus dem „Unterbau“ zu verste-hen. Wenn aber die Ideen des Sozialismussolche Macht erlangten, dass die Arbeiter-Innen den Staat erobern, dann beginnt dieseIdee den Unterbau selbst zu verändern, sie

verwandelt die kapitalistische in die sozialis-tische Gesellschaft.

Die Worte Mensch und Menschlichkeitwerden von den GegnerInnen des Marxis-mus mit Vorliebe missbraucht. In der marx-istischen Sicht, so behaupten sie, wir derMensch zu einem anonymen Rädchen imgroßen Getriebe der Ökonomie. Nicht er,sondern „Produktivkräfte“ und „Produkt-ionsverhältnisse“ entscheiden über dasSchicksal von Ländern und Kontinenten.Oft wird noch mit scheinheiliger Entrüstunghinzugefügt: Nach Marx vollzieht sich in derGesellschaft alles zwangsläufig, auch der Siegdes Sozialismus. Nichts hängt daher vomMenschen ab. „Die Persönlichkeit“, heißt esim Aufsatz eines antimarxistischen Publizis-ten, „ist im Marxschen Geschichtsbild nicht zuentdecken“ Der Trick der antimarxistischenKarikaturistInnen besteht darin, dass sie„den Menschen“ Begriffe wie „Produktiv-kräfte“ oder „Produktionsverhältnisse“ gegen-überstellen, als handle es sich dabei um toteDinge.

Aber Marx versteht darunter menschlicheBeziehungen. Wenn in seinen Schriften vomWachstum der Produktivkräfte die Rede ist,so sind damit natürlich auch die Menschengemeint, die durch ihre Tätigkeit diesesWachstum hervorrufen.

Und wenn von Produktionsverhältnissen– zum Beispiel von privatkapitalistischen –gesprochen wird, so haben wir es wieder mitBeziehungen zwischen lebenden Menschen– in unserem Fall zwischen ArbeiterInnen,die ihre Arbeitskraft verkaufen, und Kapital-istInnen, die sie kaufen – zu tun.

Immer steht bei Marx der Mensch imMittelpunkt. Allerdings nicht ein erfundener,im Laboratorium einer weltfremden Philo-sophie konstruierter Mensch, sondern einwirklicher, wie wir ihn täglich auf der Straßeoder im Betrieb begegnen. Und dieser wirk-liche Mensch ist ausnahmslos ein gesell-

Persönlichkeit und Marxismus

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schaftliches Wesen: Er wurde unter be-stimmten gesellschaftlichen Verhältnissen ge-boren (es ist zum Beispiel nicht gleichgültig,ob das in einem rückständigen oder indus-triell fortschrittlichen Land war), übernahmbereits als Kind von seinen VorfahrInnen,Eltern und LehrerInnen ein schweres Ge-päck von Meinungen, Urteilen und Vorur-teilen.

Und in der Gegenwart gehört dieserwirkliche Mensch zu einer bestimmtenKlasse, ist den Einflüssen der öffentlichenMeinung ausgesetzt und kann daher seinengesellschaftlichen Standort nicht völlig frei,sondern nur unter Berücksichtigung derangeführten Faktoren bestimmen, wobei dievorgefundenen Bedingungen, auf die erselbst keinen Einfluss hat, von Bedeutungsind.

In seiner Schrift „Lohnarbeit und Kapital“hat Karl Marx mit unmissverständlicherDeutlichkeit die Rolle der Menschen imProduktionsprozess beschrieben. Es heißt daunter anderem:„In der Produktion wirken dieMenschen nicht allein auf die Natur, sondernaufeinander ein.

…Um zu produzieren, treten sie in bestim-mte Beziehungen und Verhältnisse zueinander,und nur innerhalb dieser gesellschaftlichenBeziehungen und Verhältnisse findet ihre Ein-wirkung auf die Natur, findet die Produktionstatt.“

Wie lächerlich der gegen Marx und die ma-terialistische Geschichtsauffassung erhobeneVorwurf: „ Der Mensch spielt bei den Marxist-Innen keine Rolle,“ ist, geht aus jeder Zeileder marxistischen Literatur hervor. Aus derFülle der Beispiele sei aus dem „Elend derPhilosophie“ von Karl Marx noch einebezeichnende Stelle angeführt: „Man/frauhat zwar ganz gut begriffen, dass die MenschenTuch, Leinwand, Seidenstoffe unter bestimmtenProduktionsverhältnissen anfertigen. Aber was

man/frau nicht begriffen hat, ist, dass diese be-stimmten sozialen Verhältnisse ebenso gut Produkte der Menschen sind, wie Tuch, Leinenusw.“

Mit vollem Recht sagt der deutsche SozialistErnst Böse in seiner 1947 in Hamburgerschienen Studie über die materialistischeGeschichtsauffassung: „ Die ganze Geschichteist bei Marx kein Produkt der Materie, sonderndas Ergebnis des menschlichen Willens, der nurwirksam werden kann in den gesellschaftlichenVerhältnissen, die er vorfindet und zugleichumgestaltet.“

Die VerfertigerInnen der Marxismus-Karikaturen haben freilich noch einen Ein-wand vorzubringen: Marx spricht von derGesetzmäßigkeit des geschichtlichen Ge-schehens. Was vermag aber der menschlicheWille gegen historische Gesetze auszurich-ten? Wo es Zwangsläufigkeit gibt, ist dochdie Persönlichkeit bedeutungslos bzw. einVollzugsorgan der gesetzmäßigen Entwick-lung. Daher, so wird voreilig gefolgert,nimmt in der Marxschen Geschichtstheorieder Mensch eine dürftige Stellung ein.

Auch hier haben wir es mit einer Karika-tur des Marxismus zu tun. Marx und Engelsweisen nach, dass es in der gesellschaftlichenEntwicklung ebenso wie im Naturgescheheneine Gesetzmäßigkeit gibt, die sorgfältigstudiert werden soll. Aber sie haben niemalsbehauptet, dass sich diese gesellschaftlichenGesetze mechanisch, ohne Einwirkung desmenschlichen Tuns, vollziehen.

Im Gegenteil: Die Altmeister des Marxismusund ihre SchülerInnen wurden nicht müdezu betonen, wie riesengroß die Verantwor-tung der auf der geschichtlichen Bühnehandelnden Menschen ist. Freilich fügtensie hinzu, dass diese handelnden Menschennur dann die Folgen ihrer Handlungen vor-raussehen und planen können, wenn sie die

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gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit begreifen.Wer Marx gelesen hat, weiß, dass ein

Köhlerglaube an die geschichtliche Zwangs-läufigkeit in seinen Werken nicht zu ent-decken ist. Er und Engels haben sogar mitder Möglichkeit gerechnet, dass die ausge-beutete Klasse gemeinsam mit der Ausbeu-terInnenklasse untergeht, in Barbarei ver-sinkt, wenn es ihr nicht gelingt, die von derGeschichte gestellte Aufgabe zu verwirk-lichen.

Wo aber Marx vom nicht aufzuhaltendenSieg des Sozialismus spricht, da geht er vonder – für eineN leidenschaftlicheN Revolu-tionärIn verständlichen – Annahme aus,dass die ArbeiterInnenklasse fähig sein wird,diesen Sieg zu erkämpfen. Die Vorstellungeiner automatischen Entwicklung, die zumTriumph des Sozialismus führen muss, istzutiefst unmarxistisch. Gegen das Märchenvon der Zwangsläufigkeit, das in den Kari-katuren auf den Marxismus zu finden ist,spricht aber nicht zuletzt auch das Lebenund Wirken von Marx selbst. Man/frau leseetwa seine Kritik am Gothaer Programmder Deutschen Sozialdemokratie oder denBriefwechsel mit Friedrich Engels undanderen FreundInnen. Aus diesen vorwie-gend polemischen, in einer scharfen Spracheverfassten Dokumenten, sprechen dieSorgen, die sich der Revolutionär und Politi-ker Karl Marx über die Politik, Strategieund Taktik der jungen ArbeiterInnenbeweg-ung macht.

Wie konnte Marx schimpfen über eineKonzession an den Opportunismus! Wiekonnte er höhnen und spotten bei derEntdeckung einer falschen oder unklarenformulierten Stelle im Entwurf zum neuenParteiprogramm! Und wie unbarmherzigging er mit jenen ins Gericht, die die

sozialistische Theorie verwässern und dieLehre vom Klassenkampf abschwächenwollten, die da meinten, man/frau könneleise, in Hausschuhen gewissermaßen, zumSozialismus gelangen, ohne den/die Klassen-gegnerIn aufzuschrecken!

Was hätte das alles für einen Sinn gehabt,wenn Marx an die Zwangsläufigkeit einessich automatisch vollziehenden Sieges desSozialismus geglaubt hätte?

Rosa Luxemburg, eine geniale Schülerinvon Marx, hat in ihrer, während des erstenWeltkriegs geschriebenen „Juniusbroschüre“,dieses Märchen von der Zwangsläufigkeiteindrucksvoll widerlegt. Es heißt da in einerStudie Über die Marxsche Geschichtsauf-fassung: „Der Sieg des sozialistischen Prole-tariats … ist an eherne Gesetze der Geschichte,an tausend Sprossen einer vorherigen, qualvollenund allzu langsamen Entwicklung gebunden.Aber er kann nimmermehr vollbracht werden,wenn aus all dem von der Geschichte zusam-mengetragenen Stoff der materiellen Vorbedin-gungen nicht der zündende Funke des bewusstenWillens der großen Volksmassen aufspringt.“

Das heißt mit anderen Worten: Der Sozial-ismus kommt nicht automatisch – auchdann nicht, wenn alle materiellen Vorbe-dingungen gegeben sind.

Ob „der zündende Funke des bewusstenWillens der großen Volksmassen aufspringt“ –das hängt von der Politik, der Aktivität, derKühnheit und Opferbereitschaft der sozialis-tischen ArbeiterInnenbewegung ab.

Deshalb wurden Marx, Engels undihre SchülerInnen nicht müde, zuerklären: Die Menschen machen ihreGeschichte selbst.

Persönlichkeit und Marxismus

Die Menschen machen ihre Geschichte selbst.

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In der Zeit des Faschismus waren sie ein beliebtes Symboldes Widerstandes. Mit einem kleinen Stift wird nun einerder kurzen Schäfte an der linken Spize befestigt. EinÜberblick über das Leben und Werk.

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Wer war Karl Marx?

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Wer war Karl Marx?

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Der Personenkult, wie es ihn bei den Kom-munistInnen in der Stalinära gegeben hat,ist dem Sozialismus fremd: Wer die Befrei-ung der Menschen von allen Formen derUnterdrückung will, kann nicht gleichzeitigvor einem „Führer“ auf den Knien liegen.Aber das bedeutet nicht, dass die Sozialist-Innen die Rolle leugnen, die einzelne Per-sönlichkeiten auf der Bühne der Geschichteauch in der eigenen Bewegung spielen.

Da die Menschen ihre Geschichte selbstmachen, ist es von großer Bedeutung, welchevon ihnen an der Spitze stehen oder durchihre geistige Leistung das geschichtlicheGeschehen beeinflussen. Es kommt lediglichdarauf an, die Rolle der Persönlichkeit imZusammenhang mit der gesellschaftlichenEntwicklung zu begreifen. Jede isolierte Be-trachtungsweise führt zu Fehleinschätzungen.

Aus der Ideengeschichte des Sozialismus istdie überragende Persönlichkeit Karl Marxnicht wegzudenken. Der sozialistischeHistoriker Franz Mehring hat dem Begrün-der des wissenschaftlichen Sozialismus, wieMarx oft bezeichnet wird, in einer meister-haft geschriebenen Biographie ein literar-isches Denkmal gesetzt. Wer den MenschenKarl Marx kennen lernen will, wer es nach-erleben möchte, wie in hartem geistigemRingen sein Werk entstand, der oder diesollte Mehrings Biographie von der erstenbis zur letzten Seite studieren. Dieses Buchist eine Fundgrube marxistischer Erkenntnis,zugleich aber ein Dokument echter mensch-licher Gesinnung.

Hier müssen wir uns mit ein paar biograph-ischen Notizen begnügen: Karl Marx wurdeam 5. Mai 1818 in Trier geboren.

Sein Vater, ein wohlhabender und gebildeterRechtsanwalt, gehörte klassenmäßig zumBürgerInnentum. Der Hinweis auf diesesoziale Herkunft macht uns darauf aufmerk-sam, dass Marx nicht unter der Peitsche derNot, sondern im geistigen Ringen um Er-

kenntnis zur ArbeiterInnenbewegung undzum Sozialismus kam. Allerdings lernte er inseinem späteren Leben als Wissenschafter,Publizist und Emigrant auch die Sorge umdas tägliche Brot kennen.

Nach Beendigung des Gymnasiums inTrier bezog Marx die Universität, erst inBonn, dann in Berlin und studierte Rechts-wissenschaft, Geschichte und Philosophie.Seinen Anschauungen nach war Marx inseiner Studienzeit kein Marxist, kein An-hänger der materialistischen Geschichtsauf-fassung, sondern er gehörte zu einem Kreisidealistischer Philosophen, die man/frau„linke Hegelianer“ nannte.

Allerdings stand er bereits damals in schärf-ster Opposition zu den reaktionären Spitzender herrschenden Klasse und deren Regier-ung. Karl Marx wollte Universitätsprofessorin Bonn werden. Aber die reaktionäre, geist-feindliche Regierung, die eben den großenPhilosophen Ludwig Feuerbach des Lehr-stuhls beraubt hatte, zwang auch den jungenMarx auf die ProfessorInnenlaufbahn zuverzichten.

Wer die Befreiung der Menschen von allen Formen der Unter-druckung will, kann nicht gleichzeitig vor einem „Führer“ aufden Knien liegen.

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Damals konnte bei ihm bereits jene starkentwickelte Zivilcourage bemerkt werden,die ihn nie verlassen sollte: Marx war eherzu den größten materiellen Opfern als zugeistigen Konzessionen oder ideologischenKompromissen bereit. „Aussprechen, was ist“– war die Devise, nach der er Zeit seinesLebens handelte.

Als Persönlichkeit war Karl Marx dasGegenstück eines so genannten „geschickten

Politikers“: Er war nie bereit, den Leutennach dem Munde zu reden oder sich denVorurteilen seiner Zeit anzupassen. Er ver-trat seine Meinung – auch wenn diese zu-nächst nicht verstanden wurde, und ihn vonvielen seiner ZeitgenossInnen isolierte. Mitder glühenden Leidenschaft des echten Re-volutionärs verfolgte Marx unnachgiebigjede Regung des Opportunismus, jedeTendenz geistiger Feigheit, jeden Versuch,bestehende Gegensätze zu verwischen.

In Köln gründeten 1842 fortschrittlicheBürgerInnen des Rheinlandes die „RheinischeZeitung“, deren Chefredakteur Karl Marxwurde. Die revolutionär-demokratische Rich-tung dieser Zeitung trat unter der Redaktionvon Marx immer deutlicher hervor. SeineArtikel sind Meisterwerke des politischenJournalismus: In einer wuchtigen, an Bildernreichen Sprache, prangerte er die Heucheleiund Rückständigkeit eines Regimes an, dasgeistig im Mittelalter stecken geblieben war.Die Regierung unterwarf die „RheinischeZeitung“ zunächst einer scharfen Zensur,und verfügt schließlich ihre Einstellung. Diejournalistische Tätigkeit hatte dem jungenMarx gezeigt, dass er mit den Fragen der

Wirtschaft und der sozialen Entwicklung zuwenig vertraut war. Er beschäftigt sich nachdem Verbot der „Rheinischen Zeitung“ vorallem mit diesen Wissensgebieten, die zurGrundlage seines späteren Wirkens werden.Im Jahre 1843 ging Marx nach Paris, umgemeinsam mit Arnold Ruge eine linke,radikal-demokratische Zeitschrift herauszu-geben, die „Deutsch-Französische Jahrbücher“genannt wurde. Schwierigkeiten bei ihrer

illegalen Verbreitung in Deutschland trugenwesentlich zur baldigen Einstellung bei. Inseinen in den „Deutsch-Französischen Jahr-büchern“ veröffentlichten Artikeln lernen wirMarx bereits als bewussten, auch vor denschärfsten Formulierungen nicht zurück-schreckenden Revolutionär kennen. Erunterstreicht die Notwendigkeit einer Revo-lution gegen das absolutistische System.

„Die Waffe der Kritik“, heißt es in einemseiner Beiträge, „kann die Kritik der Waffennicht ersetzen …“ Mit beißendem Spottmach er sich über die Revolutionsangst derSpießbürgerInnen lustig.

Friedrich Engels, der 1844 nach Paris kam,wurde dort zum Freund und engsten Mit-arbeiter von Karl Marx. Im scharfen, inallen grundsätzlichen Fragen kompromiss-losen Kampf gegen die verschiedenen Rich-tungen und Tendenzen des utopischen undkleinbürgerlichen-naiven Sozialismusschufen Marx und Engels gemeinsam jenetheoretischen Grundlagen der sozialistischenBewegung, die später unter dem NamenMarxismus die Welt erschüttern sollten.

Im Jahre 1847 schlossen sie sich einerillegalen Organisation, dem „Bund der

„Die Waffe der Kritik“, heißt es in einem seiner Beiträge,„kann die Kritik der Waffen nicht ersetzen …“

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Kommunisten“, an und nahem am Kongressdieses Bundes in London teil. In seinemAuftrag verfassten Marx und Engels dasberühmte „Kommunistische Manifest“, das imFebruar 1848 erschien. Vorher war Marxbereits als „gefährlicher Revolutionär“ ausParis ausgewiesen worden und übersiedeltenach Brüssel. Als die Februarrevolution1848 ausbrach, musste Marx auf Befehl derbelgischen Regierung auch Brüssel ver-lassen. Nach einem kurzen Aufenthalt inFrankreich kehrte er nach der Märzrevolu-tion nach Deutschland zurück und wurde inKöln wieder Chefredakteur der neu er-scheinenden „Rheinischen Zeitung“. Nach

dem Sieg der Gegenrevolution wurde er alsRevolutionär vor Gericht gestellt undschließlich aus seinem eigenen Land ausge-wiesen. Er begab sich nach Paris, aber auchdie französische Regierung war nicht bereit,dem politischen Emigranten Marx Asyl zugewähren.

