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Carl Djerassi, geboren 1923 in Wien, Studium in den USA. Carl Djerassi ist Schriftsteller und Professor für Chemie an der Stanford University. Er hat mehr als 1200 naturwissen- schaftliche Publikationen und Monographien verfasst und ist einer der wenigen amerikanischen Naturwissenschaftler, denen sowohl die „National Medal of Science“ (1973 für die erste Synthese eines steroidalen oralen Kontrazeptivums,„die Pille“) als auch die „National Medal ofTechnology“ verliehen wurde. Djerassi ist Mitglied der National Academy of Scien- ces der USA und der American Academy of Arts and Sciences, Mitglied zahlreicher internationalerAkademien,Träger unzäh- liger Auszeichnungen und von 19 Ehrendoktoraten.Vor 12 Jahren begann Carl Djerassi Belletristik zu schreiben, haupt- sächlich Science-in-Fiction, worin er die menschliche Seite von Naturwissenschaftlern und ihre persönlichen Konflikte schildert, darunter: „Cantors Dilemma“; „Das Bourbaki Gam- bit“; „Marx, verschieden“; „Menachems Same“; „NO“; „Der Futurist und andere Geschichten“;„Wie ich Coca-Cola schlug und andere Geschichten“; „Stammesgeheimnisse (Cantors Dilemma + Das Bourbaki Gambit)“, „Die Mutter der Pille“ (Autobiographie).Djerassi ist auch Verfasser von Theaterstü- cken („Unbefleckt“; Oxygen“) , in denen er sich mit forschungsethischen Fragen beschäftigt. Darüber hinaus ist Carl Djerassi der Gründer des in der Nähe von San Francisco angesiedelten „Djerassi Resident Artist Program“, einer Stif- tung, die Arbeitsstipendien in Form von Aufenthalten an Künstler verleiht. Seit ihrer Gründung 1982 hat die Stiftung bereits mehr als 1000 Künstler beherbergt. Adresse des Autors: Prof. Dr. Carl Djerassi Department of Chemistry Stanford University Stanford, CA 94305-5080 [email protected] conturen.01.2003 52 Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten? · Carl Djerassi der Gründer des in der Nähe von San Francisco angesiedelten „Djerassi Resident Artist Program“, einer Stif-tung,

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Page 1: Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten? · Carl Djerassi der Gründer des in der Nähe von San Francisco angesiedelten „Djerassi Resident Artist Program“, einer Stif-tung,

Carl Djerassi, geboren 1923 inWien, Studium in den USA.Carl Djerassi ist Schriftsteller und Professor für Chemie an derStanford University. Er hat mehr als 1200 naturwissen-schaftliche Publikationen und Monographien verfasst und isteiner der wenigen amerikanischen Naturwissenschaftler,denen sowohl die „National Medal of Science“ (1973 für dieerste Synthese eines steroidalen oralen Kontrazeptivums,„diePille“) als auch die „National Medal ofTechnology“ verliehenwurde. Djerassi ist Mitglied der National Academy of Scien-ces der USA und derAmericanAcademy ofArts and Sciences,Mitglied zahlreicher internationalerAkademien,Träger unzäh-liger Auszeichnungen und von 19 Ehrendoktoraten. Vor 12Jahren begann Carl Djerassi Belletristik zu schreiben, haupt-sächlich Science-in-Fiction, worin er die menschliche Seitevon Naturwissenschaftlern und ihre persönlichen Konflikteschildert, darunter: „Cantors Dilemma“; „Das Bourbaki Gam-bit“; „Marx, verschieden“; „Menachems Same“; „NO“; „DerFuturist und andere Geschichten“;„Wie ich Coca-Cola schlugund andere Geschichten“; „Stammesgeheimnisse (CantorsDilemma + Das Bourbaki Gambit)“, „Die Mutter der Pille“(Autobiographie).Djerassi ist auchVerfasser von Theaterstü-cken („Unbefleckt“; Oxygen“) , in denen er sich mitforschungsethischen Fragen beschäftigt. Darüber hinaus istCarl Djerassi der Gründer des in der Nähe von San Franciscoangesiedelten „Djerassi Resident Artist Program“, einer Stif-tung, die Arbeitsstipendien in Form von Aufenthalten anKünstler verleiht. Seit ihrer Gründung 1982 hat die Stiftungbereits mehr als 1000 Künstler beherbergt.

Adresse des Autors:Prof.Dr.Carl Djerassi

Department of ChemistryStanford University

Stanford, CA [email protected]

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

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Bei der Einleitung zu diesemAbend wurde von Gott spie-len gesprochen. Ich höre diesen Ausspruch sehr oft, be-sonders in Zusammenhang mit den Beispielen, die ich heutegeben werde.Wie kann man überhaupt denken,Gott zu spie-len? Das ist besonders hier, im Billroth-Haus der Gesellschaftder Ärzte in Wien, eine gute Frage, denn dieses Haus wurdefür Leute errichtet, die ununterbrochen Gott gespielt haben.Dazu die Frage: Glauben Sie, wenn man etwas hinsichtlichReproduktion macht, spielt man Gott, aber wenn man dasLeben erweitert, dann spielt man nicht Gott? Vor ungefähr100, 150, 200 Jahren haben die meisten Menschen –be-sonders die Frauen – 30, 35 Jahre lang gelebt. Jetzt leben siehier in Wien 90, 100 Jahre und einer der Gründe dafür liegtdarin, dass die Mediziner ununterbrochen Gott gespielt ha-ben. Natürlich würden die Menschen ansonsten viel frühersterben.Aber ich denke,dass diese Sicht viel zu sehr schwarz-weiß ist.

In gewisserWeise ist dasThema „Kannman Forschung ver-bieten“? ein sehr einfaches und meine Antwort auf dieseFrage lautet kurz und klar: Nein. Dann könnte ich sagen,danke vielmals, das ist mein Vortrag, ich setze mich niederund wir können mit der Podiumsdiskussion anfangen. Ichglaube jedoch, es wäre besser, den Titel zu ändern und zwarauf:Darf man Forschung verbieten? Sie werden sehen, dasses sich nicht um einen typischenVortrag, ein typisches Refe-rat handeln wird, bei dem der Vortragende das Publikumdavon überzeugenwill,das Gesagte sei dieWahrheit.Ich kannIhnen gleich sagen, das kann ich nicht tun, weil das keinThema für schwarz-weiße Antworten ist. Das ist eine graueFrage und Sie werden nur graue Antworten bekommen undich möchte Ihnen gleich sagen, dass mich nur graue Frageninteressieren. Schwarz-weiße Fragen sind nicht interessant,weil die Antworten entweder Ja oder Nein lauten.

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Mediziner habenununterbrochen Gottgespielt

Darf man Forschungverbieten?

Kann man Forschung verbieten?Vortrag beim 8. Wiener Kulturkongress„Horizonte der Forschung – An den Grenzen des Menschen“

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Beim Thema „Darf man Forschung verbieten?“ ist zu Be-ginn die Frage zu stellen, was wir mit Forschung meinen.Meine ganze naturwissenschaftliche Ausbildung habe ich inAmerika erhalten - ich war 14 Jahre alt,als ichWien verlassenhabe - und ich denke naturwissenschaftlich nur auf Englisch.Bei naturwissenschaftlichen Themen übersetze ich im Kopfaber nicht nur vom Englischen ins Deutsche, sondern es istteilweise auch eine psychologische Übersetzung, denn ichkomme nicht mit all dem Ballast des zentraleuropäischenStandpunktes. In Bezug auf den naturwissenschaftlichenStandpunkt komme ich vonAmerika,d.h.ichmöchte das eheroptimistisch, oder realistisch oder sogar wildwestlich disku-tieren,anstatt nur höflich,philosophisch u.s.w.Ich muss auchsofort eine große Lücke meiner Ausbildung zugeben undwenn ich mein Leben noch einmal führen könnte, wäre daseiner von wenigen Punkten, die ich ändern würde: Ich habekeine philosophische Ausbildung. Darauf bin ich nicht stolz,ich schäme mich.Als Jugendlicher hatte ich einfach zu vielEile und studierte das,womit ich etwas anfangenwollte – unddas war nicht die Philosophie. Also Sie werden sehr wenigPhilosophisches von mir hören. Trotzdem muss ich fragen:Was ist reine Forschung? Auf Englisch ist das basic researchund meiner Meinung nach kann man reine Forschung – dieForschung ist für mich reine Forschung – nicht verbieten,weil man nicht weiß, was man verbieten will oder soll.

Meine Definition von Forschung lautet: Man forscht, weilman neugierig ist, neue Sachen zu entdecken – besondersetwas, das man nicht erwartet hat.

Wenn es z.B. heißt,man sollte die Atomspaltung verbieten– bzw. man hätte sollen, man könnte – so ist das nur retro-spektiver Unsinn.Wie kann man prospektiv verbieten? – zumBeispiel Meitner und Hahn verbieten, daran zu arbeiten,woran sie in den späten 30er-Jahren gearbeitet haben? Siehaben ja damals gar nicht gewusst,dass sie dieAtomspaltungentdeckt haben. Es ist sehr wichtig, daran zu erinnern, dennich glaube, der Hauptfehler ist, dass viele Menschen For-schung oder Science – Naturwissenschaft – mitTechnologieverwechseln.Wenn man über Technologie, also Anwendungvon Forschung spricht, handelt es sich um eine ganz andere,eine relativ einfache Frage, über die ich nicht sprechen will.Ich will über Forschung sprechen.

