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Joachim Eitel Mut zur Feigheit Berlin – Tokio 1945 Roman in drei Teilen

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Joachim Eitel

Mut zur FeigheitBerlin – Tokio 1945

Roman in drei Teilen

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1. Auflage

Text © 2017 Joachim Eitel

Alle Rechte vorbehalten

CoverFotografie und Illustration

© 2017 J. Vanidoso

LektoratHarald im Spring

www.das-freie-buch.de

E.I.-Verlag, Joachim EitelBreitestr. 11, D-77716 Haslach i.K.

[email protected]

Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Für alle, die sich auch heute nochdie Vernunft zu eigen machen.

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ERSTER TEIL

Die Zukunft ist etwas,das nur im Nachhineinbetrachtet werden kann.

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1Schwarzwald – 1965 / 2008

»Die Welt ist voll von Dingen, die wir nicht erklären können«, sagte die Frau mit tiefer, rauchiger Stimme. Sie sprach deutlich, aber mit einem mir fremden Akzent. Außerdem rollte sie das ›R‹ auf unnatürliche Weise. Alles an dieser Frau entsprach meinen Erwartungen. Ihre Kleidung war schwarz, ebenso ihr langes, lockiges Haar. Die gleichfalls schwarze Schleife fiel darin kaum auf. »Die wahre Struktur aller Zusammenhänge bleibt unseren Sinnen verborgen«, fuhr sie fort. »Es sind aber diese Verbindun-gen zwischen den Kräften des Universums und der vermeintlich toten Materie, die unser Schicksal lenken.«

Noch immer klebte in meinem Mund das Gefühl der sich auflö-senden Zuckerwatte. Von draußen drangen die Rufe der Markt-schreier und ein Duft nach gebrannten Mandeln herein. Mal schaute ich auf die Kristallkugel, die zwischen uns auf der Samtoberfläche des Tischchens ruhte, mal in das Licht der Kerze und dann wieder in die dunklen Augen dieser Frau. Im weiß gepuderten Gesicht schienen sie das einzig Ungeschminkte zu sein. Das einzig Ehrliche.

»Du bist also zu mir gekommen, um etwas über deine Wahrheit zu erfahren, mein Mädchen.«

Ich heiße Elisabeth Stelker, wollte ich gerade sagen. Doch schon beim »Ich heiße...« unterbrach sie mich schroff.

»Nein, ich muss deinen Namen nicht wissen. Er würde mich nur ablenken, die wahren Kräfte zu erkennen, die dich führen.«

Gut, dachte ich. So musste auch ich sie nicht mit Namen ansprechen. Dieser stand zwar außen am Zelt als Madame Soundso angeschrieben, aber ich hatte ihn bereits wieder vergessen. Man könne sich für zwanzig Mark die Zukunft vorhersagen lassen, war da außerdem zu lesen.

Madame redete weiter über die Balance der Kräfte. ›Balance‹ sprach sie nun eindeutig Französisch aus, doch ich hörte nur noch

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mit einem Ohr zu, war überzeugt, dass sie zu jedem ihrer Kunden über die Kräfte des Schicksals sprach. Viel mehr dachte ich nun darüber nach, warum sie gerade bei mir den Begriff der Wahrheit gewählt hatte. Musste sie nicht eher vermuten, ich interessiere mich für das was kommen mag? War es nicht normalerweise so, dass man von einer Hellseherin etwas über seine Zukunft erfahren wollte? Woher wusste sie, dass es in meinem Fall die Wahrheit war – die Wahrheit, die in der Vergangenheit lag? Das plötzliche Vertrauen in ihre Fähigkeiten gab mir zu denken. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass ich nur aus Jux zu dieser Kirmestante gekommen war. Nur so konnte ich verhindern, ernsthaft an sie zu glauben.

»Mädchen, bist du dir im Klaren, dass ich nicht immer nur Gutes und Schönes sehe, wenn ich in einen Menschen hineinblicke«, riss sie mich aus meinen Gedanken.

»Natürlich«, gab ich ihr kurz zur Antwort. Selbstverständlich war ich auf schlimme Nachrichten vorbereitet. Es war mir jedoch schon jetzt klar, ich würde diese dann als Humbug abtun, während ich mich an Positivem zu erfreuen suchte. Ist das nicht die Einstellung aller, die sich von einer fahrenden Seherin die Hand lesen oder Karten legen lassen? Ich denke, die meisten Menschen glauben ohnehin nur das, was sie glauben wollen. Das ist so wie mit den Gummibärchen: Ist einer erst einmal davon überzeugt, dass rosarote Gummibärchen gegen Blähungen helfen, wird er bei jedem Pups denken, dieser wäre noch lauter gewesen, wenn er zuvor keine davon gegessen hätte.

»Viele meiner Klienten glauben lediglich, was sie glauben wollen. Sie hören nur allzu gerne, wenn ich ihnen Liebe, Glück und Reichtum vorhersage. Andererseits werfen mir die gleichen Leute faulen Zauber vor, wenn ich Schlimmes sehe...«

Hatte die Frau eben meine Gedanken gelesen? Langsam begann mir die Sache unheimlich zu werden.

»…Manche wollen meine Dienste dann noch nicht einmal bezahlen. Aber wenn sich mir Dunkles zeigt, darf ich doch nicht einfach lügen, nur um mir die Sache leicht zu machen!«

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Gerade hob ich die Stimme an, um ihr Recht zu geben, doch sie ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Daher erwarte ich, mein Honorar im Voraus zu erhalten.«Nun wusste ich, worauf sie hinaus wollte und kramte in

meinem Portemonnaie. »Ist das gut so?«, fragte ich überflüssigerweise, als ich den Zwanzigmarkschein neben die Kristallkugel legte. Madame nahm ihn wortlos entgegen. Mit einer gleichermaßen fließenden wie unauffälligen Bewegung schob sie das Geld in den Ärmelaufschlag ihrer Bluse.

»Gib mir deine Hand, Mädchen!«Ohne den Tisch zu berühren, streckte ich ihr meine Rechte ent-

gegen, die eben noch den Geldschein hielt. Gleichzeitig öffnete ich die Handfläche. Zu meiner Überraschung fing sie nicht an, die Linien darin zu deuten. Vielmehr nahm sie meine Hand und drehte sie ohne weitere Erklärung nach unten. Ihre Fingerspitzen bedeuteten mir mit leichtem Druck, sie flach auf den Tisch zu legen. Daraufhin umschloss sie meinen Handrücken mit beiden Händen.

Ein Gefühl der Wärme begann in mir aufzusteigen. Gerade so, als sei mein Brustkorb von frisch gesponnener Zuckerwatte erfüllt. So sehr ich dieses Gefühl genoss, so sehr machte mich genau diese Wärme unsicher. Es war mir peinlich, dass ich zwischen den Fingern zu schwitzen begann.

Zunächst räusperte ich mich nur, doch dann sagte ich: »Ich dachte, Sie würden aus meiner Hand lesen.« Ich sprach nur, um irgendwie das Schweigen zu brechen, welches bedrückend den Raum erfüllte.

»Entspann dich, Mädchen! Schließ deine Augen!«Ich tat wie geheißen, legte meinen freien Arm in den Schoß und

versuchte lockerer zu werden. Zu meiner Überraschung gelang mir dies sogar. Mehr noch, ich begann dieses Schweigen zu genießen. Lange saßen wir uns so gegenüber. Ich fühlte, auch sie hatte ihre Augen geschlossen. Von den Marktschreiern und dem ganzen Getöse des Rummels hörte ich nicht mehr das Geringste.

