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Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten
Grundlagen
Willibald Jandl
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 2
Impressum: Eine Veröffentlichung des Bundeszentrums für Inklusive Bildung und Sonderpädagogik Kaplanhofstraße 40 4020 Linz Layout: Margit Leibetseder Lektorat: Christa Hagler
Downloadbar unter: www.bzib.at
Linz, Mai 2018
Im Auftrag von:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 3
Vorwort der Herausgeber
„Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf steigt,
obwohl die Gesamtschülerzahl sinkt.“ „Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher
Muttersprache erhalten sonderpädagogischen Förderbedarf, weil sie den
Lehrplananforderungen wegen ihres mangelnden Sprachverständnisses nicht
entsprechen.“ Diese und ähnliche Sätze waren und sind immer noch in der österreichischen
Bildungslandschaft zu hören. Fakt ist, dass die SpF-Quote in den letzten Jahren
österreichweit merklich gestiegen ist. Im Rundschreiben 23/2016 des BMBF wird dazu
festgestellt: „Da weder nationale noch internationale Kennzahlen auf eine vergleichbare
Zunahme von Behinderungen hinweisen, kann davon ausgegangen werden, dass dies auf
die Praxis der Feststellung des SPFs zurückzuführen ist. Um die Unterstützung, Begleitung
und Förderung von Schülerinnen/Schülern mit Behinderungen sicherzustellen, darf sich die
Vergabepraxis des SPFs ausschließlich nach der Intention des § 8 des Schulpflichtgesetzes
richten“ (Rundschreiben 23/20161).
Mit diesem Rundschreiben werden Richtlinien für Differenzierungs- und
Steuerungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs definiert, die darauf abzielen, die Treffsicherheit zu steigern und die
Transparenz sowie Rechtssicherheit zu erhöhen.
Im Rahmen der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen wurden in Österreich drei Inklusive Modellregionen (Steiermark, Kärnten
und Tirol) definiert, in denen Maßnahmen zur Implementierung eines inklusiven
Schulwesens entwickelt und erprobt werden.
Der Nationale Aktionsplan Behinderung 2012-2020 sieht allerdings vor, dass Inklusive
Modellregionen bis 2020 flächendeckend in ganz Österreich eingerichtet sind, was auch
einen strukturellen Wandel im Bildungssystem mit sich bringt.
Der Erlass zur Durchführung der Inklusiven Modellregionen enthält Richtlinien zu folgenden
Bereichen:
- Qualität der Inklusion in allgemeinen Schulen (gem. § 27a SCHOG) und Beschreibung der
Inklusiven Modellregionen
- Neuorganisation des ZIS (Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik)
- Effizienter, bedarfsorientierter und flexibler Ressourceneinsatz
1 http://www.cisonline.at/fileadmin/kategorien/RS_23-2016_SPF.pdf
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 4
- Qualität der Verfahren zur Feststellung des SPF und der SPF-Bescheide
- Klärung von Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Schulerhaltern
(BMBF 2015, S. 1)2
Das Bundeszentrum für Inklusive Bildung und Sonderpädagogik (BZIB) wurde vom
Bundesministerium beauftragt, die Inklusiven Modellregionen (IMR) bei der Umsetzung
dieser Richtlinien zu begleiten. Für den Themenbereich „Qualität der Verfahren zur
Feststellung des SPFs und der SPF-Bescheide“ haben wir uns dazu entschlossen, das
Modell der Schweiz zum standardisierten Abklärungsverfahren (SAV) näher zu betrachten.
In Fortbildungen und Arbeitstagungen, die das BZIB veranstaltet und moderiert hat, haben
sich die Vertreter/innen der Inklusiven Modellregionen entschieden, dieses Modell für den
Gebrauch in Österreich zu adaptieren. Im Kontext dieser Auseinandersetzung musste auch
geklärt werden, welche Sicht bzw. Definition von Behinderung herangezogen wird. Das
schweizerische „SAV“ orientiert sich an international vereinbarten Definitionen von
Behinderung und verwendet die in diesem Zusammenhang entwickelten Klassifikationen
und Standards. Hierzu gehören insbesondere die „Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) sowie die Internationale
Klassifikation der Krankheiten (ICD-10 oder ICD-11)“ (Standardisiertes Abklärungsverfahren
2014, S. 9)3.