Was würde, was könnte die Basis sein, Forschung zu ver-bieten? Es könnte eine ethische Basis sein, eine moralische,eine religiöse, eine wissenschaftliche, eine kulturelle, einepolitische – allerlei verschiedene Grundsätze wären möglich,mit verschiedenen Resultaten. Ich könnte die nächsten 40Minuten so diskutieren, aber ich glaube, das wäre sehrabstrakt. Vielleicht sollte es philosophisch sein, aber da ichschon zugegeben habe, dass ich nicht philosophisch orien-tiert bin, und als Pädagoge auftrete, finde ich es besser, über

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

NaturwissenschaftlicherStandpunkt Amerikas

Man weiß nicht,was man verbieten soll

„RetrospektiverUnsinn“

Viele verwechselnNaturwissenschaftmit Technologie

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allgemeine Probleme zu sprechen, indem ich konkrete Bei-spiele bringe.

So habe ich mich entschlossen, über die Reproduktions-medizin zu sprechen und ein Beispiel aus diesem Gebiet zunehmen. Ich bin nicht Mediziner, sondern ein simpler, ein-facher Organiker.Trotzdem habe ich viel auf diesem Gebietgelesen, ich schreibe viel darüber, ich habe Meinungen dazuund ich glaube,es ist ein gutes Beispiel,weil es natürlich ethi-sche und religiöse Dimensionen hat – haben muss – und wodas Gott spielen am meisten erwähnt wird.

Aber bevor ich das Beispiel gebe,möchte ich Ihnen etwasaus einem meiner Romane vorlesen. Das Buch heißt„Stammesgeheimnisse“ und es ist ein neuerTitel für zwei älte-re Romane,die ich in den 90er Jahren geschrieben habe unddie auf Deutsch seit einigen Jahren vergriffen sind. DerStamm, über den ich spreche, ist natürlich der Stamm derWissenschaftler. Ich spreche von den kulturellen Verhaltens-aspekten dieser Gruppe, die dem allgemeinen Publikumnicht bekannt sind und auch nicht den Mitgliedern diesesStammes, den Naturwissenschaftlern,weil diese nicht an ihreigenesVerhalten denken.Wir lernen das nicht in Schulen, inVorträgen oder Büchern, wir lernen das durch eine Art vonintellektueller Osmose, von unserem Doktorvater, von unse-ren Kollegen, und eines Tages benehmen wir uns als Natur-wissenschaftler. Dieses Benehmen, dieses Verhalten ist inter-essant, teilweise komisch, teilweise seriös und idio-synkratisch.

Der zweite Roman heißt „Das Bourbaki Gambit“ und dasist deswegen wichtig, weil eine der Hauptfiguren ein Öster-reicher ist. Ein österreichischer Wissenschaftler, der diskretfür mich eine Art Hommage für einen Innsbrucker namensLudwig Haberlandt war,den relativ wenige Österreicher ken-nen. Besonders komisch, dass ich über einen Innsbruckerschreibe,obwohl ich als Kind doch nie in Innsbruck war.Erstvor ca. sieben Jahren habe ich Innsbruck zum ersten Malbesucht.Trotzdem habe ich sehr intensiv über Innsbruck unddiesen Innsbrucker geschrieben.In diesem Roman – als Erklä-rung dafür, was ich Ihnen hier vorlese – sind vier Wissen-schaftler, von denen der Österreicher Sepp einer ist.Alle sindüber sechzig Jahre alt und haben beschlossen - als Bioche-miker, Biophysiker, biologisch orientierte Leute,Kapazitäten,die in den Ruhestand gingen oder geschickt wurden und sichrevanchieren wollen – , sich gegen den Jugendkult zu wen-den. Sie wollten beweisen, dass sie noch genauso gescheitsind wieAndere,sie haben sich also entschlossen,gemeinsaman einer interessantenArbeit zu wirken,ohne zu wissen,wasüberhaupt dasThema sein wird, und das unter einem kollek-tiven Nom de Plume – etwas,dasWissenschaftler sonst über-haupt nicht tun. Die berühmte Ausnahme ist „Bourbaki“, einfranzösischer Mathematiker, den ich hier nicht weiterbeschreiben will. Die tun das also und machen eine große

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Ein Beispiel aus derReproduktionsmedizin

„Stammesgeheimnisse“

„Das Bourbaki Gambit“

Vier Wissenschaftergegen den Jugendkult

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Erfindung,eine wirkliche Erfindung – meine Romane heißen„science-in-fiction“, alles was ich schreibe stimmt, ist plausi-bel, ist korrekt, ist nicht science fiction.

Ich wollte in diesem Buch eine Erfindung beschreiben - alsich sie damals beschrieben habe, war sie außer bei Natur-wissenschaftlern nur wenigen Menschen bekannt und einJahr, nachdem ich das Buch geschrieben hatte, gerade als dasBuch erschien, hat diese Erfindung im Jahr 1993 den Nobel-Preis in Chemie erhalten.Es ist die Erfindung von PCR – PCRist die internationaleAbkürzung der englischenWörter Poly-merase Chain Reaction. Polymerase Kettenreaktion, aufdeutsch PKR.

Es ist klar,dass dies in den letzten 15 Jahren die wichtigstemethodologische Erfindung in der Biologie wurde,ich würdesagen auch in der Biochemie und teilweise sogar auch in derMedizin.Es ist ganz klar,dass es unlogisch, ja lächerlich wäre,diese Erfindung zu verbieten, während die jetzigen An-wendungen dieser Methodologie für gewisse Leute schonsehr gefährlich sind.Wenn man sie jetzt retrospektiv verbie-ten könnte,bin ich ganz sicher,dass es Leute gibt – vielleichtsogar hier in diesem Publikum – die das tun würden. In mei-nem Buch also haben die vier Wissenschaftler diese genialeIdee. In meinem Roman war es eigentlich die Idee des Öster-reichers, aber die Wissenschafter haben gesagt, sie würdendas kollektiv publizieren, ansonsten würde man später strei-ten,wessen Idee es wirklich war – das zeigt typisch,wie For-scher eigentlich arbeiten. Dann sitzen sie bei einem Nacht-mahl undwollen die Erfindung einer Dame erklären – der ein-zigen Dame, die auch über ihre kollektive Autorenschaftweiß.Diese Dame ist nichtWissenschaftlerin, sie ist für michdie Repräsentantin des allgemeinen Publikums,dem man dienaturwissenschaftlichen Resultate, die Gründe, warum mandaran arbeitet und die Resultate selbst erklären muss –obwohl wir das nicht sehr oft tun als Naturwissenschaftler.

Hier ist die Diskussion – beimAbendessen, einer hat gera-de erklärt, das ist PCR, „verstehst du das, Diana?“ (Sie heißtDiana, sie zögerte und sagt:)

„Ich glaube, ich verstehe jetzt, wie Sie das Ganze anpa-cken wollen.Aber wozu ist es gut?“ Einen Moment lang warich sprachlos. Hatte ich mir die ganze Mühe nur gemacht,um jetzt das zu hören? „Sie meinen, ob PCR brauchbarsein wird, ob es praktische Nutzanwendungen findenwird?“

„Genau das“, sagte Diana, „ich frage mich oft, warumihrWissenschaftler euch nicht gelegentlich mit ernsten Pro-blemen befasst, z. B. warum können wir unseren eigenenKnoblauchatem nicht riechen? Warum können wir unsnicht selbst kitzeln?“

Ein einziger Blick auf meinen Gesichtsausdruck veran-lasste sie, den Ton zu ändern.

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Polymerase Kettenreaktion

Gefährliche Anwendungen

NaturwissenschaftlicheResultate erklären

PraktischeNutzanwendungen?

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„Max, das sollte ein Scherz sein! Aber es muss doch An-wendungen geben, die wir – die Öffentlichkeit – nachvoll-ziehen können, sonst braucht sich ja niemand darum zuscheren.“

Anwendungen – einen Moment lang fragte ich mich,was Diana sagen würde, wenn ich sie fragte, welche prak-tischen Nutzanwendungen sie für eine Bach’sche Fuge prä-sentieren könne. Nichts treibt einen in der Forschung täti-gen Wissenschaftler mehr in die Defensive als derartigesGerede über Nutzanwendungen. „Gib mir etwas Zeit“,sagte ich, „wir arbeiten ja erst seit zwei Tagen daran. Imgegenwärtigen Stadium sprechen wir einzig und alleinüber die theoretischen Aspekte unserer Methodologie, dieerst noch experimentell überprüft werden muss.Wir sindnoch nicht einmal sicher, welcheVersuche wir durchführenmüssen. Eine Debatte über die Nutzanwendungen wärederzeit verfrüht.“

„Soll das heißen, dass Sie über praktische Nutz-anwendungen nicht einmal nachdenken werden, bevornicht entschieden ist, ob es klappen wird?“ fragte Diana.

