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1 © Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner Das Heilige in der Imagination Das Heilige in der Imagination „Denn was ich im Auge habe, bildet mich. Wir werden, was wir schauen.“ Heinrich Spaemann 1 Imagination: Tagtraum, Fantasie, Vision, Fenster zum Heiligen? Die menschliche Fähigkeit, im Wachen zu träumen bzw. von seinen inneren Bildern heimgesucht zu werden, — seine Vorstellungs- und Einbildungskraft —, wird je nach geschichtlicher Situation und Kultur unterschiedlich begrüsst und bewertet. Wir kennen Vision, mystische Schau und Prophetie als Ausdruck einer Privatoffenbarung (vgl. Rahner, H.) im religiösen Kontext auf der einen Seite; Illusion, Halluzination und Dissoziation als pathologische Zustände auf der anderen Seite; dazwischen das breite Kontinuum der Imagination als Fähigkeit zu aktivem Ausdruck von Kreativität, als Entspannungszustand in der Meditation und Oberstufe des Autogenen Trainings, als therapeutische Tagtraum-Antizipation eines (erwünschten oder befürchteten) bevorstehenden Ereignisses. Imaginative Zustände können spontan auftreten, z.B. in der Trance, oder willentlich herbeigeführt werden, wie z.B. in der Meditation. Imagination kann geübt werden, z.B. im Autogenen Training. Mithilfe eines Übungsweges wird es möglich, sich in Meditation und Versenkung für das Göttliche, das ganz Andere, das Heilige zu öffnen, um das Wesentliche des Menschseins zu erfahren. Diese Fähigkeit spielte seit je und bis heute eine wichtige Rolle in der Heiltradition. Die genannten Aspekte sollen im folgenden näher ausgeführt werden. In den Definitionen von Imagination, wie sie in Wörterbüchern zu finden ist, wird die unterschiedliche Bewertung deutlich. Die Worte Image (franz.) und Imago (lat.) bezeichnen das Bild, Bildnis oder Abbild. Imagination ist die Phantasie oder Einbildungskraft, das bildhaft anschauliche Denken. Imaginieren meint demgemäss: sich etwas vorstellen, einbilden, ersinnen, etwas bildlich anschaulich machen. Das, was in der Tätigkeit des Imaginierens anschaulich wird, können wir als etwas zum Menschen Gehöriges und Bedeutsames betrachten, wenngleich es nicht konkret fassbar und nicht materiell als etwas Seiendes vorhanden ist. Als imaginär hingegen wird etwas nicht Wirkliches bezeichnet, etwas nur scheinbar und nur in der Vorstellung Vorhandenes, etwas nur Eingebildetes, das eigentlich keine Bedeutung für den Menschen hat. Das Imaginäre als Verschränkung von Intuition und Imagination steht in der Gefahr, als Irrationales abgewertet zu werden. (vgl. Fischer-Lexikon; Fremdwörter-Duden) 1 Spaemann 1962

Das Heilige in der Imagination · Kontinuum der Imagination als Fähigkeit zu aktivem Ausdruck von Kreativität, als Entspannungszustand in der ... Albert Einstein ... (Einstein ?)

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© Gisela Ana Cöppicus Lichtsteiner Das Heilige in der Imagination

Das Heilige in der Imagination

„Denn was ich im Auge habe, bildet mich. Wir werden, was wir schauen.“

Heinrich Spaemann1

Imagination: Tagtraum, Fantasie, Vision, Fenster zum Heiligen? Die menschliche Fähigkeit, im Wachen zu träumen bzw. von seinen inneren Bildern heimgesucht zu werden, — seine Vorstellungs- und Einbildungskraft —, wird je nach geschichtlicher Situation und Kultur unterschiedlich begrüsst und bewertet. Wir kennen Vision, mystische Schau und Prophetie als Ausdruck einer Privatoffenbarung (vgl. Rahner, H.) im religiösen Kontext auf der einen Seite; Illusion, Halluzination und Dissoziation als pathologische Zustände auf der anderen Seite; dazwischen das breite Kontinuum der Imagination als Fähigkeit zu aktivem Ausdruck von Kreativität, als Entspannungszustand in der Meditation und Oberstufe des Autogenen Trainings, als therapeutische Tagtraum-Antizipation eines (erwünschten oder befürchteten) bevorstehenden Ereignisses. Imaginative Zustände können spontan auftreten, z.B. in der Trance, oder willentlich herbeigeführt werden, wie z.B. in der Meditation. Imagination kann geübt werden, z.B. im Autogenen Training. Mithilfe eines Übungsweges wird es möglich, sich in Meditation und Versenkung für das Göttliche, das ganz Andere, das Heilige zu öffnen, um das Wesentliche des Menschseins zu erfahren. Diese Fähigkeit spielte seit je und bis heute eine wichtige Rolle in der Heiltradition. Die genannten Aspekte sollen im folgenden näher ausgeführt werden. In den Definitionen von Imagination, wie sie in Wörterbüchern zu finden ist, wird die unterschiedliche Bewertung deutlich. Die Worte Image (franz.) und Imago (lat.) bezeichnen das Bild, Bildnis oder Abbild. Imagination ist die Phantasie oder Einbildungskraft, das bildhaft anschauliche Denken. Imaginieren meint demgemäss: sich etwas vorstellen, einbilden, ersinnen, etwas bildlich anschaulich machen. Das, was in der Tätigkeit des Imaginierens anschaulich wird, können wir als etwas zum Menschen Gehöriges und Bedeutsames betrachten, wenngleich es nicht konkret fassbar und nicht materiell als etwas Seiendes vorhanden ist. Als imaginär hingegen wird etwas nicht Wirkliches bezeichnet, etwas nur scheinbar und nur in der Vorstellung Vorhandenes, etwas nur Eingebildetes, das eigentlich keine Bedeutung für den Menschen hat. Das Imaginäre als Verschränkung von Intuition und Imagination steht in der Gefahr, als Irrationales abgewertet zu werden. (vgl. Fischer-Lexikon; Fremdwörter-Duden)

1 Spaemann 1962

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Können wir uns so noch vorstellen, es bei der Imagination auch mit einer potentiellen Heilkraft zu tun zu haben, oder wäre auch das nur Einbildung (Placebo)? Imaginationen können wir also nicht fassen, sie sind kein konkret Vorhandenes; aber wir erkennen und erfahren ihre Wirksamkeit: Es gibt sie nicht wirklich, aber sie wirken! Wie tun sie das? Definitionen aus psychotherapeutischem Kontext erklären das so (vgl. Stumm/Pritz 2000): • Imagination kennzeichnet das menschliche Vermögen eines bildhaft anschaulichen

Vorstellens. Dieses ‚Denken in Bildern‘ ist eine frühe Stufe des Denkens und gilt als primäre Bewusstseinstätigkeit des Menschen — in der Menschheitsentwicklung wie auch in der Entwicklung des Individuums.

• Imagination ist prärational und geht der Fähigkeit der Verbalisation voraus. Imagination ist ein entwicklungsgeschichtlich frühes Ausdrucksmittel mit einem starken affektiven Gehalt. Was wir noch nicht in Worte fassen können, weil es präverbal, prärational erfahren wurde, zeigt sich uns in affektiven Bildern.

• In der Imagination bilden sich aber auch unbewusste Konflikte symbolhaft ab (wir sprechen dann von Projektion eines innerseelischen Geschehens in symbolisch bildhafter Form).

• Die Imagination verbindet und überwindet Zeit und Raum: Sie ist — wie der nächtliche Traum — eine andere Daseinsform.

• Im vorstellungsbezogenen Sprechen von Therapeut und Patient — sogar ohne eine eigens eingestellte Imagination — entsteht ein gemeinsamer ‚imaginärer Raum‘ , in dem sich die Therapie abspielt und der als Projektionsfläche gesehen werden kann, als Übertragungs- und Übungsfeld.

Die therapeutisch verstandene und genutzte Imagination hilft uns, zu den in tieferen Schichten eingelagerten Konflikten und Einsichten vorzustossen, sie in symbolisch-bildhafter Form sichtbar zu machen, Ressourcen zu wecken und unbewusste und blockierte Handlungsantriebe freizusetzen. Imagination ist als therapeutische Methode an Grenzen, an Form und Rahmen, und an ein Ziel gebunden. Sie überschreitet aber auch Grenzen, indem sie nicht nur ein psychische Phänomen ist, sondern auch — wie wir heute wissen — (hirn-)physiologische Prozesse (und Strukturen!) beeinflusst; sie ist strukturbildend sowohl auf der Ebene der Persönlichkeit, des Ich (z.B. bei Borderlinestörungen), wie auch auf der neuronalen Ebene des Cortex. Der heutige, moderne und aufgeklärte Mensch ist durch das Vorherrschen des rationalen Denkens oftmals von seinen imaginativen Fähigkeiten abgeschnitten. Das zeigt sich in der Psychotherapie, wenn keine inneren Bilder zugelassen werden können, oder eine irrationale Angst aufkommt, durch Fantasietätigkeit die Kontrolle zu verlieren.

