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Das Geheimnis der Sphinx · Gerade bei Heraklit schlug sich das Nachdenken über das ständige Werden und Vergehen und die mannigfachen Gegensätze in der sinnlich wahrnehmbaren Welt

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  • Das Geheimnis Simone Stefanie Klein

    Philosophieren im Geist der Rätseldichtung

    der Sphinx

  • Über dieses Buch

    Das Rätsel gehört zu den ältesten sprachlichen Ausdrucksformen und hat einiges gemeinsam mit der Form des Philosophierens, wie es zu Zeiten der antiken Weisen betrieben wurde. Daher erläutert die Autorin im Sinne Nietzsches als Philosophin der Zukunft zunächst die Rolle des Rätsels als Sprach- und Erkenntnisform, um der Leserschaft im zweiten Teil Gelegenheit zu geben, sich in die Rätsellyrik von 4 Autorinnen des 19. Jh. und einige der Aenigmatias des Philosophen Franz Brentano hineinzudenken. Der finale dritte Teil widmet sich den wichtigsten gestalterischen Aspekten der Philosophie im Geist der Rätseldichtung, die man in Bekräftigung Wittgensteins eigentlich nur mehr dichten dürfte.

    Die Autorin

    Die Philosophin Simone Stefanie Klein plädiert als Schöpferin von literarischen

    Texten für ein organisches Schreiben. Sie konstruiert kein Gerüst, um dann eine

    Abhandlung niederzuschreiben, sondern lässt ihre Sprachgeschöpfe langsam

    wachsen. Denkend und schreibend pflegt sie mit ihrem Geschöpf den Dialog, bevor

    sie es – angemessen eingekleidet – mit der Leserschaft in Verbindung treten lässt.

    1. Auflage, 2015

    Verlag edition libica, 1100 Wien • www.libica.org

    lektorat Jessica Shields, Deborah Rosati

    grafik & gestaltung Simone Stefanie Klein

    Druck Books on Demand GmbH, Norderstedt

    isBn 978-3-9503701-8-8

    Dieses Buch sei meiner Mutter gewidmet, die mich mit ihrer praktischen Weisheit immer wieder zum Staunen bringt!

  • A Proömium

    Vorbemerkungen zur Philosophie der Zukunft als Wille zum Rätsel 1Symposion Ainigmatikos: Ein dramatisches Fragment 7

    B Ratio & Rätsel

    Vom Philosophieren im Geist der Rätseldichtung Ein Versuch jenseits von Gut und Böse 19

    Γ Nur zugeraten!

    Vorbemerkungen 47 Ida Hoffmann: Kopfnüsse 50 Elise Sommer: Charaden 53 Karoline Pichler: Logogriphen 60 Paula Dehmel: Allerlei Rätsel 64 Franz Brentano: Aenigmatias 71

    Δ Die Rätselakademie

    Über die Analyse und Synthese von Rätseln: Eine Versuchung 79Was macht ein Rätsel zu einem Rätsel? 81Das Rätsel der Philosophie der Zukunft und die Philosophie der Zukunft als Rätsel 90Homonyme: Rätsel im Spannungsfeld von Wort und Bedeutung 95Widerspruchsrätsel und „dialektisches Denken“  101Wenn Kreter lügen, dann sind Menschen Gras 107Zusammenfassung und Ausblick 114

    Ε Anhang

    Lösungen zu den Rätseln 117 Annotiertes Literaturverzeichnis 120

    Inhalt

  • Schaubild 1 Die Philosophie der Zukunft als Wille zum Rätsel: Im Rätsel als Sprachform kommen sinnliche Erfahrungen und Einsichten zum Ausdruck, die das prozessorientierte dialektische Denken, das beziehungsorientierte analogische Denken und das metapara-doxale Denken fordern und damit die konventionelle Logik, das Identitätsprinzip und die Begriffslastigkeit der herkömmlichen abendländischen Philosophie in Frage stellen.

  • Α • αβγδεζηθικλμνξοπρστυφχψω

    Proömium

    Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen.

    So wie ich sie errathe, so wie sie sich errathen lassen — denn es gehört zu ihrer Art, irgend worin Räthsel bleiben zu wollen —,

    möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser

    Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.