„Was stört Sie daran? Nutzanwendungen! Es ist schonschwer genug, auszuknobeln, ob es klappen wird.Wollenwir dann noch ausknobeln, wofür es gut sein könnte?“

„Zunächst einmal“, sagte Diana in ruhigem Ton, „weilsich die Frage erhebt, für was es schlecht sein könnte?“

„Schlecht?“ fragte ich.„Für was um alles in derWelt könn-te es schlecht sein?“

Das ist eine Debatte, die man oft genug führt,meiner Mei-nung nach sogar führen muss, wenn man wirklich über For-schung spricht.Weil man keine Idee hat, keine Idee habenkann,was man eigentlich in dem Moment entdeckt hat.Mankann das nicht voraussagen. Soweit die Vorbereitung für dasThema, über das ich sprechen möchte: nicht über die Ver-hütung – ein Gebiet,in dem ich gearbeitet habe -,sondern dasUmgekehrte, über die assistierte Reproduktion.Anstatt eineGeburt zu verhüten,was natürlichVerhütungsmittel tun,willich darüber sprechen, Leben zu erleichtern oder sogar mög-lich zu machen: über die Behandlung der menschlichen Un-fruchtbarkeit. Ich möchte – und das wird das eigentlicheThema meiner Diskussion sein – die Frage stellen: Soll manoder darf man Forschung für die Behandlung der mensch-lichen Unfruchtbarkeit verbieten?

Ich würde sagen, das ist eine Frage, die man besonders inÖsterreich und Deutschland stellen kann,weil das sind vomStandpunkt der Reproduktionsmedizin her vielleicht diezwei konservativsten Länder in Europa. Es gibt allerlei Reli-gionen, von denen die katholische vielleicht das beste Bei-spiel,aber ganz klar nicht das einzige Beispiel dafür ist,solcheSchritte total zu verbieten und nicht anzunehmen – dieseReligion verbietet natürlich auch die Verhütung, aber ich

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Theoretische Aspekteder Methodologie

Negative Folgen vonNutzanwendungen?

Behandlungder menschlichenUnfruchtbarkeit

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spreche jetzt über das Problem der Reproduktionsmedizin.Mich interessiert bei der menschlichen Reproduktion im 21.Jahrhundert die Spaltung zwischen Sex einerseits und Frucht-barkeit und Befruchtung andererseits.Dies ist eine neue Spal-tung, es gibt sie erst seit den 1970er Jahren: nämlich Sex fürLiebe und Lust – und Befruchtung unter dem Mikroskop.Viele finden das letztere fürchterlich.Also,Sie können das voneinem ästhetischen Standpunkt fürchterlich finden,das kannich eventuell verstehen,es ist natürlich viel schöner,auch dieBefruchtung im Bett zu haben, aber das ist manchmal nichtso einfach.Was machen Sie,wenn Sie unfruchtbar sind – eineunfruchtbare Frau, ein unfruchtbarer Mann? Teilweiseunfruchtbar,ganz unfruchtbar,genetisch unfruchtbar? Etwas,das man vorher nicht vererben konnte, etwas das unvererb-bar war: jetzt ist das möglich.Also die Frage lautet: Soll mannach ethischen Gesichtspunkten einer unfruchtbaren Personerlauben, von der Gesellschaft, der Wissenschaft, von derMedizin oder der Biologie zu verlangen: Machen Sie michfruchtbar! Ich will Vater oder Mutter, wir wollen Eltern wer-den?Würden Sie wirklich jemandem etwas verbieten wollen,der unfruchtbar ist? So von Gott oder Natur aus oder an wenimmer Sie glauben – ich bin, ganz ehrlich gesagt, eine nicht-religiöse Person,was aber nicht heißt, dass ich nicht glaube,dass es große religiöse Dimensionen für andere Menschengibt.Wenn Sie das aber nicht erlauben wollen,sollen Sie auchnicht erlauben, darüber zu forschen.

Nehmen wir an, dass Sie nicht so fundamental orientiertsind zu sagen, nein, unter keinen Umständen darf eine un-fruchtbare Person fruchtbar gemacht werden.Wenn Sie nichtdiese Position einnehmen und somit nicht verbieten, dassForschung auf diesem Gebiet stattfindet, möchte ich Ihnenein Beispiel geben, was da passieren kann. Dazu muss ichauch gleich an etwas erinnern: Das Prinzip der in-vitro-Ferti-lisation wurde amAnfang nur zur Behandlung der Unfrucht-barkeit erfunden und entwickelt – erst von Steptoe undEdwards 1977 in England. Seit dieser Zeit gibt es circa eineMillion in-vitro-Babies,die ohne Geschlechtsverkehr geborenwurden,und es gibt einige MillionenVersuche,weil natürlichnicht alle Versuche positiv ausgegangen sind.Also MillionenvonMenschen haben es versucht,und etwa eine Million Men-schen lebt schon – was wollen Sie da verbieten? „This boathas sailed“, es ist wie ein Boot, das mit seinem ganzen ethi-schen Gepäck bereits abgesegelt ist.Meiner Meinung nach istdie sensationellste Entdeckung auf diesem Gebiet diejenige,die die größten ethischen, religiösen,moralischen aber auchpraktischen Probleme hervorbringen kann:einVerfahren,dasICSI heißt – Abkürzung für intracytoplasmatische Spermie-ninjektion. Das bedeutet gewöhnlich nicht viel für jene, dienicht Naturwissenschaftler sind und noch nichts darübergehört haben.Das hat aber eine sehr wichtige Dimension undist ein Gebiet, über das Herr Prof.Huber oft gesprochen undgeschrieben hat.Anstatt darüber Vorträge oder Diskussionen

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Befruchtungunter demMikroskop

EthischeGesichtspunkte

Seit 1977ca. eine Millionin-vitro-Babies

ICSI-IntracytoplasmatischeSpermieninjektion

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zu halten,habe ich mich schon vor einigen Jahren entschlos-sen, solche Probleme in Form von Literatur – Romane undbesonders Theater – zu behandeln. Ich muss zuerst diewissenschaftliche Basis zeigen – das kann ich als Natur-wissenschaftler tun.Die ethischenAntworten auf die Fragen,die diese Technologie hervorruft, muss das Publikum geben– nicht nur das PublikummeinesTheaterstücks,ichmeine dieGesellschaft.

Im Zusammenhang mit den Möglichkeiten des Verbietenslautet ein wichtiger Aspekt: Man nimmt an, dass es immerneue Erfindungen sind, die fürchterliche Anwendungen zurFolge haben.Wenn man sie daher verbieten kann,wird es dieProbleme nicht geben – diese Vorstellung ist natürlich sehrnaiv.Man nimmt gewöhnlich an, dass gesellschaftliche Ände-rungen, oft mit moralischen und ethischen Problemen ver-bunden, durch diese neue Technologie produziert wurden –und man denkt nicht genug an das Umgekehrte:dass es näm-lich auch die aus allerlei Gründen entstandenen gesell-schaftlichen Änderungen sein können, die neue Technolo-gien brauchen,die es möglich machen,neueTechnologie ein-zuführen oder die verlangen,dassWissenschaftler neueTech-nologien entdecken.

Ich gebe Ihnen dazu noch ein Beispiel: Meiner Meinungnach hat die Entwicklung der Rechte der Frauen seit den 60erJahren – vielleicht nicht so sehr in Österreich, aber in derwestlichenWelt,besonders inAmerika - vieles bewirkt.Es gibtgroßen Änderungen dort,wo immer mehr Frauen in Gebieteund in höhere Niveaus dieser Gebiete gehen, die vorherhauptsächlich männlich dominiert waren – davon sind dieNaturwissenschaften und die Religion die am stärkstenmänn-lich dominierten. Ich glaube,das hat viele Konsequenzen.EinBeispiel dazu, das für Ärzte relevant ist: Viele dieser Frauenverschieben das Kinderhaben – früher war das durch-schnittlich in ihren 20er Jahren, jetzt gibt es eine Verschie-bung in ihre 30er und auchAnfang der 4oer Jahre – mit allenSchwierigkeiten,die es nicht nur für die Frauen,sondern auchfür die Babies gibt.

Es ist gar nicht klar für mich,dass diese Bewegung der Frau-en viel mit Forschung oder Naturwissenschaft zu tun hat,son-dern sie hat mit anderen sozialen Problemen zu tun,die manschon lange vorher hätte lösen sollen und die nicht eine wis-senschaftliche, sondern eine gesellschaftliche Lösung brau-chen.

