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Chamisso Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Chamisso PeterSchlemihlswundersameGeschichteReclam XL | Text und KontextDieses Buch wurde klimaneutral gedruckt. Alle CO2-Emissionen, die beim Druckprozess unvermeidbar entstanden

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Chamisso Peter Schlemihls wundersame Geschichte

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Reclam XL | Text und Kontext

Dieses Buch wurde klimaneutral gedruckt.

Alle CO2-Emissionen, die beim Druckprozess unvermeidbar entstanden sind, haben wir durch ein Klimaschutzprojekt ausgeglichen, das sich für den Regenwaldschutz in Papua-Neuguinea einsetzt.

Nähere Informationen finden Sie hier:

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Adelbert von ChamissoPeter Schlemihlswundersame Geschichte

Herausgegeben von Florian Gräfe

Reclam

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Der Text dieser Ausgabe ist seiten- und zeilengleich mit derAusgabe der Universal-Bibliothek Nr. 93. Er wurde auf derGrundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln orthogra-phisch behutsam modernisiert.

Zu Chamissos Peter Schlemihl gibt es bei Reclam– Erläuterungen und Dokumente (Nr. 8158)– eine Interpretation in: Erzählungen und Novellen des 19. Jahr-

hunderts in der Reihe »Interpretationen« (Nr. 8413)

E-Book-Ausgaben finden Sie auf unserer Websiteunter www.reclam.de/e-book

2., durchgesehene und erweiterte Ausgabe

Reclam XL Text und Kontext Nr. 194392014, 2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenDruck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG,Am Buchweg 1, 87452 Altusried-KrugzellPrinted in Germany 2020reclam ist eine eingetragene Markeder Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgartisbn 978-3-15-019439-3

Auch als E-Book erhältlich

www.reclam.de

Die Reihe bietet neben dem Text Worterläuterungenin Form von Fußnoten und Sacherläuterungen in Formvon Anmerkungen im Anhang, auf die am Randmit Pfeilen (�) verwiesen wird.

Die Reihe bietet neben dem Text Worterläuterungenin Form von Fußnoten und Sacherläuterungen in Formvon Anmerkungen im Anhang, auf die am Randmit Pfeilen (�) verwiesen wird.

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An meinen alten Freund Peter Schlemihl

Da fällt nun deine Schrift nach vielen JahrenMir wieder in die Hand, und – wundersam! –Der Zeit gedenk ich, wo wir Freunde waren,Als erst die Welt uns in die Schule nahm.5

Ich bin ein alter Mann in grauen Haaren,Ich überwinde schon die falsche Scham,Ich will mich deinen Freund wie ehmals nennenUnd mich als solchen vor der Welt bekennen.

Mein armer, armer Freund, es hat der Schlaue10

Mir nicht, wie dir, so übel mitgespielt;Gestrebet hab ich und gehofft ins Blaue,Und gar am Ende wenig nur erzielt;Doch schwerlich wird berühmen sich der Graue,Dass er mich jemals fest am Schatten hielt;15

Den Schatten hab ich, der mir angeboren,Ich habe meinen Schatten nie verloren.

Mich traf, obgleich unschuldig wie das Kind,Der Hohn, den sie für deine Blöße hatten. –Ob wir einander denn so ähnlich sind?! –20

Sie schrien mir nach: Schlemihl, wo ist dein Schatten?Und zeigt ich den, so stellten sie sich blindUnd konnten gar zu lachen nicht ermatten.Was hilft es denn! man trägt es in Geduld,Und ist noch froh, fühlt man sich ohne Schuld.25

Und was ist denn der Schatten? möcht ich fragen,Wie man so oft mich selber schon gefragt,So überschwänglich hoch es anzuschlagen,Wie sich die arge Welt es nicht versagt?Das gibt sich schon nach neunzehntausend Tagen,30 �

Die, Weisheit bringend, über uns getagt;Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen,Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.

19 Blöße: Schwachstelle 23 ermatten: aufhören 29 sich … es nichtversagt: es nicht lassen kann 29 arge: böswillige

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4 Wir geben uns die Hand darauf, Schlemihl,Wir schreiten zu, und lassen es beim Alten;Wir kümmern uns um alle Welt nicht viel,Es desto fester mit uns selbst zu halten;Wir gleiten so schon näher unserm Ziel, 5

Ob jene lachten, ob die andern schalten,Nach allen Stürmen wollen wir im HafenDoch ungestört gesunden Schlafes schlafen.

Berlin, August 1834Adelbert von Chamisso 10

An Julius Eduard Hitzig von Adelbert von Chamisso

Du vergissest niemanden, Du wirst Dich noch eines ge-wissen Peter Schlemihls erinnern, den Du in früheren Jah-ren ein paar Mal bei mir gesehen hast, ein langbeinigerBursch, den man ungeschickt glaubte, weil er linkisch war, 15

und der wegen seiner Trägheit für faul galt. Ich hatte ihnlieb – Du kannst nicht vergessen haben, Eduard, wie eruns einmal in unserer grünen Zeit durch die Sonette lief,ich brachte ihn mit auf einen der poetischen Tees, wo er�

mir noch während des Schreibens einschlief, ohne das Le- 20

sen abzuwarten. Nun erinnere ich mich auch eines Witzes,den Du auf ihn machtest. Du hattest ihn nämlich schon,Gott weiß wo und wann, in einer alten schwarzen Kurtkagesehen, die er freilich damals noch immer trug, und sag-test: »der ganze Kerl wäre glücklich zu schätzen, wenn 25

seine Seele nur halb so unsterblich wäre, als seine Kurt-ka.« – So wenig galt er bei Euch. – Ich hatte ihn lieb. –Von diesem Schlemihl nun, den ich seit langen Jahren ausdem Gesicht verloren hatte, rührt das Heft her, das ichDir mitteilen will. – Dir nur, Eduard, meinem nächsten, 30

innigsten Freunde, meinem bessren Ich, vor dem ich kein

6 schalten: tadelten 15 linkisch: ungeschickt 23 Kurtka: damalsmodischer knielanger Waffenrock (vgl. Abb. 2, S. 103) 29 rührt …her: stammt 31 innigsten: engsten

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5Geheimnis verwahren kann, teil ich es mit, nur Dir und,es versteht sich von selbst, unserm Fouque, gleich Dir inmeiner Seele eingewurzelt – aber in ihm teil ich es bloßdem Freunde mit, nicht dem Dichter. – Ihr werdet einse-hen, wie unangenehm es mir sein würde, wenn etwa die5