So wie die Definition von Behinderung wurden grundsätzlich auch die Ablaufschritte im
Verfahren aus dem Modell der Schweiz übernommen. Da aber das sehr aufwändige
Onlineverfahren, wie es in der Schweiz in Gebrauch ist, wegen zu vieler technischer und
rechtlicher Probleme nicht adaptiert werden konnte, entstand nur ein Antragsformular, das
schriftlich auszufüllen ist und als Word-Dokument von der Homepage des BZIB
downgeloadet werden kann.
Im Prozess zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sind zwei Elemente
im Ablauf eng miteinander verbunden.
1) Als erster Schritt wird ein „schulisches Standortgespräch (SSG)“ durchgeführt. Da nach
Ansicht der Teilnehmer/innen der Begriff des schulischen Standortgesprächs aber den
expliziten Vereinbarungscharakter dieses Gesprächs zu wenig zum Ausdruck bringt, wurde
2 http://www.ph-ooe.at/fileadmin/Daten_PHOOE/Inklusive_Paedagogik_neu/BIZB/Homepage_ab_2016/ Richtlinie_zur_Entwicklung_von_Inklusiven_Modellregionen_1_9_2015.pdf 3 https://vsa.zh.ch/internet/bildungsdirektion/vsa/de/schule_und_umfeld/gesundheit_praevention/ schulpsychologie/sav/_jcr_content/contentPar/downloadlist_0/downloaditems/219_1435840752701.spooler.download.1435840415047.pdf/SAV.pdf
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 5
für die „Österreichfassung“ der Begriff „Schulisches Vereinbarungsgespräch
(SVG)“ gewählt. Mit dem SVG soll gewährleistet werden, dass Ressourcen in Form von
Beratung oder personeller Unterstützung bereits an die Schule kommen, bevor ein SPF-
Verfahren eingeleitet wird. Außerdem werden in einem SVG außer- wie innerschulische
Maßnahmen koordiniert. Die getroffenen Vereinbarungen sind verbindlich. Die Ressourcen
werden zur Verfügung gestellt, um Unterrichts- oder auch Schulentwicklung zu initiieren,
sodass ein SPF für die betroffenen Schüler/innen verhindert werden kann. Erst wenn die
dort besprochenen Maßnahmen und Hilfen zu keiner Lösung führen, wird der zweite Schritt
– das Standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) – in Gang gesetzt.
In einer Probephase wurden in den IMR sowohl die Instrumente für das
Standardisierte Abklärungsverfahren als auch für die Schulischen Vereinbarungsgespräche
verwendet und evaluiert. So entstanden für Österreich adaptierte Formulare für das SAV
und SVG samt zwei Handbüchern, die dazu beitragen sollen, den Intentionen des BMBWF
ein nachvollziehbares, transparentes und vom Prozess her standardisiertes Verfahren zur
Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs nach § 8 SchPflG zu etablieren. Alle
Ergebnisse liegen als barrierearme Dokumente vor und können von der Homepage des
BZIB (www.bzib.at) downgeloadet werden. Die Vernetzung mit dem Thema einer flexibleren
und weniger stigmatisierenden Ressourcenvergabe passiert über die Broschüre „Inklusion
Dokumentation – Flexible und bedarfsgerechte Ressourcenzuteilung für inklusive
Schulen“ – diese ist ebenfalls auf der Website des BZIB zu finden.