Er zog nach London, wo er bis zu seinemTod lebte und arbeitete. Diese Übersiedlungwar von größter Bedeutung, da England zujener Zeit die am weitesten entwickelte kapi-talistische Wirtschaft besaß. Sie diente Marxbei seinem Studium als Modell.

Die Bedingungen des Emigrantenlebens, diesich in dem Briefwechsel zwischen Marxund Engels widerspiegeln, waren hart undbedrückend.

Die Not lastete auf der kinderreichen Fami-lie Marx, und ohne die ständige finanzielleHilfe seines Freundes Friedrich Engels wäreKarl Marx wahrscheinlich verhungert, aufjeden Fall hätte er seine großen wissen-schaftlichen Werke nicht schreiben können.

In London verfasste er neben vielenanderen Schriften „Das Kapital“. die Voll-endung dieses grundlegenden Werkes warihm allerdings nicht mehr gegönnt. Als 1864in London die 1. Internationale gegründetwurde, war Marx die Seele dieser Organi-sation. Er verfasste ihre erste „Adresse“ undviele Resolutionen, Erklärungen und Mani-feste.

Die anstrengende Tätigkeit für die Inter-nationale und die unermüdliche wissen-schaftliche Arbeit untergruben seineGesundheit. Er starb am 14. März 1883und ist auf dem Highgate-Friedhof inLondon begraben.

Nach dem Tode von Karl Marx brachteFriedrich Engels den nur im Rohentwurffertig gestellten zweiten und dritten Banddes Marxschen „Kapitals“ heraus.

Victor Adler sagte später mit Recht: „Engelshat seinem genialen Freund mit der Herausgabevon Band II und III des „Kapitals“ ein groß-artiges Denkmal gesetzt, auf dem er, ohne esbeabsichtigt zu haben, seinen eigenen Namens-zug mit unauslöschlichen Lettern eingetragenhat.“

Diese Übersiedelung war von größter Bedeutung, da England zu jener Zeit die am weitesten entwickelte kapitalistische Wirtschaft besaß. Sie diente Marx bei seinemStudium als Modell.

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Sie sind auch heute noch häufig anzutreffen. Ebenso ver-fährst du mit der mittleren Pfeilspitze. Über Mehrwert,Monopole und Krisen.

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Was ist Kapitalismus?

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Was ist Kapitalismus?

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Der Begriff Kapitalismus darf nicht zumSchlagwort werden. Für SozialistInnen, diesich die Aufgabe gestellt haben, das kapital-istische Gesellschaftssystem zu beseitigenund es durch das sozialistische zu ersetzen,ist eine klare Vorstellung über das Wesen, dieEigenarten und die Wandlungen des Kapital-ismus unerlässlich.

Um einen Feind oder eine Feindin zubesiegen, muss man/frau ihn oder sie genaukennen, muss über seine oder ihre Stärkenund Schwächen informiert sein. Auch jedeVeränderung im feindlichen Lager gilt es zuregistrieren. Zunächst ist es notwendig, denUnterschied zwischen kapitalistischen undvorkapitalistischen Gesellschaftsverhältnissenherauszuarbeiten. Hat es doch den Kapital-ismus nicht immer gegeben, sondern dieserist das Produkt einer langen geschichtlichenEntwicklung. Unter vorkapitalistischen,mittelalterlichen Gesellschaftsverhältnissenhaben die Menschen fast alles, was sie fürihren Unterhalt brauchten, selbst hergestelltoder von TaglöhnerInnen und hörigenBauern und Bäuerinnen für den eigenenGebrauch herstellen lassen.Was sie nichtselbst erzeugen konnten, wurde von Hand-werkerInnen gemacht, die mit eigenen,primitiven Produktionsmitteln arbeiteten.Otto Bauer zitiert in einem seiner Vorträgeüber diese Zeit das heute kaum mehr bekan-nte Sprichwort: „Ein Narr, der dem Schmiedgibt, was er sich selbst verdienen kann.“

Im Gegensatz zu dieser „geschlossenenHauswirtschaft“, die freilich einen, aufwenige Produkte beschränkten Handelkeineswegs ausschließt, steht die Produktionfür den Markt, von Marx „Warenproduk-tion“ genannt. Unter Ware ist ein Gebrauchs-gegenstand zu verstehen, der zum Zweck desVerkaufs – dieses Motiv ist entscheidend –erzeugt wird.

Die Erdäpfel, die der Bauer oder dieBäuerin für sich und seine oder ihre Familie

verwendet, sind keine Ware. Nur jene Erd-äpfel, die er/sie auf den Markt bringt, habenden Charakter einer Ware angenommen. Derwesentliche Unterschied zwischen vorkapita-listischen und kapitalistischen Verhältnissenbesteht darin, dass unter den erstgenanntendie meisten erzeugten Güter keine Ware sind,während im Kapitalismus die meisten Güterfür den Markt erzeugt werden, also Waren-charakter haben.

Marx unterscheidet innerhalb der Waren-produktion zwischen einfacher und kapital-istischer.Von einfacher Warenproduktion istdie Rede, wenn die EigentümerInnen derProduktionsmittel die für den Markt be-stimmten Waren selbst erzeugen. Der kapita-listische Charakter der Warenproduktion istdann gegeben, wenn die EigentümerInnender Produktionsmittel die für den Marktbestimmten Waren von anderen, deren Arbei-tskraft sie gekauft haben, herstellen lassen.

Der oder die SchusterIn, der oder die dievon ihm oder ihr auf den Markt gebrachtenSchuhe selbst erzeugt (vielleicht mit Hilfeeines Lehrlings oder GesellIn), gehört nochzu den TrägerInnen der einfachen Warenpro-duktion. Der oder die SchuhfabrikantIn, deroder die die für den Markt bestimmtenSchuhe von ArbeiterInnen, die ihm oder ihrihre Arbeitskraft verkauft haben, erzeugenlässt, ist bereits einE RepräsentantIn derkapitalistischen Warenproduktion.

Marx sagte voraus, dass der oder diegroße SchuhfabrikantIn den kleinen Schu-ster verdrängen wird, oder anders ausge-drückt: Die einfache Warenproduktion wirdvon der kapitalistischen verdrängt. Auf einerbestimmten Entwicklungsstufe der Waren-produktion verwandelt sich Geld in Kapital.Geschichtliche Vorraussetzung dafür ist dieAnhäufung (Akkumulation) einer bestimmt-en Geldsumme in den Händen einzelnerPersonen bei einem verhältnismäßig hohenEntwicklungsniveau der Warenproduktion

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und das Vorhandensein von „freien Arbeiter-Innen“ („frei“ hier im Gegensatz zu hörigen,an die Scholle gebundenen Bauern undBäuerinnen), die den GeldbesitzerInnen ihreArbeitskraft verkaufen, richtiger: verkaufenmüssen, weil sie keine eigenen Produktions-mittel besitzen und auch über keine anderenEinnahmequellen verfügen. Der/die Geldbe-sitzerIn verkauft die Ware Arbeitskraft zuihrem Wert, der, wie der Wert jeder anderenWare, durch die gesellschaftlich notwendigeArbeitszeit bestimmt wird, die zu ihrer Her-stellung erforderlich ist (das heißt, durch dieUnterhaltskosten der ArbeiterInnen undihrer Familien). Hat der/die GeldbesitzerIn(jetzt richtigeR KapitalistIn genannt) dieArbeitskraft gekauft, so hat er/sie das Recht,sie zu gebrauchen, das heißt, sie zu zwingen,einen ganzen Tag, nehmen wir an 8 Stundenlang, zu arbeiten. Aber der/die ArbeiterInerzeugt im Laufe von 4 Stunden – dieseZiffer hier nur als Beispiel gedacht – einProdukt, durch das sein Lebensunterhaltbestritten wird. Im Laufe der übrigen 4Stunden erzeugt er oder sie ein vom Kapita-listInnen nicht bezahltes „Mehr“produktoder den so genannten Mehrwert. Folglichmuss man/frau vom Standpunkt des Produk-tionsprozesses zwei Teile des Kapitals unter-scheiden: Das konstante Kapital, das für dieProduktionsmittel (Maschinen,Werkzeuge,technische Anlagen, Rohmaterial usw.) ver-ausgabt wird – sein Wert geht (auf einmaloder in Etappen) auf das fertige Produktüber –, und das variable Kapital, das für diemenschliche Arbeitskraft verausgabt wird.Der Wert dieses Kapitals bleibt nicht unver-ändert, sondern nimmt im Arbeitsprozess zu,indem er den Mehrwert schafft. Die Aneig-nung dieses Mehrwertes durch den/die Kapi-talistIn – das ist der wesentliche Inhalt derAusbeutung im kapitalistischen Wirtschafts-system. In der sozialistischen Wirtschaft wirdder/die ArbeiterIn freilich auch mehr Werte

produzieren müssen, als er/sie zu seiner Er-haltung braucht. Aber über die Verwendungdes „Mehrwertes“ entscheidet dann nichteinE KapitalistIn, dem/der es um den eigen-en Profit geht, sondern die Gemeinschaft.

Die kapitalkräftigsten KapitalistInnen ver-wenden einen großen Teil des Mehrwertesfür die neue, technisch verbesserte Produk-tion. Das verschafft ihnen ein gewaltigesÜbergewicht über ihre schwächeren Konkur-rentInnen, und führt schließlich zur Vorherr-schaft der Großen auf allen Gebieten deskapitalistischen Wirtschaflebens. Aus demKapitalismus der freien Konkurrenz entwick-elt sich der monopolistische Kapitalismus:Einige wenige, riesenstarke und internationalverfilzte Kapitalmonopole beherrschen dieWirtschaft der kapitalistischen Länder: Siesetzen die Preise fest, teilen die Absatzge-biete untereinander auf und machen dieKapitalistInnen als UnternehmerInnen, alsLeiterInnen der Produktion überflüssig, dain den Mammutunternehmungen die eigent-liche Geschäftsführung von DirektorInnenund leitenden Verwaltungsfachleuten, kurzManagerInnen, ausgeübt wird.

Nach Marx ist ein krisenfreier, sich har-monisch entwickelnder Kapitalismus nichtmöglich. In der Marxschen Krisentheoriewerden jene Entwicklungstendenzen bloß-gelegt, die in gewissen Zeitabständen zuWirtschaftskrisen führen: Die Kapitalist-Innen (und die Kapitalmonopole) sind daraninteressiert, viel Kapital zu akkumulieren(anzuhäufen) und mit dessen Hilfe mehr,besser, rationeller zu produzieren. Aber diegleichen KapitalistInnen und Kapitalmono-pole sind im Klassenkampf gegen „ihre“ Ar-beiterInnen bemüht, deren Löhne so niedrigals möglich zu halten. Diese Beschränkungder Kaufkraft der breiten Massen führt beisteigender Produktion zu Absatzstockungen,die eine wesentliche Rolle bei der Auslösungvon Wirtschaftskrisen spielen: „Der letzte

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Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer dieArmut und Konsumationsbeschränkung derMassen gegenüber dem Trieb der kapitalistischenProduktion, die Produktivkräfte so zu entwi-ckeln, als ob nur die absolute Konsumations-fähigkeit der Gesellschaft ihre Grenzen bildet.“(Marx im „Kapital“). Neben dieser Haupt-ursache gibt es noch eine Reihe anderer, vonMarx ausführlich behandelter Krisenur-sachen, die wir hier vernachlässigen müssen.

Aber die Krise führt nicht automatisch,nicht unabhängig vom menschlichen Verhal-ten, zum Zusammenbruch des Kapitalismus.Kapitalistische Warenproduktion, Aneignungdes Mehrwerts, Konzentration des Kapitals,aus den Produktionsverhältnissen des Kapi-tals entspringende Krisen – all das sind inMarxscher Sicht von Menschen ausgelösteVorgänge. Marx erwartet den Zusammen-bruch des Kapitalismus daher nicht alszwangsläufige Folge einer mechanischenGesetzmäßigkeit. Er war überzeugt, dass diekapitalistische Gesellschaft durch Aktionen –also geplante und spontane Handlungenbewusster Menschen – beseitigt werdenwird. Auf Grund einer sorgfältigen Analyseder einzelnen Klassen und Schichten derbürgerlichen Gesellschaft kam er zu demErgebnis: Die wachsende, in den Betriebender Großindustrie konzentrierte, an kollekti-ves Wirken gewöhnte ArbeiterInnenklasse istdank ihrer besonderen sozialen Lage dazuberufen, das Volk im Kampf gegen den Kapi-talismus und im Ringen um eine sozialis-tische Gesellschaft zu führen.Die innerenGegensätze des Kapitalismus schaffen nachMarx nur die objektiven Voraussetzungen fürdiese geschichtliche Tat. Der Kapitalismus,so lehrte er, hat in den modernen Proletarier-Innen seine eigenen TotengräberInnen undzugleich das Bauvolk der kommenden Weltdes Sozialismus hervorgebracht. Mit Rechtstellen denkende SozialistInnen – im Gegen-satz zu den an Marxzitaten klebenden Dog-

matikerInnen – die Frage:Welche Veränder-ungen hat der Kapitalismus seit dem Wirkenvon Marx durchgemacht? Wodurch unter-scheidet sich dieser „Neokapitalismus“ vomklassischen Kapitalismus-Modell, wie wir esin den Schriften von Marx und Engelsvorfinden? Dazu ist zunächst zu sagen, dasszwei wesentliche Einschätzungen von derEntwicklung eindruckvoll bestätigt wurden.Die Konzentration des Kapitals hat in allenfortgeschrittenen kapitalistischen Länderngewaltige Ausmaße erreicht: Einige wenigeMonopole beherrschen das Wirtschaftsleben.Die kleinen KapitalistInnen wurden von dengroßen entweder „inhaliert“ oder bei Auf-rechterhaltung ihrer formalen Selbständig-keit in ein drückendes Abhängigkeitsverhält-nis zu den Mächtigen gebracht. Der mono-polistische Charakter des modernen Kapita-lismus wird heute übrigens auch von vielennichtmarxistischen NationalökonomInnenund SoziologInnen festgestellt. Er ist einfachnicht zu übersehen.

Von einem „Freien Spiel der Kräfte“kann nicht mehr die Rede sein. Als ebensorichtig hat sich Marxens Einschätzung deszahlenmäßigen Klassenkräfteverhältnisseszwischen der ständig wachsenden Arbeiter-Innenschaft und den EigentümerInnen derProduktionsmittel erwiesen: In allen fortge-schrittenen kapitalistischen Ländern bildendie so genannten Unselbständigen (das sindArbeiterInnen und Angestellte, die keineProduktionsmittel besitzen und ihre Arbeits-kraft daher verkaufen müssen) die großeMehrheit der berufstätigen Bevölkerung,während die selbstständigen LandwirtInnen,Kaufleute, HandwerkerInnen usw. an Zahlimmer geringer werden. Auch hier bestätigenSoziologie und Statistik die Richtigkeit derMarxschen Voraussagen. Dennoch hat sichder Kapitalismus gewandelt. Sehen wir unsdiesen gewandelten neuen Kapitalismusetwas näher an.

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Auf Fahnen, T-shirts, … Nachdem du auch den drittenkurzen Schaft angesteckt hast, bist du schon fast fertig.Was sich verändert hat, und warum doch alles beim altengeblieben ist.

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Der neue Kapitalismus

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Der neue Kapitalismus

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In den großen, jahrzehntelangen Klassen-kämpfen sind bemerkenswerte Veränder-ungen im Gesellschaftsgefüge des Kapital-ismus herbeigeführt worden, die Marx nichtvorausgesehen hat und zu seiner Zeit nichtvoraussehen konnte. Diese Veränderungenzu untersuchen, ist eine der wichtigsten Auf-gaben der MarxistInnen von heute.

Die dem Kapitalismus innewohnendeTendenz zur Verelendung der breiten Mas-sen, die in den großen Wirtschaftskrisen derVergangenheit dramatische Formen annahm,ist durch den Kampf der ArbeiterInnen undAngestellten um soziale Verbesserungen weit-gehend überwunden worden.

Wenn auch die im Kampf errungenensozialen Verbesserungen stets von neuem be-droht sind, so kann dennoch gesagt werden,dass es in keinem fortschrittlichen kapitalis-tischen Land in der Gegenwart eine totalverelendete ArbeiterInnenklasse gibt.

Der Aufstieg der arbeitenden Menschenist aber – das kann nicht oft genug betontwerden – in keinem dieser Länder auf dasEntgegenkommen der KapitalistInnen(zwecks Irreführung auch „Sozialpartner“genannt) zurückzuführen, sondern das Er-gebnis harter Klassenkämpfe: Nichts wurdeden ArbeiterInnen und Angestellten ge-schenkt. Stets haben sich die KapitalistInn-en dem sozialen Fortschritt widersetzt. JedeStunde Arbeitszeitverkürzung musste ihnenabgerungen werden.

Der neue Kapitalismus unterscheidet sichvom alten aber auch dadurch, dass er Ele-mente der wirtschaftlichen Planung, Lenk-ung und staatlichen Intervention enthält.Die moderne bürgerliche Nationalökono-mie, zu deren bedeutendsten Köpfen Keynesgehörte, hat, inspiriert von marxistischenErkenntnissen, ein Wirtschaftsinstrumentari-um entwickelt, das es kapitalistischenStaaten möglich macht, Wirtschaftskrisen

einzudämmen und zumindest in gewissenZeitabständen die Vollbeschäftigung auf-rechtzuerhalten. Das ist eine bedeutsameVeränderung, die nicht bagatellisiert werdendarf.

