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226 E. Lehnhardt: 43. E. Lehnhardt (tIannover): ])as audiologische Bild der psycho- genen Schwerhiirigkeit Lfischer hat die Symptomatik der psychogenen SchwerhSrigkeit schon 1955 so anschaulich geschildert, da6 es kaum verst~ndlieh er- scheint, warum dieses Krankheitsbild auch heute noch in den differen- tialdiagnostischen ~Jberlegungen zumeist fehlt und warum es als noch nicht genfigend definiert gilt. Die Definitionsschwierigkeiten betreffen insbesondere die Abgrenzung gegen die aggravierte bzw. simulierte Sehwerh6rigkeit; sie sind so grol3, dal3 im angels~chsischen Schrifttum psychogene und aggravierte I-I6rstiirungen zusammen unter dem Begriff der funktionellen Schwerh6rigkeit abgehandelt werden. Wir haben in den letzten Jahren 7 Patienten beobachtet, bei denen zum mindesten der gr6i~te Toil ihrer Schwerh6rigkeit psychogen ent- standen war. Einer yon ihnen, ein 58j~hriger Fabrikarbeiter (Kurt B., 17.05.1914) war yon einem erfahrenen Gutachter wegen berufsbedingter, beidseits mittelgradiger Schwerh6rigkeit als um 30% in seiner Erwerbsf~higkeit gemindert eingeseh~tzt worden, ein halbes Jahr sp~ter sogar um 400/0 . Diese schnelle Versehlechterung war der Anla6 zur Begutachtung in unserer Klinik. Die Tonschwelle lag um 80 dB, der H6rverlust ffir Zahlen bei 40 dB bzw. 45 dB; Flfisterspraehe wurde nicht verstanden, Umgangssprache aus 0,2 bzw. 0,3 m Entt~ernung. Die Unterhaltung war jedoch nieht gestSrt, der Patient verstand und antwortete prompt, der SISI-Test ergab 0~ und aus dem Geri~uschaudiogramm h~tte man eine patho- logisehe Verdeckbarkeit ablesen k6nnen. Die Befunde waren innerhalb von 5 Monaten konstant, der Patient betonte zwar immer wieder, schwerh6rig zu sein, er demonstrierte aber keine SchwerhSrigkeit. Die Simulationstests wie Barany-Leseversuch und Lee-Test waren positiv, und auch die normale Mittelohrmuskel- Reflexschwelle hgtte als Zeichen der Aggravation gewertet werden kSnnen (Abb. 1). Nur das B6k6sy-Audiogramm ergab keinen Typ V, wie ihn Dieroff (1967) als charakteristisch ffir die Aggravation erkannt hatte. WKhrend nKmlich beim organisch SchwerhSrigen immer die Impulstonschwelle fiber der Dauertonsehwelle liegt, kehrt der Aggravant diese l~elation um; or schreibt die Dauertonschwelle fiber der Impulston- schwelle, weil ihm der Dauerton lauter erseheint under nach der sub- jektiven Lautheit urteilt. Der psychogen Schwerh6rige jedoeh will nicht betrfigen, er unterdrfickt vielmehr unbewul~t die H6rwahrnehmung, und or sehreibt im B6k6sy-Audiogramm so wie es der organisch Schwerh6rige tut~ n~mlich oben die Impulstonkurve und unten die Dauertonkurve;

Das audiologische Bild der psychogenen Schwerhörigkeit

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226 E. Lehnhardt:

43. E. Lehnhardt ( t Iannover): ])as audiologische Bild der psycho- genen Schwerhiirigkeit

Lfischer hat die Symptomat ik der psychogenen SchwerhSrigkeit schon 1955 so anschaulich geschildert, da6 es kaum verst~ndlieh er- scheint, warum dieses Krankheitsbild auch heute noch in den differen- tialdiagnostischen ~Jberlegungen zumeist fehlt und warum es als noch nicht genfigend definiert gilt. Die Definitionsschwierigkeiten betreffen insbesondere die Abgrenzung gegen die aggravierte bzw. simulierte Sehwerh6rigkeit; sie sind so grol3, dal3 im angels~chsischen Schrifttum psychogene und aggravierte I-I6rstiirungen zusammen unter dem Begriff der funktionellen Schwerh6rigkeit abgehandelt werden.