Nun zu ICSI.Vorher möchte ich Sie erinnern, dass eineArtvon Unfruchtbarkeit, die für etwa ein Drittel der Problemeverantwortlich ist,die männliche Unfurchtbarkeit ist.Männernehmen gerne an, dass das Problem der Unfruchtbarkeit beiFrauen liegt und wechseln dann die Frauen. Das habenbesonders Könige gerne gemacht und am Ende fanden siedann doch heraus, dass dieser Wechsel nichts geholfen hat.Das einfachste männliche Problem dieser Art ist, dass der

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Behandlungvon Problemenmittels Literatur

GesellschaftlicheÄnderungen undneue Technologien

Frauen verschiebendas Kinderhaben

MännlicheUnfruchtbarkeit

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Mann nicht genug Spermien hat. Er hat normale Spermien,hat aber nicht genug.Wir sind als Männer viel zu wenig raffi-niert, wir brauchen ungefähr 100 Millionen Spermien undmüssen diese in die Frau hineinschießen, damit ein einzigesSpermium in ein Ei gelangt. Dann sind wir fertig und habenmit der Reproduktion überhaupt nichts mehr zu tun.Wir sindtotal unwichtig, und natürlich wollen wir das nicht zugeben,weshalb das Machtverhältnis zwischen Mann und Frau beider Reproduktion, in sexuellen Belangen auf Seite des Man-nes liegt.Das wird sich allerdings bald ändern.Ein Mann also,der nur ein, zwei oder drei Millionen Spermien hat, istunfruchtbar. ICSI hat das gelöst: ICSI ist die direkte Injektioneines einzigen Spermiums in ein Ei hinein. Dann warten Siezwei, drei Tage, um sicher zu sein, dass Sie eine Befruchtungmit einem Embryo mit etwa 16 Zellen haben, und dann ste-cken Sie den Embryo in die Gebärmutter der Frau, hoffen,dass sich der Embryo einnisten wird und dass Sie etwa neunMonate später ein normales Kind haben. Die Schwanger-schaft ist wieder eine gewöhnliche, biologische – was sepa-rat ist, ist die Befruchtung.Gewisse Leute würden die Proze-dur verbieten oder nicht nutzen – das kann ich total verste-hen.Unfruchtbare Leute, die das nicht anwenden, sind dieje-nigen, die einfach nicht daran glauben, dass Unfruchtbarkeitbehandelt werden soll oder behandelt werden kann.

Aber ich würde jetzt weiter gehen und sagen, dass es inZukunft immer mehr fruchtbare Leute geben wird,die dieseMethode gebrauchen werden. Das führt zu einer anderenFrage: Die Leute, die diese Entdeckung gemacht haben mitder Motivation,die Unfruchtbarkeit zu behandeln, sahen denZweck ihrer Forschung nicht darin, dass am Ende fruchtbareMenschen diese Methode gebrauchen werden. In den näch-sten zehn, zwanzig Jahre wird es aber mehrere fruchtbareLeute geben, die diese Methode anwenden werden und Siewerden fragen:Warum? Man kann das doch bequemer, schö-ner und viel billiger im Bett tun.

Nochmals:Dass fruchtbare Paare ICSI gebrauchen werdenwar ganz klar nicht der Zweck am Anfang dieser Forschungund daher auch kaum etwas, das man damals verbieten woll-te. Das erste ICSI-Baby wurde 1991 geboren; es gibt jetztschon über 100.000 ICSI-Babies auf derWelt,also es hätte kei-nen Sinn, das jetzt zu verbieten. Die Konsequenzen dieserICSI-Methode können wir noch nicht wissen,weil das ältesteKind dieser Fertilisation zwölf Jahre alt ist.Was z.B. mit derFruchtbarkeit dieses Kindes seinwird,werdenwir erst in wei-teren 10 oder 20 Jahren wissen, wenn dieses Kind, dieserICSI-Bursche alt genug sein wird, um das herauszufinden.Wenn er nicht fruchtbar ist, kann das so sein wie bei seinemVater; ich habe das in meinemTheaterstück so geschrieben:„Like Father, like Son“ –Vater wie Sohn,möge auch er ICSI ge-brauchen.Das ist schon eine komplizierte Sache,denn wennes sich wirklich um eine genetische Unfruchtbarkeit handelt,

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Direkte Injektioneines einzigen

Spermiums in ein Ei

Ursprüngliche Motivation:Unfruchtbarkeit behandeln

Konsequenzen derICSI-Methode

noch nicht absehbar

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kann man diese nicht ererben, denn man wird ja nicht gebo-ren. In diesem Fall - zum ersten Mal - kann man etwas nichtVererbbares erben und das ist ein riesiges Problem.

Warum aber sollten fruchtbare Menschen diese Methodegebrauchen? Bei der in-vitro-Fertilisation ist es für gewöhn-lich der Fall,dass man Embryonen auch einfriert – manchmalfür Jahre – und sie dann später wieder verwendet.Eine ande-re Frage,die ich hier überhaupt nicht diskutieren will,ist, wasman mit den Embryonen, die man nicht gebraucht, macht.Das ist ein riesiges und viel diskutiertes Problem.Wenn mandiese eingefrorenen Embryonen,von denen esTausende gibt,die man nie mehr für den Zweck brauchen wird, für den sieeingefroren wurden – nämlich als Reserve für die unfrucht-bare Frau – wenn man diese Embryonen zerstört, zerstörtman dann ein Leben? Das ist eine andere ethische Diskussion.

Eier einzufrieren ist viel schwieriger. Es gibt schon mehrund mehr Fortschritte auf diesem Gebiet, obwohl die künst-liche Befruchtung von eingefrorenen Eiern sehr schwer istund fast unmöglich schien.Mit ICSI hat man jetzt schon Erfol-ge gehabt und meiner Meinung nach werden die Forschun-gen so schnell weitergehen, dass man eingefrorene Eierimmer länger aufheben und durch ICSI befruchten kann,wennman das will.Warum soll das notwendig sein,warum istdas überhaupt interessant? Es wäre besonders interessant fürFrauen,die ganz sicher sind,dass sie das Kinderhaben auf diemittelspäte Zeit – ab 35 Jahren – verschieben wollen odermüssen. Es wäre interessant für Frauen, trotzdem die Mög-lichkeit für ein Kind zu haben,das weniger Probleme hat miteinem jüngeren Ei als mit einem älteren.Die Frauen könntenin ihren 20er Jahren die Eier als Versicherung einfrieren undwenn sie mit 40 Jahren ein Kind haben wollen,haben sie dieOption, dieses Ei zu verwenden – das junge Ei anstatt einesälteren.Das wäre zum Beispiel ein Grund.

Ein zweiter Grund, warum fruchtbare Leute diese Metho-de gebrauchen werden, hat nichts mit der Reproduktions-medizin zu tun, aber sehr viel mit einem anderen Gebiet,woman Forschung teilweise auch verbieten will.Und das ist teil-weise auch mit der Erfindung von PCR verbunden,der Mög-lichkeit, Embryonen, bevor man sie wieder in die Frau ein-pflanzt, auf gewisse genetische Krankheiten zu analysieren –momentan nur für Krankheiten, die man jetzt schon Tausen-de Mal jedes Jahr untersucht,durchAmniozentese bei älterenMüttern,wo die Ärzte den Müttern vorschlagen,eineAmnioz-entese im dritten Monat ihrer Schwangerschaft zu machen,um zu sehen,ob es genetische Komplikationen im Fetus gibtwie z.B. Morbus Down. Und dann können sie an die Mög-lichkeit denken – das werden natürlich nur Frauen sein, diedas tun möchten – eineAbtreibung vorzunehmen.Jetzt kannman das schon am Embryo machen, mit einem zwei- oderdreitägigen Embryo. Und da Sie einige Embryonen vor sichhaben und diese analysieren,werden Sie eventuell einen fin-

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Erstmals kann man nichtVererbbares erben

Was geschieht mit deneingefrorenen Embryonen?

Künstliche Befruchtungeingefrorener Eier

Späte Schwangerschaftmit „jungem“ Ei

Analyse von Embryonen

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den, der die Mutation von Morbus Down hat, dann würdenSie nicht diesen Embryo verwenden,sondern einen anderen.Soll das erlaubt werden? Undwenn ja,wer soll den Entschlussmachen: das Paar oder die Gesellschaft?

Noch zwei weitere Gründe:Mit ICSI ist es jetzt schonmög-lich, das Geschlecht des Babys vorauszusagen.Da sie nur einSpermium brauchen und da das Geschlecht des Babys natür-lich immer vom Spermium abhängt – wennman einen Bubenhaben will, braucht man ein Spermium mit einemY-Chromo-som und wenn man ein Mädchen will, ein Spermium miteinem X-Chromosom – kann man also schon Spermien, dieein X- oder Y-Chromosom haben, separieren.Wenn man dastut,kann man sich sozusagen ein Mädchen oder einen Bubenbestellen.Das ist schon viel bedrohender für viele Leute,wirkönnen uns allerlei Horror-Szenarien vorstellen, wenn eswirklich billig und einfach wäre und überall getan werdenkönnte.Was würde wohl in China oder Indien passieren,woLeute hauptsächlich Buben haben wollen,besonders in einerKultur wie der chinesischen, wo die Regierung Familienwünscht, die nur ein Kind haben? Wenn Sie nur ein Kindhaben dürfen,wollen Sie einen Buben haben – was wird mitder Gesellschaft passieren? Ich kann auch an umgekehrteSzenarien denken, wo Familien fünf Kinder haben. Fürgewöhnlich sind die ersten drei oder vier immer von einemGeschlecht, also vier Mädchen oder vier Burschen, undzumindest ein Kind dann noch vom anderen Geschlecht.Würden Sie es auch diesen Menschen verbieten? Eine inter-essante Frage, eine viel einfachere Frage als die erste.