Aber beeilen wir uns, hinzuzufügen: Die-se Planungs- und Lenkungsmaßnahmen des„Neokapitalismus“ sind weit davon entfernt,sozialistisch zu sein.

Sie werden meist nur zögernd und inkon-sequent angewendet, weil einflussreicheGruppen des Kapitals an einer gewissen Ar-beitslosigkeit interessiert sind, um dieKampfkraft der Gewerkschaften zu schwä-chen und die Position der ArbeiterInnen-klasse im Ringen um die Verteilung desSozialproduktes zu erschüttern, Vollbe-schäftigung, so lautet eine These der Kapi-talistInnen, untergräbt die Arbeitsmoral.

Vor allem darf aber nicht übersehenwerden, dass der „Neokapitalismus“ eineautoritäre, von TechnokratInnen und Mana-gerInnen beherrschte Planung vorsieht, undsich, solange er kann, gegen die Forderungnach betrieblicher und überbetrieblicherMitbestimmung zur Wehr setzt: Die Ange-hörigen jener Klasse, die die große Mehrheitder berufstätigen Bevölkerung umfasst,sollen im Betrieb und in der Wirtschaftweiterhin UntertanInnen sein. Das Privilegder Macht teilen sich UnternehmerInnenund ManagerInnen, wobei die letzterenimmer größere Bereiche bekommen undimmer selbstbewusster werden.

Typisch für die Wirtschaftspolitik des mo-dernen, sich sozial gebärdenden „Neokapi-talismus“ ist die Vergeudung von materiellenWerten. Phantastische Summen werden fürReklamezwecke ausgegeben. Mit raffiniert-esten Mitteln der Werbepsychologie, die sichauch tiefenpsychologischer Erkenntnisse be-dient, werden die KonsumentInnen manipu-liert.

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Hier entsteht eine neue Form der kapitalis-tischen Ausbeutung: Der/die manipulierteKonsumentIn kauft Waren, die er/sie nichtbraucht und die auch kein echtes Bedürfnisbefriedigen.

Der Kauf erfolgt unter psychologischemDruck. Es wurde ihm/ihr suggeriert, dassdiese oder jene Anschaffung sein/ihr Prestigeerhöht, ihn/sie in den Augen der Nachbar-Innen und BerufskollegInnen besserdastehen lässt etc.

Diese besondere Form der Konsument-Innenausbeutung hat dazu geführt, dass inden „neokapitalistischen“ Ländern mit demhöchsten Lebensstandard (besonders giltdas für die USA) eine zutiefst unglücklicheBevölkerung lebt: Bei ständig steigenderKriminalität und ebenso ständig steigenderZunahme der Geisteskrankheiten jagen diemanipulierten und verschuldeten MenschenWaren nach, die aufgehört haben, Gebrau-chsgüter zu sein, denen nur mehr die Be-deutung von Statussymbolen“ zukommt, dasheißt, man/frau will sie besitzen, um damitrenommieren zu können.

Hier haben wir es mit einer gespensti-schen Form der Entfremdung zu tun. Hinzukommt, dass diese verschuldeten Konsu-mentInnen in gewissen Zeitabständen von„Rezessionen“ (Wirtschaftsrückschlägen)und Währungskrisen hart getroffen werden.

Von einer krisenfreien Wirtschaft kanndaher auch unter „neokapitalistischen“Bedingungen keine Rede sein.

Die größte Gefahr, die vom neuen oder, wiees vielleicht richtiger heißen sollte, vomSpätkapitalismus ausgeht, besteht aber da-rin, dass er starke Tendenzen aufweist, dieRüstung zum Krieg mit seiner Wirtschafts-politik zu koppeln.

Auf die Gefahr hat bereits nach 1945Paul Sering in seinem Buch „Jenseits desKapitalismus“ aufmerksam gemacht. Er

schildert überzeugend die ökonomischenGründe, die das Kapital veranlassen, staat-liche Aufträge für Rüstungszwecke allen an-deren Aufträgen vorzuziehen.

„Wohlfahrtsplanung ist nur durch direkteHebung des Einkommensanteils der arbeitendenSchichten möglich, und das bedeutet automati-sche Senkung des Einkommensanteils, der aufKapitaleigentum beruht und dessen Quellen derkapitalistische Profit ist.Wir stoßen hier auf dasgrundlegende Dilemma aller kapitalistischenProduktionen: die Abhängigkeit jeder Produkt-ionssteigerung von wachsendem Verbrauch einer-seits, wachsendem Profit andererseits.

Die Ausschaltung dieses Dilemmas durchPlanung kann nur dort gelingen, wo ein wesent-licher Teil der Investitionen planmäßig in Rich-tungen gelenkt wird, die vom Verbrauch derarbeitenden Massen unabhängig sind: die Pro-duktion von Bomben hat gegenüber der Pro-duktion von nützlicheren Dingen den Vorteil,dass ihr Verkauf nicht von der Höhe derbezahlten Löhne abhängt.“

Bei der Beurteilung des gewandeltenSpätkapitalismus darf ein wesentlichesMoment nicht übersehen werden: Nur eineMinderheit der Menschheit lebt in denLändern, die jenen relativen und problem-atischen Wohlstand genießen, der von denAdvokatInnen des „Neokapitalismus“gepriesen wird. Gleichzeitig wachsen derHunger, das Elend, die chronische Unterer-nährung in der so genannten Dritten Welt.

Die Verelendung, die es in ihrer krassenForm in den fortgeschrittenen kapitalisti-schen Ländern nicht mehr oder nur nochfür diskriminierte Minderheiten gibt, be-herrscht die riesigen Flächen Asiens, Afrikasund Lateinamerikas, also jene Gebiete, wodie Mehrheit der Menschen lebt.

Während der moderne Kapitalismusgigantische materielle Werte vergeudet undnicht einmal davor zurückschreckt, Lebens-mittel zu vernichten, verhungern auf anderen

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Kontinenten Frauen und Männer, Kinderund GreisInnen.

Die mit neokolonialistischen Plänenverknüpfte „Entwicklungshilfe“ vermag denHunger in der Welt nicht zu stillen. Es zeigtsich immer deutlicher, dass die reichen In-dustrieländer des Westens, solange sie kapi-talistisch sind, auf die verzweifelten Fragender Massen in den so genannten Entwick-lungsländern keine Antwort geben können.Es ist daher eine Lüge, wenn die Advo-katInnen des „Neokapitalismus“ behaup-ten: „Wir leben in einer Wohlstandsge-sellschaft.“

Wer als HumanistIn in der ganzen Mensch-heit eine Familie erblickt, wird es nichtwagen, von einer „Wohlstandsgesellschaft“zu reden, solange die meisten Familienmit-glieder bittere Not leiden und viele vonihnen vom Hungertod bedroht sind.

Sagen wir es noch klarer: Wer die Bilderhungernder und verhungernder Kinder ausasiatischen oder afrikanischen Ländernbetrachtet, erkennt schaudernd, dass dieMenschheit der Barbarei näher ist, als der„Wohlstandsgesellschaft“ satter Spießer-Innen. Aus der Auseinandersetzung über dieWandlungen des Kapitalismus ergeben sicheinige Antworten auf die für uns so wichtigeFrage: Warum sind wir SozialistInnen?

Wir sind SozialistInnen, weil wir dieEntwicklung des Kapitalismus, die seitMarx weiter gegangen ist, aufmerksambeobachtet haben. Das Ergebnis unsererBeobachtungen lässt sich in einem Satzzusammenfassen:

Der neue oder gewandelte Kapital-ismus (Auch „Neokapitalismus“ genannt)hat nicht aufgehört, eine menschenun-würdige Gesellschaft zu sein, die jedeHumanistin und jeden Humanisten zumProtest herausfordert.

Wir sind SozialistInnen, weil wir einePlanung und Wirtschaftslenkung, dienicht mit echter Mitbestimmung für dieArbeitenden verbunden ist, ablehnen.Wir sehen in einer Machtfülle für Techno-kratInnen, BürokratInnen und Manager-Innen eine Gefahr für die Demokratie.

Wir sind SozialistInnen, weil wir dieVergeudung und Zerstörung materiellerWerte angesichts des Hungers vonMillionen Menschen für ein Verbrechengegen die Menschheit halten. Der mo-derne Vergeudungskapitalismus ist in un-serer Sicht zutiefst unmoralisch.

Wir sind SozialistInnen, weil wir derMeinung sind, dass der (relative undproblematische) Wohlstand in den hochentwickelten kapitalistischen Industrie-ländern des Westens auf Kosten der sogenannten Entwicklungsländer erworbenwurde, die auch heute benachteiligt unddiskriminiert werden, vor allem im Be-reich des Welthandels.

Wir sind SozialistInnen, weil wir er-kannt haben dass die Hebung desLebensstandards unter kapitalistischenEigentumsverhältnissen nicht zu einemgeistigen und kulturellen Aufstieg führt:In den für den „Neokapitalismus“ ty-pischen Ländern (USA in erster Linie) isteher das Gegenteil der Fall: Die Mani-pulation macht die Menschen zu Objek-ten einer profitgierigen Vergnügungs-und Verdummungsindustrie.

SozialistIn sein bedeutet daher: denKapitalismus auch in seiner modernen,gewandelten Form abzulehnen und alleVersuche, die ArbeiterInnenklasse in diebestehende Gesellschaft zu integrieren,zu bekämpfen. Wer sich mit dieser Gesellschaft versöhnt, hört auf, SozialistIn zusein.

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Oder z.B. in dieser Broschüre. Nun verbindest du dieSchäfte miteinander. Nimm dazu ebenfalls drei mittellangeStifte. Warum der Sozialismus nicht von selbst kommt.

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Kommt nach dem Kapitalismus der?

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Kommt nach dem Kapitalismus der Sozialismus?

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Auf die Frage nach dem Weg zum Sozialis-mus gibt es in den Schriften von Marx undEngels nur eine allgemeine, man/frau könnteauch sagen zurückhaltende Antwort: EinMarxsches Kochbuch, das Rezepte für dieVerwirklichung des Sozialismus enthält istnie geschrieben worden. Wir müssen unddaher – auch wenn es anstrengend ist – die

eigenen Köpfe zerbrechen, wobei die marx-istische Untersuchungsmethode eine un-schätzbare Hilfe bedeutet.

Marx und Engels haben lediglich daraufhingewiesen, dass die Enteignung der priva-ten EigentümerInnen der Produktionsmittelund deren Verwandlung in Gemeineigentumeine Voraussetzung für den Aufbau des Sozi-alismus ist. Und sie haben betont, dass einesozialistische Gesellschaft, worunter sie eineGesellschaft ohne Klassen verstanden, nichtvon heute auf morgen entstehen und vorallem nicht von irgendeiner Instanz dekretiertwerden kann. Eine Periode des Übergangswar ihrer Meinung nach unvermeidlich. Unddiese Übergangsperiode bezeichneten sie als„Diktatur des Proletariats“.

Es gibt ängstliche SozialistInnen, die sichscheuen, diese Worte auszusprechen, weil siefürchten, die bürgerlichen GegnerInnenwerden sie gegen uns ausnützen.

Als Marx und Engels den Begriff „Dikta-tur des Proletariats“ prägten, hatte das WortDiktatur noch eine ganz andere Bedeutungals heute. Man/frau verstand darunter nichtein barbarisches Schreckensregime, wie wires unter dem Faschismus erlebt haben, und

auch nicht ein terroristisches Polizeiregime,wie es sich unter Stalin in der Sowjetunionherausgebildet hat, sondern der BegriffDiktatur wurde lediglich mit Herrschaftübersetzt. Im Kapitalismus gab es nachMarx und Engels die „Diktatur derBourgeoisie“ (des GroßbürgerInnentums, derKapitalistInnen) und dieser stellten sie die

Diktatur (= Herrschaft) des Proletariats(ArbeiterInnenklasse) gegenüber.

Aus Marx’ Schrift über die Pariser Kommu-ne (1871) geht eindeutig hervor, dass er undEngels unter der Diktatur des Proletariatseine sozialistische Demokratie verstanden,die weitgehende Freiheit für die großeMehrheit bedeutet, aber die auch bereit ist,harte Maßnahmen gegen die gestürzteMinderheit der Privilegierten, der ehemal-igen AusbeuterInnen, anzuwenden. Niemalshaben Marx und Engels unter „Diktatur desProletariats“ eine Diktatur der Bürokratieüber und gegen die ArbeiterInnen verstan-den. Dennoch scheint es richtig zu sein, inder Gegenwart auf den Begriff „Diktaturdes Proletariats“ zu verzichten, weil er nurzu Missverständnissen führen könnte. Nachall dem furchtbaren, was sich unter Hitlerund den anderen Diktatoren ereignet hat, istdas Wort Diktatur zutiefst kompromittiert.Auch wir als SozialistInnen denken, wennwir es hören, an die stalinistischen Hexen-prozesse oder an die Konzentrationslagerund Gaskammern im Dritten Reich.

Übrigens hat auch der Begriff Komm-unismus heute eine andere Bedeutung als

Niemals haben Marx und Engels unter „Diktatur desProletariats“ eine Diktatur der Bürokratie über und gegen die ArbeiterInnen verstanden.

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bei Marx und Engels. Damals verstandman/frau darunter die höchste Phase dersozialistischen Gesellschaft. Der „Bund derKommunisten“ und das „KommunistischeManifest“ leiten ihre Namen von der sozia-listischen Zielsetzung ab. Heute verstehtman/frau unter Kommunismus bestimmtepolitische Parteien und Regime, mit denenwir uns noch beschäftigen werden.

Wie die Vergesellschaftung der Produkt-ionsmittel erfolgen soll, welche Einricht-ungen sie notwendig macht, darüber findenwir fast nichts bei Marx und Engels, außereinigen Hinweisen auf die Erfahrungen derPariser Kommune.

Mit Recht wird daher bei Diskussionenoft die Frage gestellt: Warum hat Marx dickeWerke über den Kapitalismus geschrieben,uns aber nicht gesagt, wie eine sozialistischeWirtschaft und Gesellschaft funktionierensollen? Diese Schwäche des Marxismus istzugleich seine Stärke: Marx und Engelshaben – im Gegensatz zu den utopischenSozialistInnen – keine Pläne einer sozialisti-schen Zukunftsgesellschaft am Schreibtischkonstruiert, weil sie der Überzeugung waren,der Sozialismus werde das Werk der arbei-tenden Massen selbst sein.

Und diese Massen, geführt von einerbewussten Vorhut, können nur in einemlangen, widerspruchsvollen Prozess aus deneigenen Erfahrungen lernen.

Unter den österreichischen SozialistInnenwar vor allem Otto Bauer, der große Denkerder austromarxistischen Schule, jener, derkonkrete Vorstellungen für den Weg zumSozialismus entwickelte, die auch heute wertsind, beachtet zu werden.

Otto Bauer war der Meinung, dass dieauf demokratischen Weg zur Macht gekom-menen SozialistInnen damit beginnenmüssen, die wichtigsten und größten Pro-duktionsmittel (nicht etwa alle) aus demEigentum der KapitalistInnen und Konzer-

ne in Gemeineigentum zu überführen. Aberdiese Veränderung der Eigentumsverhält-nisse soll nicht in jeden Fall Verstaatlichungbedeuten: Nur bestimmte Bereiche derProduktion, vor allem der Schwerindustrie,sind für die Übernahme durch den Staatgeeignet. In anderen Bereichen, zum Bei-spiel in der Fertigung von Konsumgütern,sind andere Eigentumsformen, kommunale,genossenschaftliche, der Verstaatlichungvorzuziehen.

Der Weg zum Sozialismus führt also nachOtto Bauer nicht über die totale Verstaat-lichung, sondern eine Vielfalt von gemein-wirtschaftlichen Eigentumsformen erweistsich als zweckmäßig, wobei gewisse Berei-che, wie die persönlichen Dienstleistungenin privaten Händen bleiben können, ohnedadurch den Sozialismus zu gefährden.

Otto Bauer wurde auch nicht müde,darauf aufmerksam zu machen, dass diebloße Änderung der Eigentumsverhältnissenicht genügt, sondern dass in der gesamtenWirtschaft und in jedem einzelnen Betriebdie Beziehungen zwischen den Menschengrundlegend geändert werden müssen.Wir wollen von uns aus hinzufügen: Autori-tärere Strukturen kann es nicht nur unterprivatkapitalistischen Bedingungen geben.Es ist auch vorstellbar, dass in einem ver-staatlichten Betrieb oder in einem vergenos-senschaftlichen Unternehmen der/die Direk-torIn und die anderen SpitzenmanagerInneneinen „Herr-im-Haus“-Standpunkt ein-nehmen und daher die Beschäftigten nichtdas Recht haben, mitzureden und mitzube-stimmen.

Der Übergang zum Sozialismus erforderteine Demokratisierung aller gesellschaft-lichen Bereiche vor allem der Arbeitsstätten.Daher genügt es nicht, die Eigentumsver-hältnisse zu ändern – so wichtig dieser Akt

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auch ist – sondern es ist ebenso notwendig,die „Herr-Untertan“-Beziehung zu beseiti-gen was nur durch eine weitgehende betrieb-liche und überbetriebliche Mitbestimmungmöglich ist.

Der/die ArbeiterIn und Angestellte darfsich nicht mehr als anonymes, den „Oberen“hilflos ausgeliefertes Rädchen fühlen,sondern muss das Bewusstsein haben, dasser/sie das Geschehen auch im eigenen

Betrieb mitgestaltet. Jede Befehlwirtschaftwiderspricht dem Wesen und Sinn desSozialismus.