    Nietzsche: JeNseits voN Gut uNd Böse, 42 1

    Ich glaube meine Stellung zur Philosophie dadurch zusammengefaßt zu haben, indem ich sagte:

    Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten.

    WittGeNsteiN, vermischte BemerkuNGeN 1933 – 1934 2

    Vorbemerkungen zur Philosophie der Zukunft als Wille zum Rätsel

    Als Verlegerin philosophischer und literarischer Werke befasse ich mich naturgemäß mit vielen Spielarten der Dichtkunst, Rätselgedichte sind mir jedoch seit den Kindertagen nicht mehr untergekommen. Erst als mir vor nunmehr zwei Jahren eine Antiquarin die Rätselsammlung Aenigmatias von Franz Brentano ans Herz legte, wurde ich wieder dieses Stiefkindes der Literatur(wissenschaft) gewahr. Als Philosophin sonnigen Gemütes

    1 Als Zitierbasis dient die Kritische Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches, hg. von G. Colli und M. Montinari (Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1967ff.). Diese Ausgabe steht als Digitale Kritische Gesamtausgabe unter www.nietzschesource.org auch online zur Verfügung.

    2 zitiert nach: Wittgenstein Werkausgabe Band 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984; S. 483. Aus gegebe-nem Anlass sei hier angemerkt, dass ich im Interesse einer möglichst authentischen Wiedergabe nicht in die Orthographie von Originaltexten Dritter eingegriffen habe. Auch Auszeichnungen und Hervorhebun-gen habe ich möglichst originalgetreu belassen.

    Α

  • 2

    Α • αβγδεζηθικλμνξοπρστυφχψω

    r Das Geheimnis der Sphinx s

    hatte ich natürlich alsbald meine helle Freude an Brentanos witzigen Rätselgedichten, dafür legten mir die Aenigmatias gewissermaßen als Buße für meine langjährige Schmähung der kleinen literarischen Kunstform die Beantwortung einer seltsam anmutenden Frage auf: Wenn ein anerkannter Philosoph sich in Stunden der Muße an der Dichtung von Rätselversen erfreut und Rätseln ein gewisses Erkenntnispotential zutraut, besteht dann zwischen den „großen“ Fragen der Philosophie und jenen der „kleinen“ literarischen Form, und damit zwischen Philosophie und Poesie, die seit jeher in einen nicht enden wollenden Erbstreit um die Fähigkeit „wahrer“ Erkenntnis und den Besitz der „wahren“ Erkenntnisform verstrickt zu sein scheinen, nicht doch eine tiefe schwesterliche Verbundenheit?

    Wie im Abschnitt Ratio und Rätsel zu skizzieren sein wird, waren die Schwestern keineswegs von vornherein derart feindlich gesinnt. So waren etwa in der Prozessphilosophie Heraklits Sein und Werden, Einzelnes und Ganzes, Logik und Ästhetik, und die verschiedenen rationalen Denkweisen noch keine unvereinbaren Gegensätze.

    Gerade bei Heraklit schlug sich das Nachdenken über das ständige Werden und Vergehen und die mannigfachen Gegensätze in der sinnlich wahrnehmbaren Welt auch in der sprachlichen Darstellung nieder, sodass Heraklits Fragmente, vor allem jene, welche die „Harmonie im Wider-spruch“ betonen, stark an die „archaische“ Lyrik Sapphos erinnern. Sie hatte als erste philosophierende Dichterin ihre eigene geistig-seelische Verfassung zum Maßstab der Erkenntnis erhoben, das Widersprüchliche in den Erscheinungen bejaht und in unübertroffenen Analogien zur Spra-che gebracht. Eines ihrer expressivsten Fragmente möge dies illustrieren:

    Ἔρος δηὖτέ μ‘ ὀ λυσιμέλης δόνει, γλυκύπικρον ἀμάχανον ὄρπετον 3

    3 „Schon wieder quält mich der Glieder lösende Eros, bittersüß, unbezähmbar, ein dunkles Tier“ (Fr. 130 nach der Edition von Eva-Maria Voigt; ins Dt. übertr. von S. S. Klein). Konträr zur damaligen Charakte-risierung des Eros als Gottheit nimmt Sappho mit ihrem Eros als „dunkles Tier“ bereits die Psychologie des „unbezähmbar“ Triebhaften des späten 19. Jh. vorweg und mit dem Oxymoron „bittersüß“ gelingt es ihr, ein widersprüchliches, nahezu unsagbares Erlebnis als organisches Gegensatzpaar darzustellen.