Wilfried Prammer & Ewald Feyerer
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 6
Inhalt Vorwort der Herausgeber ....................................................................................................... 3
1. Einleitung ........................................................................................................................ 9
2. Verhältnis von Pädagogik und Recht ............................................................................ 10
3. Der sonderpädagogische Förderbedarf ........................................................................ 11
3.1 Die Prüfformel ............................................................................................................ 13
3.2 Definitionen ................................................................................................................ 15
3.2.1 „Kind kann ohne sonderpädagogische Hilfe dem Unterricht nicht folgen“ ........... 16
3.2.2 Behinderung ..................................................................................................... 17
4. Gutachten ..................................................................................................................... 21
4.1 Das sonderpädagogische Gutachten ...................................................................... 22
4.1.1 Inhalt des Gutachtens (Fragestellungen) ......................................................... 22
4.1.2 Aufbau des Gutachtens ....................................................................................... 23
4.2 Anforderungen an die/den Gutachter/in .................................................................. 24
4.2.1 Fortbildung ........................................................................................................... 24
4.2.2 Beratung der Eltern .............................................................................................. 24
4.2.3 Weisungsfreiheit der Gutachterin/des Gutachters ............................................... 25
4.3 Anfechtbarkeit des Gutachtens ............................................................................... 25
4.4 Stellung des sonderpädagogischen Gutachtens im Verfahren zum SPF ................... 26
5 Das Allgemeine Verwaltungsverfahren (AVG) – Einführung ......................................... 27
5.1 Verfahrensablauf ........................................................................................................ 28
5.1.1 Einleitungsverfahren (§ 39 Abs. 2 AVG) .............................................................. 28
5.1.2 Ermittlungsverfahren (§ 37 AVG) ......................................................................... 28
5.1.3 Erledigungsverfahren ........................................................................................... 29
5.2 Grundsätze des Verwaltungsverfahrens .................................................................... 29
5.2.1 Offizialmaxime (§ 39 Abs. 2 AVG) ....................................................................... 29
5.2.2 Grundsatz der materiellen Wahrheit (§§ 37 ff AVG) ............................................ 29
5.2.3 Grundsatz des Parteiengehörs (§§ 37, 45 Abs. 3 und 65 AVG) ....................... 30
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 7
5.2.4 Recht, weitere Gutachten einzubringen (§ 8 Schulpflichtgesetz) ......................... 30
5.2.5 Freie Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG) ......................................................... 30
5.3 Befangenheit (§ 7 AVG) ............................................................................................. 30
5.4 Mündliche Verhandlung (§ 43 Abs. 4 AVG) ................................................................ 30
5.5 Rechtsmittelbelehrung ................................................................................................ 31
6 Vom medizinischen zum bio-psycho-sozialen Behinderungsmodell ............................. 31
6.1 Kritik am medizinischen Modell .................................................................................. 32
7 ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) ......................... 35
7.1 ICD versus ICF ........................................................................................................... 35
7.2 Aufbau ........................................................................................................................ 36
7.2.1 Körperstrukturen .................................................................................................. 36
7.2.2 Körperfunktionen ................................................................................................. 37
7.2.3 Aktivitäten ............................................................................................................ 39
7.2.4 Partizipation (Teilhabe) ........................................................................................ 42
7.2.5 Kontextfaktoren .................................................................................................... 44
7.3 Codierung von Störungen .......................................................................................... 46
7.4 Zusammenspiel der Komponenten............................................................................. 47
7.5 Zuständigkeiten: Medizin, Psychologie, Pädagogik.................................................... 49
7.6 Prinzipien der ICF ....................................................................................................... 50