Letztes Problem, das Ihnen zeigt,wie weit man mit dieserMethode gehen kann und warum ich mich auf diese in-vitro-Methode konzentriere: Es gibt Männer, die wirklich totalunfruchtbar geboren werden – nicht Männer, die zu wenigeSpermien haben, sondern Männer, die überhaupt keinehaben.Das sind Männer, die ohne Samenleiter geboren wur-den – das ist eine genetische Krankheit – und daher keineSpermien haben können.Diese Männer haben oft noch ande-re Komplikationen,nämlich dass sieTräger von Mukoviszido-se sein können. Es ist dies eine Krankheit, eine Mutation, diesolche Männer aufweisen können – einer von vier Männern.Diese Männer können überhaupt keine Kinder haben,unmöglich. Aber nun müssen Sie Folgendes bedenken:Wasdie Fertilisation betrifft, ist nur der Nukleus des Spermiums,nur der Kopf des Spermiums,der das ganze genetische Mate-rial enthält,notwendig.Er muss in das Ei hinein kommen,umsich dannmit dem genetischen Material des Eis zu verbinden.Alles Andere, der Schwanz, der Motor ist nur da, damit dasSpermium hinauf,und dann zum Ei kommen kann. Jetzt kannman das mechanisch mit einer Pipette machen.Das heißt,Siekönnen ein Spermium verwenden, das noch gar nicht fertigist, aber schon das genetische Material hat – und die Männerohne Samenleiter haben schon solche Spermien. Man kann

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Genetische Krankheiten

Bestimmungdes Geschlechtes

Was wird mit derGesellschaft passieren?

Genetisch bedingtetotale Unfruchtbarkeit

von Männern

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sie aspirieren und injizieren und auf diese Art Kinder auf dieWelt bringen.Also auch so total unfruchtbare Menschen kön-nen jetzt fruchtbar werden und bisher sind derart einige Dut-zend Kinder geboren worden. Ich ende mit der Frage:Wür-den Sie ihnen das verbieten?Würden Sie verbieten, dass sol-che Männer, dass solche Paare ein Kind haben? Wollen Sie,dürfen Sie – die Gesellschaft – das verbieten? Wenn Sie jasagen, dann müssen Sie auch logischer Weise weiter sagen,dass Sie nicht nur gewisse Anwendungen, sondern auch dieForschung auf diesem Gebiet verbieten wollen.

Ich könnte noch viel mehr Beispiele nennen, die alle reli-giöse,ethische und auch praktische Dimensionen haben,diesehr mit dieser Frage der Forschung zu tun haben, aber dasüberlasse ich meinen Kollegen auf diesem Panel.

PodiumsdiskussionUniv.Prof. DDr. Johannes Huber

Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, dass mandie Forschung nicht verhindern kann und nicht soll.Auf deranderen Seite bin ich aber der festen Überzeugung,dass unse-re Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, die Forschungs-ergebnisse in humaner, altruistischer und sozialer Weise zuverwalten.Wir bringen intellektuell – um diesen Satzsalopp formulieren zu dürfen – zwar einen Einsteinhervor, unsere soziale, charakterliche und letztenEndes auch emotionale Intelligenz ist aber nach wievor in der Steinzeit.Dieses Dilemma hat derWissen-schaftler vor sich, wenn er forscht, wobei diesesDilemma – und das ist das Furchtbare – grundgelegtist in der Menschwerdung, grundgelegt letztenEndes in der Evolution. Denn selbst noch beim Pri-maten wird das Verhältnis der Geschlechter, dieSorge um den Nachwuchs, die Frage, welchenZugang man zu den Ressourcen, zum weiblichenGeschlecht, zur Reproduktion und zur Nahrung hat, von denInstinkten gesteuert.

Völlig anders ist es bei Menschen. Zwar finden sich auchin den meisten Verhaltensweisen von uns noch Relikte ausder Savanne und wenn man beobachtet, wie sich Menschenin Großstadtparks oder am Arbeitsplatz benehmen, so ortetman mit Recht auch dort noch instinktives Benehmen undinstinktives Verhalten. Aber trotzdem – und das, meineDamen und Herren ist von entscheidender Bedeutung:Wieder Mensch letzten Endes seine Kinder erzieht, wie er undob er monogam lebt,wie er mit Kranken umgeht,was er mitdem Messer tut, ob er tötet oder Brot schneidet, und was ermit demWissen macht,das dieWissenschaft ihm bringt – das

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Total unfruchtbareMenschen könnenfruchtbar werden

Dilemma derWissenschafter

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ist beim Menschen im Unterschied zu den Primaten nichtmehr in sein Genom eingraviert, das kann er frei verwalten.Er hat sich von den Instinkten frei gemacht, die Fesseln derTriebe und der Instinkte sind am Menschen nicht mehranwendbar und dadurch sind viele Fragen offen.Diese Fragenwerden umso mehr an Bedeutung gewinnen, je mehr neueResultate dieWissenschaft auf denTisch legt. Diese Lücke inder Evolution, geschaffen durch das Abwerfen der Instinkte,kann meines Erachtens nach – und das beantwortet die Fra-gen vielleicht partiell – nur geschlossen werden, wenn anStelle der Instinkte Wertvorstellungen kommen. Diese Wert-vorstellungen sind meines Erachtens nach von größterBedeutung, denn sie entscheiden, ob geforscht werden solloder nicht.Verbote und Gesetze können die Forschung in kei-nerWeise verhindern,wohl aber so etwas wie ein kollektivesBewusstsein,ein common sense.Dieser common sense mussaufWertvorstellungen basieren.Eine Gesellschaft – das warendie letztenAufsätze von Gräfin Marion Dönhoff – eine Gesell-schaft kann nur hoffen,viele Gruppierungen zu besitzen,dieüberWertvorstellungen verfügen,denn nur dann kann sie dieProbleme unserer Zeit managen und nur dann kann sie dieFrage beantworten, was und wo geforscht werden darf.

Eine „Just for fun-Gesellschaft“,die dazu unfähig ist,fordertvom Mediziner und vom Staat entweder nicht zu forschenoder permanentVerbote zu erlassen.Die wirkliche Regelung,ein Reglement kann meiner Meinung nach nur von den Men-schen selbst kommen und wenn sie dazu nicht in der Lagesind, dann werden die Zeiten furchtbar werden. Ich werdeIhnen nun zwei oder drei kurze Beispiele nennen,die zeigen,wie schwierig es allerdings auch ist – vor allem in der For-schung um die Reproduktion – Werte einfließen zu lassen:

Beispiel Embryonenforschung, Forschung an etabliertenEmbryonenstammzellen zur Regeneration von erwachsenenGeweben: Der Utilitarismus der Engländer – ethisch ist das,was einem hohenAnteil der Bevölkerung die größtmöglicheForm von pleasure garantiert – dieser Utilitarismus findetnichts Schlechtes an den Stammzellen und an deren Erfor-schung, denn damit rettet man möglicherweise TausendeMenschen. Anders sieht dies die Kant’sche und mitteldeut-sche Philosophie,die den Menschen nicht instrumentalisiert,und die auch ein bisschen von der Späthellenistik beeinflusstist:Was du nicht willst, das man dir tut, das füge auch keinemanderen zu.Keiner von uns,meine Damen und Herren,möch-te als Blastom geteilt,geviertelt und anderen Organen zurVer-fügung gestellt werden. Da herrscht schon in Europa eineethische Diskrepanz,ein ethischer Gegensatz,wie eben in derFrage, nach welchen Werten wir uns orientieren sollen.

Das allein zeigt schon,wie schwer es ist,und es wird nochviel schwerer,wenn Sie mit Forschern aus Singapur oder ausNeu Delhi zusammentreffen, die uns fragen: „Was habt Ihrgegen das therapeutische Klonen? Habt Ihr denn wirklich

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Der Mensch hatsich von den

Instinkten frei gemacht

„Common Sense“,der auf Wertvorstellungen

basiert

„Just for fun-Gesellschaft“

Utilitarismus der Engländer

Kant‘sche Philosophie

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etwas gegen das reproduktive Klonen? Wir – in Singapur, inNeu Delhi – haben nichts Schlechtes daran zu finden, dennuns ist Seelenwanderung,Reinkarnation etwasVertrautes.DieMedizin und die Forschung bringen jetzt etwas auf denTisch,das möglicherweise unserer Tradition, unserem bisherigenGlauben entspricht“.

Zur Illustration einArtikel in „Science“.Weil er so unglaub-lich klingt,habe ich ihn mitgebracht:Das Beta-Catenin wurdeals Hauptprotein entlarvt, das beim homo sapiens die großeGenkaskade der Großhirnentwicklung induziert.Dieses Beta-Catenin wurde Mausembryonen injiziert mit dem Resultat,dass auch diese Mausembryonen begannen, das Großhirn inder Dimension eines Menschen zu entwickeln. Man hat dieMausembryonen getötet.Auch hier läuft uns Gänsehaut überden Rücken,doch für die Kollegen aus Singapur bedeutet daskein großes Problem, denn sie sehen die Grenze zwischenMensch undTier – ähnlich übrigens wie die Menschen in derAntike es sahen – ganz anders als wir. Es ist also sicher sehrschwierig, nur auf Werte zu vertrauen, obwohl ich glaube,dass das der einzigeWeg ist, denn dieWerte werden mondialgesehen völlig unterschiedlich präsentiert und letztlich auchdie Frage,was man forschen darf und was nicht.