Beichte, die ein ehrlicher Mann im Vertrauen auf meineFreundschaft und Redlichkeit an meiner Brust ablegt, ineinem Dichterwerke an den Pranger geheftet würde, odernur wenn überhaupt unheilig verfahren würde, wie mit ei-nem Erzeugnis schlechten Witzes, mit einer Sache, die das10

nicht ist und sein darf. Freilich muss ich selbst gestehen,dass es um die Geschichte schad ist, die unter des gutenMannes Feder nur albern geworden, dass sie nicht von ei-ner geschickteren fremden Hand in ihrer ganzen komi-schen Kraft dargestellt werden kann. – Was würde nicht15

Jean Paul daraus gemacht haben! – Übrigens, lieber �Freund, mögen hier manche genannt sein, die noch leben;auch das will beachtet sein. –

Noch ein Wort über die Art, wie diese Blätter an mich ge-langt sind. Gestern früh bei meinem Erwachen gab man sie20

mir ab – ein wunderlicher Mann, der einen langen grauenBart trug, eine ganz abgenützte schwarze Kurtka anhatte,eine botanische Kapsel darüber umgehangen, und bei demfeuchten, regnichten Wetter Pantoffeln über seine Stiefel,hatte sich nach mir erkundigt und dieses für mich hinter-25

lassen; er hatte, aus Berlin zu kommen, vorgegeben. – – –

Kunersdorf, den 27. Sept. 1813Adelbert von Chamisso

P. S. Ich lege Dir eine Zeichnung bei, die der kunstrei- �che Leopold, der eben an seinem Fenster stand, von der30

auffallenden Erscheinung entworfen hat. Als er den Wert,den ich auf diese Skizze legte, gesehen hat, hat er sie mirgerne geschenkt.*

* Das hier erwähnte Bild befand sich bei den ersten Ausgaben des»Schlemihls«.

21 wunderlicher: seltsamer

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6 An Ebendenselben von Fouque

Bewahren, lieber Eduard, sollen wir die Geschichte des ar-men Schlemihl,dergestalt bewahren,dass sie vor Augen, dienicht hineinzusehen haben, beschirmt bleibe. Das ist eineschlimme Aufgabe.Es gibt solcher Augen eine ganze Menge, 5

und welcher Sterbliche kanndie Schicksale eines Manuskrip-tes bestimmen, eines Dinges, das beinah noch schlimmer zuhüten ist, als ein gesprochenes Wort.Da mach ich’s denn wieein Schwindelnder, der in der Angst lieber gleich in den Ab-grund springt: ich lasse die ganze Geschichte drucken. 10

Und doch, Eduard, es gibt ernstere und bessere Gründefür mein Benehmen. Es trügt mich alles, oder in unserm lie-ben Deutschlande schlagen der Herzen viel, die den armenSchlemihl zu verstehen fähig sind und auch wert, und übermanch eines echten Landsmannes Gesicht wird bei dem 15

herben Scherz, den das Leben mit ihm, und bei dem arglo-sen, den er mit sich selbst treibt, ein gerührtes Lächelnziehn. Und Du, mein Eduard, wenn Du das grundehrlicheBuch ansiehst, und dabei denkst, dass viele unbekannteHerzensverwandte es mit uns lieben lernen, fühlst auch 20

vielleicht einen Balsamtropfen in die heiße Wunde fallen,die Dir und allen, die Dich lieben, der Tod geschlagen hat.

Und endlich: es gibt – ich habe mich durch mannichfa-che Erfahrung davon überzeugt – es gibt für die gedruck-ten Bücher einen Genius, der sie in die rechten Hände 25

bringt, und, wenn nicht immer, doch sehr oft die unrech-ten davon abhält. Auf allen Fall hat er ein unsichtbaresVorhängschloss vor jedwedem echten Geistes- und Ge-mütswerke, und weiß mit einer ganz untrüglichen Ge-schicklichkeit auf- und zuzuschließen. 30

Diesem Genius, mein sehr lieber Schlemihl, vertraue ichDein Lächeln und Deine Tränen an, und somit Gott be-fohlen!

Nennhausen, Ende Mai 1814Fouque 35

4 beschirmt: beschützt 12 trügt: täuscht 23 f. mannichfache: viel-fältige 28 jedwedem: jedem

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7An Fouque von Hitzig

Da haben wir denn nun die Folgen Deines verzweifeltenEntschlusses, die Schlemihlshistorie, die wir als ein bloßuns anvertrautes Geheimnis bewahren sollten, drucken zulassen, dass sie nicht allein Franzosen und Engländer, Hol-5

länder und Spanier übersetzt, Amerikaner aber den Eng-ländern nachgedruckt, wie ich dies alles in meinem »Ge- �lehrten Berlin« des Breiteren gemeldet; sondern, dass auchfür unser liebes Deutschland eine neue Ausgabe, mit denZeichnungen der englischen, die der berühmte Cruikshank10 �

nach dem Leben entworfen, veranstaltet wird, wodurchdie Sache unstreitig noch viel mehr herum kommt. Hielteich Dich nicht für Dein eigenmächtiges Verfahren (dennmir hast Du 1814 ja kein Wort von der Herausgabe desManuskripts gesagt) hinlänglich dadurch bestraft, dass un-15

ser Chamisso bei seiner Weltumsegelei, in den Jahren 1815bis 1818, sich gewiss in Chile und Kamtschatka, und wohlgar bei seinem Freunde, dem seligen Tameiamaia aufO-Wahu darüber beklagt haben wird, so forderte ich nochjetzt öffentlich Rechenschaft darüber von Dir.20

Indes – auch hievon abgesehen – geschehn ist geschehn,und Recht hast Du auch darin gehabt, dass viele, viele Be-freundete in den dreizehn verhängnisvollen Jahren, seit esdas Licht der Welt erblickte, das Büchlein mit uns lieb ge-wonnen. Nie werde ich die Stunde vergessen, in welcher25

ich es Hoffmann zuerst vorlas. Außer sich vor Vergnügen �

und Spannung, hing er an meinen Lippen, bis ich voll-endet hatte; nicht erwarten konnte er, die persönliche Be-kanntschaft des Dichters zu machen, und, sonst jederNachahmung so abhold, widerstand er doch der Versu-30

chung nicht, die Idee des verlornen Schattens in seiner Er-zählung: »Die Abenteuer der Sylvesternacht«*, durch das

* »Fantasiestücke in Callots Manier«, im letzten Teil. Vgl. auch:»Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß«. Bd. II. S. 112.