7.6.1 Das Mehraugenprinzip ......................................................................................... 50
7.6.2 Einbeziehung von Betroffenen ............................................................................. 51
7.6.3 Bedeutung für die Beurteilung eines Kindes im schulischen Kontext .................. 51
7.7 Mögliche Darstellung .................................................................................................. 52
8 Das schulische Standortgespräch SSG ........................................................................ 61
8.1 Aufbau .................................................................................................................... 61
8.1 Durchführung .......................................................................................................... 64
9 Das standardisierte Abklärungsverfahren SAV ............................................................. 67
9.1 Aufbau/Elemente .................................................................................................... 67
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 8
9.2 Basisabklärung ....................................................................................................... 67
9.3 Bedarfsabklärung .................................................................................................... 72
10 Das sonderpädagogische Gutachten ......................................................................... 77
10.1 Schematischer Aufbau ............................................................................................. 77
10.2 Gutachten Beispiel ................................................................................................... 78
11 Anhang....................................................................................................................... 89
11.1 Beschreibung der ICF-Items nach dem Schweizer Modell (SAV – Volksschulamt
Zürich): ............................................................................................................................. 89
11.2 Beobachtungsbogen zur Unterrichtsbeobachtung ................................................. 107
11.2 Kommentierte Literaturliste .................................................................................... 111
11.2.1 Schulgesetz ..................................................................................................... 111
11.2.2 Schulrecht ........................................................................................................ 112
11.2.3 AVG Allgemeines Verwaltungsrecht ................................................................ 113
11.2.4 Gutachten im Verwaltungsverfahren ................................................................ 114
11.2.5 ICF ................................................................................................................... 114
11.2.6 Links ................................................................................................................ 115
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 9
1. Einleitung Im Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfes (nach § 8
Schulpflichtgesetz im Zusammenhang mit den dispositiven Bestimmungen des AVG) ist das
sonderpädagogische Gutachten ein zentrales Beweismittel.
In den letzten Jahren haben zahlreiche Beschwerden gegen Bescheide aufgezeigt, dass die
sonderpädagogischen Gutachten häufig unscharf formuliert sind oder wichtige
Fragestellungen nicht beantworten. Im Zentrum der Prüfung durch das BVwG stehen
weniger konkrete Bedürfnisse eines Kindes, sondern vielmehr Formalfehler. Mit dem
entsprechenden Wissen sollte es für eine/n Sonderpädagogin/-pädagogen jedoch möglich
sein, ein Gutachten zu verfassen, welches sowohl den Bedürfnissen des Kindes als auch
den rechtlichen Anforderungen entspricht. Dabei muss das Gutachten auch dem aktuellen
wissenschaftlichen Stand entsprechen.
Das standardisierte Abklärungsverfahren ist ein Tool im Rahmen der Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfes. Es basiert auf den Erkenntnissen der
Internationalen Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), durch welche eine
Behinderung in all ihren Wechselwirkungen beschrieben werden kann.
Entwickelt wurde das standardisierte Abklärungsverfahren (SAV) von Schweizer
Schulpsychologinnen. Für den österreichischen Bedarf wurde es von einer Arbeitsgruppe
überarbeitet und soll künftig von Sonderpädagoginnen/-pädagogen als Grundlage für das
sonderpädagogische Gutachten eingesetzt werden.
Dieses Handbuch richtet sich an Sonderpädagoginnen/-pädagogen, welche mit der
Österreich-Version des SAV (SAV-Oe) arbeiten. Es liefert einen kurzen Einblick in die
Thematik der Gutachtenerstellung.
Da es sich um eine Einführung handelt, wird versucht, die Inhalte soweit zu vermitteln, wie
es für eine/n Gutachter/in notwendig ist. Es ersetzt nicht die intensive Beschäftigung mit
weiterführender Literatur und Fortbildung. An entsprechender Stelle wird auf diese Literatur
verwiesen. Aufgrund der Fülle der zur Verfügung stehenden Bücher wurde vom Autor eine
subjektive Auswahl getroffen. Das bedeutet nicht, dass es nicht auch andere sehr gute und
lesenswerte Bücher zu den einzelnen Themen gibt.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 10
2. Verhältnis von Pädagogik und Recht Beim Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfes handelt es sich
um ein Rechtsverfahren. Es werden dabei von der Behörde teilweise sehr weitreichende
Entscheidungen über ein Kind getroffen. Beispielsweise:
- Besteht bei dem Kind eine Behinderung?
- Welche Schule kann/muss das Kind besuchen?