Was bis eben noch mit den Erinnerungen meines bisherigen Lebens gefüllt war, leerte und weitete sich. Tief in mir entstand

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etwas wie eine leere Halle, groß genug, dass auch der lauteste Gedanke es nicht vermocht hätte, darin ein Echo zu erzeugen. Doch ich dachte nicht einmal im Flüsterton. Alles in mir war still und angenehm leer. Auch mein Körper spürte nichts. Nichts außer der Berührung ihrer Hände. Sie fühlten sich weder kalt noch besonders warm an. Langsam und ohne dass ich hätte einen Gedanken formulieren müssen, wurde mir eines bewusst: Was immer mir diese Frau gleich eröffnen würde, es würde wahr sein. Was immer sie auch sagen würde, es wären keine Allgemeinprophezeiungen.

Dann begann Madame zu sprechen: »Mädchen«, sagte sie, »du dachtest, ich würde dir aus der Hand lesen…« Schläfrig öffnete ich meine Augen.

Madame schien nach den richtigen Worten zu suchen. Mit einem Tüchlein tupfte sie sich ihre kirschroten Lippen und schob es sich danach in den Ärmel. »…du dachtest, ich würde dir aus der Hand lesen«, wiederholte sie sich. »Ich muss dir aber sagen, dass die Linien eines Menschen viel weniger preisgeben als ein tiefer Blick in seine Seele. Doch nicht immer gelingt dieser Einblick. Das hat nichts mit der Person zu tun und bedeutet weder Schlechtes noch Gutes...«

Während sie so sprach, fiel mir auf, dass sie nun auf ihr mysti-sches Vokabular verzichtete. Ihr Akzent war ebenfalls wie wegge-blasen.

»…In deinem Fall ist es mir leider nicht möglich, die verborgenen Wahrheiten zu sehen. Somit macht es auch keinen Sinn, dir aus der Hand zu lesen.«

»Verborgenen Wahrheiten«, sagte ich langsam und leise vor mich hin. Es war mir völlig klar, dass sie meine Herkunft meinte.

Als Madame anfangs von Strukturen, Kräften und Zusammen-hängen gesprochen hatte, begriff ich zwar nichts, konnte jedoch den Zweck ihrer Worte einordnen. Nun verstand ich auf einmal jede Silbe, doch es war mir schleierhaft, warum sie diese Sätze an mich richtete.

Dann fragte ich sie: »Können Sie mir nicht zumindest etwas über meine Zukunft sagen?«

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»Mädchen«, sagte sie, »die Zukunft ist etwas, das nur im Nach-hinein betrachtet werden kann.«

Ich ließ den Satz auf mich wirken. So banal er war, so wenig hatte ich ihn aus dem Munde einer Kirmes-Wahrsagerin erwartet.

Warum hatte sie eine Viertelstunde zuvor noch meiner Freundin Hilde verkündet, diese werde eine Familie gründen. Wenn sie sich ihrem Mann gegenüber einfühlsam zeige, werde ihre Ehe eine glückliche sein. Und in finanziellen Belangen müsse sie unbedingt höchste Vorsicht walten lassen.

Wieso erzählte sie Hilde so etwas und speiste mich ohne ersichtlichen Grund mit einer Aussage ab, die ihre Daseins-berechtigung als Seherin in Frage stellte?

Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und sah sie eine Weile wortlos an. Madam rückte die Kristallkugel zurecht, als wolle sie alles für den nächsten Kunden bereitmachen. Ich muss sie mit einem ziemlich fragenden Ausdruck angeblickt haben, den sie offensichtlich ganz falsch interpretierte. Bedächtig führte sie Zeige- und Mittelfinger in ihren linken Blusenärmel und brachte zunächst ihr Tüchlein, dann den Zwanzigmarkschein zum Vorschein.

»Mädchen, es ist so, wie ich es dir sage.« Die Wahrsagerin räusperte sich. »Es ist mir leider nicht gelungen, deine verborgenen Wahrheiten zu sehen«, erklärte sie noch einmal und gab mir mein Geld zurück. »Du bist ein hübsches Kind. Geh raus ins Leben. Deine blonde Lockenpracht wird den Männern gefallen. Manch einer wird sich wünschen, im Blau deiner Augen zu ertrinken. Aber das weißt du sicher selbst schon. Dafür brauchtest du nicht zu mir zu kommen.«

Mit meinem Zwanzigmarkschein in der Hand sowie einer gehörigen Portion Verwirrung im Kopf drückte ich den schweren Vorhang aus schwarzem Filz zur Seite und trat hinaus in das gleißende Licht eines ganz normalen Volksfestes.

Wie sollte ich das eben Erlebte einordnen? Ich hatte viel mehr Ehrlichkeit erfahren als erwartet und wäre nicht auf die Idee gekommen, Madame hätte mir etwas Schreckliches verheimlichen wollen. Dennoch war ich enttäuscht.

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Indem sie mir nichts sagte, bewies mir Madame zwar ihre abso-lute Glaubwürdigkeit, doch was nützte mir diese ohne Inhalte, ohne etwas, das ich hätte glauben können oder auch nicht?

Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte mich belogen.

Wie viele Jahre waren seither vergangen? Über vierzig?Ja, ich muss wohl so um die zwanzig gewesen sein. Seither

musste ich immer wieder an die Wahrsagerin und ihr seltsames Verhalten denken. Immer dann, wenn ich Tatsachen ein wenig verbog, um sie mir genehm zu machen. Ich spreche nicht von den strategischen Unwahrheiten, die von vornherein einem bestimmten Zweck dienten. Auch nicht von den kleinen Lügen, deren Sinn darin bestand, etwas Unangenehmes nicht noch schlimmer werden zu lassen. Nein, an Madame musste ich immer nur bei den alltäglichen Gelegenheiten denken, bei denen die Wahrheit eigentlich keine Rolle spielte. Angelegenheiten, bei denen ich mich der Unwahrheit nur bediente, weil sie einen Hauch bequemer war oder auch nur leichter in Worte zu fassen. Häufig waren es auch Situationen, in denen die Wahrheit zu viele Fragen nach sich gezogen hätte.

Seit jenem Spätsommernachmittag hat sich mir immer wieder eines bestätigt: Selbst wenn man davon ausgeht, dass es nur eine Wahrheit gibt, was selten genug der Fall ist, führt Ehrlichkeit meist nur zu unnötiger Verwirrung.

So wie an jenem Tag, als ich meine Mutter im Pflegeheim besuchte, um sie zu belügen.

Mutter selbst hatte durch ihre Krankheit ihren eigenen Weg zur Ehrlichkeit gefunden. Sie war einfach nicht mehr in der Lage, sich etwas Unwahres einfallen zu lassen. Stattdessen lebte sie in der Vergangenheit. Oder in dem, was sie für ihre Vergangenheit hielt.

Trümmerfrauen! Ständig dieses ewige Gerede von den Trümmer-frauen. Mir schnürt sich der Hals zu, wenn ich diesen Begriff nur höre. Immer lebt in mir das Gefühl auf, ein unerwünschtes Kind zu sein, sobald ihre ausdruckslose Flüsterstimme diese ewig

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gleiche Geschichte herunterleiert. Warum musste sie auch bei Kriegsende in Augsburg bleiben? Sie hätte doch ebenso gleich in den Schwarzwald zurückkommen können. Da gab es sicherlich weniger Schutt.

»Ja, ich weiß, es war eine schwere Zeit.«»Und heute ist Sonntag?«»Nein, heute ist Mittwoch.«»Es darf gelacht werden!«, unterbrach uns lauthals ein Mann im

hellblauen Frotteejäckchen. Er gaffte starren Blickes vom Nach-bartisch zu mir herüber.