  • r Α • Proömium s 3

    Α • αβγδεζηθικλμνξοπρστυφχψω

    Mit Heraklits „gegensätzlichem Zwilling“ 4 Parmenides setzte jedoch die Vorliebe zum statischen Sein gegenüber dem dynamischen Werden unter Gleichsetzung von Denken und Sein, und spätestens mit Platon eine Degradierung des Werdens zum „Schein“ ein. Was einst womöglich das Prinzip einer naturnahen „weiblichen“ Denkart war, geriet zunehmend zum Trugbild. Hatten Sappho und Heraklit versucht, die widersprüchlichen Erscheinungen unter Betonung von Ähnlichkeiten sprachlich zu umfassen und in einem „Logos“ zu vereinen, so setzte mit Platon unter der Betonung von Unterschieden das ausgrenzende und trennende logische Denken ein, womit unter anderem die Abspaltung des logischen vom analogischen Denken unter gleichzeitiger Herabwürdigung der letzteren Denkart einherging. Damit gerieten auch andere, seit Menschengedenken bekannte und im Grunde im Gleichgewicht befindlichen polare Gegensätze, wie zwischen Logik und Rhetorik, Freund und Feind, Mensch und Natur, Mann und Frau, zu unvereinbaren Gegensätzen.

    Dieselbe Technik des hierarchischen Abspaltens findet sich in der auf Aristoteles zurückgehenden philosophischen Begriffsbildung: Definitio fit per genus proximum et differentiam specificam. Dass diese Regel bis ins 19. Jahr-hundert kanonisch war, sei hier am Rande erwähnt, weil die Kanonbildung genauso wie die Technik des hierarchischen Abspaltens – und nicht zuletzt der Ausschluss des Humors – zur dominanten westlichen Denkart gehört. 5

    Erst Freigeister fühlten sich unter Befürwortung des Rätselhaften wie-der dem „dunklen“ Heraklit verbunden 6, und Nietzsche verkündete gar den „Philosophen der Zukunft als neue Gattung“, zu dessen Art es gehört „irgend worin Räthsel bleiben zu wollen“. Während sich der Philosoph

    4 „Parmenides nimmt um des reinen Seins willen den völligen Weltverlust in Kauf, der andere, Heraklit, rettet die widerspruchsvolle Wirklichkeit in das lebendig verstandene Eine.“ (Wilhelm Weischedel: Die philosophische Hintertreppe. München 11975, S. 28

    5  Diesem „Logozentrismus des Abendlandes“ mit seiner Betonung auf formalen und begrifflichen Operatio-nen stellt Karen Gloy in ihren Schriften Vernunft und das andere der Vernunft und Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft das prozessorientierte dialektische Denken, die metaparadoxale Rationalität und das analogische Denken entgegen (vgl. Schaubild 1, das auch wesentliche Schlagworte zu diesen Denkarten und somit auch zum vorliegenden Buch enthält).

    6 Allen voran Nietzsche: vgl. z.B. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen: Heraklit; Nietzsche bezieht sich in seinem Werk insgesamt über 100 mal auf Heraklit.

  • r Das Geheimnis der Sphinx s4

    Α • αβγδεζηθικλμνξοπρστυφχψω

    parmenidischer Prägung mit Hilfe des, wie Nietzsche es nannte, „identifi-zierenden Denkens“ vom Liebhaber der Weisheit zum „Begriffsverwalter“ (Paul Feyerabend) entwickelt hat und sich für eine Art Bevollmächtigten der objektiven Wahrheit hält, besinnt sich der künftige Philosoph darauf, die Wahrheit nicht zu haben 7, wie Nietzsche an anderer Stelle festhält. Das aber heißt, den Menschen und seine Welt (wieder) als rätselhaft und voll von lebendigen Gegensätzen zu verstehen lernen bzw. Philosophieren wie-der als „Willen zum Rätsel“ aufzufassen, dessen angemessener sprachliche Ausdruck das Rätsel als anschaulicher Spruch sein könnte, der zwar ein begreifbares Phänomen enthält, es aber gerade wegen seiner Widersprüch-lichkeit oder Unfassbarkeit nicht begrifflich aussprechen kann 8.