- Nach welchem Lehrplan wird es künftig unterrichtet werden?
- etc.
Dabei stützt sich die Behörde (Landesschulrat) unter anderem auf das sonderpädagogische
Gutachten. Deshalb ist es für die/den Gutachter/in notwendig, in ihrer/seiner Arbeit stets
zwei Aspekte zu berücksichtigen:
1) das Kindeswohl und
2) die rechtlichen Bestimmungen.
Das Kindeswohl bildet dabei das Ziel aller Überlegungen. Was ist für das Kind wichtig,
welche Maßnahmen sind notwendig?
Die rechtlichen Bestimmungen bilden den Rahmen, unter dem das Ziel erreicht werden
kann. Dieser Rahmen wird vom Gesetzgeber vorgegeben und kann von uns Pädagoginnen
bzw. Pädagogen nicht verändert werden. Im Zusammenhang mit Behinderung werden im
österreichischen Recht die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nur teilweise
umgesetzt. So führt die Feststellung eines „sonderpädagogischen Förderbedarfes“ zu einer
Stigmatisierung der betroffenen Kinder, die UN-Behindertenrechtskonvention verbietet aber
jede Form von Stigmatisierungen.
Bildhaft kann man sich dies wie eine Fahrt durch eine fremde Stadt vorstellen. Wir streben
ein Ziel an (Kindeswohl) und dürfen dabei die vorgegebenen Straßen (Normen) nicht
verlassen.
Am Beginn der Reise ist ein Kind, welches die Anforderungen einer Schule nicht schafft
oder aufgrund einer Behinderung eine Unterstützung in der Schule brauchen wird.
Das Ende der Reise sollte eine selbstbestimmte Teilhabe am Unterricht sein. Eine mögliche
Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, kann der „sonderpädagogische
Förderbedarf“ sein. Es gibt aber auch andere mögliche Unterstützungsangebote. Die/der
Sonderpädagogin/-pädagoge hat alle Möglichkeiten abzuwägen, in ihrem/seinem Gutachten
darzustellen und die geeigneten Maßnahmen zu empfehlen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 11
Abbildung 2: Weg zur optimalen Förderung durch die gesetzlichen
Vorgaben
Ein Kind, welches selbstbestimmt am Unterricht teilhaben kann und in der Lage ist, seinen
Begabungen entsprechend zu lernen, bildet das Ziel aller Bestrebungen.
Abbildung 1: glückliches Kind
In ihrer/seiner Tätigkeit hat die/der Sonderpädagogin/-pädagoge alle gesetzlichen
Bestimmungen zu berücksichtigen. Diese Normen bilden bildhaft den Weg zum Kindeswohl.
Oft ist der Weg von vornherein nicht immer ganz klar ersichtlich. Es gibt Sackgassen,
Umwege und Abkürzungen. Nicht immer ist der kürzeste Weg gangbar (Fahrverbote). Dies
ist für die/den Sonderpädagogin/-pädagogen zum Beispiel bei der Feststellung einer
„Behinderung“ durch das Ärztegesetz gegeben. Da bedarf es anderer Gutachten.
Deshalb ist es auch für eine/n Sonderpädagogin/-pädagogen wichtig, die grundlegenden
gesetzlichen Bestimmungen und Möglichkeiten(!) zu kennen.