»Mittwoch?«, flüsterte Mutter ungläubig. »Und wann gehen wir nach Hause?«

Längst hatte ich aufgehört, auf diese Frage zu antworten. Mutter hätte es ohnehin nicht verstanden. Sie konnte oder wollte es einfach nicht begreifen. Auch jetzt noch nicht, obwohl sie mittlerweile schon fast zwei Jahre hier wohnte.

»Vorher war jemand da und hat gesagt, heute ist Sonntag«, sagte sie und schien bemüht zu sein, ihrer Stimme Kraft zu verleihen.

»Nein Mutter, es ist Mittwoch.«»Als wir damals den Mörtel von den Steinen geklopft haben,

hat es für uns überhaupt keinen freien Tag gegeben. Wir haben immer gearbeitet, auch am Sonntag. Jeden Tag Steine tragen, obwohl ich schwanger war.«

»Ja Mama, ich weiß, es war eine schwere Zeit.«Der Greis in seinem blauen Babyjäckchen störte uns erneut.

»Alles Lüge«, pöbelte er.»Das is’n blöder Heini«, war Mutters Reaktion, laut genug,

dass er es wahrnehmen musste, selbst wenn in seinem Hörgerät die Batterien fehlten.

Ich sagte überhaupt nichts.»Was für ein Tag ist heute?«»Mittwoch! – Mama, ich werde dich nun eine Woche nicht

besuchen können.«»Lisa, ich will nicht hier bleiben, wann gehen wir nach Hause?

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Ich muss zu Hause die Blumen gießen.« Inzwischen nannte sie mich wieder Lisa. Ich widersprach ihr nicht, konnte damit leben.

»Ich werde zu einer langen Reise aufbrechen. Wir können uns erst übernächste Woche wieder sehen.«

»Sonntag hattest du gesagt? Ist heute Sonntag?«»Nein Mama, heute ist Mittwoch.«Ich betrachtete ihre Augen. Noch immer waren sie so klar wie

meine eigenen, aber leer und ohne Leben. Aus Faltentälern heraus schauten sie nur ab und zu mal kurz zu mir herüber. Die meiste Zeit über starrten sie auf die Tischplatte.

»Mittwoch?«, hauchte sie, so ungläubig wie zuvor, während sich in mir die Angst zerstreute, Mutter könne mich nach Ziel und Zweck meiner Reise fragen. Wenn sie erfahren hätte, dass ich im Begriff war, nach Japan zu fliegen, wäre sie vielleicht fähig gewesen, die Zusammenhänge zu erkennen, trotz ihrer Krankheit.

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2Kobe, Japan – 1942

»Was, dich haben sie auch hierher bestellt, Herbert?«»›Dich auch‹, was soll das denn heißen? Ich bin 17!« Herbert

Westermann presste seine Lippen zusammen. Darüber war ein zarter blonder Flaum zu erahnen.

»Ehrlich?«, war Siegfried Vogts einzige Reaktion, nicht ohne spitzen Unterton. Er setzte sich neben Herbert auf die niedrige Bank. Sein Kleiderbündel legte er neben sich. Genau wie Siegfried, war auch Herbert Westermann nur mit seiner Unterhose bekleidet, hielt aber Hemd und Hose, beides akkurat gefaltet, auf dem Schoß fest. Es schien, Herbert wolle so ein wenig gegen das Gefühl der Nacktheit ankämpfen. Siegfried Vogt quittierte dieses Zeichen der Verklemmtheit lediglich mit einem spöttischen Sei-tenblick. Es passte in das Bild, das er und seine Freunde von Herbert hatten. Hinter dessen Rücken nannten sie ihn meist nur ›das Würstchen‹, und dies nicht allein wegen der Thüringer Her-kunft seiner Eltern.

Herbert kannte die Jugendlichen der alteingesessenen deutschen Gemeinde in Kobe*. Er hatte jedoch noch keine wirklichen Freundschaften geknüpft. Schon gar nicht mit dem um einiges älteren Siegfried Vogt. Vor anderthalb Jahren kam Herbert Westermann als Flüchtling aus Batavia hier an. Nach dem deut-schen Angriff auf die neutralen Niederlande im Mai 1940 wurden im damaligen Niederländisch-Indien alle wehrfähigen deutschen Männer nach Britisch-Indien verfrachtet und dort interniert. Als damals Fünfzehnjähriger entging Herbert nur knapp diesem Schicksal. Mit seiner Mutter und zwei Schwestern sollte er über Japan nach Deutschland deportiert werden. Zwischenzeitlich aber war die Wehrmacht in der Sowjetunion einmarschiert. Somit hatte ihnen das Vaterland den weiteren Weg über die Transsibirische

* Kursiv hervorgehobene Namen und Begriffe werden im Glossar ab Seite 243 näher erläutert.

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Eisenbahn abgeschnitten. Dies hatte zur Folge, dass die Wester-manns ohne den Vater in Kobe gestrandet waren. Wie viele andere deutsche Frauen und Kinder aus Niederländisch-Indien waren sie gezwungen, dort auszuharren.

»Ist schon einer drinnen?«, fragte Siegfried nachdem Herbert sein schnippisches ›Ehrlich?‹ ignoriert hatte.

»Ja, der Stabsarzt nimmt sich gerade den Bäcker vor.«»Welchen Bäcker? Georg Moosheim?«»Genau den.«So als habe er gehört, wie über ihn gesprochen wurde, kam

Karl-Georg Moosheim aus dem improvisierten Sprechzimmer, welches der Arzt der deutschen Militärmission in der Hafen-behörde für die heutige Musterung eingerichtet hatte. Über dem Bund seiner Unterhose zeugte ein durchtrainierter Oberkörper davon, dass damals der Brotteig noch von Hand geknetet wurde. Die storchenhaften Beine, die unten aus dem lose hängenden Feinrippstoff schauten, schienen dagegen zu einem anderen Kör-per zu gehören.

»Mor’n Georg, wie war’s?« begann Siegfried.»Wie erwartet«, antwortete dieser mit ernstem Gesicht, die

blauen Augen stechend auf seinen Freund gerichtet. »Der Stabs-arzt hat zweimal am Sack gezogen, ein Ei nach dem anderen. Und jedes Mal sollte ich leicht husten.«

Herbert, ›das Würstchen‹, wurde noch blasser als er ohnehin schon war.

Seinen Blick zu diesem hin drehend, heiterten sich Karl-Georgs Gesichtszüge auf. »War nur ein Scherz. Das stimmt genau so wenig wie die Ammenmärchen vom Finger, den sie dir angeblich in den Arsch schieben.«

Es war ein winziger Raum, in dem man die drei auf den Sehtest warten ließ. Offensichtlich ein Abstellraum. Durch die dunkle Decke wirkte er noch enger. Der Arzt schien Mittagspause zu machen.

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»Oder hat er uns einfach nur hier vergessen?«, mutmaßte Karl-Georg.

Siegfried ergriff die Initiative. »Ich jedenfalls nehme mir jetzt einen Stuhl.« Er streckte sich über einen Stapel Holzkisten, hievte nacheinander drei Klappstühle zu sich herüber und reichte je einen an Karl-Georg und Herbert weiter. Den letzten klappte er für sich selbst auf.

Wie in einer Skatrunde saßen sie sich nun im Dreieck gegen-über, nur ein Tisch fehlte dazwischen.

»So, Herbert, jetzt kommst du doch noch nach Deutschland. Freust du dich schon?«

»Denkt ihr wirklich, dass sie uns nach Deutschland ein-ziehen?«, mischte sich Karl-Georg ein, ohne Herberts Reaktion abzuwarten.