    Diese Weltsicht entspricht der „typisch lyrischen Haltung des Stau-nens“, die wiederum „dem Fragen sehr nahe kommt“ 9. Da Staunen und Fragen zu den elementarsten Zutaten jeglichen selbständigen Philoso-phierens zählen, dürfte man Philosophie in diesem Sinne „eigentlich nur dichten“, wie Wittgenstein so treffend feststellte.

    Diese Einsichten haben mich dazu bewogen, diese kleine Publikation als Versucherin, als Fürsprecherin jener von Nietzsche angekündigten „neuen Gattung von Philosophen“, zu wagen. Dementsprechend will ich meinen Versuch nicht als erschöpfende wissenschaftliche Abhandlung über Genese und Wirkungsgeschichte des Rätsels, sondern vielmehr als Niederschrift eines besinnlichen und dennoch vergnügten experimentalphilosophischen Streifzugs durch Theorie und Praxis des Rätsels als Sprach- und Erkenntnis-form im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Poesie verstanden wissen.

    Das nun folgende, als epochenübergreifender Einakter angelegte Sym-posion Ainigmatikos möge Sie zunächst spielerisch mit den elementaren Wesenszügen des Rätsels vertraut machen, bevor ich im darauffolgenden

    7 „Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen „hatten die Wahrheit“: selbst die Skep-tiker.“ (Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1880)

    8 Rätsel seien daher als Sprachformen verstanden, in denen sinnliche Erfahrungen und Einsichten zum Ausdruck kommen, welche Logik, Identitätsprinzip und Begriffslastigkeit der herkömmlichen abendländi-schen Philosophie in Frage stellen.

    9 vgl. Alexander Nitzberg: Lyrik Baukasten (2006), S. 89. (s. Literaturverzeichnis)

  • r Α • Proömium s 5

    Α • αβγδεζηθικλμνξοπρστυφχψω

    philosophisch-kontemplativ angelegten Abschnitt Ratio und Rätsel die Beziehungen zwischen Mythos, Rätsel und den Ursprüngen abendländi-schen Philosophierens näher zu erläutern versuche.

    Sapphos Ermunterung Nur zugeraten! möchte Sie im dritten Abschnitt dieser Schrift einladen, sich in die Kunst des Rätsellösens einzu-üben. Dieser erste praktische Teil eignet sich als Einstieg daher vor allem für jene, die sich dem Thema mit spielerischer Neugier nähern wollen. So bietet dieser Abschnitt einerseits einen „Tummelplatz für alle Geis-ter des Witzes, der Schalkheit und des sonnigen Humors“ 10 und möchte andererseits – gemäß dem Credo der edition libica – gleichzeitig einige „in Vergessenheit geratene“ Dichterinnen in Erinnerung bringen und deren Rätselgedichte ohne Wertung jenen des Philosophen Franz Brentano gegenüberstellen.

    Die Rätselakademie, der zweite praktische und finale Teil, eignet sich als Einstieg für jene, die sich in Versuchung führen lassen wollen, gleich kreativ ans Komponieren von Rätseln im Spannungsfeld von Philosophie und Poesie zu gehen.

    Wenn Das Geheimnis der Sphinx Ihr Interesse weckt, sich als Philo-soph oder Philosophin jener „neuen Gattung“ zu versuchen, die sich „den änigmatischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen“ und sich nicht länger als Freund von eindeutigen systematischen Abhand-lungen, sondern als Freund oder Freundin des Vieldeutigen 11 verstehen wollen, hat das Buch seinen Zweck erfüllt.

    10 Diese treffende Charakterisierung des Rätsels entstammt aus Friedrich Schaefers Buch Ungeratene Kinder, einem „Handbuch neuer deutscher Rätsel-Lyrik“ aus dem Jahr 1914

    11 „Wesentlicher scheint mir der epikureische Instinkt (eines Räthselfreundes —), der sich den änigma-tischen Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs nehmen lassen will, am wesentlichsten endlich ein aesthetischer Widerwille gegen die großen tugendhaften unbedingten Worte, ein Geschmack, der sich gegen alle viereckigen Gegensätze zur Wehre setzt, ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen wünscht und die Gegensätze wegnimmt: — als Freund der Zwischenfarben, Schatten, Nachmittagslichter und endlosen Meere.“ Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, NF-1885, 2 [162]

  • Schaubild 2 Die Literaturwissenschaft weiß zwar um die Tradition des Rätsels über alle Zeiten und Kulturen hinweg und gesteht ihm aufgrund seiner dialogischen Form sogar eine gewisse Sonderstellung im Gefüge der literarischen Formen zu, im Großen und Ganzen aber verweist die Wissenschaft die kleine gnomische Form trotzdem in die Spielecke, die sich in einer der entlegensten Dachstuben im vornehmen Haus der Poesie befindet. 