3. Der sonderpädagogische Förderbedarf Die gesetzlichen Grundlagen zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs
finden sich im § 8 Abs. 1 des Schulpflichtgesetzes:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 12
§ 8. (1) Der Landesschulrat hat den sonderpädagogischen Förderbedarf für ein Kind auf Antrag der
Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes, auf Antrag des Leiters der Schule, dem das
Kind zur Aufnahme vorgestellt worden ist oder dessen Schule es besucht oder sonst von Amts wegen
festzustellen, sofern dieses infolge physischer oder psychischer Behinderung dem Unterricht in der
Volks- oder Hauptschule, Neuen Mittelschule oder Polytechnischen Schule ohne sonderpädagogische
Förderung nicht zu folgen vermag. Zuständig zur Entscheidung ist der Landesschulrat, in dessen
Bereich das Kind seinen Wohnsitz hat; wenn das Kind bereits eine Schule besucht, ist der
Landesschulrat, in dessen Bereich die Schule gelegen ist, zuständig. Der Landesschulrat hat zur
Feststellung, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht, ein sonderpädagogisches Gutachten
sowie erforderlichenfalls ein schul- oder amtsärztliches Gutachten und mit Zustimmung der Eltern
oder sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes ein schulpsychologisches Gutachten einzuholen.
Ferner können Eltern oder sonstige Erziehungsberechtigte im Rahmen des Verfahrens Gutachten von
Personen, welche das Kind bisher pädagogisch, therapeutisch oder ärztlich betreut haben, vorlegen.
Auf Antrag der Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten ist eine mündliche Verhandlung
anzuberaumen. Der Landesschulrat hat die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten auf die
Möglichkeit der genannten Antragstellungen hinzuweisen. (§ 8 Abs. 1 SchPflG)
In diesem Absatz findet sich eine Reihe wesentlicher Bestimmungen für die Feststellung
des sonderpädagogischen Förderbedarfes. Jedoch sind diese Informationen immer im
Zusammenhang mit den Normen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrens (AVG) zu lesen
und zu verstehen.
Wir bleiben zunächst jedoch beim Schulpflichtgesetz und reduzieren diese Norm auf die
wesentlichen Bestandteile.
Der Landesschulrat hat den sonderpädagogischen Förderbedarf für ein Kind […] festzustellen [...].
(§ 8 Abs. 1 SchPflG)
Der Landesschulrat – und nur der Landesschulrat –hat den sonderpädagogischen
Förderbedarf festzustellen. Da die entscheidenden Beamtinnen/Beamten des
Landesschulrates das betreffende Kind meist nicht persönlich kennen, sind sie auf
Gutachten angewiesen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 13
Der Landesschulrat hat zur Feststellung […] ein sonderpädagogisches Gutachten sowie
erforderlichenfalls ein schul- oder amtsärztliches Gutachten und mit Zustimmung der Eltern oder
sonstigen Erziehungsberechtigten des Kindes ein schulpsychologisches Gutachten einzuholen. (§ 8
Abs. 1 SchPflG)
Zwingend ist die Einholung eines sonderpädagogischen Gutachtens. Mit Zustimmung der
Eltern ist ein schulpsychologisches Gutachten und erforderlichenfalls ein schul- oder
amtsärztliches Gutachten einzuholen.
Darüber hinaus können die Eltern beliebige Gutachten einbringen. Jedenfalls müssen die
eingeholten Gutachten und Befunde alle Informationen liefern, welche für die Entscheidung
notwendig sind. Kann der Landesschulrat aus den Gutachten seine Entscheidung nicht
schlüssig ableiten, so sind die Gutachter/innen erneut unter Hinweis auf die fehlenden
Informationen zu beauftragen.
Die für die Entscheidung wichtigsten Informationen ergeben sich auch aus dem 1. Absatz
des § 8 des Schulpflichtgesetzes. Demnach ist der sonderpädagogische Förderbedarf für
ein Kind festzustellen.
[...], sofern dieses infolge physischer oder psychischer Behinderung dem Unterricht […] nicht zu
folgen vermag. [...]
3.1 Die Prüfformel Eine Behinderung führt dazu, dass das Kind dem Unterricht ohne sonderpädagogische
Förderung nicht folgen kann.
Behinderung → Kind kann dem Unterricht ohne sonderpädagogische Hilfe nicht folgen
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu § 8 Abs. 1 SchpflG
„ergibt sich, dass ein schulisches Versagen eines Schülers auf eine physische oder psychische
Behinderung rückführbar sein muss, dass somit ein kausaler Zusammenhang zwischen dem
Bestimmungsmerkmal „dem Unterricht nicht folgen können“ und dem Vorliegen einer physischen
oder psychischen Behinderung bestehen muss“ (BVwG W224 2009763-1, 29.08.2014).