Wir haben in den letzten Jahren 7 Patienten beobachtet, bei denen zum mindesten der gr6i~te Toil ihrer Schwerh6rigkeit psychogen ent- s tanden war.

Einer yon ihnen, ein 58j~hriger Fabrikarbeiter (Kurt B., 17.05.1914) war yon einem erfahrenen Gutachter wegen berufsbedingter, beidseits mittelgradiger Schwerh6rigkeit als um 30% in seiner Erwerbsf~higkeit gemindert eingeseh~tzt worden, ein halbes Jahr sp~ter sogar um 400/0 . Diese schnelle Versehlechterung war der Anla6 zur Begutachtung in unserer Klinik.

Die Tonschwelle lag um 80 dB, der H6rverlust ffir Zahlen bei 40 dB bzw. 45 dB; Flfisterspraehe wurde nicht verstanden, Umgangssprache aus 0,2 bzw. 0,3 m Entt~ernung. Die Unterhaltung war jedoch nieht gestSrt, der Pat ient verstand und antwortete prompt, der SISI-Test ergab 0~ und aus dem Geri~uschaudiogramm h~tte man eine patho- logisehe Verdeckbarkeit ablesen k6nnen.

Die Befunde waren innerhalb von 5 Monaten konstant, der Pat ient betonte zwar immer wieder, schwerh6rig zu sein, er demonstrierte aber keine SchwerhSrigkeit. Die Simulationstests wie Barany-Leseversuch und Lee-Test waren positiv, und auch die normale Mittelohrmuskel- Reflexschwelle hgtte als Zeichen der Aggravation gewertet werden kSnnen (Abb. 1). Nur das B6k6sy-Audiogramm ergab keinen Typ V, wie ihn Dieroff (1967) als charakteristisch ffir die Aggravation erkannt hatte. WKhrend nKmlich beim organisch SchwerhSrigen immer die Impulstonschwelle fiber der Dauertonsehwelle liegt, kehrt der Aggravant diese l~elation um; or schreibt die Dauertonschwelle fiber der Impulston- schwelle, weil ihm der Dauerton lauter erseheint u n d e r nach der sub- jektiven Lautheit urteilt. Der psychogen Schwerh6rige jedoeh will nicht betrfigen, er unterdrfickt vielmehr unbewul~t die H6rwahrnehmung, und or sehreibt im B6k6sy-Audiogramm so wie es der organisch Schwerh6rige tut~ n~mlich oben die Impulstonkurve und unten die Dauertonkurve;

Das audiologisehe Bild der psyehogenen Sehwerh6rigkeit 227

Frequenz in kHz 0,125 0,25 0,5 1,5 2 3 4 6

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m 3c

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~ 6c >* 7c

:~ 8( :~ 9C

10( 11C

L 0 o

Rechtes Ohr

12 Ger~usch

~ 1 1o

20 30

40 50

60

7o 8o dB

WEBER bei 500Hz

Frequenz kHz 0A25 0,25 0,5 1 1,5 4 6 8 12

,z- i t I / / ,

, %

lo0

SlSlfU~ldSinv~ I I I ' 1 Iol '1'1 I ' t L i n k e s O h r

Abb. 1. Pat. Kurt B., 17.5.1914. Tonschwelle und akustische Impedanz~nderungs- schwelle (A--A) stimmen fast fiberein. Ger~uschschwelle etwa gleich Tonschwelle

bei 1000 ttz, SISI bds. = 0~

beide Kurven aber -- und das seheint das Typisehe ffir den psyehogen Sehwerh6rigen zu sein -- sinken sehnell und eindeutig ab (Abb. 2).

Diesen eigenartigen B6k6sy-Befund land ieh in der Literatur bislang nur einmal erw/~hnt, n/imlieh bei Miller, Cody u. Griffing (1969). Dort werden 2 F~lle gesehildert, deren 8ehwerh6rigkeit Folge einer multiplen Sklerose bzw. eines Hirnstamminfarkts gewesen sein soll; in beiden Fallen war aueh eine ,,niehtorganisehe" Sehwerh6rigkeit diskutiert worden. Wit haben bei Patienten, die naeh unserer Definition als hirnstamm- sehwerh6rig zu deklarieren waren -- die also eine neurale Sehwerh6rig- keit hatten, bei denen die Mittelohrmuskelreflexe erhalten und eventuell die diehotisehe Diskrimination gest6rt war -- nieht dieses kongruente Absinken yon Impuls- und Dauertonkurve im B6k@y-Test gesehen.