Dann meldete sich Herbert zu Wort. »Vielleicht überstellen sie uns ja an die japanische Armee. Dann…«

»Dich sicher nicht«, unterbrach ihn Siegfried schroff. »Du wür-dest ja nicht mal die Befehle verstehen.«

Herbert antwortete nicht. Gesenkten Hauptes zog er es vor, der Unterhaltung passiv zu folgen.

»Deutsche Rekruten in der Kaiserlich-Japanischen Armee? Sowas hab ich noch nie gehört«, sagte Karl-Georg.

»Ja, das halte ich auch für ziemlichen Quatsch.«»Aber wie sollen sie uns nach Deutschland bringen? Doch

sicher nicht im U-Boot.«»Auf einem Frachter«, entgegnete Siegfried.»Ist dir schon mal aufgefallen, wie viele Frachter in den letzten

Monaten hier in Kobe festgemacht haben?«»Vielleicht fahren die jetzt alle nach Yokohama.«Karl-Georg dachte nach. »Warum sollten sie? Weißt du, dass

herumerzählt wird, von den Blockadebrechern käme kaum noch einer durch?«

»Dann also doch per U-Boot.«»Hältst du uns für so wertvoll? In so’nem Boot ist nicht viel

Platz. Statt uns und dem Proviant für einige Monate könnten sie jede Menge Rohgummi oder andere wichtige Sachen laden. Ich

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glaube, sie mustern uns jetzt einfach erst mal und schicken uns auf einen Frachter, sobald mal einer hierher durchkommt.«

»Und wenn dieser Frachter auf dem Rückweg versenkt wird?« Siegfried wurde nachdenklich.

»Ertrinken, das wäre für mich der schlimmste Tod, lieber würde ich irgendwo auf dem Schlachtfeld verbluten.« Plötzlich beteiligte sich auch Herbert wieder am Gespräch.

»Verbluten ist auch kein schöner Tod.« Karl-Georg verzog sein Gesicht.

»Natürlich, aber bei einem Schiffsuntergang zu sterben, ist das Allerschlimmste«, fing Herbert seine lange Erklärung an. »Wenn du an Deck stehst und du schaffst es nicht in eines der Boote, dann treibst du im Ozean. In warmem Wasser stirbst du nicht an Unterkühlung. Vielmehr treibst du da, bis du vor lauter Erschöp-fung einschläfst. Sobald du dann im Schlaf Wasser schluckst, wachst du wieder auf. Du würgst das ganze salzige Zeug raus und hustest wie ein Lungenkranker. Aber du bist wieder wach. Zumindest so lange, bis dich die Erschöpfung zum zweiten Mal übermannt. Hat einer von euch eine Idee, wie oft sich dieser Kreislauf wiederholt, bis man genug Wasser in den Lungen hat, um nicht mehr husten zu können?« Herbert schaute zu Karl-Georg und dann zu Siegfried. »Wenn du lange durchhältst, steigen deine Chancen, schnell von einem Hai erlöst zu werden.

Mit viel Glück hast du es aber zuvor in eines der Boote geschafft. Nur, dann verdurstest du inmitten von nichts als Wasser. Viel wahrscheinlicher aber krepierst du dann an Nieren-krämpfen, weil du vor lauter Durst Meerwasser trinkst.

Genau so schlimm, wenn du es nicht bis an Deck schaffst. Im Bauch des Schiffes wird’s dann stockfinster. Und laut. Überall hörst du das Wasser gluckern, plätschern und rauschen. Du weißt nicht, wann es zu dir kommt. Aber es kommt. Und wenn es kommt, bewegst du dich so lange wie möglich nach oben, tastend, schwimmend. Der Rest trockener Finsternis um dich herum wird immer enger. So eng bis am Ende nur noch dein Kopf darin Platz findet. Kurz darauf füllen sich dir bei vollem Bewusstsein die Lungen mit Salzwasser. Oft bleiben aber ganz große Lufttaschen,

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nicht nur bei U-Booten. Dann erlebst du noch, wie das Wrack tiefer und tiefer sinkt. Gleichzeitig steigt der Wasserdruck. Irgendwann gibt das Material nach. Vielleicht wirst du zer-quetscht. Vielleicht entsteht auch nur ein Riss. Dann trifft dich ein messerscharfer Wasserstrahl. Und wenn der Rumpf dem Wasser stand hält, dann gehst du halt früher oder später an Unterkühlung drauf. Irgendwo da unten in der Dunkelheit.«

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3Frankfurt – 2008

Mutter war die Einzige, von der ich mich an jenem Tag verab-schiedete. Wohl wissend, dass sie nichts verstanden hatte, fuhr ich zum Flughafen.

Bei den wenigen Flugzeugabstürzen mit Überlebenden hatten diese immer ganz hinten gesessen. Ich erinnere mich noch gut an einen Zeitungsbericht über den Absturz einer vollbesetzten Maschine im Elsass. Das ›Offenburger Tageblatt‹ berichtete damals, ein Passagier sei wegen eines kleinen Autounfalls fast zu spät zum Flughafen gekommen und konnte so nur noch ganz hinten sitzen. Er war der einzige Überlebende. Daher war ich froh, einen Platz in der hintersten Reihe ergattert zu haben. Aber auch die vage Hoffnung, hier wieder lebend rauszukommen, beruhigte mich nicht wirklich. Erfolglos war auch die Strategie, als eine der Ersten einzusteigen, um mich möglichst lange vor dem Start an das Sitzen im Inneren dieses Fluggerätes zu gewöhnen. Dabei hatte ich anfangs wirklich versucht, nur die positiven Seiten dieses Fluges zu sehen. Schließlich hatte er die Flugnummer LH711, was in der Quersumme 9 ergab. Somit hätte er für mich nichts Schlechtes bedeuten dürfen.

Neben mich setzte sich eine Japanerin, die sicher ein wenig älter war als ich. Vielleicht so um die siebzig, aber das Alter der Asiaten kann man ja schlecht schätzen. Unter der schlapp herun-terhängenden Stoffkrempe ihres rosaroten Kinderhütchens lächelte sie mir freundlich zu. Ob ihre Ruhe angesichts dieser beklemmenden Atmosphäre genauso vorgespielt war wie meine? Mir jedenfalls rasten Gedanken an Nachrichtenberichte über bren-nende Flugzeugswracks durch den Kopf. Dann stellte sich eine Lautsprecherstimme als Purser Frank Richter vor und erklärte, das Boarding sei nun abgeschlossen. Die Aufforderung zum Abschalten der Mobiltelefone hörte ich nur noch wie ein weit

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entferntes Echo. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Stewardess, die schräg vor mir am Notausgang hantierte. Mit der Zielstrebigkeit eines Amokläufers, der sein Sturmgewehr entsi-chert, hob sie eine Plexiglasklappe an und legte den darunter angebrachten roten Hebel um. Dann richtete sie sich auf und strich ihren Rock glatt, gerade so als sei nichts gewesen. In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, jetzt würde mir nur noch eine Bombendrohung helfen oder ein medizinischer Notfall. Letzteres erschien mir die weniger gravierenden Konsequenzen nach sich zu ziehen. Im Grunde aber war mir alles egal. Ich musste das Flugzeug verlassen solange es noch sicher am Gate stand.

Ohne weiter zu überlegen, löste ich meinen Gurt und schob mich an meiner Sitznachbarin vorbei zum Gang. Zwei- bis drei-mal an den Rückenlehnen haltsuchend wankte ich in Richtung Notausgang. In Sichtweite der Flugbegleiterin ging ich kurz aber heftig atmend auf die Knie, stützte mich auf eine Armlehne und ließ meinem Speichelfluss freien Lauf.

Ich muss an dieser Stelle um Verständniss bitten. Was ich getan hatte, war wie aus einem Reflex heraus geschehen, so wie ich eine Schlange abschütteln würde, wenn sich diese an meinem Arm hochschlängelte. Auch dann könnte ich mich keinesfalls zurück-halten, selbst wenn ich um die Harmlosigkeit des Tieres wüsste.