Bürokratisches Kommando kann nichtsozialistische Gesellschaftsformen hervor-bringen, sondern führt, wenn es kein privat-kapitalistisches Eigentum an den Produkt-ionsmittel mehr gibt, zur Entartung desSozialismus, zur Herausbildung einer pri-vilegierten Schicht, die sich immer weitervon den Massen entfernt.

Die Gefahr einer solchen bürokratischenFehlentwicklung ist vor allen in der Über-gangszeit, wo wir es nicht mit Generationenzu tun haben, die im Kapitalismus heran-gewachsen sind, riesengroß. Belehrt durchbittere geschichtliche Erfahrungen wissenwir, dass nach dem Sturz des Kapitalismusnicht der Sozialismus kommen „muss“,sondern lediglich die Chance besteht, ihn zuverwirklichen. Er kann sich auch auf derGrundlage einer nichtkapitalistischen Wirt-schaft ein bürokratisch-terroristischesRegime etablieren, das die große Idee desSozialismus diskreditiert.

Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozi-alismus ist daher ein kühnes Experiment.Der Erfolg hängt neben objektiven Faktorennicht zuletzt von der Wachsamkeit derSozialistInnen ab, von ihrer Fähigkeit, dieführenden Leute aus den eigenen Reihen zukontrollieren und vor der Entartung zu be-wahren. Manche SozialistInnen werdenungeduldig, wenn von diesen Gefahren nachdem Sturz des Kapitalismus die Rede ist.

„Unser Problem“, so geben sie zu bedenken,„besteht doch darin, wie wir mit den Kapitalist-Innen fertig werden. Ist dazu eine Revolutionnotwendig, oder kann das Ziel auch durch Re-formen erreicht werden?“

Bevor wir uns der Beantwortung dieserFragen zuwenden, sei den Ungeduldigenentgegnet: Die sozialistische Bewegung vonheute wird nur dann glaubwürdig sein undernst genommen werden, wenn sie sicheingehend mit dem beschäftigt, was nachdem Kapitalismus kommen soll. Die bloßeVerneinung der bestehenden Gesellschaft istkein Programm!Hier unterscheidet sich dieSituation zeitgenössischer SozialistInnengrundlegend von jener, in der sich Marxund Engels befanden. Nachdem was unterStalin im Namen des Sozialismus verbroch-en wurde, ist es nicht mehr möglich, nur imKapitalismus die GegnerInnen zu sehen. Dieunversöhnliche Opposition zum kapitalisti-schen Gesellschaftssystem darf nicht zurUnterschätzung jener Gefahren führen, dieaus bürokratischen und autoritären Quellendes eigenen Lagers kommen, die sich alsojenseits des Kapitalismus befinden.

Die sozialistische Bewegung von heute wird nur dann glaubwürdig sein und ernst genommen werden, wenn sie sich

eingehend mit dem beschäftigt, was nach dem Kapitalismus kommen soll.Die bloße Verneinung der bestehenden Gesellschaft ist kein Programm!

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Jetzt verbindest du den unteren Halbkreis mit den fertigendrei Pfeilen. Nimm dazu einen grossen Stift. Warum sichbeide nicht gegenseitig ausschliessen.

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Reform und Revolution

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Reform und Revolution

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In der Vergangenheit hat es in der interna-tionalen ArbeiterInnenbewegung einen jahr-zehntelangen Streit über die Frage: Reformoder Revolution? gegeben. Die so genanntenReformistInnen (auch RevisionistInnen ge-nannt), deren bedeutendster Theoretiker derdeutsche Sozialdemokrat Eduard Bernsteinwar, stellten das sozialistische Ziel in den

Hintergrund. Ihnen bedeutete die Beweg-ung, die Reformen durchsetzt, alles. In denSozialismus, so entgegneten sie auf den Vor-wurf, das Ziel vergessen zu haben, werdeman/frau „friedlich hineinwachsen“.

Über die Entwicklung des Kapitalismushatten die „BernsteinianerInnen“ eine naive,fast könnte man/frau sagen idyllische Vor-stellung. Sie meinten, die Zeit großerErschütterungen sei zu Ende, die Klassen-gegensätze würden sich abschleifen, undauch große Kriege werde es in einem „ver-nünftig“ gewordenen Kapitalismus nichtmehr geben.

Diese Prognosen wurden von EduardBernstein vor dem Ersten Weltkrieg in derAuseinadersetzung mit dem linken, auf demBoden des Marxismus stehenden Flügel derArbeiterInnenbewegung entwickelt. Dieseither eingetretenen Ereignisse habenBernstein grausam widerlegt: Es gab zweiWeltkriege, die russische Revolution, Revo-lutionen und Gegenrevolutionen in Mittel-europa, die große Wirtschaftskrise und dieKatastrophe des Faschismus.

Was sich gegenwärtig in der so genanntenDritten Welt ereignet, passt ebenso wenig in

das Schema der Bernsteinschen Illusionenvom „friedlich“ und „vernünftig“ geworde-nen Kapitalismus. In einem hat Bernsteinfreilich recht behalten: Der Spielraum fürdie Durchsetzung von Reformen ist imSpätkapitalismus wesentlich größer als diemeisten MarxistInnen angenommen haben.Es kann nicht geleugnet werden, dass in den

fortgeschrittenen Industrieländern für dieArbeiterInnen und Angestellten mehr aufsozialpolitischem Gebiet erreicht werdenkonnte, als die PionierInnen der Arbeiter-Innenbewegung zu träumen gewagt hatten.

Aber machen diese Reformen die Revo-lution überflüssig? Bevor wir diese Fragebeantworten, ist es notwendig, die BegriffeReform und Revolution zu erklären.

Unter Reform verstehen wir eine günsti-ge Veränderung, eine Verbesserung, die dasGrundübel aber nicht beseitigt. Unter Re-volution verstehen wir eine grundlegende,bis an die Wurzel reichende Umwälzung.Nehmen wir ein Beispiel, das uns besser alsjede Definition den Unterschied zwischenReform und Revolution veranschaulichenwird: Die Einführung des Acht-Stunden-Tages war eine Reform, keine Revolution.Warum? Weil die Herabsetzung der Arbeits-zeit eine Veränderung, eine Verbesserung,bedeutete, aber das Prinzip der kapitalis-tischen Ausbeutung nicht berührte: Auch inder achtstündigen Arbeitszeit blieb dasVerhältnis zwischen KapitalistIn und Prole-tarierIn das gleiche: dieseR wurde vonjenem/jener ausgebeutet.

Was sich gegenwärtig in der so genannten Dritten Weltereignet, passt ebenso wenig in das Schema derBernsteinschen Illusionen vom „friedlich“ und „vernünftig“gewordenen Kapitalismus.

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Was für den Achtstundentag gilt, gilt für alleanderen sozialen Errungenschaften: Urlaubs-recht, BetriebsrätInnengesetz, Sonntagsruhe,Jugendschutz usw. All das sind Reformen,die wohl das Leben des arbeitenden Volkesänderten, aber die Struktur der Gesellschaftnicht prinzipiell verändern und daher keineRevolution bedeuten.

Hüten wir uns vor der weit verbreitetenMeinung, wonach das entscheidende Merk-mal der Revolution blutiger bewaffneterKampf ist. Es hat in der Vergangenheitblutige, bewaffnete Revolutionen gegeben.Aber das schließt die Möglichkeit unblut-iger, nur mit politischen Waffen kämpfenderRevolutionen keineswegs aus. Der Unter-

schied zwischen Reform und Revolutionbesteht nicht darin, dass diese unbedingtblutig und jene stets friedlich ist. Der Unter-schied bezieht sich – das kann nicht klargenug herausgearbeitet werden – auf denGrad der erzielten Veränderung. In dertheoretischen Darstellung ist es notwendig,Reform und Revolution einander schroffgegenüberzustellen. Nur so kann der Unter-schied zwischen beiden illustriert werden. Inder Wirklichkeit gibt es weniger schroffeGegensätze als im Laboratorium der Theo-rie. Da finden sich sehr häufig Übergängeund Kombinationen, da sind die Grenzennicht fest, sondern fließend. Der Kampf umReformen kann daher mit der revolutionärenBewegung, die die Revolution vorbereitet,zusammenfallen. Im Laufe der Entwicklungwächst die eine Kampfform in die anderehinüber: Heute wird noch um eine Reformgerungen, morgen schlägt dieser Kampfbereits in die Revolution um. In den hochentwickelten Industrieländern des Spätkapi-

talismus muss der Begriff „Revolution“ freivon Romantik untersucht werden. Es istkaum anzunehmen, dass es in einem dieserLänder eine Revolution geben wird, die demrussischen oder dem chinesischen Modellentspricht. Auch lateinamerikanischeRevolutionsmodelle sind auf den modernenSpätkapitalismus nicht übertragbar. Werdavon schwärmt, ist nicht MarxistIn,sondern lediglich romantisch veranlagt.

Die Revolution in einem spätkapitalisti-schen Land ist nur vorstellbar als ein kom-plizierter Prozess von Strukturveränder-ungen, die letzten Endes zur Herausbildungder neuen, sozialistischen Gesellschaftführen.

Diese Strukturveränderungen können durchReformen herbeigeführt werden – aber nurdurch solche Reformen, die antikapitalisti-schen Charakter haben, die den Rahmender bestehenden Gesellschaft nicht respek-tieren. Man/frau kann in diesem Fall vonrevolutionären Reformen sprechen, was nurscheinbar ein Widerspruch ist. Zu denwichtigsten dieser Reformen gehört einegesetzlich verankerte betriebliche und über-betriebliche Mitbestimmung.

Revolutionäre Politik bedeutet nichtdie Verneinung der Übernahme derRegierungsverantwortung durch dieSozialistInnen. Alles hängt davon ab, obdie zur Regierung gekommenen Sozia-listInnen sich als VerwalterInnen desKapitalismus betätigen oder ob siebemüht sind, durch tiefreichendeStrukturreformen das kapitalistischeSystem zu überwinden.

Nur im letzteren Fall handelt es sichum sozialistische Politik.

Der Kampf um Reformen kann daher mit der revolutionären Bewegung,die die Revolution vorbereitet, zusammenfallen.

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56Verbinde jetzt den oberen Halbkreis mit den Pfeilen unddem unteren. Verwende dazu einen grossen und zweimittlere Stifte. Warum wir sie bejahen und wo ihreGrenzen sind.

12.

Parlamentarische Demokratie und Sozialismus

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Die parlamentarische Demokratie bedeuteteinen gewaltigen Fortschritt verglichen mitden absolutistischen, autoritären und fasch-istischen Regierungsformen. In vielen Län-dern, besonders trifft dies für Österreich zu,ist die parlamentarische Demokratie von derArbeiterInnenbewegung in jahrzehntelangen,opferreichen Kämpfen durchgesetzt worden.Es genügt, an die harten Auseinandersetz-ungen um das allgemeine gleiche und ge-heime Wahlrecht zu erinnern, die für immermit dem Namen Viktor Adler, des großenLehrers und Erziehers der österreichischenArbeiterInnen, verbunden sind.

Das BürgerInnentum, das einst in seinerJugend gegen den Feudaladel demokratischeIdeale vertrat, hat sehr bald mit den herr-schenden Mächten Frieden geschlossen undes der aufstrebenden ArbeiterInnenklasseüberlassen, die parlamentarische Demokra-tie zu erkämpfen und zu verteidigen.

Unter parlamentarischer Demokratie ver-stehen wir eine Regierungsform, derenwesentliche Merkmale sind: Es gibt dasallgemeine, gleiche und geheime Wahl-recht, das es allen StaatsbürgerInnenmöglich macht, an den politischenWahlen teilzunehmen und unter be-stimmten Voraussetzungen auch selbstgewählt zu werden.

Die Zusammensetzung und Politik derRegierung wird in einer parlamentarischenDemokratie durch die Kräfteverhältnisse inder gewählten Volksvertretung (Parlament)festgelegt. Die Entscheidung liegt bei derMehrheit. Die Minderheit hat das unbe-schränkte Recht auf Kritik. Auch das Staats-oberhaupt, dessen Befugnisse die Verfassungbestimmt, ist gezwungen, weitgehend aufdas Parlament Rücksicht zu nehmen. (Ineiner PräsidentInnenschaftsdemokratie wiees sie in den USA gibt, sind die Rechte derVolksvertretung geringer als in den parla-mentarischen Demokratien Europas.)

Zum Wesen der Parlamentarischen Demo-kratie gehört das Mehrparteiensystem. Dasbedeutet: Die StaatsbürgerInnen haben dasRecht, verschiedene Parteien zu bilden, diebei Wahlen um die Gunst der WählerInnenwerben. Einparteiensystem und parlamen-tarische Demokratie schließen einander aus:Wo nur eine Partei das Monopol auf diepolitische Willensbildung hat, kann nichtvon Demokratie die Rede sein. Demokratiebedarf stets der Vielfalt und des Rechtes aufOpposition.

Die parlamentarische Demokratie gibtder gewählten Volksvertretung (Parlament)das Recht, Gesetzte zu beschließen und be-stehende Gesetze zu verändern. Die Anwen-dung der Gesetze ist Sache der Exekutive,wobei aber in einer funktionierendenparlamentarischen Demokratie die gewählt-en Abgeordneten das Recht haben, die Exe-kutive zu kontrollieren.

Parlamentarische Demokratie setzt ver-fassungsmäßig und gesetzlich garantierteRechte der einzelnen StaatsbürgerInnen vor-aus, die es ermöglichen, in Wort und Schriftdie Meinung zu sagen, sich mit Gleichge-sinnten zusammenzuschließen, kurz amöffentlichen Leben frei teilnehmen zu kön-nen. Sind diese Rechte nicht gewährleistet,dann ist auch ein Parlament, das in einerAtmosphäre der Unfreiheit gewählt wurde,keine echte Volksvertretung, sondern einScheinparlament.

Ausnahmen, die das Recht auf freieMeinungsäußerung beschränken und be-stimmten Gruppen die Betätigung untersa-gen, sind in einer parlamentarischen Demo-kratie zulässig, wenn es dafür ernste Gründegibt, und diese Ausnahmebestimmungennicht von der Exekutive erlassen, sondernvom Parlament gesetzlich verankert werden.So liegt es durchaus im Interesse der Demo-kratie faschistischen, neonazistischen undantisemitischen Umtrieben einen Riegel

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vorzuschieben. Nach den Verbrechen, dieder Faschismus begangen hat, sind solcheAusnahmebestimmungen gegen alte undneue FaschistInnen moralisch gerechtfertigtund im Interesse der Demokratie notwenig.

Die parlamentarische Demokratie räumtden StaatsbürgerInnen auch das Recht ein,für die Überwindung der bestehenden unddie Schaffung einer neuen Gesellschaft zuwirken und alle gesetzlichen Möglichkeitenin den Dienst dieses Zieles zu stellen. Wirdvon den StaatsbürgerInnen verlangt, dass siesich zur „freien“ das heißt zur kapitalisti-

schen Gesellschaft bekennen, dann habenwir es mit einer deformierten, autoritäreZüge aufweisenden Demokratie zu tun. Ge-hört doch das Recht auf eine eigene Gesell-schaftsphilosophie zu den Grundrechten derdemokratischen Meinungsfreiheit.

Obwohl in der parlamentarischen Demokra-tie, wie schon ihr Name sagt, das Parlamenteine wesentliche Rolle spielt, ist die außer-parlamentarische Aktion legitim und weitdavon entfernt, „antidemokratisch“ zu sein.Das Recht der ArbeiterInnen zu streiken,das Recht der StaatsbürgerInnen öffentlichzu protestieren und demonstrieren – dassind wesentliche Bestandteile einer parla-mentarischen Demokratie. In der marxis-tischen Literatur wird die parlamentarischeDemokratie in der Regel als bürgerlicheDemokratie bezeichnet. Damit soll zumAusdruck gebracht werden, dass wir es auchunter dieser Regierungsform mit einer kapi-talistischen Gesellschaftsordnung zu tunhaben. Der Begriff „bürgerliche Demokra-tie“ soll auch vor Illusionen warnen und

daran erinnern, dass eine sozialistischeDemokratie noch zu erkämpfen ist. Dieseklassenmäßige Einschränkung des Demo-kratiebegriffes ist notwendig: Es gibt keineDemokratie „an sich“, die über den Klassenund Klassengegensätzen schwebt. JedeDemokratie, die sich unter kapitalistischenEigentumsverhältnissen entwickelt, ist bis zueinem gewissen Grad verzerrt. Dafür einBeispiel: Es gibt in der bürgerlichen DemokratiePressefreiheit für alle. Aber ein mächtiger Kon-zern, der über gigantische Kapitalien verfügt,kann diese Pressefreiheit missbrauchen, indem er

Zeitungen und JournalistInnen kauft und dankseines wirtschaftlichen Übergewichtes dieöffentliche Meinung manipuliert.

Die bürgerliche Demokratie hat auch denNachteil, dass sie sich auf den politischenBereich beschränkt. In der Wirtschaft, anden Produktionsstätten gibt es bestenfallsAnsätze einer Demokratisierung. Daher istDemokratie unter kapitalistischen Gesell-schaftsverhältnissen stets eine unterent-wickelte Demokratie voller Widersprüche.

Aber diese Erkenntnisse dürfen nicht dazuführen, dass die SozialistInnen den Wertauch einer unterentwickelten Demokratieunterschätzen. Bei aller berechtigten Kritikmuss eines unmissverständlich gesagtwerden: Auch die schlechteste bürger-liche Demokratie ist dem Faschismusund anderen autoritären Herrschafts-formen vorzuziehen.

Bildet sie doch den günstigstenKampfboden für das Ringen um denSozialismus.

Die bürgerliche Demokratie hat auch den Nachteil, dass siesich auf den politischen Bereich beschränkt.