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Dann wird die Anwendung der Technik der Imagination entweder abgelehnt oder durch Widerstände unmöglich gemacht. Andere Personen suchen diese Therapiemethode als eine Vielversprechende gezielt auf. Es bestehen individuell sehr unterschiedliche Fähigkeiten, innere Bilder zu erzeugen (‚sich kommen zu lassen‘ — wie Leuner es ausdrückte), bzw. veränderte Bewusstseinszustände zu erleben: einerseits aufgrund natürlicher Sensibilität und Begabung, andererseits als erworbene Überlebensstrategie (Coping oder Abwehrmechanismen) aufgrund von Traumatisierungen (Trance und Dissoziation). Im therapeutischen Rahmen ist immer auf eine mögliche Kontraindikation bei der Anwendung der Imagination zu achten. Im folgenden sollen imaginative Zustände nach Bewusstheitsgrad und Kontrolle unterschieden werden: • Unwillkürliche Bilder zeigen sich uns im nächtlichen Traum, dem ‚Königsweg des

Unbewussten‘ (Freud), als Wunscherfüllung oder symbolischer Ausdruck von Konflikten. Sie können sich auch aufdrängen als Vision oder Halluzination; als flash-back, d.h. Erinnerung an unliebsame, traumatische Erfahrungen; in Trance und Dissoziation.

• Bewusste und willentlich erzeugte Vorstellungsbilder im Wachen sind ein alltäglicher

Vorgang (insbesondere bei Kindern): In der Fantasie, dem Tag- oder Wachtraum malt man sich die gewünschten oder gefürchteten Situationen aus als Antizipation der Zukunft, zur Kompensation unlustvoller Realität oder zur Steigerung von Kreativität. Es ist dies in der Regel eine Fantasie von Erfolg und Macht.

• Mithilfe psychologischer übender Techniken (Entspannung, Suggestion, Hypnose,

Musik, Tanz, Rituale, Körperübungen, Meditation, Versenkung) können wir willentlich eine Verminderung des wachen (rationalen) Alltagsbewusstseins anstreben und die Bereitschaft, in Bildern zu denken, erhöhen.

• Durch die Einnahme psychoaktiver, d.h. bewusstseinsverändernder Substanzen

(pflanzliche oder chemische Stoffe) oder das Ausüben von die Physiologie beeinflussenden Methoden (Hyperventilation bzw. Holotropes Atmen) kann das Alltagsbewusstsein weitgehend ausgeschaltet und Vorstellungsbilder und Befindlichkeiten induziert werden, die mystisch-transzendenten, spirituell-religiösen Charakter haben können ("ozeanische Selbstentgrenzung", Erfahrung umfassender Liebe, Einssein mit der Natur etc.).

Echte Imaginationen im engeren therapeutischen Sinne sind autonome Abläufe, auch wenn sie im Rahmen von Therapie eingesetzt werden: Wir machen sie nicht, wir

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erzeugen und steuern sie nicht willentlich; wir öffnen und bereiten uns aber für sie; wir rufen sie herbei und laden sie ein; wir lassen sie uns kommen, sie erscheinen uns, sie ereignen sich. Es sind dies gefühlsgesättigte Bilder, die aus den Quellen des Unbewussten schöpfen und die Selbstheilungskräfte anregen. Werfen wir einen Blick auf die Anwendung der Imagination in der Heiltradition. Die Rolle der Imagination in der Heiltradition und der Verlust der Seele Die imaginative Fähigkeit des Menschen, im Schlafen wie im Wachen seine Befindlichkeit und Situation in inneren Bildern und Symbolen auszudrücken, sie zu entschlüsseln und zur Heilung aber auch für kreative Prozesse zu nutzen, wurde vermutlich in allen Kulturen und Heiltraditionen seit Menschengedenken erkannt und angewandt. Wir haben Kenntnisse davon aus mehr als 3‘000 Jahren aus Mesopotamien, Ägypten und Griechenland, wie auch aus dem fernen Osten. Imaginationen spielten in biblischer Zeit eine Rolle in Prophetie, Vision/mystischer Erfahrungen und Traumdeutung; in Form von bildgebenden Gebeten und Meditationen; als Tempelschlaf und Heilschlaf der Antike (der Tempel als Sanatorium!); als "Schamanistische Reisen" im eurasischen und indianischen Raum; als Trance und Hypnose; bei freien Assoziationen und Suggestionen. Immer ging es um intuitive und imaginäre Erkenntnis des Wesentlichen, Reinen und Göttlichen zur Heilung des Einzelnen oder des Volkes; zur Entwicklung von Kunst und Kultur. Der Priester war auch der Arzt und Heiler. Die Imaginationen, Tagträume und Träume der Nacht, wurden vom Priesterarzt entweder beim Heilsuchenden induziert und gedeutet oder aber selbst erlebt und durchlitten. Die Voraussetzung, die den Priesterarzt auszeichnete, war die Fähigkeit, sich mit dem Übernatürlichen in Verbindung zu setzen. In ekstatischem, halluzinatorisch-visionärem Zustand oder im Traum erkannte er die Ursachen sowohl von individuellem Leiden wie auch von Katastrophen. Der Priesterarzt war eine Autoritätsperson, die gleichzeitig Vertrauen und Furcht erweckte. Diese Ehrfurcht galt nicht in erster Linie seiner Person, sondern seinem Auftrag. (vgl. dazu G. Condrau 1982) Das wesentliche Element, das uns aus geschichtlichen Quellen bei der Heilung mithilfe von Imagination bekannt ist, ist die Rolle des Glaubens an das göttliche Be-wirken. In Wallfahrts- und Heilungsstätten, wie z.B. dem griechischen Epidauros, wollten die Menschen dem Heilgott begegnen; sie wollten im Tempel in Traum bzw. Heilschlaf oder in der Trance sein erlösendes Wort hören; sie wollten die Stimme des Gottes vernehmen, um ihre Lebensausrichtung, ihre Bestimmung zu erkennen, um heil zu werden. Der Priesterarzt, Heiler der Antike, war Mittler dieser Begegnung, war Helfer in seiner Person und mit seiner Technik. Ein Besuch im Asklepion-Heiligtum umfasste eine

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kultische Reinigung, ein Opfer an Apollon, das Schlafen im Abaton, um im Traum durch den Gott Asklepios selbst die geeignetste Heilmethode zu erfahren; ein Gespräch mit dem Priester über das anzuwendende Heilverfahren und die Teilnahme an kultischen Veranstaltungen. Das wichtigste Gebäude des Asklepion-Heiligtums war der sogenannte Tholos-Tempel, ein Rundbau mit labyrinthischem Untergeschoss. Wir können annehmen, dass sich in diesem Labyrinth in der Tiefe des Heiligtums die Suche nach dem Selbst, nach dem innersten Kern des Menschen, nach Heil und Berufung vollzog. Die Entwicklung der heutigen Psychologie als Wissenschaft hat zu tiefgreifenden Konsequenzen für den Menschen geführt. Das ursprünglich Verbindende bzw. das noch nicht Getrennte der modernen Heilkünste (Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Theologie) war die historisch gemeinsame Wurzel der Priester-Medizin: Im Denken der menschheitlichen Anfänge wurde der Mensch als Gottes Geschöpf und als ganzheitlicher Organismus betrachtet und behandelt. Heilkräuterwissen und die Anrufung der Götter mit der Bitte um Heilung durch den Priester (Schamanen bzw. Medizinmann) ergänzten sich. Die Menschheitsgeschichte war immer — bis zur Zeit der Aufklärung — eine Geschichte des Menschen mit Gott. In der Aufklärung des 18.Jh. kam es zum definitiven Trennungsprozess der Naturwissenschaften von der Theologie. Seither entwickeln sich eigenständige und unabhängige Forschungszweige: Die wissenschaftliche, empirische Psychologie erforscht die objektivierbaren kognitiven Funktionen des Menschen; sie macht ihn messbar, berechenbar und beweisbar und versteht sich heute eher als Verhaltens- und Neurowissenschaft denn als Seelenkunde. Sie hat dem Menschen als Subjekt und Individuum zwar zu Selbstbewusstsein, Eigenverantwortung und zur Entwicklung seiner Persönlichkeit verholfen. Der Begriff ‚Seele' kommt aber in der Wissenschaft der Psychologie nicht mehr vor. Geschweige denn seelische und geistige Vermögen wie Glauben und Religiosiät. Die Religion ist nun nur noch Illusion; und Gottglaube oder Religiosität sind eine Zwangsneurose zur Abwehr existenzieller Angst — so betrachtete es der Mainstream der Psychoanalyse seit Freud (in der Folge von Feuerbach) bis in die heutige Zeit. In diesem Menschenbild ist kein Raum für das Geheimnis der Schöpfung! Die Talsohle dieses Denkens ist vermutlich durchschritten. 1941 bereits sagte Albert Einstein auf einem Symposium für Wissenschaft, Philosophie und Religion: „Wissenschaft kann nur von jenen geschaffen werden, die tief durchdrungen sind vom Verlangen nach Wahrheit und Verstehen. Aber der Ursprung dieses Gefühls liegt im Bereich der Religion.“ (Einstein ?) Gottes Geheimnis, das ganz Andere, das Unverfügbare — die verlorene Dimension — wird von der Physik wieder mitgedacht!