Und dann gibt es Forschung – und damit wird das Ganzenoch komplizierter – die zunächst völlig harmlos erscheint,sich aber wahrscheinlich mit einem dicken Ende präsentie-ren wird.Wenn wir – und das ist auch der Grund,warum sichhier die Gynäkologen so wichtig machen – die Stammzellen-forschung auf der einen Seite haben,und wir die Schwanger-schaft mit unserenApparaten ausspionieren, dann tun wir esdeswegen, weil wir die Gesetze der Schwangerschaft unterUmständen noch einmal im erwachsenenMenschen aufrufenwollen. So wie der Embryo in utero nach seinen Gesetzeneine Leber gebildet hat, so kann unter Umständen – dieAnsät-ze sind höchst versprechend – nach dem gleichen Cytokin-und Gen-Muster auch in unserem erwachsenen Organismusnoch einmal nach diesem Gesetz ein Organ erneuert undabgerufen werden. Niemand wird an dieser Forschungzunächst etwas finden. Das dicke Ende, meine Damen undHerren, ist allerdings ein ganz anderes: Bereits ab dem Jahr2010 – und dazu sind Berechnungen derWHO vorhanden –kommt es in den G-7-Staaten zu einer explosionsartigenZunahme der über 85-Jährigen.Wenn das auch noch greift,was die Wissenschaft mit Stammzellentechnologie und mitSchwangerschaftsimitation in der Büchse der Pandora hat,dann wird es eng.Da stellt sich die Frage: „Darf man das allesüberhaupt beforschen?“ von einer ganz anderen Seite.WennAsien und Afrika den gleichen Energiebedarf haben, wennauch dort die Menschen über 90 Jahre alt werden,wenn auchdort so viele Autos gefahren werden wie bei uns – hat danndie Forschung nicht unseren Planeten in ein unvorstellbaresNirwana hineinkatapultiert?

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Ethische Diskrepanzen

Mausembryonen und …

… Großhirn in derDimension eines Menschen

Stammzellenforschung

Das dicke Ende …

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Von einem bekannten Philosophen der Gegenwart stammt

ein beredtes Beispiel und kommt ein Lösungsversuch,der die

ganze Gefährlichkeit der Situation zeigt:Natürlich wollen die

Asiaten und Afrikaner die gleichen Autos, den gleichen Stan-

dard wie wir haben,und man wird sehen,das geht nicht.Und

dann ist es so,als ob 50 Kinder Fußball spielen.Sie haben nur

einen Fußball,sie alle wollen spielen,und was macht der Leh-

rer? Er teilt die 50 in zwei Gruppen, zuerst spielt die eine

Gruppe, dann die andere. Umgesetzt könnte das bedeuten,

die alte (gemeinsam mit der neuen)Welt hat 50 Jahre Energie

verbraucht, jetzt ist die dritteWelt daran,und die alteWelt soll

dort mit ihrem Energieverbrauch hingehen,wo die dritteWelt

bisher mit ihrem Energieverbrauch war. Ein skurriles Bei-

spiel, aber es soll eines signalisieren: Die Forschung kann

auchWege einschlagen,die zunächst akklamiert werden und

erst später wird das wahre Problem erkannt.

Persönlich glaube ich, dass der Weg nur der ist, dass man

eine Börse errichtet und in dieser mondialen Börse dieWelt-

anschauungen präsentiert. Jede Gruppe, die glaubt, über

Werte und einenWertekodex zu verfügen,der das Überleben

unseres Planeten und die Richtungsweisung der Forschung

reglementieren kann,soll sich dort zuWort melden.In diesem

Forum kann sich der Islam ebenso wie das Christentum zu

Wort melden. Der Existentialismus kann Lösungsvorschläge

vorlegen, der Nihilismus und möglicherweise auch Epikur.

Denn Epikur wollte nicht, dass die Menschen leiden, für ihn

war nicht so sehr die Freude das große Postulat, sondern das

Nicht-Leiden.Wir werden dann sehen, wer und wessen Mei-

nungen undVorschläge auf dieser Börse das Überleben unse-

res Planeten ermöglichen.

Die größte Gefahr der Medizin besteht darin, dass sie ver-

sucht – und hier ist offensichtlich die Medizin zu gut ge-

worden – den dritten Traum der Menschheit in Erfüllung

gehen zu lassen. Zwei sind der Menschheit bereits in Er-

füllung gegangen:die Umwandlung der Metalle und die Über-

windung der Schwerkraft. Die Erfüllung des dritten Traums,

den Sieg im Kampf gegen dasAltern,den haben sich die Göt-

ter noch vorbehalten.Aber irgendwie klingt es schon aus der

Höhe von Patmos – die Apokalypse – es wird kein Tod mehr

sein. Johannes der Evangelist schließt dann unmittelbar an,es

werden dann die letzten Dinge ärger sein als die ersten.

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Überalterung

Zuerst akklamiert –später als Problem erkannt

Mondiale Börse derWeltanschauungen

Der dritte Traumder Menschheit

Apokalypse

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Univ.Prof. DI Dr. Rudolf BurgerLassen Sie mich versuchen, ganz naiv, ohne Pose,

auf die Eingangsfrage,auf die zentrale Frage,die Prof.Djerassi und Prof.Huber behandelt haben,direkt los-zugehen und sie mit anderen Fragen zu ergänzen.Das, was ich vielleicht herausarbeiten kann, sindungeschlichtete Aporien – ungeschlichtete Wider-sprüche.Wenn Sie mich in gewisserWeise ein Ergeb-nis, eine Bewertung vorwegnehmen lassen: Ichdenke,wir sind alle – ich beziehe mich mit ein – inunseren kultur- und wissenschaftskritischen Affekten soetwas wie strukturelle Heuchler. Lassen Sie mich das be-gründen: Herr Prof. Djerassi hat mit Recht gesagt, man kanndie Forschung deshalb nicht verbieten,weil man nicht weiß,was man verbieten soll. Weil an Ort und Stelle einer Ent-deckung überhaupt nicht absehbar ist, welche Konse-quenzen das hat.Prof.Djerassi hat Beispiele aus der Biologie,aus der Biochemie gebracht,er hat gesagt,das 19.Jahrhundertsei das Jahrhundert der Chemie gewesen,das 20.das der Phy-sik, das 21. werde das der Biologie sein und es spricht tat-sächlich sehr viel dafür,dass es sich so verhält.Wir wissen alle– Herr Prof.Djerassi hat dieses Beispiel angeführt – als Hahnund Meitner 1936 die Kernspaltung entdeckt haben, hat nie-mand voraussehen können,dass nicht einmal zehn Jahre spä-ter die ersten Atombomben explodieren. Noch weniger hatman das 1934 voraussehen können, als Chadwick das Neu-tron entdeckt hat, das eine Voraussetzung war. Niemand hat1947, als der Point Transistor entdeckt wurde, voraussagenkönnen, dass das letztlich die Voraussetzung für die gesamteComputerisierung sein werde, besonders die Miniaturisie-rung,mit dramatischen Konsequenzen sozialer und kulturel-ler Art. Paul Valery sagte einmal, wenn wir an das frühe 19.Jahrhundert denken, an die Zeit zwischen 1804-1806, an dieKrönung Napoleons zum Kaiser,an die Niederlegung der hei-ligen römischen Kaiserkrone – gerade da dazwischen wurdedie voltaische Zelle entdeckt; und das hat ganz andere Aus-wirkungen gehabt als die Schlacht bei Jena und Auerstedt,obwohl das unsere Geschichte ist.

Forschung ist nicht verbietbar, weil man nicht weiß, wasman verbieten soll.These.

Und trotzdem die Frage: Gab es nicht ganze Kulturen,große, lange währende Kulturen, die Forschung in unseremmodernen Sinn – experimentelle Befragung und theo-retische, meist mathematische Verarbeitung von Theorien inBezug auf Naturprozesse – überhaupt nicht kannten? Undzwar Hochkulturen!

Man hat etwas emphatisch gesagt,die Griechen hätten dasDenken entdeckt.In gewisserWeise stimmt das.Sie haben dasdiskursive, argumentative Denken, die Suche nach Wahrheitum ihrer selbst willen, entdeckt. Große Kulturen haben dieGeometrie gekannt: das Zweistromland wegen der Vermes-

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Strukturelle Heuchler

Entdeckung des Neutrons,des Point Transistors …

Konsequenzen sozialerund kultureller Art

Große Kulturenund Forschung

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sungen, Ägypten ebenfalls wegen der Vermessungen undwegen der Überschwemmungen. Aber die Axiomatisierungder Geometrie, das ist ein griechischer Gedanke. Und keineSeinsordnung wachte darüber, dass dieses diskursive kriti-sche Denken nicht wieder verschwindet. Es ist auch weitge-hend wieder verschwunden, in vielen Kulturen.Nichtsdesto-weniger, trotz dieser hochgespannten Intellektualität dergriechischen Philosophie, haben die Griechen Forschung indem Sinne wie wir sie verstehen nicht gekannt. Diese syste-matische,methodisch angeleitete Naturbefragung ist hier inEuropa, und nur hier entstanden, in keiner anderen Kultur.Das heißt also,man kann Forschung nicht verbieten, aber sieist offensichtlich an ganz bestimmte kulturelle, soziale, öko-nomische,religiöseVoraussetzungen gebunden – welche,dar-über kann man sich unterhalten. Und keine Seinsordnungwacht darüber, dass sie nicht wieder verschwinden können.Sie sehen die erste Aporie – wir können die Forschung nichtverbieten, aber die Voraussetzungen dafür können wiederverschwinden.