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Hinzu kommt, dass die bürgerliche Demo-kratie, möge sie auch noch so mangelhaftund widerspruchsvoll sein, allen Staatsbür-gerInnen ein gewisses Maß an Rechtssicher-heit garantiert. Das bedeutet in der Praxis:Die Polizei kann nicht willkürlich verhaften,sondern braucht zur Verhaftung ebenso wiezur Hausdurchsuchung einen richterlichenAuftrag. Vor Gericht hat jedeR Angeklagtedie Möglichkeit, sich zu verteidigen undseine/ihre Rechte durch einen Rechtsanwaltwahrnehmen zu lassen. Das Vorgehen der

Staatsgewalt unterliegt der öffentlichenKritik. Freilich gibt es in jeder bürgerlichenDemokratie Fälle von Klassenjustiz, Ver-stöße gegen Grundsätze des Rechtes usw.Dennoch ist der Unterschied zur völligenRechtslosigkeit, in der die Menschen untereinem Diktaturregime leben, riesengroß.Diesen Unterschied nicht sehen zu wollen,ist ein unverzeihlicher Fehler, ist typisch fürultraradikale Sekten, die in der Arbeiter-Innenbewegung nur Schaden anrichten.

Die Stellung der SozialistInnen zur parla-mentarischen Demokratie unter kapital-istischen Eigentumsverhältnissen kannfolgendermaßen zusammengefasstwerden:

Die SozialistInnen bejahen die Errungen-schaften der parlamentarischen Demokratie.Sie sehen im allgemeinen, geheimen undgleichen Wahlrecht ebenso wie in den an-deren Grundrechten der StaatsbürgerInnen(Koalitionsfreiheit, Rede- und Pressefreiheit)

einen geschichtlichen Fortschritt, der nichtunterschätzt werden darf.

Die SozialistInnen sind bereit, die demo-kratisch-parlamentarische Regierungsformgegen jeden Angriff zu verteidigen, gemein-sam mit allen anderen DemokratInnen ohneUnterschied der Weltanschauung.

Die SozialistInnen übersehen nicht dieBeschränktheit einer Demokratie unterkapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen.Sie sind daher nicht bereit, sich mit derbürgerlichen Demokratie abzufinden, son-

dern entschlossen, sie zur sozialistischenweiterzuentwickeln. Sozialistische Demo-kratie bedeutet: Die Übernahme der posi-tiven Errungenschaften der bürgerlichenDemokratie, gleichzeitig aber ihre Erweiter-ung auf alle Bereiche des gesellschaftlichenLebens, also nicht weniger, sondern mehrFreiheit als der liberalste Kapitalismus zugewähren vermag.

Die SozialistInnen kämpfen in jedemparlamentarisch regierten Land um dieMehrheit im Parlament. Aber auch wenn esihnen nicht gelingt, dieses Ziel zu erreichen,bejahen sie die parlamentarische Tätigkeit.Das Parlament eignet sich vorzüglich alsTribüne: Aufgabe sozialistischer Parlamen-tarierInnen ist es, von dieser Tribüne aus dieVorstellungen der SozialistInnen zu vertre-ten. Diese agitatorische Funktion schließtdie parlamentarische Kleinarbeit, die vorallem in den Ausschüssen der Volksvertret-ung geleistet wird, keineswegs aus. Außer-parlamentarische Aktionen können eine

Die SozialistInnen sind bereit, die demokratisch-parlamen-tarische Regierungsform gegen jeden Angriff zu verteidigen, gemeinsam mit allen anderen DemokratInnen ohneUnterschied der Weltanschauung.

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wertvolle Ergänzung des parlamentarischenKampfes der sozialistischen Abgeordnetensein.

Dabei ist es aber notwenig, die Begriffeaußerparlamentarisch und antiparlament-arisch klar voneinander abzugrenzen. DieSozialistInnen lehnen jede Form des Anti-parlamentarismus entschieden ab. Es istkein Zufall, dass die italienischen Faschist-Innen, die AustrofaschistInnen und diedeutschen Nazis ihren Kampf gegen dieDemokratie mit der Verächtlichmachung des

Parlaments begonnen haben, das imFaschistInnenjargon als „Quatschbude“bezeichnet wurde.

Die Bejahung des Parlamentarismushängt eng zusammen mit der Entschlossen-heit der SozialistInnen, für einen friedlichenWeg zum Sozialismus einzutreten. EinBürgerInnenkrieg bedeutet nicht nurunermessliches menschliches Leid, sonderner führt auch zu Formen der bürokratischenund terroristischen Entartung. In einemKlima der Not, des Elends, des Hasses, desMisstrauens – und ein solches Klima ruftBürgerkrieg zwangsläufig hervor – ist esungemein schwierig, die sozialistischeDemokratie zu entfalten. Im BürgerInnen-kriegsklima sind die BürokratInnen undPolizistInnen, die in jedem/jeder, der/dieeine abweichende Meinung vertritt, gleicheinen „Agenten/Agentin des Feindes“ sehen,obenauf.

Freilich hängt es nicht von den Sozialist-Innen allein ab, ob es möglich ist, das sozia-listische Ziel auf friedlichem Weg zu erreich-

en. Was sie von sich aus dazu tun können,muss aber geschehen.

Dazu gehört auch ein konsequenter Anti-faschismus. Faschistischen Tendenzen mussauch dann entschieden entgegengetretenwerden, wenn sie noch schwach sind. Esgilt, den Anfängen zu wehren, die Demokra-tie rechtzeitig vor ihren TodfeindInnen zuschützen.

Wer die Anfänge eines neuen Faschismus(Neonazismus) unterschätzt, gefährdet denfriedlichen Weg zum Sozialismus und be-

weist, dass er/sie nichts aus der Vergangen-heit gelernt hat.

Die Begriffe friedlich und kampflosdürfen freilich nicht verwechselt werden.Friedlich heißt: ohne blutigen BürgerInnen-krieg. Kampflos bedeutet: Es ist nicht not-wendig, um den Sozialismus zu kämpfen.Das letztere drückt eine ebenso törichte wieschädliche Illusion aus.

Der Sozialismus kommt nicht von selbst.Er muss in harten Auseinandersetzungenerkämpft werden. Die SozialistInnen wollenlediglich vermeiden, dass diese Auseinader-setzungen blutige Formen annehmen undzum BürgerInnenkrieg führen.

In den hoch entwickelten Industrielän-dern des Spätkapitalismus, die auch einegewisse demokratische und parlamentarischeTradition haben, ist die Chance für diesenfriedlichen Weg gegeben.

Eine Chance ist freilich keine Garantie.Aber Garantien gibt es im geschicht-lichen Geschehen überhaupt nicht.

Wer die Anfänge eines Neonazismus unterschätzt, gefährdetden friedlichen Weg zum Sozialismus und beweist, dass ernichts aus der Vergangenheit gelernt hat.

Parlamentarische Demokratie und Sozialismus

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Die klassenlose Gesellschaft

Nun setzt du den Ring mit den Pfeilen auf den Ständerauf. Warum sie nichts mit Gleichmacherei zu tun hat.

13. 61

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Im Kurs einer Wiener Volkshochschulewurde den TeilnehmerInnen die Frage ge-stellt: „Halten Sie die klassenlose Gesellschaftfür möglich und erstrebenswert?“

Einige antworteten: „Ich kann mir da-runter nichts vorstellen.“ Typisch war die Ant-wort eines jungen Angestellten, Mitglied derSozialistischen Partei: „Ich halte eine klassen-lose Gesellschaft weder für möglich noch fürerstrebenswert. Die Menschen sind doch nichtalle gleich. Gewisse Unterschiede hat es immergegeben. Und das entspricht auch der mensch-lichen Natur.“

Dieser junge Angestellte war erstaunt, als erin der Diskussion erfuhr, dass die Partei, derer angehörte, die klassenlose Gesellschaft alsZielsetzung in ihrem Programm hat. Er ge-

stand, dass er sich noch nie mit dem Partei-programm beschäftigt habe. Er gehöre zurSPÖ, weil er aus einer sozialistischen Fami-lie komme und auch den Eindruck ge-wonnen habe, dass die SozialistInnen diePartei des „kleinen Mannes“ und des sozi-alen Fortschritts sind. Es handelt sich hierum keinen Einzelfall: In einer großen Parteigibt es viele, die sich nur um die Tagespolitikkümmern, denen Fragen der Theorie undIdeologie fremd sind. Um sich die klassen-lose Gesellschaft der Zukunft vorstellen zukönnen, muss man/frau wissen, was unterdem Begriff Klasse zu verstehen ist.

Das von uns bereits in anderem Zusam-menhang zitierte „Kommunistische Manifest“hat in einer genial konzipierten Skizze dieKlassengesellschaften der Menschheitsge-schichte beschrieben: In der Antike:SklavInnenhalterInnen und SklavInnen, im

Feudalismus: hörige BäuerInnen und adeligeGrundbesitzerInnen, im Kapitalismus:EigentümerInnen der Produktionsmittel undLohnarbeiterInnen.

Unter einer Klasse ist in marxistischer Sichteine Gruppe von Menschen zu verstehen,die im gesellschaftlichen Produktionsprozesseine im Wesentlichen gleiche Rolle spielen,die sie von anderen Menschengruppendieser Gesellschaft prinzipiell unterscheidenund in der Regel auch in einen Gegensatzzu ihnen bringen.Führen wir Beispiele an:

Alle SklavInnen spielten im gesellschaft-lichen Produktionsprozess ihrer Zeit eineprinzipiell andere Rolle als die Sklaven-halterInnen: Sie waren die Ausgebeuteten,

die anderen die AusbeuterInnen.Zwischen den Angehörigen einer Klasse

kann es freilich große Unterschiede geben:Der/die privilegierte, schreibkundigeSklave/Sklavin im Hause eines/einer reichenSklavInnenbesitzerIn lebte anders als seinEbeim Pyramidenbau schuftendeR Klassen-genossIn. Aber da sie beide unfrei, beideEigentum eines Herren waren, gehörten siezur gleichen Klasse der SklavInnen.

Nehmen wir ein modernes Beispiel:Ein/eine BauarbeiteIn, der/die seine/ihreArbeitskraft einem/einer BauunternehmerInverkauft, und einE SchriftsetzerIn, der/dieseine/iher Arbeitskraft einem/einer Druck-ereibesitzerIn verkauft, haben verschiedeneBerufe, leben in unterschiedlichen Milieus.Aber da sie beide keine Produktionsmittelbesitzen, gehören sie zur ArbeiterInnen-klasse, während der/die BauunternehmerIn

Berufliche und fachliche Qualifikation haben nichts mit derKlassenzugehörigkeit zu tun.

Die klassenlose Gesellschaft

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und der/die DruckereibesitzerIn trotz allerzwischen ihnen bestehenden Unterschiede,zur KapitalistInnenklasse zu zählen sind.Berufliche und fachliche Qualifikation habennichts mit der Klassenzugehörigkeit zu tun.Es gibt weder eine Klasse der MaurerInnennoch eine Klasse der SchriftsetzerInnen.Und auch keine Klasse der Angestellten:Die Verkäuferin und der Buchhalter gehörenebenso zur ArbeiterInnenklasse wie derEisengießer oder die Textilarbeiterin.

Wenn der Klassengegensatz zwischenAusbeuterInnen und Ausgebeuteten be-seitigt wird, beginnt die klassenlose Gesell-schaft. Die Beseitigung erfolgt, wir habenschon in anderem Zusammenhang daraufhingewiesen, durch die Vergesellschaftungder Produktionsmittel: Wenn diese nichtmehr privaten EigentümerInnen gehören,dann hört auch der Kauf fremder Arbeits-

kraft und damit die private Aneignung desMehrwertes, die Ausbeutung des Menschendurch den Menschen auf.

Allerdings müssen wir etwas wiederholen,was schon gesagt wurde, aber nicht oftgenug, nicht deutlich genug gesagt werdenkann: Anstelle der privatkapitalistischen Eigen-tümerInnen der Produktionsmittel soll im Sozia-lismus nicht eine selbstherrliche, privilegierteBürokratie treten, die sich auf einen autoritärenStaatsapparat stützt.

Wenn diese Ablöse eintritt, dann beginntnicht die klassenlose Gesellschaft, sondernein bürokratisches Regime des Kommandosund der Manipulation.

Die klassenlose Gesellschaft vermag nurWirklichkeit zu werden, wenn es breiteste,aller Gesellschaftsbereiche durchflutendeDemokratie gibt, wenn die privatkapitalisti-schen Eigentümer abgelöst werden vondemokratischen Organen der arbeitendenMenschen. Kehren wir zur Antwort desjungen Angestellten zurück, der gemeint hat,die klassenlose Gesellschaft sei weder mög-lich noch erstrebenswert, weil die Menschennicht alle gleich sind. Sein Denkfehler be-steht darin, dass er die Klassenunterschiedemit allen anderen Unterschieden, dieKlassengegensätze mit allen anderen Gegen-sätzen in einen Topf wirft.

In einer klassenlosen Gesellschaft wird eszwar nicht mehr AusbeuterInnen undAusgebeutete geben, aber die Menschenwerden deshalb keineswegs alle gleich sein.

Und es wird in einer solchen Gesellschaftauch Konflikte, Gegensätze, vielleicht sogargeistige Krisen geben. Nur werden diesenicht mehr von klassenegoistischen Inter-essen beherrscht sein. Wahrscheinlich – hiersind wir auf Vermutungen angewiesen –werden sich die in einer klassenlosen Gesell-schaft aufwachsenden Generationen vorallem mit wissenschaftlichen, künstlerischen,zwischenmenschlichen Problemen ausein-andersetzen, die wir heute vernachlässigen.Höhere Formen der Kunst, der Liebe, derschöpferischen Entfaltung der Persönlichkeitin der Gemeinschaft werden entstehen.Damit wird, wie Engels es einmal formu-lierte, die Vorgeschichte abgeschlossen sein,

Die klassenlose Gesellschaft vermag nur Wirklichkeit zu werden, wenn es breiteste, aller Gesellschaftsbereichedurchflutende Demokratie gibt,

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und die eigentliche Geschichte der Mensch-heit beginnen.

Der Fortschritt der Menschheit vollziehtsich seit Jahrtausenden in dialektischenWidersprüchen: Alles Große, Erhabene, dasMenschen gedacht und geleistet haben, istaus Spannungen, Konflikten, Gegensätzenhervorgegangen. Wie arm, wie reizlos wäredoch die Welt, wenn es die Vielfalt dermenschlichen Charaktere und Tempera-mente nicht mehr gäbe! Die Menschen alskonfliktlose sich kaum voneinander unter-scheidende, Engel – das ist ein schauerlicherAlptraum!

Aber klassenlos bedeutet eben nicht konflik-tlos! Und die Beseitigung der Ausbeutunghat nicht zur Folge, dass alle Menschengleich werden, sondern lediglich, dass diePrivilegierten fallen, und daher alle diegleichen Chancen haben. Das hat absolutnichts mehr mit einer öden Gleichmachereizu tun.

Die wissenschaftlich-technische Entwick-lung hat ein Niveau erreicht, das es möglichmacht, in wenigen Arbeitsstunden riesigeMengen von Gütern herzustellen. Das be-deutet: Bei rationeller Planung der Produk-tion haben die Menschen genügend Zeit,um sich viel Wissen anzueignen und an denöffentlichen Angelegenheiten aktiv teilzu-nehmen. Damit ist eine herrschende Klasse,eine privilegierte Oberschicht überflüssiggeworden. Natürlich ist in vielen Bereichen

der Fachmann oder die Fachfrau unent-behrlich. Aber der Fachmann oder dieFachfrau wird, wenn mündig gewordeneMenschen ihre Angelegenheiten selbstverwalten, nicht zum/zur autoritären Mana-gerIn werden, sondern sein/ihr Wissen inden Dienst der Gemeinschaft stellen, bei derdie Verfügungsgewalt liegt.

Die klassenlose Gesellschaft ist bei demheutigen Stand der Wissenschaft und Tech-nik (Denken wir bloß an die Möglichkeit,die sich aus der Anwendung der Automationund Kybernetik in einer Planwirtschaft erge-ben!) keine weltfremde Utopie, sondern einereale Möglichkeit. Sie wird nicht von heute

auf morgen entstehen, sondern das Ergebniseines geschichtlichen Prozesses sein.

Noch eine Frage drängt sich auf: Was wirdin der klassenlosen Gesellschaft mit demStaat geschehen? In der eingangs erwähntenDiskussion meinte ein christlicher Arbeiter:Die MarxistInnen wollen den Staat abschaffen.Aber ich halte die Abschaffung des Staates füreine Utopie.Dieser christliche Arbeiter kannte, wie sichin der Diskussion herausstellte, nur eineKarikatur des Marxismus. Er hat nie eineZeile von Marx oder Engels im Originalgelesen. Weder die Begründer des Marxis-mus noch ihre SchülerInnen haben jemalsvon der „Abschaffung des Staates“ gesproch-en. Diese Formulierung kommt in dermarxistischen Literatur nicht vor, sie isttypisch für den Anarchismus.

Der Fortschritt der Menschheit vollzieht sich seitJahrtausenden in dialektischen Widersprüchen: Alles Große,Erhabene, das Menschen gedacht und geleistet haben, ist ausSpannungen, Konflikten, Gegensätzen hervorgegangen

Die klassenlose Gesellschaft

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An einigen Stellen ist aber die Rede vom„Absterben des Staates“. Diese Wortedrücken das Allmähliche eines organischenProzesses aus: Der Staat wird nicht „abge-schafft“, sondern im Laufe der Entwicklungüberflüssig. Aber ist das nicht eine welt-fremde Utopie? Kann die moderne mensch-liche Gesellschaft, auch nach Aufhebung derKlassenscheidung, ohne Staat auskommen?Bedeutet das nicht Chaos, Herrschaft desFaustrechtes?