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Eine Aussage des Zürcher Psychiaters Prof. Daniel Hell, Direktor des Burghölzli, macht uns mit seinem 2003 erschienen Buch ‚Seelenhunger‘ auf diesen Verlust aufmerksam: Der Begriff Psyche habe in der Psychologie und Psychiatrie den früher viel umfassenderen Sinn des Seelischen als ‚einzigartiger und unsterblicher Substanz‘ verloren. Nach Hell ist die Religion aber ein Grundbedürfnis des Menschen; er plädiert für eine Aufhebung der Tabuisierung der Religion durch die Psychiatrie und für eine erlebnisorientierte Heilkunde, die das Seelenleben des Menschen als eine nicht verdinglichte ‚Innensicht' für das Verständnis von psychischen Störungen und psychiatrischen Krankheitsbildern, wie auch von spirituellen Phänomenen und Krisen in Abgrenzung zu psychiatrischen Kategorien wieder in den Blick nehmen müsse. (D. Hell 2003) Seit ca. drei Jahrzehnten zeigt sich der unterdrückte Seelenhunger auch als Wiederkehr der Religionen bzw. als sogenannte ‚neue Religiosität'. Davon ist die akademisch-wissenschaftliche Psychologie kaum betroffen; jedoch zeigt sich dieser Trend als Spiritualisierung diverser psychotherapeutischer Schulen. Die praktische Theologie hingegen ist heute in ihrem früheren Selbstverständnis als Seelsorge-Einrichtung erschüttert. Nach anfänglicher Tabuisierung der Psychologie wird seit den 60er Jahren eine zunehmende Verpsychologisierung deutlich, die aber den Verlust des eigenen Profils nach sich gezogen hat: den Verlust der therapeutischen Dimension des Glaubens. Eigentlich wäre eine Zusammenarbeit im Sinne einer Ergänzung möglich und wünschenswert, denn die „Seelsorge verfügt über einen sinngebenden Deutungsrahmen, über die für ganzheitliches Heil-Sein notwendigen Symbole gelungenen Lebens“; und die „Psychotherapie verfügt über die richtige Praxis“ (Funke zit. in Utsch 2000, 10) „Psychotherapie kann zur Konfliktbewältigung, seelischen Gesundheit, Stressbewältigung und zur Persönlichkeitsentfaltung beitragen. Die Weisheit eines gelingenden Lebens kann aber nur ein Glaube vermitteln, weil er die existentiellen Fragen nach Sinn, Schuld, Zufall oder Endlichkeit beantwortet.“ (ebd.) Innere Bilder, Metaphern, Symbole und Rituale können in diesem ganzheitlichen Deutungsrahmen erst ihre volle therapeutische Wirkung entfalten. Auf dem Weg der Erinnerung an das Heilige, und wie dies die Fähigkeit zur Imagination auch noch für uns Heutige transportiert, sei nun auf zwei Übungswege hingewiesen: Bild- und Textmeditationen aus christlichem Kontext. Ikonen und Archetypen: Bilder des Heils Nicht immer sind es innere Bilder, Imaginationen, manchmal sind es Kunstwerke oder deren Abbildungen, die uns zu Imaginationen anregen und den Weg in die andere

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Wirklichkeit, den Urgrund allen Seins eröffnen. Aus der Ostkirche kennen wir die Ikonen, die heiligen Bilder: Sie gelten als "Fenster zum Göttlichen". Ikone (griech. eikon) bedeutet Urbild, Abbild, Ebenbild, Schatten und Spiegelbild. Ikonen werden von der orthodoxen Theologie auch als Archetypen bezeichnet. Arche-typ heisst ursprünglich Geprägtes, Ur-Eingeprägtes — die mehr oder weniger bewusste Darstellung ewigen Wissens. So gibt es auch das Motiv des nicht von Menschenhand gemalten Antlitzes Christi, das sogenannte Mandylion, der Abdruck seines Gesichtes im Schweisstuch der Veronika. Die Ikone gilt als "Abdruck von etwas und soll ihrerseits im Betrachter einen Abdruck hinterlassen – im Sinne des Zeugens und Hervorrufens" (xxx). Ein Gestaltungsprinzip der Ikone ist die sogenannte "umgekehrte Perspektive": der perspektivische Mittelpunkt befindet sich vor dem Bild, nicht dahinter; der Fluchtpunkt liegt nicht im Bildinnern, sondern beim Betrachter. Von Gott drängt so etwas auf den Menschen zu. Diese Umkehrung der Perspektive lässt den Betrachter zum Bewirkten werden. Ikonen sind Gebetsbilder schlechthin, sie sind Verkündigungsbilder, gemalte Botschaft der Heilsgeheimnisse, mit denen ich umgehen kann: Das Bild spricht mich an, ich muss innehalten, muss mich der im Bild gegenwärtigen Wirklichkeit aussetzen. Ich will mich bewusst dem aussetzen, wovon ich mich prägen lassen möchte; mich ganz auf das Wagnis des Verweilens einlassen; mich mehr und mehr durchdringen lassen. Ein solcher Umgang mit einem Bild (oder Text) wird als Meditation bezeichnet (vgl. Johne 1999). Ikonen als wahre Urbilder sind Bilder des Heils. Die urchristliche Meditation ist die bewusste Auseinandersetzung mit der Heilsgeschichte in Bild und Text: Der Glaubende schaut betend und meditierend immer neu das Bild Jesu Christi an; die Evangelien "stellen es uns vor Augen" und "malen es uns ins Herz". „Je mehr ich mich diesem Bild meditierend aussetze und davor verweile, desto tiefer prägt es sich mir ein. Es prägt mich dadurch von innen her, bis es sich mehr und mehr auch in meinem ganzen Sein ausprägt“ (ebd. S.x). Der orthodoxe Christ weiss „im Abbild der Ikone deren Urbild geheimnisvoll wirklich gegenwärtig. In der Ikone Jesu kann er diesem selbst begegnen. ‚Wirklich‘ ist hier im Wortsinn gemeint: Wirkend, mich berührend, mir begegnend – und mich dadurch mehr und mehr von innen her verwandelnd“ (ebd. S.x). Ikonen als Archetypen sind die Konkretisierung ursprünglichster seelischer Bilder. Die Archetypische Psychologie (vgl. Hillmann xxx) geht davon aus, dass menschliches Erkennen bestimmt wird von einem Seelenhintergrund, der aus Urbildern besteht. Die Seele wird hier auch als das "Imaginale" ("mundus imaginalis" – H.Corbin), als die Welt der Bilder, als Urgrund verstanden, aus dem heraus die Phantasie das stumme Wissen der Menschheit in mythisch-bildhafter Form Gestalt werden lässt. Archetypisches imaginatives Denken ist so ein Denken in Bildern und Metaphern, in Symbolen,

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Geschichten und Gleichnissen; es weist einen starken Bezug zu den Emotionen auf und zu vertiefter Erkenntnis von Bedeutung. Die Seele hat die Fähigkeit zur imaginativen Erkenntnis und ist deren Urgrund. Im Betrachten und Erzeugen von heiligen Bildern nährt sie sich selbst; kommt sie zu sich selbst. Ein solches Zu-sich-selbst-Kommen steht am Anfang der Bekehrung eines spanischen Ritters des 16. Jahrhunderts mit Folgen bis in unsere heutige Zeit. Imagination in der Spiritualität des Heiligen Ignatius Ignatius von Loyola (1491bis 1556) war der Begründer des Jesuiten-Ordens und der Verfasser eines sogenannten Exerzitienbuches, das zur spirituellen Imagination anleitet und bis heute die klassische Meditationsform der westlichen Kirche darstellt. Von adliger Herkunft in Spanien geboren und zum kämpferischen Ritter erzogen erholte er sich auf dem Krankenlager Ritterromane lesend und tagträumend von seinen schweren Kampfverletzungen. In Ermangelung weiterer Romane — so die Legende — nahm er mit Heiligenbiographien vorlieb. Er versetzte sich mit seiner Vorstellungskraft nun auch in die Leben der Heiligen und in biblische Szenen und stellte fest: Diese Lektüre fesselte ihn mehr als die Ritterromane! Seine Tagträume über das Leben Jesu gaben ihm erstmals innere Ruhe und Frieden, so dass er sich nach seiner Genesung zur radikalen Nachfolge Jesu entschloss und es zu einer Wende in seinem Leben kam. Zur Stärkung des Glaubens seiner Ordensbrüder bezog er sich auf seine eigenen Erfahrungen mit den Tagträumen: Als meditative Einübung in die imaginative Fähigkeit, sich Szenen aus dem Evangelium anschaulich vorzustellen, empfahl er den Meditierenden, sich mit allen Sinnen in die Szene hineinzuversetzen: Sie sollten sehen und hören, was auf dem ‚Schauplatz‘ vor sich ging, sollten es fühlen, riechen und schmecken. „Da geschieht es manchmal, dass der Herr selbst unsere Seele bewegt...“, schrieb Ignatius 1536 (zit. nach Rahner H. 1973, S. 58). Der Theologe Hugo Rahner bezeichnet dies als einen gnadenvollen Gebetsvorgang „der gefühlten, ertasteten und wie ein Duft erfassbaren Gegenwart Gottes“ (ebd.). Die ‚Anwendung der Sinne‘ in der Meditation war für Ignatius der Weg, der die ‚desorientierten Affektionen‘ des Menschen heilt in der echten ‚Ordnung seines Lebens‘ (ebd. 67). Irdisch gesund sei eben nur der Mensch, der jenseitig heil ist: „Erde und Erdengestalt ist für den Menschen nur tragbar, wenn er sich festgegründet hat im seelischen Kontakt zum Himmlischen.“ (ebd. 71) „Nicht das Vielwissen sättigt und befriedigt die Seele, sondern das Verspüren (sentir) und Verkosten (gustar) der Dinge von innen her (internamente).“ (Ignatius 1991, 15) ‚Geistlichen Übungen‘ sind kein unterhaltsamer Selbstzweck sondern sollen den Menschen „eine radikale Unmittelbarkeit zu Gott erfahren lassen“ (Rahner in Ignatius, 1991, Vorwort); sie werden bis heute in den sogenannten Ignatianischen Exerzitien