Es ist nicht wahr – man kann nicht die Forschung mit derNeugier der Menschen beschreiben, neugierig sind die Men-schen in allen Kulturen gewesen.Die zweiteAporie – die zen-trale,Herr Djerassi hat Beispiele gebracht – das sind ja schonBeispiele nahe der angewandten Forschung, würde ich alsLaie vermuten,während die Grundlagenforschung nicht ein-mal eineAhnung hat,welche Konsequenzen sie haben kann.Konsequenzen, die wir im Einzelfall alle begrüßen, derenSumme uns aber erschreckt. Ein unauflösbares Paradoxon.Wir alle erschrecken vielleicht über die Lebensverlängerung,über das Nachwachsen der Organe,die tendenzielleAbschaf-fung des Todes. Sterben zu können ist das Vorrecht der Men-schen vor den Göttern.Aber das heißt noch lange nicht, dasswir sterben wollen und zwar morgen oder übermorgen oderin einer Woche. Keiner von uns will sterben und keiner vonuns will unendlich leben.EinWiderspruch in sich selbst, denSie nicht auflösen werden.

Gerade die deutsche Tradition ist voll von Kritik – nichtnur seit der Romantik, auch schon vorher – voll von Kritik,von Erschrecken über die technisch-industrielleVeränderungund auchVerwüstung derWelt.Aber niemand von uns würdeunter technischen – ich rede gar nicht von sozialen – untertechnisch-medizinischen Verhältnissen von vor 40 Jahrenleben wollen. Jeder, der zum Zahnarzt geht, ist heilfroh überden technischen, medizinischen Fortschritt. Welche unge-heure Ersparnis an Leiden hat dieAnästhesie gebracht.Heutebraucht man vor dem Zahnarzt nicht mehrAngst zu haben, inmeiner Kindheit sehr wohl. Was ich damit sagen will: Siehaben hier einen Widerspruch. Im einzelnen Prozess, imEinzelfall des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts sindwir alle dafür und niemand von uns will ernsthaft zurück –hätte er auch noch so ein reaktionäres Bewusstsein, ich spre-

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Forschung istan bestimmte

Voraussetzungengebunden

Ein unauflösbaresParadoxon …

Erschrecken überVerwüstung der Welt

Im einzelnen Prozess sindwir für Fortschritt …

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che jetzt vom Technisch-Medizinischen. Im Ganzen graustuns im Grunde genommen aber – ästhetisch – vor dem,wasauf uns zukommt. Ich denke, es gibt keine andere Möglich-keit, als mit diesemWiderspruch zu leben.

Innerhalb dieser unserer Kultur – ich meine die westliche,christlich-säkulare Kultur, unsere Kultur ist weitgehend sozu-sagen ein erkaltetes Christentum,marktwirtschaftlich-kapita-listisch – innerhalb dieser Struktur sehe ich keine Möglich-keit – ich würde es im übrigen auch nicht hoffen, das istmeineWertvorstellung –, diesen Prozess, der im 17. Jahrhun-dert als Galilei-Programm entwickelt wurde, zu stoppen.Natürlich, Sie können jede Forschung weniger fördern, Siekönnen dieses oder jenes verbieten. Dann macht es jemandanderer an einem anderen Ort und Sie haben ökonomischeNachteile – das ist trivial, das wissen Sie alle.Aber dieser Pro-zess der Forschung und des wissenschaftlichen Fortschrittsist ein selbstbeschleunigender. Jedes Resultat der Forschungist sozusagen einAgens,das die Motivationskraft verstärkt. Eslöst nicht nur Probleme, es schafft auch mehrere – wissen-schaftliche, intellektuelle und reale.Die Behauptung, es gäbekein Perpetuum mobile, ist für diesen Gesamtprozess falsch.Denn der Prozess beschleunigt sich selbst.

Was für dieWissenschaft gilt,das gilt erst recht für den Pro-zess der Technisierung. Er läuft nach dem gleichen Schemaab. Die Probleme, die der jeweilige Stand der Technik auf-wirft, und die Gefahren, die er mit sich bringt, können nurdurch ein weiteres, höheres Maß an Technisierung aufge-fangen werden. So könnte man sagen, dieWahrheit über dieGeschichte ist gleichgültig für die Geschichte – welchesUrteil Sie auch immer fällen, ob Sie es wollen oder nicht, dasläuft, um Marx zu zitieren, als Naturprozess. Es kann sichirgendwann einmal ändern, aber ich sehe nicht wie, und ichweiß nicht wann.Es ist möglich,dass eine Kultur entsteht,dieder ganzen naturwissenschaftlichen Fragestellung gegenübergleichgültig wird, so wie es Epikur war.Denn bei Epikur sindgewissermaßen alle Voraussetzungen intellektueller Artschon da, um die Themen der Naturwissenschaft zu entwi-ckeln, aber es hat sie nicht interessiert.Heisenberg sagte ein-mal, die Physik der Moderne meint es sozusagen wesentlichernster als die Physik derAntike.Die Physik derAntike hat beiEpikur, bei Lukrez, bei der gesamten hellenistischen Philoso-phie nur eine Funktion:den Menschen dieAngst zu nehmen,den Menschen die Angst vor den Göttern zu nehmen. Siehatte kein instrumentelles, systematisches Verhältnis zurNatur. Das unterscheidet uns dramatisch von der Welt derAntike.Mir hat es sehr gefallen,dass Sie Ihr Buchmit dem Satzbeginnen „Der große Pan ist tot“.Das war die belebte Natur,die heilige Natur, sie wurde entheiligt – ebenso das Christen-tum, aber das wäre ein eigenes Thema. Bei Hegel heißt es inder Religionsphilosophie: Der Hain ist zu Holz, das SchönezumDing,derTempel zu Klötzen und Steinen geworden.Aber

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

… im Ganzen graust unsaber davor

Forschung – ein selbstbeschleunigender Prozess

Immer höheres Maßan Technisierung

Antike: keininstrumentelles Verhältniszur Natur

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ich sehe nicht, wie man in den Hain wieder zurückkehrenkönnte.Das ist vorbei.

Kommentare, Reflexionen:Prof. Huber:

Wir wissen alle nicht,wohin derWeg führt und ob es mög-lich ist, Forschung zu reglementieren. Ich bezweifle es sehr,und ich glaube auch nicht, dass das über die Finanzierungdurch die öffentliche Hand möglich ist. Denn in der For-schung gilt ein Gesetz, das auch sonst im Zuge der Globali-sierung ein Gesetz ist: Gewinn, Kapital und Rendite. Dieseseiserne Gesetz herrscht auch in der Wissenschaft. LetztenEndes ist the survival of the fittest in derWissenschaft davongeprägt, ob er möglichst hohe Renditen einfahren wird undich meine, dass wir eigentlich in der Steuerung der Wissen-schaft ohnmächtiger sind als wir es glauben.Hier hat ein Glo-balisierungsprozess durchgegriffen, dem wir nicht widerste-hen können. Der Endpunkt, der terminus ad quem, ist zwei-fellos jener, den Epikur uns vorgegeben hat: nämlich das Lei-den zu verhindern. Und Leiden verhindern hat im erstenAugenblick sehr viele Positiva, aber es geht dann auch in dieRichtung, dass man versucht, den Tod abzuschaffen – um essalopp zu sagen.Das wird enorme Problememit sich bringen.Um ein Beispiel zu bringen: Die Pensionskassen wurden fürden Fall geschaffen, dass die Menschen 70 Jahre alt werdenund mit 65 Jahren in Pension gehen. Nun liegt die mittlereLebenserwartung des heute in Japan geborenen Menschenschon bei 88 Jahren.Und das ist das eigentliche ökonomischeProblem, an dem die Medizin mitbeteiligt ist. Ich glaube des-halb schon, dass es notwendig ist, einen enormen Diskus-sionsprozess zu induzieren. Man hat ja auch den Wert derUmwelt erst langsam kennenlernen müssen, und so kann essein, dass wir denWert vonWerten zum Überleben in einerkompliziert werdenden Welt erst langsam entdecken müs-sen.

Interessanterweise kommt der Ruf nach Werten von denNaturwissenschaftern selbst und gar nicht so sehr von denTheologen. Die Naturwissenschafter bitten und sagen:„Macht Euch doch Gedanken!Wir haben hier etwas in unse-rer Büchse,damit kann die Gesellschaft wahrscheinlich nichtmehr fertig werden“. Meiner Meinung liegt das Hauptpro-blem darin: Irgendwie erahnt die Gesellschaft, dass etwasschief geht, deswegen ist sie irritiert. Sie ahnt, dass sie nichtmehr versteht, denn die Dinge sind bald nicht mehr zu ver-stehen, sie sind auch nicht mehr mit Wahlen abzustimmen,weil sie viel zu kompliziert sind.Die Menschen können darü-ber nicht mehr abstimmen, sie ahnen, dass letzten Endesetwas ganz anderes gewinnen wird – nämlich die „Just forfun-Gesellschaft“, und dieser Sieg ist das Ende einer Diskus-sion, die die Naturwissenschaft eigentlich notwendig macht.

conturen.01.200370

Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Gewinn, Kapital, Rendite

Globalisierungsprozess

Steigende Lebenserwartung

Ruf nach Werten kommtvon Naturwissenschaftern

Die Gesellschaft ist irritiert

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Prof. BurgerIn einem trivialen Sinn – man muss sich auch die Ebene

verständlich machen, auf der man einen Diskurs ansetzt –kann man die Forschung verbieten, wenn man dazu dieMacht hat. Zumindest gilt das für Forschung, die auch sicht-bar wird,wie z.B.Großforschung in der Hochenergiephysik,die man leicht verhindern kann, indem man den Einsatz not-wendiger Instrumente verhindert. Oder in der Astronomie –nach dem Motto: wir wollen gar nicht so weit sehen –braucht man eben keine Teleskope mehr, oder in der Welt-raumforschung – wir brauchen keine Raketen mehr. DieseSachen können Sie verhindern. Sie können sogar bestimmteFormen der Forschung verbieten,und das geschieht auch.Ichdarf daran erinnern, dass 1754, in der Hochzeit der Aufklä-rung,der Präsident der BerlinerAkademie derWissenschaftenVersuche am lebenden Menschen verlangt hat. Er schlugdafür Delinquenten vor, die zum Tode verurteilt waren, unddie – wenn sie die Prozedur überlebt hätten – die Freiheitbekommen hätten. Damit hätten sie wenigstens dem Fort-schritt der Menschheit gedient. Ein grauenhafter Gedanke,der dann 200 Jahre später in deutschen Konzentrationslagernverwirklicht wurde,nicht unter Berufung auf dieAufklärung.Darin liegt ein Tabu, die Forschung am lebenden Menschenist verboten. Es gibt also diese Möglichkeit, aber im Gesamt-prozess – behaupte ich – ist sie nicht aufhaltbar.