Über Nacht war ich an irgendwelche Geräte angeschlossen. Noch unangenehmer war mir jedoch, dass ich am nächsten Morgen Alexandra anrufen musste. Schon alleine wegen des Papierkrams. Ich konnte mich noch nicht einmal ausweisen. Meine Handtasche mit dem Pass war ja nach Osaka geflogen. Nur den großen Koffer hatten sie ausgeladen, wodurch sich der Flug wohl ziemlich ver-spätet hatte, wie man mir später erzählte. Wie nicht anders zu erwarten, kam Xandra sofort nach Frankfurt und platzte weinend ins Krankenzimmer. Genauso wenig überraschte mich, dass sie ihren mausgrauen Pulli trug, in dem sie aussah, als habe sie noch mehr zugenommen.

»Was machst du für Sachen?...«, fragte sie in einem Ton, als wäre nicht ich, sondern sie die Mutter, »…Wie geht es dir

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jetzt?...«, und ohne eine Antwort abzuwarten erklärte sie mir, was ich ohnehin schon wusste: »…Du bist in einem Flugzeug zusam-mengebrochen...« Ich überlegte gerade, was ich darauf sagen sollte, als sie noch hinzufügte, »…Aber Mutti, wieso wolltest du denn nach Japan fliegen?«

Sie schnäuzte sich die Nase, was mir ein wenig Zeit gab, mich an die Antwort zu erinnern, die ich mir auf diese Frage zurecht-gelegt hatte.

»Ich hatte schon immer von einer Fernreise geträumt.«»Aber warum gerade Japan?«»Es muss ein schönes Land sein, Kyoto, die Kirschblüte…«Xandra überlegte kurz und sagte dann vorwurfsvoll: »Mutti, es

ist November, da blühen auch in Japan keine Kirschbäume.«

Schon während meiner Reisevorbereitungen hatte ich entschieden, keiner meiner Zwillingstöchter etwas von meinen Plänen zu erzählen. Sie hätten nur versucht mich davon abzuhalten. Oder noch schlimmer: Jede hätte darauf hingearbeitet, mich begleiten zu dürfen, was zu einer Neuauflage ihres ewigen Streites geführt hätte. Auch jetzt noch war ich entschlossen, vorerst alles für mich zu behalten.

Im Bewusstsein, dass Xandra mir nicht glauben würde, führte ich unser Gespräch auf diesem Niveau weiter. Früher oder später würde sie mich mit ihrer Fragerei in Ruhe lassen.

»Aber die Herbstfärbung am Berg Fuji muss wunderschön sein. Weißt du übrigens, dass man auf keinen Fall ›Fujiyama‹ sagen darf? Man nennt ihn ganz einfach nur den Berg Fuji.«

»Fujiyama oder Berg Fuji, das ist doch jetzt völlig egal! – Mutti, wie kommst du darauf, nach Japan fliegen zu wollen, und noch dazu ohne es irgendjemandem zu sagen?« Dann stockte sie kurz. »Oder hast du es jemandem erzählt?«

»Du meinst, ob ich es Sabine erzählt habe?«Xandra sagte gar nichts. Meinem Blick wich sie aus.»Da kannst du beruhigt sein, ich habe es auch deiner Schwester

nicht erzählt, sie weiß noch nicht einmal, dass ich hier bin.«

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»Mutti, ich begreife gar nichts mehr. Und außerdem, hattest du nicht immer schon Angst vor dem Fliegen?«

»Ja, da hast du recht! Das hatte ich unterschätzt. Die Aufregung war sicher auch der Grund für meinen kleinen Schwächeanfall...« Noch während ich eine freundliche Miene aufsetzte, wurde mir klar, Xandra würde es als Zwecklächeln auffassen. »…Daher mache ich mir jetzt auch gar keine Sorgen um meine Gesundheit. Der Arzt meinte übrigens, er könne sowohl einen Schlaganfall als auch Herzprobleme mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.«

Xandra warf mir vor, ich nähme alles auf die leichte Schulter. Dann fragte sie mich noch eine gefühlte Ewigkeit lang nach Sinn und Zweck dieser Japanreise.

Ohne es direkt auszusprechen, hielt mir meine eigene Tochter vor, voll verquerer Ideen zu stecken.

Ich muss zugeben, nur allzu gerne hätte ich ihr alles erzählt, doch dazu wusste ich damals selbst noch nicht genug. Vor allem aber wollte ich nicht noch einen weiteren Keil zwischen die beiden treiben, indem ich Xandra ins Vertrauen zog, während ich Sabine außen vor ließ. Andererseits gefiel ich mir selbst nicht in der Rolle einer Geheimniskrämerin. Schließlich war es genau das, was ich an meiner eigenen Mutter mein Leben lang am allermeis-ten verurteilt hatte.

Daher habe ich nun entschieden, all das aufzuschreiben, worüber meine Mutter früher nie reden wollte und heute nicht mehr kann. Ich will dabei keines der Mosaiksteinchen weglassen, die ich in mühevoller Kleinarbeit ausgegraben habe. All diese Splitter und der Fugenfüller meiner Vorstellungskraft ergeben das Gesamtbild, welches zeigt, was unsere Familie von anderen unterscheidet.

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4Kobe, Japan – 1942

Über die Verwendung der Rekruten wurde einige Wochen nach der Musterung entschieden.

Die Vieraugengespräche am Ende des Verfahrens wurden von einem Oberleutnant der deutschen Vertretung in Tokio geführt. Er hatte für diesen Vormittag nur Vogt und Moosheim einbestellt.

Letzterer wurde zuerst in den kleinen Raum des Hafenamtes gerufen. Es war der gleiche, in dem auch schon die medizinische Untersuchung stattgefunden hatte.

»Karl-Georg Moosheim – Richtig?«»Ja.«»Haben Sie schon eine Vorstellung von dem, was man von

Ihnen erwartet?« Der Offizier, der es nicht für nötig hielt, sich mit Namen vorzustellen, nahm seine Augen kaum vom Dokument, das vor ihm lag. Übergewichtig und mit zerzaustem Haar ent-sprach er kaum dem Bild, das man sich von einem Wehrmachts-offizier machte.

»Mmm, um ehrlich zu sein, nicht wirklich. Ich werde tun, was von mir verlangt wird.«

»Sie sind Bäcker?«»Ja, ich habe sowohl Bäcker als auch Konditor gelernt.«»Und Sie sind in Yokohama geboren?«»Ja, mein Vater hatte dort eine Bäckerei, aber sie wurde 1923

beim großen Erdbeben zerstört.«»Wie ist Ihre Familie nach Japan gekommen?«»Mein Vater ist schon vor dem Weltkrieg nach Tsingtau gezo-

gen. Er hatte dort eine Stelle als Bäcker. Später hat er sich selbständig gemacht.«

»Und dann?«»Als die Japaner im Weltkrieg Tsingtau eingenommen hatten,

wurde er in Japan interniert. Nach dem Waffenstillstand ist er hier geblieben und meine Mutter ist ihm nachgereist.«

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»Dann haben Sie Ihr ganzes bisheriges Leben in Japan verbracht?«

»Ja, ich habe das Land noch nie verlassen.«»Und Sie sprechen Japanisch?«»Ja.«»Können Sie auch lesen und schreiben?« Zum ersten Mal

schaute er Karl-Georg direkt an.»Wir sind auf Dauer hier, und mein Vater hat immer großen

Wert darauf gelegt, dass ich auch lesen und schreiben lerne wie jeder Japaner. Schließlich soll ich irgendwann mal das Geschäft übernehmen.«