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 14
Überlegungen zu dieser Prüfformel
Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird die Formulierung „dem Unterricht ohne Hilfe nicht
folgen können“ durch den im pädagogischen Alltag gebräuchlicheren Begriff
„Schulversagen“ ersetzt.
SPF = Behinderung → Schulversagen
Ist die Gleichung nicht in exakt dieser Form erfüllt, so kann kein sonderpädagogischer
Förderbedarf festgestellt werden. Dies führt in der Praxis immer wieder zu Problemen.
1. Unzulässiger Umkehrschluss
Das Kind kann dem Unterricht trotz Ausschöpfung aller Maßnahmen nicht folgen, folglich
muss es (lern-)behindert sein.
Schulversagen → Behinderung = kein SPF!
In mehreren Fällen wurde der SPF für ein Kind empfohlen, welches trotz
Schullaufbahnverlust und Ausschöpfung aller Fördermaßnahmen die Lehrplanziele nicht
erreichen konnte. Ein weiterer Schullaufbahnverlust war aus pädagogischen und
psychologischen Gründen nicht zu empfehlen. Es wurde aber keine eindeutige Behinderung
diagnostiziert. Um dem Kind zu helfen, empfahlen die Gutachter/innen den SPF. Das
Bundesverwaltungsgericht lehnt diese Vorgangsweise als „unzulässigen
Umkehrschluss“ ab. BVwG (W128 2009666-1/15E 11.05.2015 und W128 2008793-1/16E
11.05.2015).
2. Das Kind hat eine Behinderung. Trotz dieser Behinderung ist das Kind in der Lage zu
lernen und dem Unterricht zu folgen.
Behinderung vorhanden, führt aber nicht zu Schulversagen = kein SPF!
Diese Form ist denkbar bei Kindern mit einer Körperbehinderung oder einer
Sinnesbehinderung. In diese Richtung könnte auch die Bestimmung des § 8 Abs. 3a
SchuPflG interpretiert werden, nach dem ein sonderpädagogischer Förderbedarf bei sinnes-
und körperbehinderten Kindern aufzuheben ist, wenn diese die Aufnahmevoraussetzungen
in eine Sekundarschule erfüllen. Die Aufnahmevoraussetzung ist ein positiver Abschluss
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 15
der 4. Stufe der Volksschule. Demnach liegt bei diesen Kindern kein Schulversagen vor. Es
wird vermutet, dass sie dem Unterricht folgen können. Jedoch ist dies häufig nur durch die
sonderpädagogische Förderung möglich. Damit wird die Prüfformel erfüllt, denn ohne diese
Förderung könnten sie dem Unterricht nicht folgen.
3. Die Behinderung muss zu einem Schulversagen führen. Es ist denkbar, dass bei einem
Kind sowohl eine Behinderung als auch ein Schulversagen vorliegen, diese aber in
keinem Zusammenhang zueinander stehen:
Behinderung + Schulversagen (ohne Zusammenhang) = kein SPF!
Dazu folgendes Beispiel:
„Daniel ist ein Kind mit einer Körperbehinderung, ihm fehlt der linke Fuß. Aufgrund seiner
Faulheit und mangelnder Förderung schafft er die dritte Stufe der Volksschule nicht.“
In diesem Beispiel finden wir eine Behinderung (Körperbehinderung – fehlender Fuß) und
ein Schulversagen. Beide Tatbestände stehen aber in keinem Zusammenhang.
In diesem Beispiel ist der fehlende Zusammenhang sehr offensichtlich. In der täglichen
Praxis ist der Beweis des Zusammenhanges aber äußerst schwierig.