Die iibrigen 6 yon uns beobaehteten F/~lle einer psyehogenen Sehwer- h6rigkeit zeigten ganz /~hnliehe klinisehe Bilder (Abb. 3). Aus den Ana- mnesen ist vor allen Dingen die Patientin Hildegard K. erw~hnenswert; sie bat tele/onisch um einen Untersuehungstermin in der Poliklinik, weil sie ,self 10 Tagen taub, vSllig taub" sei. Tats~tehlieh sehien sie naeh dem Tonsehwellenaudiogramm praktiseh taub zu sein, sie unterhielt sieh aber mit uns und konnte -- wie erw/~hnt -- aueh unbehindert telefonie- ren. Vor 8 Jahren war sie wegen neurologiseher Symptome ,,funktioneller Genese" behandelt worden. Der Grund dafiir, da6 die funktionellen St6rungen jetzt das Ohr betrafen, ist vielleieht darin zu sehen, dab die HIqO-Poliklinik wenige Tage zuvor in unmittelbarer Naehbarsehaft ihres Arbeitsplatzes er6ffnet worden war.

Der eingangs gesehilderte Patient Kur t B. hatte befiirehtet, bei bevorstehenden RationalisierungsmaBnahmen entlassen zu werden. Als berufsbedingt Sehwerh6riger hoffte er bleiben zu kSnnen oder doeh

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228 E. Lehnhard t :

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230 E. Lehnhardt: Des audiologische Bild der psychogenen SchwerhSrigkeit

mindes tens eine Ren te zu erhalten. D a e r seit 13 J a h r e n im L~rm arbei te t ,

war er sieher ~ueh sehwerhSrig, jedoch nur im Hoeh tonbere ieh und n]eht

fiber alle F requenzen ann~hernd taub.

DaB t ro t zdem diese Pa t i en ten nicht simulieren, ve rs teh t nur der-

jenige, der sic e inmal erlebt ha t ; sie begehren nicht Vorteile, sondern

beffirchten Naehtei le . Die psychische StSrung ist keine Begehrensneurose,

sondern eine Beffirchtungsneurose. Die Pa t i en ten geben bereitwil l ig

alle Auskfinfte und sind bem/iht , bei den audiomet r i schen Tests mit-

zuarbei ten. D~s Unte rha l tungsgehSr ist k a u m oder gar n icht beh inder t ;

die SchwerhSrigkei t besehr~nkt sieh ~uf die ItSrtestsituation und ist zumeis t erhebl ichen Grades. Die Abgrenzung der unbewufi ten psycho-

genen H6rs t6rung (nieht Schwerh6rigkeit) gegen die bewuBte Aggrava-

t ion ist mi t Hilfe des kongruenten Absinkens yon Impuls- und Dauer ton-

kurve im B6k~sy-Audiogramm mSglieh.

Literatur beim Ver/asser

H. Feldmann (Heidelberg) : Ieh kann die Beobaehtungen yon Herrn Lehnhardt bestgtigen, wenn auch nicht anhand von B6k6sy-Audiogrammen. Wenn man bei der einfachen Audiometrie eine unerw~rtete schleehte Schwelle findet, bemfiht man sich, die Werte bei wiederholten Prfifungen zu verbessern. Bei Simulanten gelingt des in der Regel; man kann den Simulanten iiberzeugen, dab er doeh besser hSrt, als er zun/ichst angegeben hat. Bei der echten bewuBtseinsfernen psychogenen SehwerhSrigkeit wird die Schwelle dagegen w~Lhrend der Messung und bei wieder- holten Versuchen immer sehlechter bis zur Leistungsgrenze des Audiometers. Des deckt sieh mit der yon Herrn Lehnhardt gezeigten Schwellenabwanderung im B6- k6sy-Audiogramm. In diesem Unterschied liegt eine gute MSglichkeit der Differen- tialdiagnose zwischen Simulation und psychogener HSrstSrung.

H. Chiiden (Miinchen): Wir haben einen ~hnliehen Fall untersuchen kSnnen. Auch diese Patientin gab eine an Taubheit grenzende SchwerhSrigkeit an, bei ~hnlichen Befunden wie Sie sie eben beschrieben haben. Mit der EEG- Audiometrie konnten wir schwellennahe Potentiale bis 2000 Hz bekommen, doch waren im Hochtonfrequenzbereieh evozierte Potentiale nicht zu summieren. Dieses wiirde Ihrer Vermutung entsprechen, dab nicht eine l~ormalhSrigkeit bei den psychogenen SchwerhSrigkeiten vorliegt, sondern ein eingeschr~nktes HSrvermSgen besonders im Hochtonbereich.