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angewandt.2 Diese Übungen sind eine Gewissenserforschung zur Reinigung der Seele von allen ungeordneten Neigungen und um den „göttlichen Willen zu suchen und zu finden in der Ordnung (disposicion) des eignen Lebens zum Heil der Seele“ (Ignatius 1991, 15) Für die ‚Grossen Exerzitien‘ sind ein vierwöchiger Rückzug in die Stille eines Klosters oder Ordenshauses unter Anleitung eines geschulten Leiters geboten; inzwischen gibt es Varianten dieses Übungsweges auch als sogenannte ‚Exerzitien im Alltag‘ (vgl. Hirschauer et al. 1996). Nicht nur katholische, auch reformierte Kreise bieten solche Exerzitien an; bei der Beschreibung des gestuften Ablaufs heutiger ‚grosser Exerzitien‘ folge ich der Pfarrerin Margrit Schiess (Cöppicus/Schiess 2004): • In der Fundamentphase wird der Bezug auf Gott gefestigt und die Bestimmung des

Menschen zur Ebenbildlichkeit und seine Sehnsucht danach gestärkt. Eigene Lebenserfahrungen werden mit Gottesbildern und Verheissungen der Bibel konfrontiert; die Botschaft der Bibel wird in konkreten Erzählungen und Worten in die Imaginationen mit einbezogen. In dieser Phase kann z.B. das Gottessymbol des Lichtes imaginiert werden.

• In der Phase der Reinigung geht es um die Bewusstwerdung von Verletzungen, Fehlverhalten und Schuld; diese werden mit der Bitte um Vergebung und Heilung vor Gott getragen. Hier spielt die Imagination vor dem Kreuz bzw. Kruzifix eine wichtige Rolle.

• Erst in der Phase der Nachfolge und nach den ersten Erfahrungen der Zusage und der heilenden Erkenntnis Gottes wird von den Teilnehmern der Exerzitien eine Entscheidung verlangt: Möchte er sich wirklich auf den Weg mit Christus einlassen? Dann werden die grundlegenden Evangelientexte zur Meditation vorgelegt. Unter Anwendung aller Sinne soll sich nun der Meditierende auf die Erzählungen des Lebens Jesu einlassen: Mit dem inneren Sehen der Situation erstellt er den Schauplatz und sucht sich seinen Platz darin; mit dem inneren Hören stellt er sich Gespräche vor; mit innerem Riechen und Schmecken nimmt er Anteil, z.B. beim Abendmahl, und lässt sich innerlich berühren. Es kommt so (ähnlich wie im Bibliodrama) zu einem ganz neuen Entdecken der Bibel.

• In der Wahlzeit kommen konkrete Fragen zur Sprache; erst nach den grundlegenden Erfahrungen werden eigene Lebensfragen gezielter meditiert. Mit der Ausrichtung auf Gott stellt man sich in das ganze heilende Geschehen Gottes hinein und schaut von daher auf die konkreten Fragen. In diese Phase wird auch die Imagination von Träumen hineingenommen, die auch in der Bibel von grosser Bedeutung sind.

2 auf dieses imaginative Vorgehen hat bereits H. Leuner hingewiesen.

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• In der Phase der Passion wird die Leidensgeschichte imaginiert, durch die hindurch die Liebe Jesu als stärker erfahren werden soll. Für diese Zeit stehen verschiedene Stellen zur Imagination aus den Evangelien zur Verfügung, so z.B. „Die Geheimnisse vom Haus des Herodes bis zu dem des Pilatus Matth 27, 26-30; Luk 23, 12 16-22; Mark 15, 15-19; Joh 19, 1-6“ (Ignatius 1991, 98).

• Die Phase der Auferstehung und der Liebe bringt die Verheissung, dass das Leiden in einem Leben der Nachfolge nicht das Letzte ist. Hier werden die zehn Erscheinungen Christi zur Imagination vorgeschlagen, so z.B. die „Zehnte Erscheinung 1 Kor 15,6: Danach wurde er gesehen von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal.“ (Ignatius 1991, 102). Tiefe Dankbarkeit Gott gegenüber kann erfahren werden, weil das Dunkle nicht ausgeklammert wird, sondern eingeschlossen.

Zentral bleibt bei diesen Übungen die Meditation des Lebens Jesu; jedoch werden auch die Textstellen, in denen die Mutter Jesu, Maria, bedeutsam ist, imaginiert. Das Ziel der Exerzitien ist die Nachfolge Jesu im Ganzen und das Finden der eigenen Bestimmung und des eigenen Weges. Ein Weg, den man beschreiten kann, um eine Sehnsucht nach dem Mehr bzw. dem Sinn des Lebens zu stillen oder auch in einer Lebenskrise. Imagination in der Psychotherapie Die wissenschaftliche Psychotherapie des 20. Jahrhunderts hat sich zögernd der Methode der Imagination wieder angenähert und sie zugleich aus dem religiösen Kontext herausgelöst. Desoille und Happich xxx beschrieben das sogenannte Bildstreifendenken. Sigmund Freud setzte 1895 die Hypnose ein, um hysterische Krankheitsbilder zu behandeln; er benutzte verbale Suggestionen, um die Erinnerung in Form von inneren Bildern wachzurufen. 1900 erschien Freuds ‚Traumdeutung‘, die erste systematische Erforschung von Nachtträumen. Die "freie Assoziation" wurde zu einem Grundelement der Psychoanalyse: Freud suchte hinter den "Einfällen" oder Verbildlichungen immer den unbewussten Gedankengang. Tagträume hingegen waren für ihn eine selbstsüchtige Flucht in die Phantasie (meist mit sexuellem Inhalt). 1916 entwickelte C.G.Jung in einer Krisensituation zur Selbsterforschung die Methode der "Aktiven Imagination". 1932 entdeckte Schultz die spontan auftretenden Imaginationen beim Autogenen Training. Seit 1948 erforschte Leuner (in Anlehnung an Kretschmer, Desoille und Happich) das ‚Bildbewusstsein‘ und entwickelt das "Katathyme Bilderleben" (KB) — heute als Katathym-Imaginative Psychotherapie (KIP) bekannt. Imaginationen sind heute in fast alle Therapieformen auf sehr unterschiedliche Weise integriert: als Trancezustände in Hypnotherapie und Transpersonalen Therapieformen; als Aktive Imagination in der Jungschen Therapie; als Vorstellungs- und Fantasieübung zum Zwecke der Desensibilisierung in der kognitiven Verhaltenstherapie; als geführte

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Phantasiereisen in der Gestalttherapie; als positives Denken oder Visualisierungen in esoterischen Therapien; als ‚Wertorientierte Imagination‘ bei Böschemeyer; als Bestandteil der Traumatherapien und der Krebsbehandlung; in der Oberstufe des Autogenen Trainings. Das ‚katathyme Bild‘ in der Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP) nach Leuner unterscheidet sich von der weitverbreiteten Anwendung der Imagination dadurch, dass es zu einer eigenständigen psychodynamisch-orientierten Therapieform entwickelt wurde. Wahre Vorstellungskraft als erneuerte Imagination Geistliche Übungswege und säkulare Psychotherapien gehen, was die Anwendung der Imagination betrifft, verschiedene Wege. Vielleicht können wir erkennen, dass sich diese Wege in neuester Zeit wieder annähern. Leanne Payne, eine amerikanische Psychotherapeutin, knüpft hier an und spricht von "wahrer Vorstellungskraft" als "erneuerter Imagination" (Payne, 1999,150f.). Sie kritisiert die übliche psychotherapeutische Anwendung der Imagination, denn selbst da, wo von der Imagination als einer schöpferischen und poetischen Kraft gesprochen werde, sei diese Vorstellungskraft nur aus der Perspektive des Menschen definiert. Die menschliche Kraft, in seinem Geiste Bilder oder Pläne und Vorstellungen zu bilden, werde darin deutlich; nicht aber sein Status als Empfänger des anderen! Im Gegensatz zur herkömmlichen Definition aus rein rational-wissenschaftlichem Denken gibt es für die gläubige Christin Payne das Andere als eine "objektive Realität ausserhalb des Ichs in einer transzendenten, unsichtbaren Dimension" (ebd.), die es gelte anzuerkennen, um sie auch als Wirklichkeit wahrnehmen zu können. Wahres imaginatives Erleben könne definiert werden als Intuition des Wirklichen. Der Mensch mache sich dann nicht nur eine Phantasie und bilde sich nicht nur scheinbar etwas ein; es eröffne sich ihm im wahren imaginativen Erleben eine andere Dimension: Sein Geist könne mit dem absoluten Sein verbunden werden. Von seiten der Person her gesehen sei dies dann ein "intuitives Erfassen des Wirklichen"; von Gottes Seite her das Gewähren einer Offenbarung. Die Enthüllungen des Geistes als wahre Imaginationen beeindrucken uns durch ihre besondere Qualität der Dichte, der Intensität, der Spontaneität und des Ergriffenseins; sie sind ein Geschenk und nicht machbar. Als Christen und Christinnen sollen wir unsere Vorstellungskraft auf den menschgewordenen Gott richten, auf ihn blicken, um erlöst zu sein. Mit dieser Vorstellungskraft können wir aus uns selbst herausgehen, können wir uns Gott gelöst und befreit hingeben, wird unser Gebet lebendig: Imagination in ihrer transzendenten Funktion. (ebd.) Unser Welt- und Menschenbild entscheidet also darüber, ob und wie die Technik der Imagination eingesetzt und erlebt wird: Werten wir Glauben und Religion als Illusion und Zwangsneurose, wie das Freud getan hat, werden wir auch mit der Imagination nur im