»Das trifft sich gut. Ich habe hier eine neue Contax Kamera aus Berlin bekommen. Ein Wunderwerk deutscher Feinmechanik. Man kann sogar die Optik wechseln und mit unterschiedlichen Brennweiten fotografieren. Wir werden sie einem japanischen General schenken. Kleine Aufmerksamkeiten wie diese können für die Zusammenarbeit unserer Armeen nicht hoch genug bewertet werden. Der Führer hat der Kaiserlichen Kriegsmarine gleich ein ganzes U-Boot geschenkt.« Der Oberleutnant griff in seine Tasche und reichte Karl-Georg ein Faltblatt. »Wären Sie bitte so nett, den ersten Absatz ins Japanische zu übersetzen?«

Karl-Georg überflog den Text nur kurz.»Ich denke, ein japanischer General benötigt zum Einlegen

eines Filmes keine spezielle Anleitung.«»Moosheim, ich befürchte…« Der Oberleutnant sprach nun

plötzlich mit durchdringender Stimme und fixierte Karl-Georgs erschrockene Augen mit vorwurfsvollem Blick. »…Ich befürchte, Sie sind mit den Gepflogenheiten beim Militär noch nicht ausrei-chend vertraut. In der Wehrmacht ist ein Befehl ein Befehl, auch wenn ein Offizier ihn in freundlichem Ton äußert! Schreiben Sie sich das für die Zukunft hinter die Ohren.«

»Jawohl.«Ohne aufzublicken nahm er Papier und Stift zur Hand. Wäh-

rend er Zeichen für Zeichen das Blatt füllte, spürte Karl-Georg Moosheim den Blick seines Gegenübers auf sich ruhen.

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»Bitten Sie den Nächsten herein, und warten Sie vorne!«, war alles, was der Oberleutnant sagte, als Karl-Georg den letzten Satz geschrieben hatte.

»Der Moosheim da draußen und Sie, Sie kennen sich?« Der Mann mit dem Stern auf der Schulterklappe verschwendete auch bei Siegfried Vogt keine Zeit für Begrüßungen.

»Ja, wir Deutsche hier in Kobe kennen uns natürlich.«»Was haben Sie gelernt? Hier steht überhaupt kein Beruf.«»Letztes Jahr habe ich in Hamburg mein Abitur gemacht und

bin dann hierher zurückgekommen. Eigentlich wollte ich nur ein halbes Jahr bleiben und dann in Leipzig Jura studieren. Dann ging der Krieg gegen Russland los, und ich konnte mein Studium nicht antreten.«

»Aber aufgewachsen sind Sie hier in Japan, richtig?«»Richtig.«»Und arbeiten Sie etwas?«»Ich unterstütze meinen Vater mit Schreibarbeiten und Über-

setzungen. Er arbeitet als Patentanwalt in Osaka.«»Dann ist Japanisch ja sicher kein Problem.«»Mmm.«»Lesen Sie mir mal vor, was Ihr Freund Moosheim da eben

aufgeschrieben hat und erzählen Sie mir den Inhalt auf Deutsch.«Siegfried Vogt betrachtete die kleinen Schriftzeichen eine Zeit

lang, bevor er langsam und mit leiser Stimme zu sprechen begann. »Beim Einlegen des Filmes muss dieser bis zur Markierung A, siehe Bild 1, aus der Patrone gezogen werden. Es ist darauf zu achten, dass die Zähne der Transportrolle in die Perforation des Filmes greifen. Der Film muss straff über dem Verschluss liegen. Dann kann die Kamerarückwand geschlossen werden. Das Trans-portrad für den Film muss nun…«

»Das genügt«, unterbrach der Offizier ihn schroff. »Jetzt gehen Sie zur Tür und rufen den Moosheim rein.«

»Es ist schon lange kein Militärgeheimnis mehr, dass wir mit der Kaiserlich-Japanischen Armee zusammenarbeiten. So dürfte es

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Ihnen einleuchten, wie wichtig die Kommunikation für den Erfolg unserer Kooperation ist. Nun ist es aber so, dass in Deutschland Übersetzer fürs Japanische nicht an den Bäumen wachsen. Sie werden daher einen Gestellungsbefehl zum OKW erhalten.«

Karl-Georg sah seinen Freund fragend an.»Das Oberkommando der Wehrmacht«, flüsterte dieser.»Das Oberkommando der Wehrmacht!...« lärmte der Oberleut-

nant daraufhin Karl-Georg ins Gesicht. »…Das müsste sich doch auch bis hier herumgesprochen haben. Sie müssen noch sehr viel lernen, Moosheim!«

»Ich werde mich anstrengen«, versprach Karl-Georg kaum hörbar.

Eigentlich neigte Karl-Georg Moosheim nicht zur Schüchtern-heit. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass er einer Familie ent-stammte, die sowohl bei Japanern als auch in der deutschen Gemeinde großes Ansehen genoss. Wie sein Vater Carl war auch Karl-Georg für sein offenes und aufrichtiges Wesen bekannt. Geradlinigkeit war wohl sein herausragendes Charaktermerkmal. Er war der Typ Mensch, der beim Konzert als erster klatschte und den Applaus ins Rollen brachte.

In Gegenwart des Oberleutnants aber fühlte sich Karl-Georg unbedeutend und verletzlich.

»Wenn Sie sich nicht ganz doof anstellen – und das gilt genauso für Sie, Vogt – dann werden Sie sich in diesem Krieg die Stiefel kein einziges Mal schmutzig machen. Und das alles ohne jemals als Offiziersanwärter die Schulbank zu drücken. Einzig und allein weil Sie das Glück hatten, hier aufzuwachsen. Wie der Zufall eben so spielt.« Ein wenig leiser fügte er noch hinzu: »Oder auch die Vorsehung, wie der Führer es nennen würde. Und wenn wir gerade beim Führer sind, dem haben Sie es zu verdanken, dass Sie überhaupt von Japan aus einberufen werden.«

In der Tat hatte Adolf Hitler die Voraussetzungen für den Marschbefehl der beiden Rekruten geschaffen.

Seit Unterzeichnung des Drei-Mächte-Paktes im September 1940 betrachteten sich Japan und Deutschland als Verbündete. Ein

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geheimes Zusatzprotokoll regelte die militärische Zusammen-arbeit. Diese jedoch war von Misstrauen geprägt. So wehrte sich beispielsweise die deutsche Wirtschaft gegen einen Technologie-transfer. Grund dafür war die Angst, Japan könne nach Kriegs-ende durch deutsches Wissen als starker Wettbewerber auftreten. Gleichzeitig verlangte die Marine, dass die an Japan gelieferten Waffen direkt gegen die britischen Kolonien in Ostasien einge-setzt werden sollten.

Ein halbes Jahr nach Vertragsunterzeichnung sprach schließlich der Führer selbst ein Machtwort. In einer Weisung forderte er nachdrücklich, Japan mit allen verfügbaren Mitteln zu unterstüt-zen. So kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion wollte er Japan nicht verärgern. Hitler hoffte, Japan werde mit der Kwantung-Armee vom Vasallenstaat Mandschukuo aus in Sibi-rien einfallen und so die Sowjetunion zu einem Zweifrontenkrieg zwingen. Japan aber tat das nicht, sondern griff Pearl Harbour an und überrannte weite Teile Chinas sowie Südostasiens. Jetzt war es Japan, das der Zusammenarbeit mit Deutschland nicht mehr die höchste Priorität einräumte. Zum einen war man nach dem Spionagefall des Richard Sorge noch misstrauischer geworden gegenüber allen Ausländern, auch gegenüber den Verbündeten. Zum anderen machte sich nach ersten Kriegserfolgen ein noch überheblicherer Nationalismus breit.