  • 115115

    Δ • ικλμ •αβγδεϛζηθ

    r Δ • Die Rätselakademie s

    In diesem Sinne sei abschließend noch einmal festgestellt: Dichten ohne Denken wäre unsinnig und Denken ohne Dichten sprachlos !

    Ausblick und Schlusswort: Die ganze Welt als kindliches Spiel

    Weder im Nachgang zur sogenannten „narrativen Wende”, noch im Zuge der „ikonischen Wende“ ist eine Renaissance der Rätseldichtung zu erwarten. Auch ist kein Wandel der sprachlichen Strukturierung menschlicher Erkenntnis in Sicht. Zu fest sitzen die „Löwen“ im Sattel, denen die Masse der „Kamele“ gestattet, uns die Welt und unser Dasein zu entreißen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse haben uns an den Rand des Nichts manövriert und es scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als in dieser sinnentleerten, entzauberten und auf Gesetze reduzierten Welt auf den verheißenen Fortschritt zu hoffen – trotz seiner unübersehbaren verheerenden Nebenwirkungen. Da die Wissenschaft, ihre Kompetenz überschreitend, auch sämtliche sinnstiftende Elemente für obsolet erklärt, droht das Leben als Ganzes seinen Sinn zu verlieren.

    Zwar gab und gibt es Gegenstimmen, jedoch geht deren äußerliche Kritik in in der lärmenden Betriebsamkeit der „herrschenden“ Verhält-nisse unter. Vielleicht bietet eine Experimentalphilosophie verstanden als praktische Philosophie unter Rüchbesinnung auf die Selbsterkenntnis mit einer „Wende nach Innen“ eine Möglichkeit, den herrschenden“ Verhält-nissen entgegenwirken.

    Nietzsche hat in seiner „Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-chen“ unter Interpretation einiger der Fragmente Heraklits die Welt als das „Spiel des Zeus“, als „Spiel des Feuers mit sich selbst“ bezeichnet. Inter-pretiert man die Welt als göttliches Spiel des Werdens und Vergehens, so geschieht das Schaffen und Vernichten ohne jede moralische Zurechnung in ewiger Unschuld. Diese göttliche Unschuld vergleicht Nietzsche auf menschlicher Ebene mit dem „Spiel des Künstlers und des Kindes“.

    Das Kind steht daher auch für einen Neube ginn in ursprüng li cher Unschuld. Erst wenn der Mensch die falsch verstandene „Erbsünde‟, die

  • 116116 r Das Geheimnis der Sphinx s

    vielen Unge reimt heiten des neuzeitlichen Fortschrittsglaubens und all die anderen von Politik und Gesellschaft vorgefertigten „Wirklichkeiten“ hinter sich, kann er den für die neue Sinn- und Sinnes-Wahr-Nehmung erforderlichen Sinn entwickeln, den Robert Musil so treffend als Möglich-keitssinn bezeichnet hat

    Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.

    Erst dann kann der Mensch wieder zum Schaff enden werden und die „Verwand lung zum Kinde“ 50 vollziehen.

    Das Kind beschreitet dann den Pfad der nach innen gerichteten ästhetischen Erkenntnis und nimmt dabei die Haltung des unwissenden neugierigen Kindes ein, das die Welt wieder zum Rätsel erklären darf, das völlig in sich aufgehend spielt, und sich dabei seine eigene Welt erschafft.

    Da die Experimentalphilosophie als „Spiel des Künstlers und des Kin-des“ zum einen ganz bewusst in Kinderschuhen steckt, und zum anderen alle Möglichkeiten offen hält, lässt sich natürlich nicht vorhersagen, wel-che Richtung(en) diese Art des Philosophierens nehmen wird.