8 des Breiteren: ausführlich 21 Indes: Aber

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8 verlorne Spiegelbild des Erasmus Spikher, ziemlich un-glücklich zu variieren. Ja – unter die Kinder hat sich unsrewundersame Historie ihre Bahn zu brechen gewusst; dennals ich einst, an einem hellen Winterabend, mit ihrem Er-zähler die Burgstraße hinaufging, und er einen über ihn la- 5

chenden, auf der Glitschbahn beschäftigten Jungen unterseinen Dir wohlbekannten Bärenmantel nahm und fort-schleppte, hielt dieser ganz stille; da er aber wieder auf denBoden niedergesetzt war, und in gehöriger Ferne von den,als ob nichts geschehen wäre, Weitergegangenen, rief er 10

mit lauter Stimme seinem Räuber nach: »Warte nur, PeterSchlemihl!«

So, denke ich, wird der ehrliche Kauz auch in seinemneuen, zierlichen Gewande viele erfreuen, die ihn in dereinfachen Kurtka von 1814 nicht gesehen; diesen und je- 15

nen aber es außerdem noch überraschend sein, in dem bo-�

tanisierenden, weltumschiffenden, ehemals wohlbestalltenKöniglich Preußischen Offizier, auch Historiographen desberühmten Peter Schlemihl, nebenher einen Lyriker ken-nen zu lernen,* der, er möge malaiische oder litauische 20

Weisen anstimmen, überall dartut, dass er das poetischeHerz auf der rechten Stelle hat.

Darum, lieber Fouque, sei Dir am Ende denn dochnoch herzlich gedankt für die Veranstaltung der erstenAusgabe, und empfange mit unsern Freunden meinen 25

Glückwunsch zu dieser zweiten.

Berlin, im Januar 1827Eduard Hitzig

* Die zweite Ausgabe des »Peter Schlemihl« hatte einen Anhangvon Liedern und Balladen des Dichters, worauf sich dies bezog.

6 Glitschbahn: Rutschbahn auf dem Eis 13 Kauz: Spinner, Freak17 ehemals wohlbestallten: früher gut verdienenden 18 Historio-graphen: Geschichtsschreiber 21 Weisen anstimmen: Melodiensingen 24 Veranstaltung: Veröffentlichung

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9Peter Schlemihls �

wundersame Geschichte

I

Nach einer glücklichen, jedoch für mich sehr beschwerli-chen Seefahrt, erreichten wir endlich den Hafen. Sobald5

ich mit dem Boote ans Land kam, belud ich mich selbstmit meiner kleinen Habseligkeit, und durch das wimmeln-de Volk mich drängend, ging ich in das nächste, geringsteHaus hinein, vor welchem ich ein Schild hängen sah. Ichbegehrte ein Zimmer, der Hausknecht maß mich mit ei-10

nem Blick und führte mich unters Dach. Ich ließ mir fri-sches Wasser geben, und genau beschreiben, wo ich denHerrn Thomas John aufzusuchen habe: – »Vor dem Nor- �

dertor, das erste Landhaus zur rechten Hand, ein großes,neues Haus, von rot und weißem Marmor mit vielen Säu-15

len.« Gut. – Es war noch früh an der Zeit, ich schnürte so-gleich mein Bündel auf, nahm meinen neu gewandten �

schwarzen Rock heraus, zog mich reinlich an in meinebesten Kleider, steckte das Empfehlungsschreiben zu mir,und setzte mich alsbald auf den Weg zu dem Manne, der20

mir bei meinen bescheidenen Hoffnungen förderlich seinsollte.

Nachdem ich die lange Norderstraße hinaufgestiegen,und das Tor erreicht, sah ich bald die Säulen durch dasGrüne schimmern – »also hier«, dacht ich. Ich wischte25

den Staub von meinen Füßen mit meinem Schnupftuch ab,setzte mein Halstuch in Ordnung, und zog in Gottes Na-men die Klingel. Die Tür sprang auf. Auf dem Flur hattich ein Verhör zu bestehn, der Portier ließ mich aber an-melden, und ich hatte die Ehre, in den Park gerufen zu30

werden, wo Herr John – mit einer kleinen Gesellschaftsich erging. Ich erkannte gleich den Mann am Glanze sei-ner wohlbeleibten Selbstzufriedenheit. Er empfing michsehr gut – wie ein Reicher einen armen Teufel, wandte sich

2 wundersame: seltsame, bemerkenswerte 8 f. geringste Haus:billigste Gasthaus 11 unters Dach: in ein Zimmer auf dem Dach-boden 20 alsbald: sofort 21 förderlich: behilflich 26 Schnupftuch:Taschentuch 29 Portier: Pförtner 32 sich erging: spazieren ging

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10 sogar gegen mich, ohne sich jedoch von der übrigen Ge-sellschaft abzuwenden, und nahm mir den dargehaltenenBrief aus der Hand. – »So, so! von meinem Bruder, ichhabe lange nichts von ihm gehört. Er ist doch gesund? –Dort«, fuhr er gegen die Gesellschaft fort, ohne die Ant- 5

wort zu erwarten, und wies mit dem Brief auf einen Hü-gel, »dort lass ich das neue Gebäude aufführen.« Er brachdas Siegel auf und das Gespräch nicht ab, das sich auf denReichtum lenkte. »Wer nicht Herr ist wenigstens einerMillion«, warf er hinein, »der ist, man verzeihe mir das 10

Wort, ein Schuft!« »O wie wahr!« rief ich aus mit vollemüberströmenden Gefühl. Das musste ihm gefallen, er lä-chelte mich an und sagte: »Bleiben Sie hier, lieber Freund,nachher hab ich vielleicht Zeit, Ihnen zu sagen, was ichhiezu denke«, er deutete auf den Brief, den er sodann ein- 15

steckte, und wandte sich wieder zu der Gesellschaft. – Erbot einer jungen Dame den Arm, andere Herren bemüh-ten sich um andere Schönen, es fand sich, was sich passte,und man wallte dem rosenumblühten Hügel zu.

Ich schlich hinterher, ohne jemandem beschwerlich zu 20

fallen, denn keine Seele bekümmerte sich weiter um mich.Die Gesellschaft war sehr aufgeräumt, es ward getändeltund gescherzt, man sprach zuweilen von leichtsinnigenDingen wichtig, von wichtigen öfters leichtsinnig, und ge-mächlich erging besonders der Witz über abwesende 25

Freunde und deren Verhältnisse. Ich war da zu fremd, umvon alle dem vieles zu verstehen, zu bekümmert und inmich gekehrt, um den Sinn auf solche Rätsel zu haben.