Die japanische Kriegsführung war beseelt vom Ehrenkodex der Feudalzeit, vom Geist des Bushido. Das Ideal jedes kaiserlichen Soldaten war es, alle Härten zu erdulden und mit möglichst einfa-cher Ausrüstung nur durch Heldenmut einen technisch überlege-nen Feind zu besiegen.

Am Ende jedoch wurde meist der Pilot der langsameren und weniger wendigen Maschine abgeschossen, ganz gleich wie mutig er sein Flugzeug steuerte, egal wie hoch seine patriotischen Gefühle flogen. Die Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts war ein-fach nicht mehr das Zeitalter der Samurai. Ein Krieg konnte nicht länger allein durch Disziplin gewonnen werden. Über Sieg und Niederlage wurde nicht zuletzt in den Konstruktionsabteilungen

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der Waffenschmieden entschieden. Japan hatte zu lange auf Ideologie statt auf Technologie gesetzt.

Diese Einsicht setzte sich nach der ersten amerikanischen Bombardierung Tokios am 18. April 1942 auch in den höchsten japanischen Militärkreisen durch. Spätestens nach der verlorenen Schlacht um Midway sechs Wochen später gelangten die Generäle zur Erkenntnis, dass eine schnelle Modernisierung aller Waffen-gattungen erfolgen müsse. Es war unübersehbar, dass dies nur mit Unterstützung Deutschlands möglich war. Bis zum August des gleichen Jahres nahmen die Forderungen Japans an den Bündnis-partner extrem zu. Selbst Hiroshi Ōshima, dem japanischen Bot-schafter in Berlin, wurde klar, dass sie unrealistisch waren. Durch den Krieg an der Ostfront benötigte Deutschland nun selbst mehr Waffen und Munition als es produzieren konnte. Hinzu kam das Transportproblem.

Anfangs konnten die Lieferungen noch über die Transsibirische Eisenbahn abgewickelt werden. Seit Sommer 1941 mussten dann Blockadebrecher eingesetzt werden. Ab dem folgenden Jahr aber führte die verbesserte Funkaufklärung auf Seiten der Alliierten dazu, dass immer mehr dieser Frachtschiffe versenkt oder zur Umkehr gezwungen wurden. Es blieben nur noch die begrenzten Transportkapazitäten der Unterseeboote.

Trotz allen Misstrauens und der Logistikprobleme unternahm Deutschland größte Anstrengungen, Japan bei der Modernisierung seiner Militärmaschinerie zu unterstützen. Es war der Wehr-machtsführung klar, dass der Verbündete nur mit einer schlag-kräftigen Armee den Amerikanern Verluste beibringen konnte. Solange amerikanische Einheiten im fernen Osten gebunden waren, würden sie sich nicht gegen Deutschland richten. Es ging Hitler darum, sich möglichst lange den Rücken freizuhalten.

Vor diesem Hintergrund erhielt Siegfried Vogt im November 1942 seinen Marschbefehl. Er sollte sich drei Tage später beim deutschen Marinesonderdienst im Hafenbüro melden. Gemein-sam mit einigen Angehörigen der deutschen Kriegsmarine fuhr er

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auf einem japanischen Handelsschiff ins Ungewisse. Karl-Georg Moosheim blieb zunächst in Kobe. Einerseits war er froh über jeden Tag, der verstrich, ohne dass er hätte in den Krieg ziehen müssen. Andererseits aber wuchs in ihm die Angst, für ihn könne ein anderer Auftrag oder ein noch gefährlicherer Transportweg vorgesehen sein. Diese Befürchtung sollte schon bald neue Nahrung erhalten.

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5Schwarzwald – 2006

Moosheim. Dieser Name war das erste Puzzleteil, das ich völlig unerwartet fand, lange vor meinem ersten Versuch nach Japan zu fliegen. Es geschah kurz nach meinem sechzigsten Geburtstag. Noch immer brannte der Wunsch in mir, etwas über meinen Vater zu erfahren. Nichts über ihn zu wissen, hatte mich seit frühester Kindheit geprägt. Wenn ich nur seinen Namen gekannt hätte! Wenn ich gewusst hätte, an welcher Front er gefallen war. Ich hätte mir zumindest in meinen Träumen die Illusion einer ganz normalen Familie mit Vater, Mutter, Kind schaffen können.

Ist es nicht so, dass Kinder wissen wollen, wo die kleinen Babys herkommen? Ich erinnere mich nicht, diese Frage je gestellt zu haben. Eigentlich wollte ich immer nur wissen, wo mein Vater herkam, vielmehr noch, was mit ihm geschehen war.

»Viele Väter sind nicht aus dem Krieg zurückgekehrt«, war die Standardantwort meiner Mutter. Immer folgte darauf der Hinweis, dass sie mich alleine hatte durchbringen müssen. Es sei ja alles zerstört gewesen. Sie habe ja nichts gehabt. Bauschutt habe sie weggeräumt, um zu überleben, damals in Augsburg. Ich solle mich lieber freuen, dass es uns nun so gut gehe. Der Krieg sei vorüber. Man müsse einfach vergessen, was geschehen war.

Als ich langsam erwachsen wurde, glaubte ich aus Mutters Worten etwas herauszuhören, was es mir fortan unmöglich machte, sie weiter mit meinen Fragen zu quälen. Dennoch wartete ich immerzu darauf, Mutter würde von sich aus dieses Thema ansprechen. Ich hoffte immer, mein Verdacht, Vater hätte uns ein-fach sitzen lassen, sei unbegründet. Manchmal plagte mich sogar die Angst, ich hätte meine Existenz einer Gewalttat zu verdanken. Mein Leben lang wünschte ich mir, diese nagende Ungewissheit abzulegen.

Die Hoffnung, jemals etwas zu erfahren, schwand im gleichen Maße, in dem sich die Krankheit meiner Mutter verschlimmerte.

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Es waren nicht die sich wiederholenden Dialoge, bei denen offensichtlich wurde, wie Mutter das Sekunden zuvor Gesagte bereits wieder vergessen hatte. Es war auch nicht das ständige Fragen nach Uhrzeit und Wochentag. Nein, viel früher schon, als noch kein Außenstehender etwas bemerken konnte, war es Mutter selbst, die die Veränderungen wahrnahm, welche sich tief in ihr abspielten. Immer häufiger jammerte sie über ihre Vergesslich-keit. Anfangs dachte ich, sie kokettiere mit ihrem Alter, da sie im gleichen Ton auch lamentierte, dauernd tue ihr etwas weh, und alles heile viel langsamer als früher.

War das nicht die Art, in der alle alten Leute immer klagten?Bald schon aber wurden die Symptome offensichtlich. Irgend-

wann konnte auch ich mich nicht länger blind stellen. Ein paar Jahre noch hatte ich Mutter ermöglicht, in ihrer Wohnung zu blei-ben. Bis zu jenem Sommerabend, an dem mich die Polizei anrief: Ich solle Mutter auf dem Revier abholen.

Was war passiert?Man hatte sie auf einer Baustelle aufgegriffen. Mutter hatte

frisch verlegte Klinkersteine aus der Wand gelöst und versucht, den Mörtel abzukratzen. Seither lebt sie im Heim.

Beim Ausräumen ihrer Wohnung entdeckte ich dann eine braune Schachtel mit abgewetzten Ecken. Nie zuvor hatte ich sie gesehen. Neben jeder Menge Krimskrams enthielt sie eine Tuschezeich-nung. Das Papier verströmte einen Duft, der in mir ein ganz bestimmtes Gefühl weckte, so als stünde ich im alten Schreibwa-renladen neben dem Restaurant ›Kanone‹. Auf einmal war mir, als kaufte ich wieder Tintenpatronen und Schulhefte. Damals, als ich mich noch Lisa nennen ließ. Als man in A5-Hefte schrieb, und sie noch einen Bogen grobfaserigen Löschpapiers enthielten.