Um diese Fragen beantworten zu können,muss man/frau zwei Momente berücksich-tigen: Zunächst gilt es festzuhalten, dassMarx und Engels unter dem Begriff Staat

das Unterdrückungsinstrument der ausbeu-tenden Klasse zur Niederhaltung der ausge-beuteten Klasse verstanden. Es leuchtet ein,dass ein solches Unterdrückungsinstrument,in dem Maße überflüssig wird, in dem es dieScheidung in Klassen nicht mehr gibt.

Freilich bleiben in einer modernen Gesell-schaft noch eine Reihe staatlicher Aufgabenübrig. Man/frau kann darüber streiten, obdie gesellschaftliche Einrichtung, die dieseFunktionen ausüben wird, noch „Staat“genannt werden soll. Auf jeden Fall wird einsolcher Staat in einer klassenlosen Gesell-schaft wenig zu tun haben mit jenem aufge-blähten Machtapparat, der bisher diesenNamen trug. Es wird sich um einen zutiefstdemokratischen und entbürokratisierten„Staat“ handeln, wie wir ihn uns in derGegenwart nur schwer vorstellen können.

Hinzu kommt, dass Marx und Engels davonausgingen, die klassenlose Gesellschaftwerde die Menschen verändern, werde inihnen das Gemeinschaftsgefühl und dieLiebe zum Mitmenschen stärken. Daherdürfen wir uns, wenn vom „Absterben desStaates“ die Rede ist, nicht die Menschenvon heute vorstellen, sondern neueMenschen in einem neuen gesellschaftlichenMilieu.Wie dieser Prozess vor sich gehen, welcheZeiträume er beanspruchen wird, darüberist es müßig, Spekulationen anzustellen.Entscheidend ist die Perspektive:

Sozialismus bedeutet: Immer wenigerManipulation, immer mehr Freiheit fürdie Entfaltung der Persönlichkeit. Alles,was die Freiheit einengt, was denMenschen entwürdigt, was ihn vonfremden Willen abhängig macht, was ihnseinem Wesen entfremdet, soll beseitigtwerden oder absterben.

Daraus ergibt sich eine, an die Wurzelnunserer Gesinnung reichende Antwort aufjene Frage, die sich wie ein roter Fadendurch diese Schrift zieht: Warum sind wirSozialistInnen?

Wir sind SozialistInnen, weil die Freiheitfür uns keine Phrase, kein abstrakterBegriff, sondern ein der Menschenwürdeentsprechendes Anliegen ist: Freiheit undSozialismus gehören zusammen.

Alles, was die Freiheit einengt, was den Menschenentwürdigt, was ihn von fremden Willen abhängig macht, wasihn seinem Wesen entfremdet, soll beseitigt werden oder absterben.

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66Nun kannst du alles mögliche damit machen. Angeben, inder Vitrine (wie fad) verstauben lassen, usw. Gemeinsam-keiten und Unterschiede.

14.

Der Kommunismus und die SozialistInnen

Page 67: Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!"

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Wiederholen wir, was bereits in anderemZusammenhang gesagt wurde: Der BegriffKommunismus hat ursprünglich bedeutet:die höchste Phase der sozialistischen Gesell-schaft. Marx und Engels haben sich deshalb„Kommunisten“ genannt, und ihr Manifest,das zur Geburtsurkunde des wissenschaft-lichen Sozialismus wurde, als „Kommunis-tisches Manifest“ bezeichnet.

Wenn in der Gegenwart der BegriffKommunismus verwendet wird, so denktniemand an seine ursprüngliche geschicht-liche Bedeutung, sondern man/frau meintdamit die heute bestehenden kommunisti-

schen Regime, Parteien und Ideologien. Indiesem Sinne ist auch hier vom Kommunis-mus die Rede. Wie ist er entstanden?

In der internationalen ArbeiterInnenbe-wegung gab es vor dem ersten Weltkrieg tief-reichende Meinungsverschiedenheitenzwischen Rechten und Linken, zwischengrundsatztreuen SozialistInnen und in derTagespolitik stecken gebliebenen Reformist-Innen.

Diese Meinungsverschiedenheiten gab esauch in der russischen Vorkriegssozialdemo-kratie, wo die AnhängerInnen der Mehrheit(Bolschewiki) sich im harten Fraktionskampfmit den AnhängerInnen der Minderheit(Menschewiki) befanden. Die Bolschewikistanden in vielen Fragen dem linken Flügelder europäischen ArbeiterInnenbewegungnahe, während die Menschewiki nicht inallen, aber in einigen Fragen eher nachrechts tendierten. Aber der bolschewistisch-

menschewistische Gegensatz wurde unterden besonderen Bedingungen der Illegalitätim zaristischen Russland ausgetragen. Dasverlieh ihm eine für westeuropäische Verhält-nisse nur schwer verständliche Härte die vorallem in den ungewöhnlich scharfen Pole-miken Lenins, des bedeutendsten Politikersund Theoretikers der Bolschewiki, seinenAusdruck fand.

Das zaristische Russland war ein halbfeu-dales, im Mittelalter stecken gebliebenesLand. Die überwältigende Mehrheit derBevölkerung bestand aus analphabetischenBauern und Bäuerinnen. Die Industriear-

beiterInnenschaft bildete nur eine kleineInsel in diesem bäuerlichen Meer.

Das russische BürgerInnentum war alsKlasse unterentwickelt: Es hatte sich nie zueiner Revolution aufgerafft und daher auchnicht die mittelalterlich-feudalen Gesell-schaftsverhältnisse, die das vorrevolutionäreRussland wie eine dicke Rostschichte be-deckten, beseitigt.

Alles, was in Russland vor, während undnach der Oktoberrevolution geschah, mussunter dem Gesichtspunkt der jahrhunderte-alten Rückständigkeit der russischen Gesell-schaft betrachtet werden. Lenin selbst hatauf diese historische Rückständigkeit seinesLandes, auf das Fehlen einer demokratischenKultur und Tradition, wiederholt aufmerk-sam gemacht. Der Ausbruch des ErstenWeltkriegs führte zu einer schweren Kriseder Sozialistischen Internationale. Diese

Alles, was in Russland vor, während und nach derOktoberrevolution geschah, muss unter dem Gesichtspunktder jahrhundertealten Rückständigkeit der russischen Gesellschaft betrachtet werden.

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hatte auf ihren Kongressen vor der Kriegs-gefahr gewarnt und gedroht, im Falle desKrieges die ArbeiterInnenklasse gegen diekriegführenden Länder im Namen desInternationalismus zu mobilisieren.

1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach,geschah das Gegenteil: Die Internationaleversagte und einflussreiche sozialistischeParteien, wie die große deutsche Sozial-demokratie, stellten sich vorbehaltlos aufden Boden der Landesverteidigung, wobeialle Grundsätze des Sozialismus und Inter-nationalismus über Bord geworfen wurden.Man/frau sprach von den „Kaisersozialist-Innen“.

Gegen dieses historische Versagen ent-standen militante Bewegungen des Protestesinnerhalb der sozialistischen Parteien, dievor allem von jungen, dem linken Flügelangehörenden, SozialistInnen getragenwurden.

In Deutschland waren es KarlLiebknecht und Rosa Luxemburg (1919ermordet), die gegen den Strom des Natio-nalismus schwammen und an den sozialis-tischen Grundsätzen festhielten. In Öster-reich wurde Friedrich Adler, der SohnVictor Adlers, zum weithin leuchtendenSymbol des Widerstandes gegen das Ver-sagen der Internationale und der Partei-führungen.

Im Vater-Sohn-Konflikt zwischen Victorund Friedrich Adler spiegelte sich dertragische Riss der Sozialistischen Internatio-nale wieder: Die Jungen, aber auch mancheÄltere rebellierten gegen die Preisgabe dersozialistischen Grundsätze. sie warfen den

SpitzenfunktionärInnen vor, die Idee desSozialismus auf dem Altar der „Vaterlands-verteidigung“ geopfert zu haben.

Friedrich Adlers Attentat gegen den Mi-nisterpräsidenten der Habsburgmonarchie,den Grafen Stürgkh, war ein Ausdruck derVerzweiflung dieses aufrechten Sozialistenüber die Situation in der eigenen Partei undnicht nur ein Protest gegen den Irrsinn desKrieges. Friedrich war über den Opportu-nismus, über die Grundatzlosigkeit in deneigenen Reihen zutiefst empört. Er wollteprovozieren und schockieren.

Die Rede, die Friedrich Adler vor demAusnahmegericht hielt, ist ein zeitgeschicht-

liches Dokument von großem Wert: Werdiese Rede, übrigens auch ein rhetorischesMeisterwerk, studiert, wird sich in diedamalige geistige Situation der österreichi-schen und internationalen ArbeiterInnen-bewegung hineinversetzen können, vor allemin die Stimmung junger enttäuschter Sozial-istInnen, die unter dem Versagen der Inter-nationale litten. In dieser aufgewühlten Zeitkam es 1917 in Russland zur Revolution,die in ihrer ersten Etappe, der so genanntenFebruarrevolution, den Zaren stürzte undein schwaches Regime der bürgerlichenDemokratie unter Kerenski zur Machtbrachte. In der zweiten Etappe, der so ge-nannten Oktoberrevolution (nach unseremKalender Novemberrevolution) führte siezum Sieg der Sowjetmacht unter Führungder Bolschewiki.

Die russische Oktoberrevolution war einwelthistorisches Ereignis, das die internatio-nalen Kräfteverhältnisse zwischen den

Die russische Oktoberrevolution war ein welthistorischesEreignis, das die internationalen Kräfteverhältnisse zwischenden Klassen erschütterte.

Der Kommunismus und die SozialistInnen

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Klassen erschütterte. Niemand konnte sichdiesem Ereignis gegenüber neutral verhal-ten. Heute kann aus der geschichtlichenDistanz, die wir gewonnen haben, gesagtwerden: Die Oktoberrevolution bedeuteteeinen gewaltigen Schritt nach vorwärts fürdie Völker des russischen Reiches. Darüberhinaus stärkte sie überall in der Welt dierevolutionären Kräfte und drängte die Kon-servativen in die Defensive. Und sie trugwesentlich zur Beendigung des grauenhaftenVölkergemetzels bei, indem die zur Machtgekommene Revolutionsregierung allenVölkern den Frieden anbot.

Aber diese Revolution hat in einemrückständigen, bettelarmen Land gesiegt, ineinem Land, das den Prozess der Industrial-isierung noch vor sich hatte. Marx undEngels hatten stets angenommen, die Revo-lution werde in einem hoch entwickeltenkapitalistischen Industrieland zuerst siegen.Nun war 1917 das Gegenteil eingetreten.Die Revolution hatte im rückständigstenLand Europas gesiegt, wo die materiellenVoraussetzungen für den Aufbau des Sozial-ismus kaum vorhanden, noch nicht vomKapitalismus geschaffen worden waren.

Otto Bauer, der die Oktoberrevolution inRussland als Kriegsgefangener erlebte, hatin Büchern, Broschüren, Artikeln undReden immer wieder auf diese geschicht-liche Besonderheit hingewiesen: Einerseits istder Sieg der Revolution ein gewaltiger histori-scher Fortschritt, andererseits darf die Proble-matik der Rückständigkeit, der ökonomischenUnreife Russlands nicht übersehen werden.

Zunächst gab es in der Sowjetunionkeine Diktatur des bürokratischen Apparats.Obwohl die Bolschewiki bereits 1918 unterden furchtbaren Verhältnissen des Bürger-Innenkrieges mit der Einschränkung derDemokratie begannen (was die große Revo-lutionärin Rosa Luxemburg zu herber Kritik

herausforderte), gab es in den Sowjets (=Räten) der ArbeiterInnen, Bauern undBäuerinnen und Soldaten lebendige Diskus-sionen, pulsierendes geistiges Leben. EinBlick in die Protokolle der Sowjettagungenbeweist, dass damals echt diskutiert und umden richtigen Weg gerungen wurde.

Aber in dem Maße, in dem der vomkapitalistischen Ausland geschürte, unddurch die Wirtschaftsblockade verschärfteBürgerInnenkrieg, die Not ins Unermess-liche steigerte, entstand im Land derOktoberrevolution die Atmosphäre einerbelagerten Festung. Und in einer belagertenFestung ist es nicht üblich, zu diskutieren,Entscheidungen durch demokratischeWillensbildung herbeizuführen.

Es kam in dieser Atmosphäre zum Abbauder Sowjetdemokratie, zum Verbot allernichtbolschewistischen Parteien und schlies-slich zur Einschränkung der inneren Demo-kratie auch in der zur Monopolparteigewordenen Organisation der Bolschewiki.

Der todkranke Lenin erkannte die Gefahr,die der Revolution durch diese Entwicklungdrohte. Er warnte von seinem Krankenbettaus vor der erstarkten, immer selbstherrlich-er werdenden Bürokratie und nicht zuletztvor Stalin, auf dessen Grobheit und Illoyali-tät er in seinem Testament aufmerksammachte.

Lenins einzige Hoffnung war der Sieg derRevolution in den fortgeschrittenen Indus-trieländern, vor allem in Deutschland: Einaus der Isolierung befreites Sowjetrusslandwerde, so hoffte er, mit der eigenenBürokratie fertig werden.

Aber diese Hoffnung Lenins erfüllte sichnicht: Die russische Oktoberrevolution,gewürgt von BürgerInnenkrieg und Wirt-schaftsblockade, blieb in dem rück-ständigen, halbfeudalen Land isoliert. Iso-lierung und Rückständigkeit, Hungersnot

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und ökonomischer Verfall, das Fehlen derdemokratischen Tradition in der russischenGeschichte, die furchtbare Erbschaft desZarismus – das alles führte zur Entartungder jungen Sowjetgesellschaft.

Bevor wir uns mit dieser Entartung, dieden Stalinismus hervorbrachte, beschäftigen,sind ein paar Bemerkungen über dieGründung der dritten (= Kommunistischen)Internationale notwendig, die im Jahre 1919,also zwei Jahre nach dem Sieg der Oktober-

revolution, erfolgte. Der Gründungskongressfand in Moskau statt, und die neu geschaf-fene Internationale stand von Anfang anunter dem starken Einfluss der kommunisti-schen Partei der Sowjetunion. Lenin hatdiese sowjetrussische Vorherrschaft übrigensbedauert und in kritischen Bemerkungendarauf hingewiesen, dass die Internationalekein russisches Instrument werden dürfe.Dennoch wäre es falsch anzunehmen, alledie sich zu dieser Internationale bekanntenund in ihren Länden KommunistischeParteien bildeten, seien „Moskauer Agenten“gewesen.

Wir dürfen nicht vergessen, was über dashistorische Versagen der zweiten (Sozialisti-schen) Internationale bei Kriegsausbruchbereits gesagt wurde.

Es gab daher 1919 und auch späterRevolutionärInnen, grundsatztreue Sozialist-Innen, die aus Protest gegen die opportun-istische Politik der Sozialdemokratie Kom-munistInnen wurden. Auf diese Weise ent-standen in vielen Ländern große Kommu-nistische Parteien (z.B. in Deutschland,Italien, Frankreich, Tschechoslowakei), die

breite Schichten der ArbeiterInnenbeweg-ung erfassten.

Dass es diese Entwicklung in Österreichnicht gab, wo die überwältigende Mehrheitder ArbeiterInnenschaft in der sozialdemo-kratischen Partei verblieb, ist vor allem aufdas Wirken Friedrich Adlers, Otto Bauers undder anderen austromarxistischen Politiker-Innen und IdeologInnen zurückzuführen:Diese übten heftige Kritik an der grundsatz-losen Politik der alten Parteiführungen,

lehnten aber die Spaltung ebenso ab wie dieUnterordnung unter die sowjetischenKommunistInnen. Durch ihre linke Haltungmachten sie die KP überflüssig. Otto Bauerentgegnete den KommunistInnen, die ihnals „Lakaien der Bourgeoisie“ attackierten:„Der Weg, den die russischen ArbeiterInnenunter Führung der Bolschewiki gegangen sind,ist für die ArbeiterInnenklasse des Westens nichtakzeptabel. Es handelt sich um einen russischenWeg, um ein russisches Modell, das nicht aufandere Länder mechanisch übertragen werdendarf.Vor allem nicht auf Länder, in denen diehistorischen und gesellschaftlichen Bedingungenvöllig anders sind als in Russland.“

Und Otto Bauer betonte, dass für die Ar-beiterInnenklasse des Westens, die inLändern mit demokratischer Tradition wirkt,der Sozialismus mit breitester Demokratieverbunden sein muss.

Nach Lenins Tod gab es in dersowjetischen Kommunistischen Parteierbitterte Fraktionskämpfe, die mit demSieg Stalins und seiner Fraktion endeten,jenes Stalins, vor dem Lenin in seinemTestament gewarnt hatte.

Anstelle der geistigen Auseinandersetzungen, die es unter Lenin noch gegeben hatte, trat die bürokratisch-polizeiliche Unterdrückung.

Stalin siegte als Repräsentant einer Bürokratie, die sich über Massen erhob.

Der Kommunismus und die SozialistInnen

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Alle oppositionellen Gruppen, von Trotzki,der die Linksopposition repräsentierte, biszu Bucharin, der als Vertreter der Rechts-opposition galt, wurden mit Hilfe des büro-kratischen Apparates und der Polizeizerschlagen. Stalin errichtete eine terror-istische Diktatur, die jede kritische, selbstän-dige Regung unterdrückte.

Anstelle der geistigen Auseinandersetzun-gen, die es unter Lenin noch gegeben hatte,trat die bürokratisch-polizeiliche Unter-drückung. Stalin siegte als Repräsentanteiner Bürokratie, die sich über Massenerhob.