Wir hatten den Rosenhain erreicht. Die schöne Fanny,wie es schien, die Herrin des Tages, wollte aus Eigensinn 30

einen blühenden Zweig selbst brechen, sie verletzte sichan einem Dorn, und wie von den dunkeln Rosen, flossPurpur auf ihre zarte Hand. Dieses Ereignis brachte dieganze Gesellschaft in Bewegung. Es wurde Englisch Pflas-ter gesucht. Ein stiller, dünner, hagrer, länglichter, ältlicher 35

Mann, der neben mitging, und den ich noch nicht bemerkthatte, steckte sogleich die Hand in die knapp anliegende

7 aufführen: errichten 15 hiezu: darüber 15 sodann: sofort 18 wassich passte: was zueinander passte 19 wallte: ging 22 aufgeräumt:fröhlich 22 es ward getändelt: es wurde geflirtet 24 f. gemächlicherging … der Witz: ruhig erfolgte der Spott 34 f. Englisch Pflaster:Heftpflaster

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11Schoßtasche seines altfränkischen, grautaffentnen Rockes,brachte eine kleine Brieftasche daraus hervor, öffnete sie,und reichte der Dame mit devoter Verbeugung das Ver-langte. Sie empfing es ohne Aufmerksamkeit für den Ge-ber und ohne Dank, die Wunde ward verbunden, und5

man ging weiter den Hügel hinan, von dessen Rückenman die weite Aussicht über das grüne Labyrinth des Par-kes nach dem unermesslichen Ozean genießen wollte.

Der Anblick war wirklich groß und herrlich. Ein lichterPunkt erschien am Horizont zwischen der dunklen Flut10

und der Bläue des Himmels. »Ein Fernrohr her!« riefJohn, und noch bevor das auf den Ruf erscheinende Die-nervolk in Bewegung kam, hatte der graue Mann, beschei-den sich verneigend, die Hand schon in die Rocktaschegesteckt, daraus einen schönen Dollond hervorgezogen,15

und es dem Herrn John eingehändigt. Dieser, es sogleichan das Aug bringend, benachrichtigte die Gesellschaft, essei das Schiff, das gestern ausgelaufen, und das widrigeWinde im Angesicht des Hafens zurücke hielten. DasFernrohr ging von Hand zu Hand, und nicht wieder in20

die des Eigentümers; ich aber sah verwundert den Mannan, und wusste nicht, wie die große Maschine aus der win-zigen Tasche herausgekommen war; es schien aber nie-mandem aufgefallen zu sein, und man bekümmerte sichnicht mehr um den grauen Mann, als um mich selber.25

Erfrischungen wurden gereicht, das seltenste Obst allerZonen in den kostbarsten Gefäßen. Herr John machte dieHonneurs mit leichtem Anstand und richtete da zumzweiten Mal ein Wort an mich: »Essen Sie nur; das habenSie auf der See nicht gehabt.« Ich verbeugte mich, aber er30

sah es nicht, er sprach schon mit jemand anderem.Man hätte sich gern auf den Rasen, am Abhange des

Hügels, der ausgespannten Landschaft gegenüber gelagert,hätte man die Feuchtigkeit der Erde nicht gescheut. Eswäre göttlich, meinte wer aus der Gesellschaft, wenn35

man türkische Teppiche hätte, sie hier auszubreiten. DerWunsch war nicht sobald ausgesprochen, als schon der

1 Schoßtasche: Jackentasche 1 seines altfränkischen, grautaffent-nen Rockes: seiner altmodischen, grauseidenen Jacke 3 devoter:unterwürfiger 15 Dollond: Fernrohr 16 eingehändigt: ausgehän-digt 27 f. machte die Honneurs: hieß die Gäste willkommen28 mit leichtem Anstand: ungezwungen 37 nicht sobald: kaum

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12 Mann im grauen Rock die Hand in der Tasche hatte, und�

mit bescheidener, ja demütiger Gebärde einen reichen,golddurchwirkten türkischen Teppich daraus zu ziehenbemüht war. Bediente nahmen ihn in Empfang, als müssees so sein, und entfalteten ihn am begehrten Orte. Die Ge- 5

sellschaft nahm ohne Umstände Platz darauf; ich wieder-um sah betroffen den Mann, die Tasche, den Teppich an,der über zwanzig Schritte in der Länge und zehn in der�

Breite maß, und rieb mir die Augen, nicht wissend, wasich dazu denken sollte, besonders da niemand etwas 10

Merkwürdiges darin fand.Ich hätte gern Aufschluss über den Mann gehabt, und

gefragt, wer er sei, nur wusst ich nicht, an wen ich michrichten sollte, denn ich fürchtete mich fast noch mehr vorden Herren Bedienten, als vor den bedienten Herren. Ich 15

fasste endlich ein Herz, und trat an einen jungen Mannheran, der mir von minderem Ansehen schien als die an-dern, und der öfter allein gestanden hatte. Ich bat ihn lei-se, mir zu sagen, wer der gefällige Mann sei dort im grau-en Kleide. – »Dieser, der wie ein Ende Zwirn aussieht? der 20

einem Schneider aus der Nadel entlaufen ist?« »Ja, der al-lein steht« – »den kenn ich nicht«, gab er mir zur Ant-wort, und, wie es schien, eine längere Unterhaltung mitmir zu vermeiden, wandt er sich weg und sprach vongleichgültigen Dingen mit einem andern. 25

Die Sonne fing jetzt stärker zu scheinen an, und wardden Damen beschwerlich; die schöne Fanny richtete nach-lässig an den grauen Mann, den, so viel ich weiß, nochniemand angeredet hatte, die leichtsinnige Frage: ob ernicht auch vielleicht ein Zelt bei sich habe? Er beantwor- 30

tete sie durch eine so tiefe Verbeugung, als widerführe ihmeine unverdiente Ehre, und hatte schon die Hand in derTasche, aus der ich Zeuge, Stangen, Schnüre, Eisenwerk,kurz, alles, was zu dem prachtvollsten Lustzelt gehört,herauskommen sah. Die jungen Herren halfen es ausspan- 35

nen, und es überhing die ganze Ausdehnung des Teppichs– und keiner fand noch etwas Außerordentliches darin. –

17 minderem: geringerem 19 gefällige: freundliche 20 Zwirn: ausFäden gedrehtes Garn 33 Zeuge: Stoffe 34 Lustzelt: Festzelt

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13Mir war schon lang unheimlich, ja graulich zu Mute,wie ward mir vollends, als beim nächst ausgesprochenenWunsch ich ihn noch aus seiner Tasche drei Reitpferde,ich sage Dir, drei schöne, große Rappen mit Sattel undZeug herausziehen sah! – denke Dir, um Gottes willen!5

drei gesattelte Pferde noch aus derselben Tasche, worausschon eine Brieftasche, ein Fernrohr, ein gewirkter Tep-pich, zwanzig Schritte lang und zehn breit, ein Lustzeltvon derselben Größe, und alle dazugehörigen Stangenund Eisen, herausgekommen waren! – Wenn ich Dir nicht10 �

beteuerte, es selbst mit eigenen Augen angesehen zu ha-ben, würdest Du es gewiss nicht glauben. –

So verlegen und demütig der Mann selbst zu seinschien, so wenig Aufmerksamkeit ihm auch die andernschenkten, so ward mir doch seine blasse Erscheinung,15

von der ich kein Auge abwenden konnte, so schauerlich,dass ich sie nicht länger ertragen konnte.