Das gleiche Format hatte auch diese Zeichnung. In meinen Händen fühlte sich das Papier edel an. Mit seiner rauen Oberflä-che erinnerte es an handgeschöpftes Büttenpapier. Es war fest und hatte nicht den leichtesten Knick. Das darauf abgebildete Haus stand in einer hügeligen Landschaft mit Feldern und Laubwäldern. Alles war nur mit wenigen Strichen angedeutet, vermittelte aber

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eine selten gesehene Lebendigkeit. Ich glaubte fast, das Rauschen der Pappeln zu hören. Pappeln die ihre langen schmalen Schatten dort warfen, wo meine Phantasie einen Bachlauf vermutete, dort gleich hinter dem barocken Garten. Der Künstler hatte wahr-scheinlich nur deshalb alles aus der Sicht eines Vogels gezeichnet, um auch bei der Ausgestaltung der Blumenbeete und Gartenwege die gleiche Liebe einbringen zu können wie beim Haus selbst. Villengleich, wenn auch nicht übermäßig groß, wurde dieses von einem steilen Walmdach dominiert. Lange betrachtete ich das wunderschöne Gebäude und stellte mir vor, der von stattlichen Bäumen verdeckte Eingang wäre von Säulen flankiert. Ich war so gefesselt von diesem Bild, dass ich mich zunächst gar nicht fragte, wer es gezeichnet haben könnte und warum es sich im Besitz meiner Mutter befand. Erst nach einer Weile kam ich auf die Idee, es umzudrehen.

›Unser Häuschen‹ stand da in hübscher Schreibschrift, von einem Kranz kleiner Rosen umgeben. Und weiter unten noch etwas kleiner: ›Gezeichnet im Kriegsjahr 1944 und Gretel Stelker zugeeignet von Karl-Georg Moosheim.‹

Karl-Georg Moosheim? Könnte dieser Karl-Georg Moosheim mein Vater gewesen sein? War er auch der junge Mann in Wehr-machtsuniform auf der Schwarzweißfotografie, die ich ebenfalls in der Schachtel fand? Wenn dem so war, dann wusste ich nun auch, wem ich meine großen Ohren zu verdanken hatte. Dieser Gedanke amüsierte mich ein wenig, als ich die Gesichtszüge die-ses Fremden in mich aufsog.

Aber was hatten die alten Unterlagen zu bedeuten, die zuunterst im Karton lagen? Es ging darin um die Verschiffung von 560 kg Uran und hunderter anderer Dinge. Frachtpapiere, die in keinem Bezug zu meiner Mutter zu stehen schienen. Auf dem graubraun vergilbten Umschlag befand sich eine aufgestempelte Verteiler-liste voller Abkürzungen. Hinter einer davon stand der schwer zu lesende Vermerk ›Moosheim, zur Übersetzung und Weiterl. an Maj. Kigoshi, Jap. Vertretung‹.

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»Frag doch deine Mutter, wer dieser Karl-Georg Moosheim ist«, kommentierte Anna Holzer, der ich schon am nächsten Morgen im Laden von meinem Fund erzählte. Anna und ich teilten uns tagtäglich die Enge hinter der Ladentheke.

»Meinst du? – Sie hat mir sechzig Jahre lang nichts über mei-nen Vater erzählt, nannte weder seinen Namen, noch wo er her-stammte und schon gar nicht, was sich vor meiner Geburt zuge-tragen hat. Warum sollte sie jetzt sprechen? Und außerdem ist sie krank.«

»Vielleicht erinnert sie sich ja, sobald sie den Namen hört. Vielleicht hat sie inzwischen vergessen, dass sie nicht darüber reden will.«

Einen Moment lang war ich versucht, Annas Vorschlag ernst zu nehmen.

»Was, wenn sie dann direkt einen Herzanfall bekommt? – Anna, nein das kann ich nicht!«

»Elisabeth, dein ganzes Leben schleppst du nun schon diese Frage mit dir herum. All die Jahre über hast du nie mit der Faust auf den Tisch geschlagen. An deiner Stelle würde ich auf mein Recht beharren, die Antwort zu erfahren.«

»Mag sein. – Andererseits ist es jetzt einfach zu spät dafür.«Annas Blick verriet ein Gefühl des Mitleids. Aber ich war mir

nicht sicher, ob es der Situation galt oder ob sie mich meiner Schwäche wegen bedauerte.

Vor der Kundschaft konnten wir nicht weiter über dieses Thema reden. Erst als es wieder etwas ruhiger wurde, griff Anna von sich aus den Faden erneut auf. »Nun, du kennst also seinen Namen und weißt, dass er außergewöhnlich gut zeichnen konnte.«

»Und er war in der Wehrmacht«, ergänzte ich, während ich einige vorbestellte Pasteten verpackte.

»Ja, er war in der Wehrmacht. 1944 war das für einen jungen Mann nicht wirklich ungewöhnlich. Alles zusammengenommen ist das nicht gerade viel.«

»Ist mir klar. Aber bisher wusste ich gar nichts, und vielleicht ist das Wenige ein guter Anfang.«

Eine Zeit lang sagte keine von uns etwas.

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»Am besten fragst du einen Ahnenforscher, was es mit diesen paar Infos für Möglichkeiten gibt.«

»Ahnenforscher?...« Ahnenforscher, das waren für mich alte Männer mit grauem Haarkranz um die hohe, glänzende Stirn. Sie versuchten in muffigen Pfarrhauskellern durch die schmalen Glä-ser ihrer Lesebrillen zu entziffern, was längst verstorbene Dorf-priester in irgendwelche Kirchenbücher gekritzelt hatten. »…Ich will keine Ahnenforschung betreiben. Was interessieren mich meine Vorfahren? Ich will nur wissen, wer mein Vater war.«

»Ist das nicht das Gleiche?«Ich dachte kurz nach, doch Anna kam mir zuvor.»Wenn dieser Karl-Georg Moosheim schon in jungen Jahren

gefallen sein sollte, dann musst du nicht nur nach ihm suchen, sondern auch nach seinen Eltern, Großeltern und vor allem nach seinen Geschwistern. Vielleicht leben diese ja noch oder zumin-dest deren Kinder. Nur so kannst du erfahren, wer er war und ob du wirklich seine Tochter bist.«

Mich an den Strohhalm namens Moosheim klammernd, freun-dete ich mich langsam mit dem Gedanken an, ihren Vorschlag aufzunehmen. Allerdings hatte ich nicht den blassesten Schimmer, wie ich vorgehen sollte. Mir war natürlich klar, ich konnte nicht einfach der Reihe nach alle Kirchenbücher Deutschlands durch-blättern und dabei hoffen, früher oder später auf den Namen Karl-Georg Moosheim zu stoßen.

Andere kannten Geburtsdaten und Wohnorte ihrer Eltern und Großeltern. Sie konnten sich von da aus am Zeitstrahl der Geschichte zurückhangeln. Gelangten sie väterlicherseits an einen toten Punkt, würden sie eben in der mütterlichen Linie weitersu-chen. So oder so ähnlich stellte ich mir das vor, was man als Ahnenforschung bezeichnete. Bei mir lag der Fall aber ganz anders. Ich hatte nur eine Frage, aber so gut wie keinen Anhalts-punkt.

Kurz gesagt, ich machte mir keine großen Hoffnungen. Daher war ich auch nicht auf das vorbereitet, was ich bei meiner Suche schon bald herausfinden sollte.

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