    Für offene Fragen und Diskussionen stehe ich indes gerne zur Verfü-gung. Bitte kontaktieren Sie mich unter [email protected].

    50 (Also sprach Zara thustra, Teil 1)

  • 120120 r Das Geheimnis der Sphinx s

    II. Annotiertes Literaturverzeichnis

    A. Verwendete Literatur

    Athenaios: Deipnosophistai / Das Gelehrtenmahl. Buch VII - X, eingeleitet und übersetzt von Claus Friedrich, kommentiert von Thomas Nothers. (= Bibliothek der griechischen Literatur; 51). Hiersemann, Stuttgart, 1999

    Dieser dritte Teilband des Gelehrtenmahls von Athenaios aus Naukratis enthält neben einem Überblick über traditionelle Feste und Würdigungen des angenehmen Lebens, auch Betrachtungen über das Rätsel als lyrische Dichtung (Abschnitt 69f, 294f), der das Symposion Ainigmatikos massgeblich inspirierte. Die Deipnosophistai sind leider nur mehr antiquarisch oder an Universitätsbibliotheken erhältlich.

    Franz Brentano: Aenigmatias. Neue Rätsel. Dritte, vermehrte Auflage. Beck, München, 1919.

    Dieser Band enthält neben den im Text behandelten poetischen Rätseln auch Rätseln vom Typ Homonyme, Charadoiden, Verdoppelungscharadoiden, Palindrome und Schlingfüllrätsel. Außer zum letzteren Typus werden keine Lösungen angeboten. Es wäre schade, wenn dieses Rätselbuch der Vergessenheit anheim fallen würde, denn Brentanos Rätsel sind im Gegensatz zum heutigen maschinell erstellten und ebenso mechanisch zu lösenden Rätselangebot voller Poesie und feinem Humor.

    Paula Dehmel: Das liebe Nest. Gesammelte Kindergedichte, E. A. Seemann, Leipzig, 1919.

    Das Buch enthält unter anderem auch 44 Rätselgedichte samt Lösungen, wobei allerdings nicht alle aus ihrer Feder stammen. Zumindest zwei der

  • 121121r Ε • Anhang s

    Rätsel stammen von Gustav Theodor Fechner und eines von Friedrich Schleiermacher.

    Ida Hofmann: Kopfnüsse. Eine Sammlung von 250 Original-Rätseln, Scharaden, Logogryphen, Homonymen, Anagrammen, Palindromen und Scherzrätseln nebst deren Auflösungen. In der Ernst‘sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, 1911.

    Caroline Pichler: Logogryphen. In: Gedichte von Caroline Pichler, geboren von Greiner, neue verbesserte Auflage, Anton Pichler Verlag, Leipzig 1822.

    Der Band enthält insgesamt 12 Logogriphen samt Lösungen (seinerzeit wurde das Wort Logogriph fälschlicherweise häufig als „Logogryph” wiedergegeben).

    Friedrich Schaefer: Ungeratene Kinder, „Handbuch neuer deutscher Rätsel-Lyrik“, 1914

    Gustav Schwab: Sagen des klassischen Altertums. Band 1. Leipzig: Insel-Verlag, 1909.

    Die wohl bekannteste und originalgetreueste Sammlung antiker Mythen, die Schwab in den Jahren 1838 bis 1840 in drei Bänden herausgab.

    Die tragische Gestalt des Ödipus hat nicht nur die Psychologie, sondern auch die Philosophie bereits mehrfach beschäftigt. So stellt Foucault den Ödipus-Mythos als antiken Kriminalfall dar, anhand dessen er zeigt, wie die rationale Untersuchung von Tathergängen und Zeugenbefragung die archaischen Mittel des Orakelspruchs und Gottesurteils auf „tragische Weise” ablöst. Denn Ödipus wird Opfer seines Wissens: Zuerst erhält er durch die Begegnung mit der Sphinx Macht und wird König von Theben,

  • 122122 r Das Geheimnis der Sphinx s

    nur um sie dann eben aufgrund seines erworbenes Wissen, nämlich wer er ist und dass er selbst seinen Vater tötete, wieder zu verlieren.