Ich beschloss, mich aus der Gesellschaft zu stehlen, wasbei der unbedeutenden Rolle, die ich darinnen spielte, mirein Leichtes schien. Ich wollte nach der Stadt zurückkeh-20

ren, am andern Morgen mein Glück beim Herrn Johnwieder versuchen, und, wenn ich den Mut dazu fände, ihnüber den seltsamen grauen Mann befragen. – Wäre es mirnur so zu entkommen geglückt!

Ich hatte mich schon wirklich durch den Rosenhain,25

den Hügel hinab, glücklich geschlichen, und befand michauf einem freien Rasenplatz, als ich aus Furcht, außer denWegen durchs Gras gehend angetroffen zu werden, einenforschenden Blick um mich warf. – Wie erschrak ich, alsich den Mann im grauen Rock hinter mir her und auf30

mich zukommen sah. Er nahm sogleich den Hut vor mirab, und verneigte sich so tief, als noch niemand vor mirgetan hatte. Es war kein Zweifel, er wollte mich anreden,und ich konnte, ohne grob zu sein, es nicht vermeiden.Ich nahm den Hut auch ab, verneigte mich wieder, und35

stand da in der Sonne mit bloßem Haupt wie angewurzelt.Ich sah ihn voller Furcht stier an, und war wie ein Vogel,

5 Zeug: Zaumzeug 37 stier: starr

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14 den eine Schlange gebannt hat. Er selber schien sehr ver-legen zu sein; er hob den Blick nicht auf, verbeugte sichzu verschiedenen Malen, trat näher, und redete mich anmit leiser, unsicherer Stimme, ungefähr im Tone eines Bet-telnden. 5

»Möge der Herr meine Zudringlichkeit entschuldigen,wenn ich es wage, ihn so unbekannterweise aufzusuchen,ich habe eine Bitte an ihn. Vergönnen Sie gnädigst –«– »Aber um Gottes willen, mein Herr!« brach ich in mei-ner Angst aus, »was kann ich für einen Mann tun, der –« 10

wir stutzten beide, und wurden, wie mir deucht, rot.Er nahm nach einem Augenblick des Schweigens wieder

das Wort: »Während der kurzen Zeit, wo ich das Glückgenoss, mich in Ihrer Nähe zu befinden, hab ich, meinHerr, einige Mal – erlauben Sie, dass ich es Ihnen sage – 15

wirklich mit unaussprechlicher Bewunderung den schö-nen, schönen Schatten betrachten können, den Sie in derSonne, und gleichsam mit einer gewissen edlen Verach-tung, ohne selbst darauf zu merken, von sich werfen, denherrlichen Schatten da zu Ihren Füßen. Verzeihen Sie mir 20

die freilich kühne Zumutung. Sollten Sie sich wohl nichtabgeneigt finden, mir diesen Ihren Schatten zu überlas-sen.«

Er schwieg, und mir ging’s wie ein Mühlrad im Kopfeherum. Was sollt ich aus dem seltsamen Antrag machen, 25

mir meinen Schatten abzukaufen? Er muss verrückt sein,dacht ich, und mit verändertem Tone, der zu der Demutdes seinigen besser passte, erwiderte ich also:

»Ei, ei! guter Freund, habt Ihr denn nicht an Euremeignen Schatten genug? das heiß ich mir einen Handel 30

von einer ganz absonderlichen Sorte.« Er fiel sogleich wie-der ein: »Ich hab in meiner Tasche manches, was demHerrn nicht ganz unwert scheinen möchte; für diesen un-schätzbaren Schatten halt ich den höchsten Preis zu ge-ring.« 35

Nun überfiel es mich wieder kalt, da ich an die Tascheerinnert ward, und ich wusste nicht, wie ich ihn hatte gu-

11 deucht: schien

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15ter Freund nennen können. Ich nahm wieder das Wort,und suchte es, wo möglich, mit unendlicher Höflichkeitwiedergutzumachen.

»Aber, mein Herr, verzeihen Sie Ihrem untertänigstenKnecht. Ich verstehe wohl Ihre Meinung nicht ganz gut,5

wie könnt ich nur meinen Schatten – –« Er unterbrachmich: »Ich erbitte mir nur Dero Erlaubnis, hier auf derStelle diesen edlen Schatten aufheben zu dürfen und zumir zu stecken; wie ich das mache, sei meine Sorge. Dage-gen als Beweis meiner Erkenntlichkeit gegen den Herrn,10

überlasse ich ihm die Wahl unter allen Kleinodien, die ichin der Tasche bei mir führe: die echte Springwurzel, die �

Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuchvon Rolands Knappen, ein Galgenmännlein zu beliebigemPreis; doch, das wird wohl nichts für Sie sein: besser, For-15 �

tunati Wünschhütlein, neu und haltbar wieder restauriert;auch ein Glückssäckel, wie der seine gewesen.« – »Fortu-nati Glückssäckel«, fiel ich ihm in die Rede, und wie großmeine Angst auch war, hatte er mit dem einen Wort mei-nen ganzen Sinn gefangen. Ich bekam einen Schwindel,20

und es flimmerte mir wie doppelte Dukaten vor den Au-gen. –

»Belieben gnädigst der Herr diesen Säckel zu besich-tigen und zu erproben.« Er steckte die Hand in die Ta-sche und zog einen mäßig großen, festgenähten Beutel,25

von starkem Korduanleder, an zwei tüchtigen ledernenSchnüren heraus und händigte mir selbigen ein. Ich griffhinein, und zog zehn Goldstücke daraus, und wiederzehn, und wieder zehn, und wieder zehn; ich hielt ihmschnell die Hand hin: »Topp! der Handel gilt, für den30

Beutel haben Sie meinen Schatten.« Er schlug ein, knietedann ungesäumt vor mir nieder, und mit einer be-wundernswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinenSchatten, vom Kopf bis zu meinen Füßen, leise von demGrase lösen, aufheben, zusammenrollen und falten, und35

zuletzt einstecken. Er stand auf, verbeugte sich noch ein-mal vor mir, und zog sich dann nach dem Rosengebüsche

7 Dero: Ihre 11 Kleinodien: Kostbarkeiten 21 Dukaten: Goldmün-zen 26 Korduanleder: spanisches Ziegenleder 27 händigte … ein:übergab 32 ungesäumt: sofort

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16 zurück. Mich dünkt’, ich hörte ihn da leise für sich la-chen. Ich aber hielt den Beutel bei den Schnüren fest,rund um mich her war die Erde sonnenhell, und in mirwar noch keine Besinnung.