E. Lehnhardt (Hannover), SchluBwort: Zu Herrn Feldm~nn: Tats~ehlich be- merkt man bei psychogen ttSrgestSrten w~hrend der iibliehen Tonsehwellenmessung, dab die HSrsehwelle immer wieder absinkt, in der gleichen Weise wie man es auch bei Acusticusneurinomen beobaehtet. Allgemein wird aber die Tonschwelle mit einem Dauerton gemessen, auch weil man sonst dieses Ph~nomen bei Acusticus- neurinomen nicht erfassen wfirde, bei denen die HSrschwelle nur fiir DauertSne absinkt. Bei den psychogen HSrgestSrten sinkt die HSrschwelle aber aueh w~hrend der Schwellenmessung mit Tonimpulsen ab, eben weiles sieh nicht um eine organi- sche Ermfidung, sondern nur um eine unbewuBte Unterdriickung der HSrwahr- nehmung h~ndelt.

It. Chfiden: Anderung der Herzfrequenz auf einen akustisehen Reiz 231

Zu Herrn Chiiden: Mit ttilfe der frfihen oder spEten ERA-Potentiale kann man tatsEehlieh bei psychogen H6rgest6rten den organischen Schwerh6rigkeitsgrad bestimmen. Zur Diagnose der psyehogenen Komponente aber were wahrscheinlich die Registrierung des Gleichstrompotentials der Hirnrinde notwendig, insofern als anzunehmen ist, dab nur dieses Potential fehlt, w~hrend die Wechselstrompotentiale vorhanden sind. Bei der Aggravation oder Simulation mfiBte dann auch das Gleich- strompotential entsprechend dem tatsEehliehen H6rverm6gen registrierbar sein.

Zu tterrn Tolsdorff: Meines Erachtens kann man die Diagnose der psychogenen H6rst6rung auch gutachterlieh verwenden, zumal ffir die Patienten kein Nachteil erwEchst. AuBerdem begehren diese Patienten keine Rente. Uberhaupt sollte man dem Befund nicht zuviel Beachtung schenken, da auch keine wesentliche Behinde- rung in der Schule, im Leben oder im Beruf besteht.

44. 0. v. Arentssehild und B. Poehhammer (a. G.) (Berlin) : Reihen- audiometrie in Sonder-(Hilfs-)Schulen mit konservierter Spraehe

Manuskript nieht eingegangen.

45. H. Chiiden (Miinchen) : Die J~nderung der Herzfrequenz auf einen aknstisehen Reiz, eine audiologische Priifmethode

Zusammen/assung An fiber 150 normalh6rigen Kindern bis 10 Jahre wurden Messungen

der Herzfrequenziinderung auf einen akustisehen Reiz im Waeh- und Sehlafstadium vorgenommen. Die Genauigkeit der Methode, besonders bei Kleinkindern im Schlaf unter Sedierung, ist im schwellennahen Be- reich mit fiber 80 ~ sehr gut. Die Methode ist einfaeh durchzuffihren und stellt keine besonderen Anforderungen an das technische Hilfspersonal. Die speziell entwickelte Apparatur wird besehrieben und die Auswertung der Ergebnisse erliiutert.

Die Herzfrequenzi~nderung auf einen akustisehen Reiz wurde von Neurologen, P/~diatern und Physiologen (s. Lit.) untersucht, land aber bisher keinen Eingang in die klinische Anwendung objektiver audiologi- seher Untersuchungsmethoden. Es wurde deshalb ein ffir die klinische Untersuchung geeigneter MeBapparat (Fa. Sehwarzer GmbH, Mfinchen) entwiekelt, der es erm6glicht, ~uch bei kleinen Kindern mit hohen I-Ierz- frequenzraten Messungen durchzuffihren.

Die Innervation des tterzens wird durch die antagonistische Wirkung der parasympathischen und sympathisehen Nerven bewirkt. Eine Frequenzsteigerung des Herzens kann sowohl dutch eine Zunahme des Sympathieustonus wie durch eine Abnahme des Vagustonus ausgel6st