    Elise Sommer: (Rätsel Nr. 1): Das sinnreiche Buch oder Charaden, Räthsel und Logogryphen auf alle Tage im Jahr hrsg. Von Theoder Hell, Gerhard Fleischer d. Jüngern, Leipzig, 1811. Alle anderen Rätsel: Elise Sommer: Gedichte. Im Verlag der Hermann‘schen Buchhandlung, Frankfurt am Main, 1813

    B. Weiterführende Literatur

    Herman Bausinger: Formen der „Volkspoesie”. Universität Tübingen, 1980 (S. 125ff)

    Bausinger erstellt eine Gattungstypologie im Grenzgebiet zwischen Philologie und Volkskunde, wobei er insbesondere Übergänge und Grenzzonen zwischen den literarischen Gattungen herausarbeitet, womit dem Rätsel eine Position in der Grauzone zur philosophischen Weltdeutung zukommt. Die Publikation steht auf der Website der Eberhard Karls Universität Tübingen als Download zur Verfügung.

    Giorgio Colli: Die Geburt der Philosophie. Aus dem Ital. von Reimar Klein. Mit einem Nachw. von Gianni Carchia und Reimar Klein. Einheitssachtitel: La nascita della filosofia , Frankfurt am Main: Hain, 1990 (Athenäum-Taschenbücher ; Bd. 154)

    Nach der gelehrten, willkürlich festgelegten Tradition beginnt die Philosophie, die „Liebe zur Weisheit” mit Thales und Anaximander. Ihre Ursprünge liegen allerdings nach wie vor im Dunkeln. Die heutige Philosophie geht auf Platon zurück, der noch ehrfurchtsvoll auf die „Weisen” zurückblickte und selbst die „Liebe zur Weisheit” als literarische

  • 123123r Ε • Anhang s

    Form begründete. Platon war noch bewusst, dass seine Philosophie als Verfallserscheinung zum Ziel haben müsse, dasjenige wiederzuerlangen was schon einmal realisiert und gelebt worden war und nicht etwa, nach etwas noch nie Erreichtem zu streben.

    Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, 1997

    Unterschiedliche Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft ergänzen einander gegenseitig, ohne aufeinander reduzierbar zu sein. Diese These gibt den Rahmen für das Buch vor. Ziel der Untersuchung ist es vor allem, den angemessenen Ort der Rhetorik in der Erkenntnistheorie zu bestimmen. Welche Rolle man der Rhetorik in der Erkenntnistheorie geben wird, hängt davon ab, wie man die Bedeutung der Sprache für das Erkennen einschätzt. Sieht man die „Färbungen und Beleuchtungen” sprachlicher Ausdrücke als Phänomene an, die den Erkenntnisvorgang beeinträchtigen (Frege), so wird man der Logik den Vorrang gegenüber der Rhetorik einräumen. Betrachtet man dagegen alle Sprache als metaphorisch (Nietzsche), so fallen Erkenntnistheorie und Rhetorik beinahe zusammen.

    Hermann Hagen: Antike und mittelalterliche Raethselpoesie - eine populaere Skizze. Biel: K.F. Steinheil, 1869.

    Ein kurzer Abriss der Kulturgeschichte des Rätsel mit zahlreichen Beispielen. Das Original ist leider nicht mehr erhältlich, für einen gescannten Nachdruck wirbt ein gewisser „Rarebooks Club”. Vor einem Kauf sei allerdings eindringlich gewarnt, denn der „Club” vertreibt bloß gemeinfreie Bücher, die über Google Books nach und nach ohnehin kostenlos erhältlich sind!

  • 124124 r Das Geheimnis der Sphinx s

    Johan Huizinga: Homo Ludens - Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 22. Aufl., Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2011

    Nach Huizinga ist ein grundlegendes Element der Kultur das Spiel. Ohne die Lust und Fähigkeit zu spielen hätten sich weite Bereiche des kulturellen Lebens, allen voran die Dichtung, die Philosophie und die Wissenschaft, nicht entwickelt. Der holländische Kulturphilosoph hat mit diesem Buch eine Theorie der Kultur entworfen, die dem homo sapiens und dem homo faber den homo ludens als zumindest gleichwertig gegenüberstellt.

    Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne

    André Jolles: Einfache Formen. Forschungsinstitut für Neuere Philologie Leipzig, Halle (Saale) 1930.