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begrenzten Bereich der menschlichen und biografischen Fantasie verweilen können. Betrachten wir und wissen wir um die andere Wirklichkeit, die Dimension Gottes als höchste und letztgültige Realität bzw. unsere Herkunft aus dem Heiligen, dann können wir auf intuitive Weise auch mit dem Herzen sehen und hören, können ursprüngliche Erfahrungen machen. Eine solche wahre Imagination durchbricht unsere habituelle Seelenblindheit. Sie öffnet uns Auge und Ohr für alles, was Offenbarungscharakter hat (J. Herzog-Dürck, 1982). Worauf blicken wir hin in unserem Alltag, auf die Katastrophen oder auf Gott? Was regiert uns, die Angst oder die Hoffnung? Was haben wir alltäglich im Auge? Was ich im Auge habe, habe ich auch im Herzen; es bildet mich. (vgl. H. Spaemann) Die Katathym-imaginative Psychotherapie und ihr Verhältnis zum Heiligen Die Katathym-Imaginative Psychotherapie (KIP)3, auch "Psychotherapie mit dem Tagtraum" genannt, ist die von Hanscarl Leuner seit 1948 entwickelte klinische Methode zum therapeutischen Gebrauch der imaginativen Fähigkeiten des Menschen. Der Name leitet sich ab vom griechischen "kata" und "thymos" mit der Bedeutung "der Seele gemäss". Die KIP ist also eine Therapie, die mit der Seele gemässen, d.h. gefühlsgetragenen, bildhaften Vorstellungen arbeitet. Von unserer Definition der Seele hängt es jedoch ab, ob wir das ihr Gemässe rein psychologisch und rational-reduktionistisch verkürzt betrachten, oder einen ursprünglicheren Gebrauch vom Begriff der Seele und ihrer Bilder machen, die die Betrachtung der Weite unserer Herkunft, unseres Ursprungs, des Heiligen miteinschliesst. Leuner wählte das Horusauge als Symbol für das Katathyme Bilderleben (KB — so die frühere Bezeichnung): Der ägyptische Gott Horus – Sohn des Vegetationsgottes Osiris und der Muttergottheit Isis – galt als Weltgott und Gott des Lichtes und wurde in der Gestalt eines Falken verehrt. Seine Augen waren Sonne und Mond. Das linke Auge, das Mondauge, ist gemeint, wenn man vom Horusauge spricht; dieses Auge verweist auch auf die Dunkelheit und das Unbewusste. Es war für die Ägypter das Zeichen des Heilens und Belebens und wurde auch als heil- und glückbringendes Amulett getragen. Werfen wir also einen lichtvollen und erhellenden Blick auf das Heilen und Beleben, wie es die Katathym-Imaginative Psychotherapie anstrebt und ermöglicht. Die KIP ist heute ein anerkanntes und eigenständiges, gut strukturiertes und systematisch aufgebautes Verfahren; sie zählt zu den psychodynamischen 3 Einführungen in die KIP: L. Kottje-Birnbacher, in: „Imagination“ 4/2001; zu bestellen bei www.oegatap.at.; E. Wilke: Leuners Katathym-imaginative Psychotherapie (KIP), 6. Auflage, Stuttgart, Thieme 2004. Siehe auch unter www.sagkb.ch; www.agkb.de und www.igkb.de.

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Therapieformen, d.h. sie beruht auf der Psychoanalyse mit ihren Weiterentwicklungen. Mit ihrer psychoanalytischen Metatheorie beachtet die KIP die Beziehungsdynamik (Übertragungsgeschehen, Widerstand, Agieren) und die Psychodynamik (Unbewusstes, Abwehrmechanismen, Konflikte). Sie ist konfliktorientiert und aufdeckend. Katathyme Imaginationen können verstanden werden als bildhafte Form der "freien Assoziation". Sie erlauben eine kontrollierte Regression und somit einen Blick in die primärprozesshafte innere Bilderwelt des Patienten. Im Zentrum der KIP steht der systematische Einsatz von Imaginationen, also gefühlsgetragenen inneren Bildern, anhand derer es möglich wird die aktuelle Gestimmtheit und die psychische Struktur zu veranschaulichen, die Ich-Struktur zu stärken, Konflikte zu bearbeiten, Ressourcen zu erschliessen, kreative Prozesse zu fördern, und neue Erlebens- und Verhaltensweisen zu erproben. Die KIP hat sich bewährt in der Behandlung von neurotischen, funktionellen und psychosomatischen Leiden; als Krisenintervention und Kurzzeittherapie; als Trauma-Behandlung bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD); bei Frühstörungen bzw. Persönlichkeitsstörungen. Bei der Behandlung von sogenannten Ich-strukturellen Störungen mit Borderline-Symptomatik nach frühkindlich erlebter Schädigung oder Traumatisierung ist eine modifizierte Technik anzuwenden. Im Vordergrund stehen dann Ich-stützende Interventionen, sogenanntes therapeutisches "holding" und "containing" (Winnicott; Bion), und schützende, stabilisierende Imaginationen (der "sichere Ort", innere Helfer etc.), die das Einüben von primärem Urvertrauen ermöglichen und zur Strukturbildung der psychischen Organisation beitragen. Eine Therapiesitzung mit dem Tagtraum ist in der Regel eingebettet in eine analytisch-orientierte Therapie und besteht aus einem Vorgespräch, einer Entspannungsphase und der Aufforderung, sich zu einem von der Therapeutin bzw. dem Therapeuten vorgeschlagenen "Motiv" ein inneres Bild kommen zu lassen. Motive sind Einstiegsimpulse für den katathymen Tagtraum: • Die sogenannten Standardmotive (Blume, Wiese, Bach, Haus, Berg, Sumpfloch,

Waldrand etc.) sprechen von ihrer Symbolik her einen je bestimmten Erfahrungs- und Bedeutungsbereich an.

• Motive können auch aus dem Kontext der Therapie heraus gewählt sein, wie etwa die "Begegnung mit einer bedeutsamen Bezugsperson" (z.B. der Mutter, dem Professor, der Nachbarin etc.).

• Ausgehend von der Sequenz eines nächtlichen Traumes kann eine Fortsetzung "gebildert" werden;

• ein körperliches Symptom kann Ausgangspunkt für die sogenannte "Körperintrospektion" sein;

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• oder aber es scheint sinnvoll, eine Altersregression einzuleiten, um die Gestimmtheit und die Erfahrungen der Kindheit wiederzubeleben. Und vieles mehr.

Der eigentliche Tagtraum dauert ca. 20-40 Minuten und wird vom Dialog mit der empathisch mitschwingenden TherapeutIn getragen. Die PatientIn wird dadurch im Tagtraum in ihren Erkundungen von der TherapeutIn angeregt, vor allzu grosser Angst geschützt, bei Konfrontationen unterstützt und zu neuen Verhaltensweisen ermutigt. Ein kurzes Nachgespräch beendet die Tagtraum-Sitzung. Die PatientIn wird aufgefordert, sich schreibend und malend mit den Inhalten des Tagtraums bis zur nächsten Sitzung zu beschäftigen. Dann sollte ein intensiveres Nachbearbeiten und Durcharbeiten der Bilder stattfinden, in dem auch das affektive, primärprozesshafte Material mit dem Alltagsbewusstsein in Verbindung gebracht wird. Die KIP in Abgrenzung zu anderen imaginativen Verfahren Die KIP hat ein klinisches Interesse und ist als therapeutische Heilbehandlung einem Heilungsauftrag und damit einem Kostenträger (den Krankenkassen) verpflichtet. Sie will und muss heilen und ihre Wirksamkeit beweisen können. Dies muss betont werden in Abgrenzung zu allen imaginativen Methoden, die sich als "geführte Phantasiereise", als "positives Denken" und „Visualisieren“ verstehen und im Bereich der Esoterik im Rahmen von Selbsterfahrungsworkshops zum Zwecke der Psychohygiene, Meditation oder mit dem Anspruch auf Bewusstseinserweiterung für weitgehend gesunde Menschen angeboten werden. Freilich gibt es bei allen diesen Methoden Überschneidungen; es soll damit auch nichts über deren Wirksamkeit ausgesagt werden. Die KIP wird in der Regel im Einzelsetting und im Dialog mit der Therapeutin durchgeführt. Dies bewirkt eine haltgebende Führung bzw. Begleitung während des ganzen Tagtraumes und ist sinnvoll für den Einsatz im klinischen Bereich. Hier liegt die Abgrenzung zu Verfahren, bei denen eine Person für sich allein imaginiert, wie z.B. in der "Aktiven Imagination" von C.G.Jung; oder bei geistlichen Vorstellungsübungen und Bild betrachtenden Meditationen im Rahmen von Exerzitien. — Die KIP kennt aber auch Varianten der Anwendung für Paare und als Gruppensetting. Die KIP versteht sich als nicht-direktives und nicht-suggestives Verfahren. Diese Haltung steht im Kontrast zu den Anweisungen des Therapeuten in Hypnotherapien oder Tranceverfahren wie auch zur Methode der Desensibilisierung in der kognitiven Verhaltenstherapie. Es gibt jedoch Überschneidungen, weil man bei der Weiterentwicklung der KIP erkannt hat, dass zur Behandlung von akuten Traumafolgen