Die Folgen waren verheerend. Lenins engsteMitarbeiter wie Sinowjew, Kamenew,Bucharin, Rakowski, Radek und viele anderewurden in Hexenprozessen zum Tode verur-teilt oder dazu verdammt, in Arbeitslagernelend zugrunde zu gehen.

Die Angeklagten in den MoskauerHexenprozessen mussten in auswendiggelernten „Geständnissen“ Verbrechengestehen, die sie nie begangen hatten. Unddas alles geschah im Namen desSozialismus, im Namen der großenOktoberrevolution!

Man/frau hat diese, an das finstereMittelalter erinnernden, Moskauer Hexen-prozesse, später als „Verletzungen dersozialistischen Gesetzlichkeit“ bezeichnet.Aber dieser farblose Ausdruck sagt nicht,worum es bei diesen furchtbaren Prozessen,die auch in den Volksdemokratien nachge-macht wurden, wirklich gegangen ist. Der

Sinn dieser Prozesse, die aus der Geschichtedes Stalinismus nicht wegzudenken sind,lässt sich so erklären: RevolutionärInnen diees gewagt hatten, in einer Frage andererMeinung zu sein als Stalin, sollten vor allerWelt als gemeine VerbrecherInnen diffamiertwerden. Damit, so hofften die Großinquisi-torInnen des Stalinismus, sollte ein für alleMal bewiesen werden:

Wer von der Stalinschen Generallinieabweicht, ist einE gemeineR VerbrecherIn,einE AgentIn des Feindes.

KommunistInnen, die eine abweichendeMeinung haben, aber dennoch guteKommunistInnen sind, darf es nach den

Lehren der Stalinschen Inquisition nichtgeben.

Zum Wesen des Stalinismus gehörte auch derwiderliche Personenkult, der mit Stalin ge-trieben wurde. Jener Mann, der am Todehunderttausender Unschuldiger persönlichschuld war, wurde als „Vater der Werk-tätigen“, als „Sonne des Sozialismus“ be-sungen. Auch nichtsowjetische Kommunist-Innen haben an diesem Kult teilgenommen.(Später haben die chinesischen Kommunist-Innen diesen zutiefst reaktionären Personen-kult übernommen und Mao-Tse-Tung wieeinen Gott gefeiert).Und zum Wesen des Stalinismus gehörtejene Atmosphäre der Angst, des Misstrau-ens, der hektischen Verdächtigungen undVerfolgungen, die zu Massenverhaftungenund Massendeportationen führte. Auf demHöhepunkt des Stalinischen Terrors war

Jener Mann, der am Tode hunderttausender Unschuldigerpersönlich schuld war, wurde als „Vater der Werktätigen“,

als „Sonne des Sozialismus“ besungen.

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keinE SowjetbürgerIn, KommunistIn oderNichtkommunistIn, mehr ungefährdet:

Jeden Tag konnte ihn oder sie die all-mächtige Geheimpolizei ohne Spur einerstrafbaren Handlung verhaften und fürunbestimmte Zeit in einem der vielen Lagerverschwinden lassen. Historisch gesehen istder Stalinismus ein Produkt der Rück-ständigkeit und Isolierung der russischenRevolution. Aber diese Erklärung darf nichtals Entschuldigung jener grauenhaftenVerbrechen missverstanden werden, die inder Stalinära begangen wurden: DieseVerbrechen bleiben unentschuldbar.

Otto Bauer war der Überzeugung, dass diesowjetische Gesellschaft den Stalinismus (indem er eine vorübergehende Entwicklungs-stufe sah) überwinden und die Diktaturabbauen wird. Er fasste seine Gedankenüber die Entwicklungstendenzen der sowje-tischen Gesellschaft in dem Buch „Zwischenzwei Weltkriegen?“ zusammen, das er in dertschechoslowakischen Emigration schriebund das 1936, zwei Jahre vor Otto BauersTod, in der slowakischen HauptstadtBratislava erschien.

In dem Maße, so argumentierte OttoBauer, in dem die mit furchtbaren Opfernverbundene Industrialisierung gelungen istund die sowjetische Gesellschaft eine höhereEntwicklungsstufe erreicht, werden sichDiktatur und Terror als Hemmschuh für dieweitere Entfaltung der Produktivkräfteerweisen: Der Abbau der Diktatur, dieDemokratisierung der Sowjetgesellschaftwerden beginnen.

Otto Bauer hat vieles richtig gesehen,aber konnte damals nicht wissen, wie kom-

pliziert und widerspruchsvoll die Entwick-lung nach dem Zweiten Weltkrieg sein wird.zu Bauers Zeiten gab es nur die isoliert ge-bliebene, mit dem Kapitalismus konfron-tierte, Sowjetunion. Heute existierenmehrere von KommunistInnen regierteStaaten, die sich auf unterschiedlichenEntwicklungsstufen befinden und auchvoneinander abweichende Gesellschafts-modelle hervorgebracht haben.

Daraus ergeben sich völlig neue, von OttoBauer nicht vorausgesehene Konflikte, Span-nungen und Entwicklungstendenzen. Heutegenügt es daher nicht, eine Theorie über die

Sowjetgesellschaft zu entwickeln. Es ist not-wendig, die komplizierten Beziehungenzwischen den kommunistisch regiertenLändern und den kommunistischen Parteiendes Westens ebenso sorgfältig zu analysierenwie die Fraktionen, Richtungen und Strö-mungen innerhalb jeder kommunistischenBewegung. Wir haben es mit einem buntenMosaik zu tun: Anstelle des einheitlichenKommunismus sind miteinanderrivalisierende Kommunismen getreten, dienicht in einen Topf geworfen werden dürfen.

Die Tendenzen zum Abbau der Diktaturdes Stalinismus, die Otto Bauer bloßgelegtund aus der sozial-ökonomischen Entwick-lung der Sowjetgesellschaft erklärt hat, sindtatsächlich vorhanden. Das hat die Zeit nachStalins Tod, vor allem der 20. Parteitag derKPdSU, wo die Verbrechen der Stalinäraaufgedeckt wurden, überzeugend bewiesen.Was Chruschtschow damals sagte, lässt sichnicht mehr rückgängig machen: „Der Stalin-mythos ist tot“.

Aber wir haben die bittere Erfahrung ge-macht, dass der Prozess der Entstalinisier-

Was Chruschtschow damals sagte, lässt sich nicht mehr rückgängig machen: Der Stalinmythos ist tot.

Der Kommunismus und die SozialistInnen

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ung mit schmerzlichen Rückschlägen ver-bunden ist, und auch beunruhigende Er-scheinungen eines brutalen Neostalinismusmöglich geworden sind. Zum Zeitpunkt dadiese Zeilen geschrieben werden, wäre esverfrüht, die Entwicklung im Lager desKommunismus abschließend beurteilen zuwollen. Jeder Tag konfrontiert uns mit neuenNachrichten.

Die Auseinandersetzungen mit dem Kom-munismus (richtiger formuliert: Mit denverschiedenen Kommunismen) müssen dieSozialistInnen von einer sozialistischenWarte führen und nicht von der des reaktio-nären Antikommunismus. Die reaktionärenAntikommunistInnen werfen den Kommu-nistInnen vor, dass in den Ländern, wo siedie Macht haben, der Kapitalismus beseitigtwurde, dass es dort kein Privateigentum anden Produktionsmittel mehr gibt.

SozialistInnen dürfen sich niemals indiese Position von AdvokatInnen desKapitalismus drängen lassen. Was wir denKommunistInnen vorwerfen, ist daher nichtdie Beseitigung des kapitalistischen Systems,sondern der Mangel an Demokratie in denvon ihnen regierten Ländern.

Wenn die KommunistInnen darauf inscheinmarxistischer Sprache entgegnen:„Aber das ist doch eine Klassenfrage. AlsMarxistInnen können wir nicht dafür sein, dengestürzten AusbeuterInnen demokratische Rechtezu geben“, so braucht unsere Antwort anDeutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen.

Es geht gar nicht um die kleine Minder-heit der ehemaligen AusbeuterInnen,sondern um die breiten Massen der Arbei-terInnen, Bauern und Bäuerinnen undIntellektuellen. Für sie und nicht für diegestürzten AusbeuterInnen verlangen wirbreiteste, uneingeschränkte Demokratie, weil

der Sozialismus nicht gegen den Willendieser Massen verwirklicht werden kann.Die tiefe geistige und moralische Krise, inder sich die kommunistische Bewegung imWeltmaßstab befindet, wird von denreaktionären Kräften ausgenützt, um dieIdee des Sozialismus zu diskreditieren.Ebenso werden die Verbrechen Stalins dazubenützt, von den Verbrechen des Faschismusabzulenken, und all das Furchtbare zurechtfertigen, das von den kapitalistischenGroßmächten vor allem in den LändernAsiens, Afrikas und Lateinamerikas ange-richtet wird.

Umso notwendiger ist es, dass die Sozia-listInnen diesem reaktionären Antikommu-nismus keine Konzessionen machen. Dasgilt auch für die Begriffe und Symbole dersozialistischen Ideenwelt, die von den Stalin-istInnen missbraucht wurden:

Dieser Missbrauch darf nicht dazuführen, dass die SozialistInnen auf dierote Fahne, auf den Marxismus, auf einklares Bekenntnis zur klassenlosenGesellschaft verzichten: Es gilt dieseBegriffe und Symbole vom Missbrauchzu reinigen und ihren Inhalt neu zuerklären. Um es noch deutlicher zusagen: Die Abgrenzung von den Kom-munistInnen, die notwendig ist, darfnicht zur Verwischung jener Grenzeführen, die den demokratischen Sozial-ismus von der bürgerlich-kapitalistischenGesellschaft trennt. Auch die abscheu-lichsten Deformationen im kommun-istischen Bereich sind keine Begründungfür einen Verzicht der SozialistInnen aufdie sozialistische Zielsetzung.

Wer aus Angst, mit den KommunistInnenverwechselt zu werden, diese Zielsetzungpreisgibt, begeht als SozialistIn ideolo-gischen Selbstmord.

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74Du kannst die drei Pfeile auch auf ein Plakat oderTransparent malen. Der Unterschied zwischen Kirche undReligion und das Verhaltniss zu beiden.

15.

Religion, Kirche und Sozialismus

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Wir sagten: Die SozialistInnen sind derÜberzeugung, dass der Sozialismus nichtgegen den Willen der Mehrheit des Volkesverwirklicht werden kann. Ein den Massenvon oben aufgezwungener „Sozialismus“trägt den Keim der terroristischen, derbürokratischen Entartung in sich.

Unter den Massen der arbeitenden Men-schen gibt es auch viele Gläubige. Daher istdas Verhältnis zu diesen Gläubigen, die dergleichen Klasse wie die anderen Arbeiter-Innen und Angestellten angehören, vongrößter Bedeutung. Und zwar nicht nurunter dem Gesichtspunkt des Gewinnensvon WählerInnenstimmen. Auch wenn dieSozialistInnen im Parlament über eine solideMehrheit verfügen, brauchen sie beimAufbau einer neuen sozialistischen Gesell-schaft die aktive Unterstützung der arbei-tenden Menschen, der Gläubigen ebensowie der Nichtgläubigen.

Die von den Gläubigen an die Sozialist-Innen gestellte „Gretchenfrage“: „Und wiehält ihr’s mit der Religion?“ soll ehrlich beant-wortet werden. Hier geht es nicht um einwahltaktisches Manöver sondern um eineGrundsatzfrage, der wir nicht ausweichendürfen.

Die Beantwortung wird durch zwei Faktorenerschwert:1. Die politischen Parteien des Besitz-bürgerInnentums haben ein Interessedaran, die SozialistInnen als gefährlicheFeindInnen der Religion herzustellen.Hoffen sie doch, dass Gläubige, dieklassenmäßig zu den SozialistInnengehören, aus religiösen Gründen die Par-teien des BesitzbürgerInnentums unter-stützen werden - auch wenn das ihrenKlasseninteressen widerspricht.2. Da es in der Vergangenheit schwereAuseinandersetzungen zwischen Kirche

und ArbeiterInnenbewegung gab – wirwerden darauf noch zurückkommen –gibt es vor allen in der älteren Generationdieser Bewegung ein tiefverwurzeltesMisstrauen gegen alles, was mit Religionund Kirche zusammenhängt. Die Ge-schichte der ArbeiterInnenbewegunglehrt uns, dass es in der Vergangenheitunter den SozialistInnen niemals eineeinheitliche Haltung in religiösen Fragengegeben hat. Nehmen wir die österrei-chische ArbeiterInnenbewegung:Während die antisozialistische Legendebehauptet, in der Sozialdemokratie derErsten Republik habe es eine extremeReligionsfeindschaft gegeben, sah es inWirklichkeit anders aus: Es gab damalseine FreidenkerInnenorganisation, diedas religiöse Denken bekämpfte und denAtheismus (Gottlosigkeit) propagierte.Aber es gab auch eine Vereinigungreligiöser SozialistInnen, die sich be-mühte, Religion und Sozialismus aufeinen Nenner zu bringen.

EinE SozialistIn konnte sich den Frei-denkerInnen anschließen, aber er/sie konnteebenso gut in den Reihen religiöser Sozial-istInnen wirken. Weder das Programm nochdas Statut der sozialdemokratischen Parteienthielt einen für die Parteimitglieder ver-bindlichen Standpunkt in religiösen Fragen.Religion, so wurde stets betont, ist Privat-sache: Weder der Staat noch die eigenePartei soll sich in religiöse Angelegenheiteneinmischen.

In anderen ArbeiterInnenbewegungen,z.B. der englischen, hat das religiöseMoment stets eine große Rolle gespielt. Esgibt dort auch unter den führenden Funk-tionärInnen der ArbeiterInnenbewegungviele tiefreligiöse Menschen. Daher werdensozialistische Kongresse oft mit einemGottesdienst eingeleitet. Auch sozialistischeLaienprediger sind ebenso wenig eine

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Seltenheit wie Priester, die sich zur Arbeiter-Innenbewegung bekennen.

Ist von der englischen oder skandinavi-schen ArbeiterInnenbewegung die Rede, sowird aber von antisozialistischer Seite meisteingewendet: In diesen ArbeiterInnenbewe-gungen spielt der Marxismus keine Rolle.Aber dort, wo die SozialistInnen MarxensLehren bejahen, sind sie auch Todfeind-Innen der Religion. Es folgen dann aus demZusammenhang gerissene Marxzitate, diebeweisen sollen, dass jedeR MarxistIn aucheinE kämpferischeR AtheistIn sein muss.

Wie verhält sich nun wirklich der Marxis-mus zur Religion? Man/frau hat die Marx-sche Untersuchungsmethode, auf die wirbereits hingewiesen haben, oft auch als dieMethode der Entschleierung bezeichnet.Damit soll gesagt werden, dass die MarxscheGesellschaftsanalyse alle Schleier entfernt,die aus Tradition, Vorurteilen und Ideolo-

gien bestehen, um die realen gesellschaft-lichen Zusammenhänge bloßzulegen.

Die MarxistInnen beurteilen Klassen undInstitutionen nicht nach dem, was sie vonsich aussagen, sondern nach der Rolle, diesie wirklich spielen, nach den Interessen, diesie nachweisbar vertreten.

Marx hat diese Methode der Entschleier-ung auf alle gesellschaftlichen Erscheinungenangewendet: Auf die ArbeiterInnenklasse, dieKapitalistInnenklasse, den Staat, die Nation– und natürlich auch auf die Religion.

Man/frau kann in den Schriften von MarxStellen finden, wo von der Rückständigkeitder ArbeiterInnenklasse und ihrem „falschen

Bewusstsein“ die Rede ist. Reißt man/fraudiese Zitate aus dem Zusammenhang, soentsteht der Eindruck der „ArbeiterInnen-feindlichkeit“. In Wirklichkeit hat die Marx-sche Analyse lediglich einen Zustandentschleiert, in dem sich die ArbeiterInnen-klasse auf einer bestimmten Entwicklungs-stufe befand.

Dieses Entschleiern hat nichts mit einemWerturteil zu tun. Es kann verglichen werdenmit der Tätigkeit eines/einer RöntgenologIn,der/die bei der Durchleuchtung eines Pa-tienten/einer Patientin feststellt, an welcherKrankheit ein bestimmtes Organ leidet.Niemanden wird es einfallen, den/dieRöntgenologIn zu beschuldigen, er/sie wolleden Patienten/die Patientin kränken oderdiffamieren.

Zu welchen Ergebnissen hat nun dieMarxsche Analyse der Religion geführt?Darauf antworten die AntimarxistInnen

(von denen die meisten nie eine Zeilegelesen haben) im Chor: „Marx hat dieReligion als Opium für das Volk bezeichnet.“Abgesehen davon, dass die betreffendeStelle lautet: „Religion ist das Opium desVolkes“, sagt dieser eine, immer wiederzitierte, Satz über die Stellung des Marxis-mus zur Religion wenig aus.

Diese Worte stehen in der „Einleitung ZurKritik der Heglischen Rechtsphilosophie“, dieKarl Marx mit 25 Jahren geschrieben hat.Der junge Marx war damals damit be-schäftigt, sich von der klassischen deutschenPhilosophie zu lösen, stand aber noch sehrstark unter dem Einfluss des Philosophen

Die MarxistInnen beurteilen Klassen und Institutionen nicht nach dem, was sie von sich aussagen, sondern nach der Rolle,die sie wirklich spielen, nach den Interessen, die sie nachweisbar vertreten.

Religion, Kirche und Soialismus

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Feuerbach. Es war dies jene Zeit, von derMarxens Freund, Friedlich Engels, spätersagen sollte: „Wir waren damals alleFeuerbacherianer!“

Daher ist das oft angeführte „Opium-Zitat“ typisch für die geistige Entwicklungdes jungen Marx, aber nicht typisch für dieStellung des erst später entstandenenMarxismus zur Religion.