    Jolles betont die Nähe die Nähe von Rätsel und Mythos, wenn sich für ihn die Mythe als „eine Antwort, in der eine Frage enthalten war”, das Rätsel hingegen als Frage, die „nach einer Antwort heischt”, darstellt. Diese Ansicht nahm ich zum Anlass, den Mythos (wieder) in die Nähe des Logos zu rücken, denn die philosophische Frage unterscheidet sich, wie ich hoffentlich zeigen konnte, nicht so sehr von der Rätselfrage, wie uns die abendländische Philosophie sich selbstilisierend als Emanzipationsbewegung „Vom Mythos zum Logos” weismachen will.

    Otto Knörrich: Lexikon lyrischer Formen. 2. überarb. Aufl. Stuttgart: Kröner, 2005.

    Nach einer sehr übersichtlichen Einleitung „Lyrik – Begriff und Theorie einer Gattung” bietet dieses Lexikon zu rund 500 Stichwörtern Erläuterungen und z.T. auch Literaturhinweise zu den lyrischen Formen der deutschsprachigen Literatur. Sehr hilfreich für produktive

  • 125125r Ε • Anhang s

    RätseldichterInnen ist die im Anhang befindliche Übersicht über die „Versfüße sowie Vers- und Strophenmaße in metrischer Notation”.

    Konrad Ohlert: Rätsel und Rätselspiele der alten Griechen. Zweite umgearbeitete Auflage; Berlin: Mayer & Müller, 1912.

    Der Philologe Konrad Ohlert präsentiert eine umfassende Darstellung der Rätsel- und Wortspiele des antiken Griechenland. Dabei erläutert er sowohl deren Bedeutung und präsentiert Beispiele aus zahlreichen Formen (Sinnrätsel, Bilderrätsel, Rechenrätsel, Buchstaben- und Silbenrätsel, Homonyme, Akrostichoin, Anagramm). Diese Ausgabe und der kostengünstigere, 1979 herausgegebene unveränderte Nachdruck sind antiquarisch erhältlich. Wer nicht gewillt ist, zwischen €40,00 und €90,00 zu investieren, kann das Buch bei archive.org herunterladen

    Claudia Schittek: Flog ein Vogel federlos - Was uns die Rätsel sagen. München Wien: Carl Hanser Verlag, 1989.

    Warum gibt es und wie funktionieren Rätsel, die man in allen Kulturen findet? Was verbirgt sich hinter dem Wunsch, die Dinge nicht so zu lassen, wie sie sind? Warum heißt es statt „Handtuch” also: „Hängt an der Wand und gibt jedem die Hand”? Claudia Schittek unternimmt in ihrem mit zahlreichen Beispielen argumentierenden Buch einen ebenso spannenden wie unterhaltsamen Gang durch die Geschichte des Rätsels.

    Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes - Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 7. Aufl., 1993.

    Snells 1946 erstmals aufgelegtes Hauptwerk „Die Entdeckung des Geistes” war von großer Bedeutung für die Neuorientierung der Nachkriegsge-neration, befand DIE ZEIT zu Bruno Snells 90. Geburtstag im Jahre 1986.

  • 126126 r Das Geheimnis der Sphinx s

    Heute, in einer der geistlosesten Zeiten seit Menschengedenken, sollte dieser Klassiker zur Pflichtlektüre erklärt werden.

    C. Poetisches Handwerkszeug

    Alexander Nitzberg: Lyrik Baukasten. Wie man ein Gedicht macht. Köln: DuMont, 2006

    Der „Baukasten“ richtet sich an alle, die am Enstehungsprozess, der Ästhetik und der speziellen Sprache von Gedichten interessiert sind. Das Buch behandelt alle Aspekte, die für die Gesamtästhetik eines Gedichts von Bedeutung sind: Klang bzw. Rhythmus, Stil (Sprachregister Figuren u.ä.), Tropik (Metaphern, Vergleiche), und deren Komposition.

    Willy Steputat: Reimlexikon. Neu bearbeitet von Angelika Fabig. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1997

    „Der Steputat“, 1891 erstmals bei Reclam erschienen und seither immer wieder neu bearbeitet, ist auch im Zeitalter der Online-Reimmaschinen das nützlichste Reimlexikon der deutschen Sprache. Es ist so durchdacht aufgebaut, dass es für (angehende) Dichter relativ leicht ist, geeignete Reim zu finden. Gute Reime kann allerdings auch das beste Lexikon nicht machen!

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