II 5

Ich kam endlich wieder zu Sinnen, und eilte, diesen Ortzu verlassen, wo ich hoffentlich nichts mehr zu tun hatte.Ich füllte erst meine Taschen mit Gold, dann band ich mirdie Schnüre des Beutels um den Hals fest, und verbarg ihnselbst auf meiner Brust. Ich kam unbeachtet aus dem 10

Park, erreichte die Landstraße, und nahm meinen Wegnach der Stadt. Wie ich in Gedanken dem Tore zu ging,hört ich hinter mir schreien: »Junger Herr! he! jungerHerr! hören Sie doch!« – Ich sah mich um, ein altes Weibrief mir nach: »Sehe sich der Herr doch vor, Sie haben Ih- 15

ren Schatten verloren.« – »Danke, Mütterchen!« ich warfihr ein Goldstück für den wohlgemeinten Rat hin, undtrat unter die Bäume.

Am Tore musst ich gleich wieder von der Schildwachthören: »Wo hat der Herr seinen Schatten gelassen?« und 20

gleich wieder darauf von ein paar Frauen: »Jesus Maria!der arme Mensch hat keinen Schatten!« Das fing an michzu verdrießen, und ich vermied sehr sorgfältig, in die Son-ne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beispielnicht über die Breitestraße, die ich zunächst durchkreuzen 25

musste, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde,wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammterbuckeliger Schlingel, ich seh ihn noch, hatte es gleich weg,dass mir ein Schatten fehle. Er verriet mich mit großemGeschrei der sämtlichen literarischen Straßenjugend der 30�

Vorstadt, welche sofort mich zu rezensieren und mit Kotzu bewerfen anfing: »Ordentliche Leute pflegten ihrenSchatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gin-gen.« Um sie von mir abzuwehren, warf ich Gold zu vol-

1 Mich dünkt’: Mir schien 4 keine Besinnung: kein Bewusstseinmeiner Lage 15 Sehe … vor: Passe … auf 19 Schildwacht: Wacht-posten 23 verdrießen: ärgern 28 hatte es … weg: merkte31 rezensieren: kritisieren

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17len Händen unter sie, und sprang in einen Mietswagen, zudem mir mitleidige Seelen verhalfen.

Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand,fing ich bitterlich an zu weinen. Es musste schon die Ah-nung in mir aufsteigen: dass, um so viel das Gold auf Er-5

den Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel derSchatten höher als selbst das Gold geschätzt werde; undwie ich früher den Reichtum meinem Gewissen aufgeop-fert, hatte ich jetzt den Schatten für bloßes Gold hingege-ben; was konnte, was sollte auf Erden aus mir werden!10

Ich war noch sehr verstört, als der Wagen vor meinemalten Wirtshause hielt; ich erschrak über die Vorstellung,nur noch jenes schlechte Dachzimmer zu betreten. Ichließ mir meine Sachen herabholen, empfing den ärmlichenBündel mit Verachtung, warf einige Goldstücke hin, und15

befahl, vor das vornehmste Hotel vorzufahren. Das Hauswar gegen Norden gelegen, ich hatte die Sonne nicht zufürchten. Ich schickte den Kutscher mit Gold weg, ließmir die besten Zimmer vorn heraus anweisen, und ver-schloss mich darin, sobald ich konnte.20

Was denkest Du, das ich nun anfing? – O mein lieberChamisso, selbst vor Dir es zu gestehen, macht mich errö-ten. Ich zog den unglücklichen Säckel aus meiner Brusthervor, und mit einer Art Wut, die, wie eine flackerndeFeuersbrunst, sich in mir durch sich selbst mehrte, zog ich25

Gold daraus, und Gold, und Gold, und immer mehrGold, und streute es auf den Estrich, und schritt darüberhin, und ließ es klirren, und warf, mein armes Herz andem Glanze, an dem Klange weidend, immer des Metallesmehr zu dem Metalle, bis ich ermüdet selbst auf das reiche30

Lager sank und schwelgend darin wühlte, mich darüberwälzte. So verging der Tag, der Abend, ich schloss meineTür nicht auf, die Nacht fand mich liegend auf dem Gol-de, und darauf übermannte mich der Schlaf.

Da träumt’ es mir von Dir, es ward mir, als stünde35

ich hinter der Glastüre Deines kleinen Zimmers, undsähe Dich von da an Deinem Arbeitstische zwischen ei- �

23 unglücklichen: Unglück bringenden 27 Estrich: Fußboden29 weidend: mich erfreuend 31 schwelgend: wie im Rausch34 übermannte: überwältigte

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18 nem Skelett und einem Bunde getrockneter Pflanzen sit-zen, vor Dir waren Haller, Humboldt und Linne aufge-schlagen, auf Deinem Sofa lagen ein Band Goethe und�

der »Zauberring«, ich betrachtete Dich lange und jedesDing in Deiner Stube, und dann Dich wieder, Du rühr- 5

test Dich aber nicht, Du holtest auch nicht Atem, Duwarst tot.

Ich erwachte. Es schien noch sehr früh zu sein. MeineUhr stand. Ich war wie zerschlagen, durstig und hungrigauch noch; ich hatte seit dem vorigen Morgen nichts ge- 10

gessen. Ich stieß von mir mit Unwillen und Überdrussdieses Gold, an dem ich kurz vorher mein törichtes Herzgesättiget; nun wusst ich verdrießlich nicht, was ich damitanfangen sollte. Es durfte nicht so liegen bleiben – ich ver-suchte, ob es der Beutel wieder verschlingen wollte – 15

Nein. Keines meiner Fenster öffnete sich über die See. Ichmusste mich bequemen, es mühsam und mit sauermSchweiß zu einem großen Schrank, der in einem Kabinettstand, zu schleppen, und es darin zu verpacken. Ich ließnur einige Handvoll da liegen. Nachdem ich mit der Ar- 20

beit fertig geworden, legt ich mich erschöpft in einenLehnstuhl, und erwartete, dass sich Leute im Hause zuregen anfingen. Ich ließ, sobald es möglich war, zu essenbringen und den Wirt zu mir kommen.

Ich besprach mit diesem Manne die künftige Einrich- 25

tung meines Hauses. Er empfahl mir für den näherenDienst um meine Person einen gewissen Bendel, dessen�

treue und verständige Physiognomie mich gleich gewann.Derselbe war’s, dessen Anhänglichkeit mich seither trös-tend durch das Elend des Lebens begleitete und mir mein 30

düstres Los ertragen half. Ich brachte den ganzen Tag aufmeinen Zimmern mit herrenlosen Knechten, Schustern,Schneidern und Kaufleuten zu, ich richtete mich ein, undkaufte besonders sehr viele Kostbarkeiten und Edelsteine,um nur etwas des vielen aufgespeicherten Goldes loszu- 35

werden; es schien mir aber gar nicht, als könne der Hau-fen sich vermindern.