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direktive bzw. suggestive therapeutische Anweisungen sinnvoll und notwendig sein können, z.B. zur Kontrolle von intrusivem Material. (vgl. Steiner/Krippner 2005) Die KIP arbeitet mit dem gezielten Einsatz von Imaginationen; sie gibt Motive als Einstieg in den Tagtraum vor, die aber immer nur ein Angebot darstellen. Es gilt Leuners Anweisung: "Alles, was kommt, ist recht." Die Therapeutin folgt daher der Patientin auf ihrem imaginativen Weg. Hier liegt die Abgrenzung zu den sogenannten “geführten Phantasiereisen”. Die KIP will keine Veränderung (Erweiterung oder Trübung) des Alltagswachbewusstseins erreichen. Zur Vorbereitung der Imagination wird daher lediglich eine leichte körperliche Entspannung angestrebt, um zu Erkenntnis und Einsicht jenseits des rationalen Denkens zu gelangen. Sie kennt, beachtet und benutzt das spontane Phänomen der Regression und gewisser Trancezustände. Hier zeigt sich eine Nähe zur heutigen Hypnotherapie; aber auch eine Abgrenzung zu Verfahren, die mit Hyperventilation oder dem Einsatz von psychoaktiven Substanzen arbeiten. Die KIP ist als klinisches Verfahren wertfrei. Wertfrei meint hier: keiner Glaubensrichtung verpflichtet. Der gezielte Einsatz von z.B. biblischen Texten als Ausgangspunkt für eine Imagination würde meines Erachtens von der KIP-Ausbildungs-Gesellschaft als unzulässige Beeinflussung beanstandet werden. Hier verläuft eine sehr klare Grenze zu allen christlichen (oder allgemein geistlichen oder esoterischen) Übungswegen und Beratungen (Seelsorge). Wie aber gehen wir damit um, wenn die PatientIn religiös-spirituelle Themen und Bilder in die Therapie einbringt? "Innere Führer" und die "Befriedigung archaischer Bedürfnisse" in der KIP Ich möchte nun auf zwei Techniken der KIP näher eingehen, die für das hier Darzulegende — die Rolle des Heiligen in der KIP — eine wichtige Voraussetzung sind: Es geht um die Bedeutung und den Umgang mit ‚hilfreichen inneren Führungsgestalten‘ und die gezielt ermöglichte ‚Befriedigung archaischer Bedürfnisse‘ im Rahmen der Imagination. Leuner beobachtete schon früh das Phänomen der spontan im Tagtraum auftretenden Symbolgestalten (Menschen, Tiere) und bezeichnete diese als "Innere Führer" oder "Schrittmacher", sofern sie sich durch ein positives Verhalten auszeichneten, das vom Patienten als freundlich und hilfreich erlebt werden konnte (Leuner,1985/94, 197 f.). Solchen Symbolgestalten — so Leuners Erfahrung — vertrauten sich die Patienten im Tagtraum in der Regel ohne Vorbehalte an, denn sie spürten, dass ihre inneren Führer im Besitz gewisser Fähigkeiten waren, die man mit "Wissen um den rechten Weg" oder

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mit "tiefgründiger Gewissheit über das Rechte" (ebd.) beschreiben kann. Diesen Gestalten könne der Therapeut vorübergehend sogar eine Führungsrolle im Tagtraum übergeben; sie seien – sofern sie ihre leitende Funktion übernähmen – therapeutisch förderlich und relevant. Solche Leitgestalten treten auf in Tiergestalt oder auch als archetypisch anmutende menschliche Figuren, wie z.B. als "alte Weise", als Mädchen oder junge Frau, als Zauberer, als nährende urmütterliche Gestalt und ähnliches mehr. Leuner beschreibt aber auch das Auftreten von Gestalten mit übermenschlichem und transzendentem Charakter, wie z.B. die "Grosse Mutter", "Jesus" oder "Gott", und verweist auf deren unmittelbare, das Ich des Patienten stärkende Kraft (ebd., 200 f.): „Die Tatsache, dass derart therapeutisch-progressive Gestalten auftauchen, muss Erstaunen erregen,“ schreibt er, „manifestieren sich in ihnen doch offensichtlich ‚positive‘, konstruktive beziehungsweise kreative Tendenzen des Ich, die geeignet sind, Perspektiven der Entwicklung des therapeutischen Prozesses zu entwerfen. Insofern können sie auch als ‚ideale Objektrepräsentanzen‘ angesprochen und theoretisch nach Art einer vorübergehenden therapeutischen Regression, nicht selten auf einem narzisstischen Niveau ... als idealisierte Leitfiguren verstanden werden“ (ebd., 197 f.). Eine Begegnung mit solchen Gestalten ist meist von starker emotionaler Ergriffenheit begleitet; es sind schutzgebende und ichstärkende Leitfiguren. Die Traumatherapie arbeitet inzwischen auch mit solchen ‚inneren Helfern‘, die zur Stabilisierung der Person herangezogen und bei der Traumasynthese zur Stärkung eingesetzt werden (vgl. Krippner 2001 und 2002; Reddemann 2001; Sachsse 2001; Steiner/Krippner 2006). Bei der "Befriedigung archaischer Bedürfnisse" (Leuner 1985/94, 259 f.) geht es darum, Situationen im Tagtraum zuzulassen oder einzustellen, die Entspannung und Wohlbefinden ermöglichen, die also konfliktfrei sind und dadurch die Träumerin oder den Träumer in eine beglückende und auch erhebende Stimmung bringen. Es sind dies meist körperlich regressive und regenerative Zustände, z.B. ein Sich-Aufhalten an speziellen Orten oder ein Verschmelzen mit der Natur (bevorzugterweise in Wasser-Motiven wie Bach, (Heil-)Quelle, Meer). Oder es geschehen Altersregressionen in eine Zeit vor den Konflikt, vor das Trauma, in eine noch heile kindliche Welt. Es können auch Begegnungen sein mit den bereits genannten "inneren Führern" in menschlicher, tierischer oder übermenschlicher Gestalt. Auf diese Weise kann es — so Leuner — sogar zur Heilung ganz ohne die Bearbeitung von Konflikten kommen, allein durch ein mehrfaches Aufsuchen solcher offenbar im wahrsten Sinne des Wortes Heil-spendenden Situationen im Tagtraum. Können wir vermuten, dass hier — auch wenn von Leuner nicht als solches (an-)erkannt — von den PatientInnen ursprüngliche, religiöse Erfahrungen gemacht wurden?

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Wichtiger noch für das Verstehen spirituell-religiöser Vorkommnisse in den Therapien halte ich die Erkenntnisse aus der Erforschung psychoaktiver Substanzen. Bereits in seinem Lehrbuch verwies Leuner auf die Möglichkeit, dass die imaginierten Gestalten numinosen (heiligen) Charakter annehmen können. Er kannte das Phänomen der religiösen Erfahrungen der Patienten aus der LSD-Forschung und aus der ‚Psycholytischen Therapie‘, die er selbst parallel zur Tagtraumtechnik in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte (Leuner 1981). Unter kontrollierten therapeutischen Bedingungen im Einzelsetting mit früh und schwer gestörten Patienten (oftmals Suchtkranken) kam es unter LSD in der Regel zu kosmisch-mystischem, transzendentem Erleben und der Erfahrung ekstatisch erlebter Liebe: Die PatientInnen fühlten sich wie in Gottes Armen geborgen und geliebt und erstmals selbst liebesfähig. Leuner bezeichnete die transzendente Erfahrung überströmender Liebe als das zentrale und heilende Element (Leuner 1981, 186) und charakterisiertesie eindeutig als religiöse Erfahrung. „Wenn aber diese psychedelische Spitzenerfahrung, dieses so ausserordentliche religiöse Erleben gleichzeitig zu einem ‚Heilmittel‘ wird“, so überlegte er, „muss sich die Medizin, und hier in besonderem Fall die Psychotherapie, die Frage nach der Begründung der Heilwirkung stellen“ (Leuner 1981, 190). Seine vorläufige Antwort lautet: Die ungeheuren emotionalen Defizite der Patienten können unter dem Einfluss des Halluzinogens und im Erleben des Einheitsgefühls zur ‚Absättigung‘ oder ‚Auffüllung‘ gebracht und Urvertrauen im Menschen erweckt werden: „Der psychotoxische Regress auf die frühnarzisstische Periode mit dem überwältigenden Erleben von Sicherheit und Einheit kann offensichtlich jene frühen emotionalen Mängel selbst noch im Erwachsenenalter ausgleichen...“ (Leuner 1981, 202). Inwiefern sind diese Beobachtungen von Heilung durch das Erleben von Geborgenheit in der Liebe Gottes aus der psycholytischen Therapie übertragbar auf unsere KlientInnen und eine zwar drogenfreie aber doch regressionsfördernde Therapie, wie sie die KIP darstellt? Gibt es vielleicht gar eine eigentliche transzendente Funktion oder Dimension im therapeutischen Geschehen der KIP? Spirituelle Phänomene und Motive in der KIP Wie bereits ausgeführt hat Leuner schon sehr früh darauf hingewiesen, dass das Aufsuchen erhebender und befriedigender Situationen im Tagtraum, also das regressive Verschmelzen mit Welt und Mensch wie auch die Begegnung mit mythologischen und archetypischen oder religiösen Gestalten, nicht einfach als Widerstandsphänomen zu betrachten sei, sondern in sich eine eigendynamische Heilungskomponente berge, eine das Ich des Patienten stärkende Kraft. Bis vor wenigen Jahren führte die spirituelle Dimension in psychoanalytisch orientierten Therapien, wozu sich auch die KIP zählt, jedoch ein Schattendasein. Das hatte verschiedene Gründe, vor allem aber wohl eine