Dennoch handelt es sich nicht bloß umeinen Irrtum. Der Fünfundzwanzigjährigehat eine Funktion, welche die Religion unterbestimmten geschichtlichen und gesellschaft-lichen Voraussetzungen tatsächlich gespielthat, treffend charakterisiert, wenn auch inunzulässiger Weise verallgemeinert. (Neben-bei bemerkt: Es gehört stets zu den großenLeistungen junger DenkerInnen scharf zuformulieren – auch auf die Gefahr hin,Widerspruch zu erregen. Dass es dabei auchzu Übertreibungen und Verallgemeinerungenkommt, ist unvermeidlich.)

Marxens Charakterisierung der Religionals Opium des Volkes hat aber schon deshalbnicht mit gehässiger Religionsfeindschaft zutun, weil es heute nicht wenige christliche,gläubige DenkerInnen gibt, unter ihnenauch Priester und TheologInnen, dieselbstkritisch feststellen, dass die Religionvon der Kirche in der Vergangenheit oftdazu benützt wurde, die Unterdrückten zubetäuben, auf ein besseres Jenseits zu ver-trösten, und vom Kampf gegen Unterdrück-ung und Ausbeutung abzuhalten. Das isteine geschichtliche Wahrheit, die nichtbestritten werden kann. Der Irrtum des„Opiumzitats“ besteht nur darin, dass nichthinzugefügt wurde, dass die Religion aucheine andere als die Opiumfunktion erfüllenkann; Religion vermag auch Ausdruck desProtests gegen Ungerechtigkeit und Unter-drückung, Ausdruck der Sehnsucht nacheiner menschenwürdigen Gesellschaft sein.In der marxistischen Literatur ist wiederholt

auf die positive und geschichtlich-fortschrit-tliche Rolle der Religion hingewiesen wor-den. Aber diese Stellen werden von denAntimarxistInnen nicht zitiert. Was dazu zusagen ist, haben wir schon im Kapitel überden utopischen Sozialismus ausgeführt, woam Beispiel der urchristlichen Gemeindengezeigt wurde, wie stark die sozialrevolution-ären Tendenzen im Urchristentum waren.Zwischen Religion und Kirche – auchdarauf macht die marxistische Literaturaufmerksam – besteht kein Unterschied, deres verdient, beachtet zu werden. Religion isteine bestimmte Geisteshaltung derenwesentliches Merkmal der Glaube an dasÜberirdische ist. Die Feststellung, dass einMensch religiös ist sagt noch nichts ausüber seine/ihre Haltung zur Kirche. Es gibtauch außerhalb der kirchlichen Sphärereligiöses Empfinden und tiefe Gläubigkeit.Die Kirche – das gilt für alle Kirchen, be-sonders aber für die römisch-katholische –ist eine gesellschaftliche Einrichtung, dieden religiösen Glauben voraussetzt, aber mitdiesem nicht verwechselt werden darf. Wiejede gesellschaftliche Einrichtung hat auchdie Kirche ihre besonderen materiellenInteressen, ihren Apparat, ihre Hierarchie,ihre Tradition usw.

Otto Bauer, der nie ein böses Wort überreligiös empfindende Menschen gesagt hat,verstand es in seinem Artikel über „Gesell-schaftsordnung und Religion“ den Unter-schied zwischen der Religiosität einfacherLeute und dem kirchlichen Apparat meister-haft darzustellen. Es heißt da unter anderem:„Der Papst, die Kardinäle, die Bischöfe, diePrälaten – das ist die Kirche.

Der arme Kleinbauer, der, wenn die Wolkenaufziehen und ein Hagelschlag die Frucht aufdem Felde, die Frucht mühseliger Jahresarbeitzu vernichten droht, die Hände faltet und betet:Unser tägliches Brot gib uns heute – das istReligion.

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Die mächtigen Herrschaftsorganisationen, derenDiplomaten an allen Höfen sitzen, derenFürsten große Parteien lenken und dieSchicksale der Staaten beeinflussen – das ist dieKirche.

Die Mutter, die am Krankenbett ihresKindes in inbrünstigem Gebet zur Mutter Got-tes Trost und Rettung sucht – das ist Religion.

Das in Jahrhunderten kunstvoll aufgetürmteSystem der dogmatischen Theologie - das istKirche. Die fromme Legende, die die Mutterdem Kinde erzählt – das ist Religion.

Das gewaltige Herrschaftssystem des Kirch-enrechts – das ist die Kirche.

Das den Armen, den Leidenden tröstende,erbauende fromme Lied – das ist Religion.

Die Macht der Kirche beruht auf derReligion des Volkes: wäre das Volk nicht religiös,so könnte die Kirche es nicht lenken. Aberwenngleich sich die kirchliche Herrschaftsorga-nisation auf die Religion stützt, so sind dochKirche und Religion nicht identisch.

Es gibt Kirchenfürsten, die im stillenKämmerlein der Religion lachen; es gibt tief-religiöse Menschen, die die Kirche hassen.“

Heute trifft diese schroffe Gegenüberstell-ung: Kirche - Religion nicht mehr ganz zu:Da es „die Kirche“ als einheitlichen, dog-matischen erstarrten Block nicht mehr gibt,müssen wir zwischen den verschiedenenStrömungen und Richtungen innerhalb derKirche sorgfältig unterscheiden. Hier ist dieKunst des Differenzierens ebenso notwendig,wie bei der Analyse der Kommunismen.

In der römisch-katholischen Kirche, aberauch in den anderen christlichen Religions-gemeinschaften, erkennen wir neben viel-fältigen Tendenzen und Nuancen, zweiGrundströmungen: Eine fortschrittliche undeine konservative. Die fortschrittlichenbejahen in allen das Diesseits betreffendenFragen die Erkenntnisse der Wissenschaft.Das gilt nicht nur für das von der modernen

Physik ständig veränderte Weltbild, sondernauch für medizinische und psychologischeUntersuchungsergebnisse, die sich aufFragen der Jugend, der Ehe, der Sexualitätbeziehen.

Die Fortschrittlichen wollen die morali-schen und ethischen Lehren der Kirche demerreichten Stand der wissenschaftlichen Er-gebnisse anpassen und unhaltbar gewordeneGlaubenssätze preisgeben. (Typisches Bei-spiel: Die Stellungsnahme zur Geburtenkon-trolle.)

Die Fortschrittlichen sind auch damitbeschäftigt, die Haltung der Kirche zurArbeiterInnenbewegung und zum Sozial-ismus kritisch zu überprüfen. Viele vonihnen haben erkannt, dass an derEntfremdung zwischen Kirche undArbeiterInnenbewegung jene reaktionäreHierarchie schuld ist, die sich in derVergangenheit auf die Seite des Kapital-ismus und der Reaktion gestellt hat. Solangees kirchliche Würdenträger wie jenenberüchtigten Prälaten Ignaz Seipel imÖsterreich der Ersten Republik gab, der alsBundeskanzler an der Spitze einer arbeiter-Innenfeindlichen BürgerInnenblockregier-ung stand und die faschistischen Heimwehr-horden förderte, mussten die sozialistischenArbeiterInnen in der Kirche einen Feinderblicken.

Die Fortschrittlichen wollen dafür sorgen,dass diese reaktionären Exzesse der Kirchefür immer der Vergangenheit angehören. Siehaben auch mit dem primitiven, geistlosenAntimarxismus Schluss gemacht. Viele vonihnen, vor allem Priester-Gelehrte, habenbegonnen, marxistisches Quellenstudium zubetreiben. Sie sind keine MarxistInnengeworden, aber die meisten wurden von denEinsichten des Marxismus, von seinerschöpferischen Methode und nicht zuletztvon der faszinierenden Persönlichkeit desKarl Marx tief beeindruckt.

Religion, Kirche und Soialismus

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Sie haben begriffen, dass dieser vielgelästerteMarx kein Teufel ist, sondern eine dergrößten geistigen Persönlichkeiten derMenschheitsgeschichte. Und sie geben offenzu, dass der Marxismus nicht überholt ist,sondern den Menschen des zwanzigstenJahrhunderts noch viel zu sagen hat, auchden Gläubigen. Aber täuschen wir uns nicht:Die Konservativen im kirchlichen Lagersind noch sehr stark. Sie haben auf ihrerSeite eine jahrhundertealte Tradition, die

den Gehorsam zur ersten ChristInnenpflichterklärt. Sie stützen sich auf ein, am Alther-gebrachten hängendes, Fußvolk in den Pfarr-gemeinden, das jede Neuerung fürchtet.

Und sie bringen die Interessen großerTeile des kirchlichen Apparates zum Aus-druck, der, wie jeder bürokratische Apparat,vor allem an die eigenen Positionen undPrivilegien denkt, die eine konservativeKirche eher zu sichern vermag, als einefortschrittliche.

Noch wissen wir nicht wie dieses Ringenzwischen fortschrittlichen und konservativenKräften ausgehen wird. Eines scheint freilichfestzustehen: Auch wenn die Konservativenvorübergehend siegen sollten, werden siedoch nicht im Stande sein, das Rad der Kir-chengeschichte zurückzudrehen. Unabhängigvom Ausgang des innerkirchlichen Ringens(bei dem unsere Sympathien auf der Seiteder Fortschrittlichen sind) betrachtet diesozialistische Bewegung SozialistInnen, dieaus religiösen Motiven zum Sozialismusgekommen sind, als völlig gleichberechtigt.

Der/die eine ist Sozialist/in geworden,weil er/sie beim Studium gesellschaftlicherZusammenhänge erkannt hat, dass eineklassenlose, sozialistische Gesellschafterkämpft werden muss, erkämpft werden

kann. Religiöse Empfindungen sind ihm/ihrfremd.

Der/die andere SozialistIn ist zur gleichenErkenntnis auf anderem Weg gekommen:Über seine/ihre religiöse Überzeugung. DerGeist des Evangeliums, die sozialistischeVerhaltensweise der UrchristInnen, dieAppelle an die Nächstenliebe haben ihn/ihrden Kampf um eine klassenlose, sozialis-tische Gesellschaft als sittliche Verpflichtungdes wahren ChristInnen empfinden lassen.

Zwischen SozialistInnen und allen religiösenMenschen, die ihren Glauben ernst nehmen,gibt es, über alle weltanschaulichenMeinungsverschiedenheiten hinweg, einegroße gemeinsame Aufgabe: Der Kampfum die Erhaltung des Weltfriedens.

Die SozialistInnen verabscheuen den Krieg:Sie wissen, dass sie die sozialistische Gesell-schaft nur aufbauen können, wenn diegrauenhafte Katastrophe eines atomarenWeltkrieges verhindert wird: Mit Atom-leichen lässt sich auf den Trümmern dermenschlichen Zivilisation kein Sozialismusverwirklichen. Aber auch viele religiöseMenschen verabscheuen den Krieg. Siehaben aufgehört, in ihm eine Strafe Gotteszu sehen, sondern sind zu der Überzeugunggekommen, dass es Gottes Gebot ist, denKampf um die Erhaltung des Weltfriedenszu führen, den Kriegstreibenden das Hand-werk zu legen.

Hier erwächst allen Menschen, dieguten Willens sind, eine Aufgabe, vonderen Lösung die Existenz derMenschheit abhängt: Es gilt den Kriegzu ächten, die Abrüstung zu fordern, imSinne der Völkerverständigung zuwirken.

Es gilt den Krieg zu ächten, die Abrüstung zu fordern, im Sinne derVölkerverständigung zu wirken.

Page 80: Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!"

Nach dem Zusammenbruch der realsozial-istischen Länder befindet sich die Arbeiter-InnenInnenbewegung weltweit in der Krise.Diese Krise verstärkt die Entideologisierungund Entpolitisierung der ArbeiterInnenbe-wegung, die schon seit Jahrzehnten in Gangist, in ungeheuerem Ausmaß.

Was wir heute erleben, ist jedoch nicht dieKrise des Marxismus, sondern die Schwächeder MarxistInnen. Der Marxismus alsTheorie und Methode hat nichts von seinerWichtigkeit eingebüßt. Das heißt nicht, dasszentrale Kategorien und Erkenntnisse nichtauf ihren Erklärungsgehalt der Wirklichkeitüberprüft werden müssen, welche aufbe-wahrt und weiterentwickelt werden müssenund mit welchen zu brechen ist. Dies kannjedoch nur auf Boden des Marxismusgeleistet werden. Unzulänglichkeiten in derTheorie dürfen nicht mit der Krise deswissenschaftlichen Sozialismus verwechseltwerden, als habe er seine Potenzen unterheutigen Verhältnissen verloren, sondernmüssen als Krise der MarxistInnen begriffenwerden. Umso wichtiger ist es, unser Wissenund Analysevermögen zu erweitern und zuvertiefen.

Aus diesem Grund haben wir uns entschlos-sen, die Broschüre „Warum sind wirSozialistInnen“ von Josef Hindels neu aufzu-legen. Diese Broschüre kann wohl nach wievor als der verständlichste und in seinerThemenauswahl umfassendste Einstieg inden wissenschaftlichen Sozialismus ange-sehen werden. Aber sie hat unserer Ansichtnach auch Unzulänglichkeiten und Fehlein-schätzungen. Die wesentlichsten wollen wirhier nur knapp skizzieren, da hier nicht derPlatz für eine umfassende Auseinandersetz-ung zur Verfügung steht. Unter Berück-sichtigung dieser Anmerkungen teilen wirjedoch den Inhalt weitgehend und halten die

Broschüre für einen geeigneten Einstieg, undeine große Errungenschaft Josef Hindels.

10. Kapitel: Kommt nach dem Kapital-ismus der Sozialismus?

Die Charakterisierung des Sozialismusals „eine Gesellschaft ohne Klassen“ wirdvon uns nicht geteilt und war auch nicht dieEinschätzung der KlassikerInnen. Im Sozia-lismus, der ersten Phase des Kommunis-mus, gibt es noch unterschiedliche Klassenz.B. ArbeiterInnen und BäuerInnen. Er istalso noch eine Klassengesellschaft, abereine, in der die Arbeitenden diese nachihren Interessen gestalten. Zwischen ihnenbesteht kein antagonistisches Verhältnismehr. Die Aufhebung der Klassen und desStaates fällt erst in die höhere Phase, denKommunismus. Dies ist keine Herum-reiterei, können ja auch vom Sozialismusnicht Dinge erwartet werden, die erst imKommunismus möglich werden. DieKriterien, welche uns die KlassikerInnenhinterlassen haben, um bestimmen zukönnen, ob eine Gesellschaft sozialistisch istoder nicht, lassen sich im wesentlichen aufdrei beschränken. Die Macht in denHänden der ArbeiterInnenklasse, geführtdurch ihre Partei, die Vergesellschaftung derProduktionsmittel und die gesellschaftlichePlanung der Produktion und Verteilung. Derjetzt gescheiterte Versuch muss als derzweite Versuch nach der Pariser Kommunegesehen werden, den Sozialismus aufzu-bauen. Er war nicht das, was Marx unterder Totalität der gesellschaftlichen Verhält-nisse verstand. Seine Deformationen undFehler sind nicht nur durch innereSchwächen zu erklären, auch wenn diesegravierend waren. Sie können nur verstan-den werden, wenn man/frau die nationalenund internationalen Bedingungen mitref-lektiert, die jeweiligen historisch konkretenBedingungen.

Nachwort

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11. Kapitel: Reform und RevolutionSehr gut herausgearbeitet ist das Verhält-

nis dieser zwei Seiten zueinander. Wer imKampf um Reformen stecken bleibt, wirdden Kapitalismus nicht überwinden, weil erdie Eigentums- und Machtverhältnisse nichtwirklich angreift. Wer nur für die Revolutioneintreten würde, nach der etwas eigenwil-ligen Dialektik „je schlechter, desto besser“,wird es nie schaffen, Massen an den Sozia-lismus heranzuführen. Aber die Überwin-dung des kapitalistischen Systems wirdunter anderem auch nicht durch „revolu-tionäre Reformen“ geschehen. Es gibt in derGeschichte bisher kein einziges Beispiel, indem eine Gesellschaft durch Reformenüberwunden wurde. Man/frau darf sich denWeg zum Sozialismus auch nicht als all-mählichen, ruhigen vorstellen. Selbst OttoBauer kam zur Einsicht, dass sich ab einembestimmten Punkt das BürgerInnentum mitallen Mitteln zur Wehr setzen wird, dass derStaat nicht einfach übernommen werdenkann, sondern Teile von ihm zerschlagenwerden müssen. Dass es so etwas wieSprünge und Entscheidungskämpfe gibt, dieaber nichts mit der „Schießgewehrromantik“zu tun haben.

15. Kapitel: Religion, Kirche undSozialismus:

Die an sich richtige Einsicht, dass Sozia-listInInnen nicht prinzipiell gegen Christ-Innen sind, sondern mit ihnen gemeinsameBündnisse suchen und um gesellschaftlicheVeränderungen ringen, darf jedoch nicht mitweltanschaulicher Neutralität verwechseltwerden. Aber das Ringen um eine wissen-schaftliche Weltanschauung ist nötig unddamit der Glaube zu kritisieren.

Page 82: Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!"

Adressen & Impressum

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Jusos-Salzburg5020 Salzburg, Wartelsteinstr. 1Tel.: 0662/42 45 00-22/21Fax: 0662/42 45 [email protected]

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Medieninhaberin: Trotzdem Verlag GmbH, Herausgeberin: SJÖ, Redaktion: Torsten Engelage,Andreas Kollross, Stefanie Vasold, Layout: Peter Reitmayr, alle Neustiftgasse 3, 1070 Wien, 2002

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* Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmtdrauf an, sie zu verändern.Karl Marx—Faksimile der 11. These über Feuerbach

*

Page 84: Broschüre "Warum sind wir SozialistInnen!"

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