13 verdrießlich: verärgert 18 Kabinett: Nebenzimmer 28 verstän-dige Physiognomie: wacher Gesichtsausdruck 31 düstres Los:trauriges Schicksal 32 herrenlosen: ohne Anstellung

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19Ich schwebte indes über meinen Zustand in den ängsti-gendsten Zweifeln. Ich wagte keinen Schritt aus meinerTür und ließ abends vierzig Wachskerzen in meinem Saalanzünden, bevor ich aus dem Dunkel herauskam. Ich ge-dachte mit Grauen des fürchterlichen Auftrittes mit den5

Schulknaben. Ich beschloss, so viel Mut ich auch dazu be-durfte, die öffentliche Meinung noch einmal zu prüfen. –Die Nächte waren zu der Zeit mondhell. Abends spätwarf ich einen weiten Mantel um, drückte mir den Huttief in die Augen, und schlich, zitternd wie ein Verbrecher,10

aus dem Hause. Erst auf einem entlegenen Platz trat ichaus dem Schatten der Häuser, in deren Schutz ich so weitgekommen war, an das Mondeslicht hervor; gefasst, meinSchicksal aus dem Munde der Vorübergehenden zu ver-nehmen.15

Erspare mir, lieber Freund, die schmerzliche Wieder-holung alles dessen, was ich erdulden musste. Die Frauenbezeugten oft das tiefste Mitleid, das ich ihnen einflößte;Äußerungen die mir die Seele nicht minder durchbohrten,als der Hohn der Jugend und die hochmütige Verachtung20

der Männer, besonders solcher dicken, wohlbeleibten, dieselbst einen breiten Schatten warfen. Ein schönes, holdesMädchen, die, wie es schien, ihre Eltern begleitete, indemdiese bedächtig nur vor ihre Füße sahen, wandte von un-gefähr ihr leuchtendes Auge auf mich; sie erschrak sicht-25

barlich, da sie meine Schattenlosigkeit bemerkte, verhüllteihr schönes Antlitz in ihren Schleier, ließ den Kopf sinken,und ging lautlos vorüber.

Ich ertrug es länger nicht. Salzige Ströme brachen ausmeinen Augen, und mit durchschnittenem Herzen zog ich30

mich schwankend ins Dunkel zurück. Ich musste mich anden Häusern halten, um meine Schritte zu sichern, und er-reichte langsam und spät meine Wohnung.

Ich brachte die Nacht schlaflos zu. Am andern Tage warmeine erste Sorge, nach dem Manne im grauen Rocke35

überall suchen zu lassen. Vielleicht sollte es mir gelingen,ihn wiederzufinden, und wie glücklich! wenn ihn, wie

6 f. bedurfte: brauchte 22 holdes: bezauberndes 24 f. von unge-fähr: zufällig 27 Antlitz: Gesicht

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20 mich, der törichte Handel gereuen sollte. Ich ließ Bendelvor mich kommen, er schien Gewandtheit und Geschickzu besitzen – ich schilderte ihm genau den Mann, in des-sen Besitz ein Schatz sich befand, ohne den mir das Lebennur eine Qual sei. Ich sagte ihm die Zeit, den Ort, wo ich 5

ihn gesehen; beschrieb ihm alle, die zugegen gewesen, undfügte dieses Zeichen noch hinzu: er solle sich nach einemDollondschen Fernrohr, nach einem golddurchwirktentürkischen Teppich, nach einem Prachtlustzelt, und end-lich nach den schwarzen Reithengsten genau erkundigen, 10

deren Geschichte, ohne zu bestimmen wie, mit der desrätselhaften Mannes zusammenhinge, welcher allen unbe-deutend geschienen, und dessen Erscheinung die Ruheund das Glück meines Lebens zerstört hatte.

Wie ich ausgeredet, holt ich Gold her, eine Last, wie ich 15

sie nur zu tragen vermochte, und legte Edelsteine undJuwelen noch hinzu für einen größern Wert. »Bendel«,sprach ich, »dieses ebnet viele Wege und macht vielesleicht, was unmöglich schien; sei nicht karg damit, wie iches nicht bin, sondern geh, und erfreue deinen Herrn mit 20

Nachrichten, auf denen seine alleinige Hoffnung beruht.«Er ging. Spät kam er und traurig zurück. Keiner von

den Leuten des Herrn John, keiner von seinen Gästen, erhatte alle gesprochen, wusste sich nur entfernt an denMann im grauen Rocke zu erinnern. Der neue Teleskop 25

war da, und keiner wusste, wo er hergekommen; der Tep-pich, das Zelt waren da noch auf demselben Hügel aus-gebreitet und aufgeschlagen, die Knechte rühmten denReichtum ihres Herrn, und keiner wusste, von wannendiese neuen Kostbarkeiten ihm zugekommen. Er selbst 30

hatte sein Wohlgefallen daran, und ihn kümmerte es nicht,dass er nicht wisse, woher er sie habe; die Pferde hattendie jungen Herren, die sie geritten, in ihren Ställen, undsie priesen die Freigebigkeit des Herrn John, der sie ihnenan jenem Tage geschenkt. So viel erhellte aus der ausführ- 35

lichen Erzählung Bendels, dessen rascher Eifer und ver-ständige Führung, auch bei so fruchtlosem Erfolge, mein

19 karg: sparsam 25 Teleskop: Fernrohr 29 von wannen: woher34 Freigebigkeit: Großzügigkeit 37 Führung: Verhalten 37 frucht-losem: ergebnislosem

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21verdientes Lob erhielten. Ich winkte ihm düster, michallein zu lassen.

»Ich habe«, hub er wieder an, »meinem Herrn Berichtabgestattet über die Angelegenheit, die ihm am wichtigs-ten war. Mir bleibt noch ein Auftrag auszurichten, den5

mir heute früh jemand gegeben, welchem ich vor der Türbegegnete, da ich zu dem Geschäfte ausging, wo ich sounglücklich gewesen. Die eigenen Worte des Mannes wa-ren: ›Sagen Sie dem Herrn Peter Schlemihl, er würde michhier nicht mehr sehen, da ich übers Meer gehe, und ein10

günstiger Wind mich soeben nach dem Hafen ruft. Aberüber Jahr und Tag werde ich die Ehre haben, ihn selberaufzusuchen und ein anderes, ihm dann vielleicht an-nehmliches Geschäft vorzuschlagen. Empfehlen Sie michihm untertänigst, und versichern ihn meines Dankes.‹ Ich15

frug ihn, wer er wäre, er sagte aber, Sie kennten ihnschon.«

»Wie sah der Mann aus?« rief ich voller Ahnung. UndBendel beschrieb mir den Mann im grauen Rocke Zug fürZug, Wort für Wort, wie er getreu in seiner vorigen Erzäh-20

lung des Mannes erwähnt, nach dem er sich erkundigt. –»Unglücklicher!« schrie ich händeringend, »das war er

ja selbst!« und ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. –»Ja, er war es, war es wirklich!« rief er erschreckt aus,»und ich Verblendeter, Blödsinniger habe ihn nicht er-25

kannt, ihn nicht erkannt und meinen Herrn verraten!«Er brach, heiß weinend, in die bittersten Vorwürfe ge-

gen sich selber aus, und die Verzweiflung, in der er war,musste mir selber Mitleiden einflößen. Ich sprach ihmTrost ein, versicherte ihn wiederholt, ich setzte keinen30