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tiefsitzende Aversion gegenüber religiösen Inhalten, so dass spirituelle Phänomene auch da, wo sie sichtbar wurden, nicht erkannt oder anders benannt wurden (K. Krippner 2001). Die persönliche Haltung des Therapeuten entscheide aber darüber, ob sie beachtet und wie sie interpretiert würden. Spirituelle Bilder und Erfahrungen können spontan auftreten, aber auch gezielt eingebracht werden, wie z.B. in der therapeutischen Begleitung von Kranken und Sterbenden (vgl. Eibach 2003; Klessmann/Eibach 1996, 1998; Renz 2000, 2003) oder im Rahmen von Traumatherapie (vgl. Reddemann 2001.) Viele traumatisierte Patientinnen beschäftigen sich mit spirituellen Fragen; sie können offenbar ihr Schicksal eher akzeptieren, wenn sie eine "wie immer geartete spirituelle Orientierung haben" (L. Reddemann zit. in K. Krippner ebd.). Seit einiger Zeit wird der „gezielte Einsatz spiritueller Techniken innerhalb der KIP als eine Möglichkeit integrativer, kreativer Therapie skizziert“ (Krippner 2001, 101): In Phasen der Hoffnungslosigkeit, die den Therapieprozess lähmen, und in denen die Patienten keinen Zugang mehr zu ihren Potentialen finden, sei die Einführung spiritueller Motive hilfreich, so z.B. die „Begegnung mit einer weisen Gestalt auf einem Berggipfel" oder die Vorstellung von einem "Tempel der Stille" (ebd.). „Ein angemessener Umgang mit Spiritualität im therapeutischen Prozess ermöglicht dem Patienten nicht nur den Zugang zu seinen Potentialen, sondern er lernt, diese Kraftquellen zur inneren Stabilisierung zu nutzen. Dies ermöglicht ihm die Erfahrung einer neuen, sinngebenden Lebenshaltung“ (ebd. 106). Und wenn der Therapeut nicht an Gott glaube, so solle er zumindest offen sein dafür und die spirituellen Erlebnisse seiner Patientinnen respektieren (ebd.). Über den Umgang mit spontan aufkommenden Imaginationen, die im engeren Sinne religiöse bzw. christliche Inhalte oder Motive aufweisen, ist meines Wissens in der KIP-Literatur bislang nichts beschrieben worden. Die Aufforderung an die Patientin in der Stabilisierungsphase der Traumatherapie, sich eine ‚gütige weise Gestalt‘ vorzustellen, führt manchmal dazu, dass eine Mariengestalt auftaucht. So sagen die PatientInnen dann: „Da ist die Mutter Gottes mit ihrem blauen Mantel...“ (vgl. Reddemann , Steiner/Krippner). Es macht aber den Eindruck, dass diese Gestalt von den TherapeutInnen nicht beantwortet wird; es wird nicht beschrieben, wie die TherapeutIn damit umgegangen ist, wie sie die Wirkung dieser Gestalt der Maria sich hat entfalten lassen. Das heilende Heilige in der katathymen Imagination Die starke Wirkung, die von den inneren Führungsgestalten ausgeht und die sich auch in der Befriedigung archaischer Bedürfnisse zeigt, ist offensichtlich — insbesondere

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dann, wenn eine Ebene erreicht wird, die mit spiritueller, transpersonaler oder religiöser Erfahrung umschrieben werden kann. Das Nachdenken darüber, was sich hier im Rahmen der KIP ereignet und wie hier etwas eigentlich geschieht, stellt uns vor viele Fragen: • Womit haben wir es bei diesen Vorgängen auf der inneren Bühne einer Patientin zu

tun: Worin unterscheidet sich die Begegnung mit einem imaginierten ‚Helfer‘, je nach dem ob er in tierischer, in archetypischer oder religiöser Gestalt erscheint?

• Können wir "heilende Bilder" gezielt einsetzen; können wir das Heilige instrumentalisieren?

• Welche Einstellung der Patientin ermöglicht bzw. verhindert das heilende (heilige) Geschehen?

• Welche Rolle spielt die therapeutische Beziehung, die Persönlichkeit der Therapeutin, ihre eigene Weltanschauung und (Glaubens-)Überzeugung, ihre Liebesfähigkeit?

Die Antworten sind freilich vom Welt- und Menschenbild abhängig, das wir haben: Psychologisch-psychoanalytische Antworten werden sich unterscheiden von philosophischen; naturwissenschaftliche Erklärungen von theologischen. Ich versuche von der Erfahrung her eine vorläufige Antwort zu finden, die verstehen und erklären will, die aber eine glaubende Haltung miteinschliesst und berücksichtigt, dass wir nicht alles wissen können. Das beobachtete Phänomen der Gottessehnsucht bei meinen Patientinnen wird verständlich aus der daseinsanalytischen Betrachtung des Wesens des Menschen als Offenheits- und Lichtungsbereich für den Urgrund allen Seins. Anders ausgedrückt: Wir wollen uns beziehen auf das Letztgültige, das ganz Andere, Gott. Dort wurzelt – bewusst oder unbewusst – unser aller fundamentaler Wunsch, ja das lebengebende Bedürfnis, bedingungslos angenommen und geliebt, von archaischer Liebe, von Gottesliebe umfangen und gewollt zu sein. Bei frühkindlich gestörten und traumatisierten Patientinnen wird die spirituelle Frage zur Not-wendigkeit: Die Ermangelung von Liebe oder das Verletztwerden durch falsche Liebe — der Liebesunwert (Wurmser 1997) — sind so gravierend und grundlegend, dass die immer bedingte Liebesfähigkeit der Therapeutin oft nicht tief genug greifen und heilen kann. Eine auf das Letztgültige, auf Gott bezogene Therapeutin kann jedoch mit ihrem Glauben Mittlerin sein; sie kann auch bei der Patientin eine Offenheit für das Göttliche und Gottgewollte ermöglichen. Es geht dann nicht (nur) um therapeutische Machbarkeit (die Bemeisterung, Bemächtigung und Instrumentalisierung einer therapeutischen "Technik", die als solche natürlich auch Sinn macht), sondern — über alle therapeutische Kompetenz hinaus — vor allem um eine Haltung der Offenheit und des

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Empfangens, die eine Heilung auch als Geschenk und Gnade, als Ereignis betrachten kann. Eine innere Helfer-Gestalt, wie z.B. die der Maria, wird mit psychologischen Begriffen wie "gutes Selbstobjekt" oder "Objektrepräsentanz" (also einer Verinnerlichung von Liebesobjekten der frühen Kindheit, die es ja aber oftmals gar nicht gab) oder der Idealisierung der Therapeutin m.E. nicht ausreichend erklärt und gedeutet. Mythologisch und archetypisch, vor allem aber religiös anmutende Gestalten, die uns in der Meditation oder Imagination begegnen, verkörpern gegenüber einem guten Selbstobjekt einen "Mehr"-Wert, denn sie sind geistliche Symbole. Theologen wie Karl Rahner und Paul Tillich haben die entscheidende Wichtigkeit der Symbole für jedes geistliche Leben betont: Die Symbolfähigkeit des Menschen sei für die Erkenntnis der Tiefendimension seines Lebens von zentraler Bedeutung. Worin besteht nun dieser "Mehr"-Wert? Geistliche Symbole (und als solche können wir die spirituellen und religiösen Phänomene in der Imagination betrachten) öffnen uns für die andere Wirklichkeit und vermitteln uns wahren Anteil daran; sie weisen weit über sich selbst hinaus! Karin Johne fasst die wesentlichen Aspekte, die ein echtes geistliches Symbol kennzeichnen (aufbauend auf Gedanken Paul Tillichs) folgendermassen zusammen (Johne 1999, S. 67f.): • "Ein geistliches Symbol erschliesst im Meditierenden Dimensionen seines Wesens, die

sich dadurch für die Erfüllung durch Gott öffnen." Frage: Wonach hungert der Mensch; kann er seine tiefste Sehnsucht zulassen? • "Ein geistliches Symbol hat wahren und echten Anteil an dem, worauf es symbolisch

hinweist, und vermittelt dem, der sich meditierend darauf einlässt, Anteil an dieser Wirklichkeit."

Hinweis: Im Schauen auf Jesus können wir die wahre und wirkliche Realpräsenz in uns aufnehmen.