Um die Sache nochmals zuzuspitzen: Herr Prof. Hubersprach von dem grauenhaften Beispiel der Maus, die mögli-cherweise ein menschliches Gehirn entwickelt. Es ekelt unsdavor. Das ist zunächst noch eine moralische Frage, obwohlwir gar kein Gebot zurVerfügung haben,auch nicht bei Kant.Die bisherige Ethik hat sich natürlich auf bisherige Problemebezogen. Das ist ein ästhetisches Problem, es ekelt uns.Viel-leicht ist der Ekel etwas, das uns vor manchen Entwicklun-gen schützt.Auf der anderen Seite ist – wie wir sehr gut wis-sen – nichts so formbar und so plastisch wie das ästhetischeEmpfinden. Mit welchem Recht machen wir unser ästheti-sches Empfinden zum moralischen Maßstab künftiger Gene-rationen? Ich glaube, das Einzige, das uns bleibt, ist das, wasProf. Huber gesagt hat: zu versuchen, die Wissenschaft, inso-fern wir sie verwenden, zur Bekämpfung von Leiden, hic etnunc, zu verwenden.Was herauskommt, das sollen die späte-ren Generationen sehen.Mehr bleibt nicht übrig.

Prof. DjerassiSie sprechen über Ethik als ob das ein absolutes Wort

wäre. Natürlich können wir solche Probleme von einemösterreichischen Standpunkt oder einem amerikanischenStandpunkt oder einem englischen Standpunkt diskutieren.Aber zuerst einmal sollenwir solch einThemawieMenschen,die in ein und derselben Welt leben, diskutieren. Ich kannganz gut verstehen,dass man gewisse ethische Probleme nur

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Man kann bestimmteFormen der Forschungverbieten

Im Gesamtprozess ist sienicht aufhaltbar

Es ekelt uns …

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durch österreichische Brillen anschauen will—aber hat daswirklich einen Zweck? Ich bin ganz einverstanden, wie Prof.Huber auch gesagt hat, dass wissenschaftliche Arbeit totalglobal ist;etwas in Österreich oder Deutschland zu verbieten,spielt überhaupt keine Rolle,das heißt einfach,dass diese For-schung dann woanders gemacht wird. Ethisch ist für michnicht etwasAbsolutes.Was ethisch in einer Kultur ist, ist nichtethisch bei anderen. Das ist Punkt Nummer Eins. Zweitens,was in einem Land einmal ethisch war, ist momentan nichtethisch oder umgekehrt. Es ist hier etwas Dynamisches,nichts Statisches. Es gibt, meiner Meinung nach, sehr wenigEthisches,das scheinbar absolut ist. Ich sage „scheinbar“.Dasbeste Beispiel:alle Religionen sagen im Prinzip,du sollst nichttöten. Doch jede Religion hat religiöse Kriege, in denen siedasTöten rationalisieren können.

Ich möchte noch etwas ergänzen, das ich in meinem Vor-trag vergessen habe:meine eigene persönliche Meinung überdie Ethik von „basic research“,von der Grundlagenforschung.Ich glaube,basic research hat überhaupt keine ethische Kom-ponente; die Ethik fängt nicht bei der Wissenschaft an, son-dern bei denWissenschaftlern.Und da ist das Problem eines,das nicht leicht zu lösen ist.Teilweise gibt es ethische Pro-bleme,die nur Naturwissenschaftler behandeln können,aberdas sind nicht die wichtigsten.Die wichtigen sind die gesell-schaftlichen, aber Wissenschaftler sind nicht besser ausge-bildet, diese zu beantworten, als andere Leute. Da sind wirWissenschaftler nur Teil der Gesellschaft; das sind gesell-schaftliche Fragen und die sind gewöhnlich leider nicht glo-bal. Trotzdem möchte ich Ihnen noch ein gutes Beispielgeben, das interessanterweise global ist und wo Wissen-schaftler doch etwas Wertvolles beigetragen haben, und dasauch auf die Reproduktionsmedizin anwendbar ist.

1975 gab es eine für Wissenschaftler sehr wichtige Kon-ferenz,die sogenannteASILOMARKonferenz,in der Nähe vonMonterrey,Kalifornien.DerVorschlag kam von vier Kollegen:Paul Berg, David Baltimore, Sidney Brenner und Maxine Sin-ger. Von diesen vier Personen haben nachher drei Nobel-preise erhalten:1980 Paul Berg,Baltimore im Jahre 1975 und2002 Sidney Brenner. Das waren alle Leute, die an diesenneuen Gentechnologien gearbeitet haben und waren die ein-zigen, die damals verstanden haben, dass es nicht nur positi-ve Möglichkeiten gibt, sondern dass auch Negatives entste-hen könnte.DieseWissenschaftler haben vorgeschlagen,eineArt von Moratorium zu halten, um zu studieren, was über-haupt gefährlich sein kann,wie man daran arbeitet,was mantun soll.Am Ende hat sich herausgestellt,dass im Großen undGanzen alle legalen Grenzen über Genmanipulation u.s.w.noch immer von den ASILOMAR Konferenzentscheidungenabgeleitet sind.

2002, in einemArtikel in „Nature Science“, schrieb GeraldSchatten von der University Pittsburgh alsVorschlag in „Natu-

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Ethik ist nichtetwas Absolutes

Ethik fängt bei denWissenschaftlern an

ASILOMAR Konferenz

Paul Berg,David Baltimore,Sydney Brenner,Maxine Singer

Page 22: Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten? · Carl Djerassi der Gründer des in der Nähe von San Francisco angesiedelten „Djerassi Resident Artist Program“, einer Stif-tung,

re Medicine“, neuerlich eine ASILOMAR-Konferenz abzu-halten. Er dachte an eine Konferenz von Spezialisten auf denReproduktionsgebieten, um herauszufinden,was sie über alldie Komplikationen auf diesen Gebieten denken,die wissen-schaftliche und technische Komponenten haben, aber ins-besondere ethisch sind – gesehen durch globale wissen-schaftliche Brillen.

Nachher kommt die nächste Stufe, die ununterbrochengehalten werden soll: Die Debatte der gesellschaftlich rele-vanten ethischen Probleme.Zu sagen,Sie würden sich hier inÖsterreich entscheiden, bestimmte Forschungen in derReproduktionsmedizin zu verbieten wäre meiner Meinungnach eine mini-österreichischeAntwort,die überhaupt keineKonsequenzen haben wird. Vom gesellschaftlichen Stand-punkt aus ist es wichtig, mehr oder weniger seriöse globaleAntworten zu bekommen, die immer in einem größerenMilieu diskutiert werden sollen, nicht nur immer im Milieuvon einem Land. Ich spreche jetzt nur über Österreich, weilwir in Österreich sind; ich könnte genau so über Amerikasprechen,was eigentlich kein Land sondern ein Kontinent ist.Daher kann man dort alle Meinungen von Europa finden - diekonservativsten sowie die liberalsten. So eine Mischung istein Vorteil da man zumindest alle verschiedenen Positionenanhören kann. Ob man auch eine intelligente Entscheidungtrifft, ist eine ganz andere Frage.

Ich möchte jetzt mit etwas sehr Persönlichem enden:Rela-tiv spät in meinem Leben habe ich mich entschlossen, ande-re Methoden zu gebrauchen, um mit dem Publikum zu spre-chen. Das habe ich mit Romanen und Theaterstücken ver-sucht, die solche Themen behandeln und zur gleichen Zeithabe ich auch meinen Unterrichtshorizont sehr verbreitert.Anstatt nur in unserer chemischenAbteilung zu unterrichten,habe ich es auch in unserer medizinischen Ethik-Abteilungund in unserer Frauenrecht-Abteilung gemacht.Deshalb wun-dere ich mich dass wir heute allerlei Fragen gehört haben,aber nicht eine Frage von einer Frau.

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Carl Djerassi Kann man Forschung verbieten?

Seriöse globale Antworten

Eine Konferenz vonReproduktions-Spezialistenist notwendig

Romane und Theaterstücke