Zweifel in seine Treue, und schickte ihn alsbald nach demHafen, um, wo möglich, die Spuren des seltsamen Manneszu verfolgen. Aber an diesem selben Morgen waren sehrviele Schiffe, die widrige Winde im Hafen zurückgehalten,ausgelaufen, alle nach anderen Weltstrichen, alle nach an-35

deren Küsten bestimmt, und der graue Mann war spurloswie ein Schatten verschwunden.

3 hub … an: fuhr … fort 8 unglücklich: erfolglos 12 über Jahr undTag: nach einem Jahr und einem Tag; ursprünglich Rechtsformel fürein volles Jahr mit kleiner Zugabefrist 15 untertänigst: respektvoll16 frug: fragte 31 alsbald: kurz danach 34 widrige: ungünstige

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22 III

Was hülfen Flügel dem in eisernen Ketten fest Ange-schmiedeten? Er müsste dennoch, und schrecklicher, ver-zweifeln. Ich lag, wie Faffner bei seinem Hort, fern von�

jedem menschlichen Zuspruch, bei meinem Golde dar- 5

bend, aber ich hatte nicht das Herz nach ihm, sondern ichfluchte ihm, um dessentwillen ich mich von allem Lebenabgeschnitten sah. Bei mir allein mein düstres Geheimnishegend, fürchtete ich mich vor dem letzten meiner Knech-te, den ich zugleich beneiden musste; denn er hatte einen 10

Schatten, er durfte sich sehen lassen in der Sonne. Ich ver-trauerte einsam in meinen Zimmern die Tag’ und Nächte,und Gram zehrte an meinem Herzen.

Noch einer härmte sich unter meinen Augen ab, meintreuer Bendel hörte nicht auf, sich mit stillen Vorwürfen 15

zu martern, da er das Zutrauen seines gütigen Herrn be-trogen, und jenen nicht erkannt, nach dem er ausgeschicktwar, und mit dem er mein trauriges Schicksal in engerVerflechtung denken musste. Ich aber konnte ihm keineSchuld geben, ich erkannte in dem Ereignis die fabelhafte 20

Natur des Unbekannten.Nichts unversucht zu lassen, schickt ich einst Bendel

mit einem kostbaren brillantenen Ring zu dem berühm-testen Maler der Stadt, den ich, mich zu besuchen, einla-den ließ. Er kam, ich entfernte meine Leute, verschloss die 25

Tür, setzte mich zu dem Mann, und, nachdem ich seineKunst gepriesen, kam ich mit schwerem Herzen zur Sa-che, ich ließ ihn zuvor das strengste Geheimnis geloben.

»Herr Professor«, fuhr ich fort, »könnten Sie wohl ei-nem Menschen, der auf die unglücklichste Weise von der 30

Welt um seinen Schatten gekommen ist, einen falschenSchatten malen?« – – »Sie meinen einen Schlagschatten?«�

– »den mein ich allerdings.« – »Aber«, frug er mich weiter,»durch welche Ungeschicklichkeit, durch welche Nachläs-sigkeit konnte er denn seinen Schlagschatten verlieren?« – 35

»Wie es kam«, erwiderte ich, »mag nun sehr gleichgültig

2 hülfen: würden helfen 5 Zuspruch: Umgang 5 f. darbend: Man-gel leidend 9 hegend: bewahrend 9 letzten: niedrigsten 13 Gramzehrte: Traurigkeit fraß 14 härmte … ab: litt 20 fabelhafte: phan-tastische 28 Geheimnis: Geheimhaltung

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23sein, doch so viel«, log ich ihm unverschämt vor: »InRussland, wo er im vorigen Winter eine Reise tat, fror ihmeinmal, bei einer außerordentlichen Kälte, sein Schattendergestalt am Boden fest, dass er ihn nicht wieder losbe-kommen konnte.«5

»Der falsche Schlagschatten, den ich ihm malen könn-te«, erwiderte der Professor, »würde doch nur ein solchersein, den er bei der leisesten Bewegung wieder verlierenmüsste – zumal wer an dem eignen angebornen Schattenso wenig fest hing, als aus Ihrer Erzählung selbst sich ab-10

nehmen lässt; wer keinen Schatten hat, gehe nicht in dieSonne, das ist das Vernünftigste und Sicherste.« Er standauf und entfernte sich, indem er auf mich einen durchboh-renden Blick warf, den der meine nicht ertragen konnte.Ich sank in meinen Sessel zurück, und verhüllte mein Ge-15

sicht in meine Hände.So fand mich noch Bendel, als er herein trat. Er sah den

Schmerz seines Herrn, und wollte sich still, ehrerbietigzurückziehen. – Ich blickte auf – ich erlag unter der Lastmeines Kummers, ich musste ihn mitteilen. »Bendel«, rief20

ich ihm zu, »Bendel! Du Einziger, der du meine Leidensiehst und ehrst, sie nicht erforschen zu wollen, sondernstill und fromm mitzufühlen scheinst, komm zu mir, Ben-del, und sei der Nächste meinem Herzen. Die Schätzemeines Goldes hab ich vor dir nicht verschlossen, nicht25

verschließen will ich vor dir die Schätze meines Grames. –Bendel, verlasse mich nicht. Bendel, du siehst mich reich,freigebig, gütig, du wähnst, es sollte die Welt mich ver-herrlichen, und du siehst mich die Welt fliehn und michvor ihr verschließen. Bendel, sie hat gerichtet, die Welt,30

und mich verstoßen, und auch du vielleicht wirst dich vonmir wenden, wenn du mein schreckliches Geheimniserfährst: Bendel, ich bin reich, freigebig, gütig, aber –o Gott! – ich habe keinen Schatten!« –

»Keinen Schatten?« rief der gute Junge erschreckt aus,35

und die hellen Tränen stürzten ihm aus den Augen. –»Weh mir, dass ich geboren ward, einem schattenlosen

4 dergestalt: so 10 f. abnehmen: schließen 19 erlag unter: unter-lag 28 wähnst: nimmst an 30 gerichtet: geurteilt