• "Ein geistliches Symbol weist weit über sich selbst hinaus: Die Wirklichkeit, auf die es zeichenhaft hinweist, übersteigt jedes Symbol unendlich."

Hinweis: Das "Brot des Lebens" als geistliches Symbol hat eine prophetische, eine sakramentale und eine eschatologische Dimension. Die Heilsgeschichte Gottes wird in ihm erlebbar.

• “Jedes Symbol steht in der Gefahr, zum dämonischen Zerrbild zu werden, wo man es seines Hinweischarakters entkleidet und absolut setzt.“

Hinweis auf "Abgötterei", der sich Jesus verweigert, wenn er spürt, dass ihn die Menschen nach einem Wunder zu ihrem ‚König‘ erheben wollen.

• “Die geistliche Wirklichkeit dagegen ist immer in Gefahr, zum abstrakten Prinzip zu verblassen, wo der Mensch meint, ohne Symbolbilder auskommen zu können.“

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Hinweis auf die Bedeutung des sakramentalen Zeichens des Brotes der Eucharistie: Fleisch und Blut des Herrn in sich aufnehmen müssen, um das Leben zu haben.

Ob wir uns also für ein "Bild" (eine Imagination, eine Ikone, ein Wort oder eine Metapher) öffnen, und wie wir uns von ihm ansprechen lassen, es in uns etwas bewirken lassen – so sind wir Bewirkte und Gewandelte. Wir werden, was wir schauen! Diese Ausführungen zum echten geistlichen Symbol haben mir geholfen, die Bedeutung, die die Repräsentanten unserer Religion (Jesus Christus, Maria, Schutzengel, Heilige) im Rahmen des therapeutischen imaginativen Geschehens haben können, zu verstehen. Jedes imaginative Verfahren ermöglicht prinzipiell den Bezug zum Ursprung unseres Seins und zu dem, was uns übersteigt, da es die Symbolisierungsfähigkeit, den präverbalen und primären Seinsprozess, aktiviert. Die Imaginierenden werden in einem regressiven und zugleich transzendenten Geschehen auf kindlich-vertrauende Weise empfänglich für das höhere Sein, das Andere, das Letztgültige. Eine solche imaginativ-meditative Auseinandersetzung mit den Grundfragen des Lebens wird dem Menschen oftmals erst in Leid und Noterfahrung aufgezwungen. Für einige meiner Patientinnen stand grosses Leid am Beginn des Lebens, das ihre Persönlichkeit durch und durch geprägt hat. Hier nun hat die Katathym-Imaginative Psychotherapie als ausgefeilte klinische Methode gegenüber anderen imaginativen Verfahren ihren besonderen Stellenwert. Wenn sie sich darüber hinaus respektierend-gewährend oder glaubend-ermöglichend auch offenhalten kann für die spirituelle Dimension, wird sie zu einer "wahren Imagination" (im Sinne von Payne 1999), die nicht nur der heute reduktionistisch gefassten Seele gemässe, sondern auch dem Geist gemässe Bilder und Erfahrungen zulässt. Der meist langjährige Heilungsprozess bei sehr frühen und schweren Störungen kann vermutlich nicht wesentlich verkürzt werden; Heilung kann aber tiefgreifender geschehen und sich auch dort ereignen, wo sie menschenunmöglich erscheint. Es durchzieht die ganze biblische Geschichte, dass Menschen sich oft erst in der Bedrängnis an Gott wenden: „Aus grosser Not ruf ich zu Dir...“ heisst es in einem Psalm. In Not und Gefahr — individuellem Leiden oder einer allgemeinen zeitgeistigen Seins- und Gottvergessenheit — erkennt der Mensch seine Begrenztheit und wagt es, neu zu hoffen, denn er hat nichts mehr zu verlieren. Diese äusserste Not erzeugt vermutlich ein Kraftfeld; sie provoziert und zieht die Energie Gottes an. Gott, den Höchsten und Letztgültigen, können wir ja nicht erkennen oder ergreifen; aber wir können ihn nötigen und uns von ihm ergreifen lassen. Die palamitische Theologie der Ostkirche spricht von "Gottes Kraftströmen" (energeiä), die wir Menschen spüren können: „Je mehr der Mensch sich mit ganzheitlichem Erkennen in diese göttliche, durch Jesus Christus verdichtete Dynamik hineinbegibt, desto mehr wird er ‚eins‘ mit Gott“ (Sudbrack xxx,

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123). Göttliche Energie, Dynamik, Heiliger Geist, Liebeskraft? Was ist es, was wir in grösster Not als rettendes Eingreifen von oben erfahren? Wir kommen meines Erachtens nicht darum herum, die Begrenztheiten der therapeutisch-menschlichen Bedingungen und die eingeengete Sichtweise rein psychologisch orientierter Therapien zu erkennen. Erst unter dieser Voraussetzung aber sind wir bereit, uns ansprechen zu lassen vom ganz Anderen, vom Höchsten, vom Urgrund allen Seins — vom christlichen Gott, der die Liebe ist: auf Ihn schauen, Ihm ähnlich werden wollen, alles von Ihm erwarten. Wie die blutflüssige Frau (Lukas 8, 43-48) lösen wir einen Kraftstrom aus und bringen die Gotteskraft, die heilende Liebe zum Fliessen. Von Heilkraft Gottes, "Healing Power" (Grau 2000), spricht auch Paul Tillich; und der Frage, wie sich tiefenpsychologische Heilung und religiöse Heilung zueinander verhalten, widmete er seine Theologie. „Wo ... Psychotherapie mit einem letzten Ernst und mit Tiefe arbeitet, da wird implizit, wenn nicht sogar explizit ... die spirituelle Dimension erreicht“ (ebd. 113). Als evangelischer Theologe betont Tillich die Notwendigkeit der Wiederentdeckung der Kraft der Imagination bzw. der "Macht der Bilder" (ebd. 214). „Im Wissen um die heilende Kraft innerer Bilder malt Tillich immer wieder Jesus-Darstellungen der Bildenden Kunst...“ in seinen Predigten nach. Er will uns „... hineinziehen in die Visualisierung dessen, von dem "Neues Sein" ausgeht...“ (ebd. 215) — und verweist auf den paulinischen Gedanken, „.... dass die, die auf Christus schauen, in ihm das Angesicht Gottes schauen und diesem anverwandelt werden“ (ebd.). Die vierte Dimension der KIP Voraussetzung und Auslöser für ursprünglich-spirituelle Erfahrung ist — wie wir gesehen haben — oft eine besondere Notsituation auf seiten der PatientIn und (sich daraus ergebend?) eine Bereitschaft, sich in kindlichem Vertrauen an das Geschehen auszuliefern. Diese Voraussetzung war bei meinen Patientinnen Salome und Lena gegeben: „Das Verlangen nach völliger Selbsthingabe in Momenten der grössten Furcht“ (Leuner — in Anlehnung an James/Loewenfeld — 1981, 198). Auf der Ebene der Imagination sind die psychischen Vorgänge der Regression, der Progression oder der Transzendenz dann nurmehr schwer voneinander zu unterscheiden; denn die Regression auf die Grundstörung (vgl. Exkurs Grundstörung — Grundbedürfnis), ist, wenn man sich sicher gehalten weiss, letztlich ein progressiver Prozess, der transzendente Erfahrungen beinhalten kann. Eine solche Erfahrung muss nicht personal sein, sie kann sich auch als ein sich Aufgehobenfühlen in einer ursprünglichen Landschaft zeigen, an sakralen Orten, in einem Umfangen- und Getragensein von Licht oder Farbe (oft Blau oder Gelb).

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Auch wenn wir feststellen, dass religiöses Erleben in der Therapie wirksam und hilfreich ist, dass primärnarzisstische Wunden geheilt werden können, indem gleichsam etwas im Ursprung und Grund der Person im Sinne einer existentiellen Wiedergutmachung wieder gut gemacht wird, sagt doch dieses Erleben — psychologisch interpretiert — nichts über die Realität einer göttlichen Existenz oder Wahrheit aus. Das subjektive Empfinden des Patienten und die Auswirkungen des Erlebens auf seine psychische Befindlichkeit sollten jedoch entscheidend für unseren therapeutischen Umgang sein. Ein ernsthafter und rücksichtsvoller Einbezug der religiösen Dimension in die Therapie ist, wo sie sich ergibt, meines Erachtens ein nicht zu unterschätzender Wirkfaktor — immer unter der Berücksichtigung der Unverfügbarkeit eines solchen Geschehens. Durch die religiöse Rückbindung wird die Übertragungsbeziehung zudem entlastet: Der Zufluchtsort im eigenen ‚inneren Heiligen‘ befreit aus der Abhängigkeit von der TherapeutIn. Voraussetzung auf seiten der TherapeutIn ist aber ihre Fähigkeit, sich mit der „Urdimension der Existenz, die Liebe ist“ (Benedetti 1992, 269), glaubend und hoffend zu verbinden. Als klinische, nicht suggestive, die Regression, Progression und Transzendenz fördernde Methode kann die KIP meines Erachtens eine potentiell religiöse Heilkraft — ‚healing power‘ (Tillich) — für sich in Anspruch nehmen. Sie verfügt damit neben den bekannten Dimensionen der Konfliktbearbeitung, der Befriedigung archaischer Bedürfnisse und der Kreativität über eine vierte Dimension: eine Dimension der Tiefe.