Eine Möglichkeit, die Gleichung „Behinderung führt zu einem Schulversagen“ verständlich
zu beschreiben, bietet die ICF. Dabei werden die Wechselwirkungen von Stärken und
Schwächen eines Kindes mit den Angeboten und Hemmnissen der Umwelt in Bezug auf die
Teilhabe am Unterricht beschrieben.
3.2 Definitionen Die Gleichung (eine Behinderung führt dazu, dass ein Kind dem Unterricht ohne Hilfe nicht
folgen kann) enthält mehrere Begriffe. Diese können unterschiedlich interpretiert werden.
Um mit diesen Begriffen arbeiten zu können, müssen sie definiert werden. In vielen Fällen
finden sich die Definitionen in den Gesetzen. Dies sind dann sogenannten
„Legaldefinitionen“. In den anderen Fällen, in denen es keine gesetzlichen Definitionen gibt,
wenden Juristinnen/Juristen ein kompliziertes Regelwerk an, um zu Definitionen zu
kommen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 16
3.2.1 „Kind kann ohne sonderpädagogische Hilfe dem Unterricht nicht folgen“
Diese Formulierung enthält zwei Elemente: „sonderpädagogische Hilfe“ und „dem Unterricht
folgen können“.
Da die sonderpädagogische Hilfe im Verfahren erst beantragt wird und somit zum Zeitpunkt
der Antragstellung noch nicht (im benötigten Ausmaß) vorhanden ist, kann dieses Element
zunächst unberücksichtigt bleiben.
„Kann dem Unterricht nicht folgen“
Im pädagogischen Alltag wird diese Formulierung manchmal mit dem Begriff
„Schulversagen“ gleichgesetzt. Ein solches Schulversagen wurde spätestens dann
festgestellt, wenn das Kind trotz Ausschöpfung aller Fördermaßnahmen (inklusive
Schullaufbahnverlust) nicht mehr in die nächste Schulstufe aufsteigen konnte. Aus
pädagogischer Perspektive sollte sichergestellt werden, dass jedes Kind spätestens in
seinem zehnten Schuljahr die achte Schulstufe abschließen und damit einen
Schulabschluss erreichen kann.
Seit 01.09.2016 sind Kinder in den ersten drei Jahren der Volksschule unabhängig vom
Erreichen eines Lehrplanziels zum Aufsteigen in die nächste Schulstufe berechtigt. Das
„nicht aufsteigen Können“ fällt somit als Beurteilungsmaßstab weg.
Der Wortlaut des Gesetzestextes ist: „kann dem Unterricht nicht folgen“. Dies ist nicht
gleichzusetzen mit „nicht zum Aufsteigen berechtigt“.
Die Feststellung, ob ein Kind dem Unterricht folgen kann, lässt sich nur bedingt aus den
Schulnoten ableiten. Zweifellos kann ein Kind dem Unterricht folgen, wenn es positive
Schulleistungen erbringt. Der Umkehrschluss ist jedoch nicht ohne weitere Erhebungen
möglich: Es kann nicht ausschließlich von negativen Noten darauf geschlossen werden,
dass ein Kind dem Unterricht nicht folgen kann. Denn negative Noten können auch andere
Gründe haben, wie beispielsweise Prüfungsangst, Tagesverfassung oder eine persönliche
Krise.
Diagnostische Schulleistungstests beantworten diese Frage auch nicht zur Gänze, da sie
weder auf den Lehrplan noch auf den individuellen Unterricht abgestimmt sind.
Diagnostische Schulleistungstests können eine Rechenschwäche (Dyskalkulie) oder Lese-
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 17
Rechtschreibschwäche feststellen, beurteilen jedoch nicht, ob ein Kind dem Unterricht
folgen kann.
Um also feststellen zu können, ob ein Kind dem Unterricht folgen kann, braucht es andere
Möglichkeiten. Es gilt, die Teilhabe am Unterricht zu erfassen. Ein Verfahren alleine kann
diese Fragestellung nicht beantworten, deshalb müssen verschiedene Methoden
miteinander kombiniert werden, wie zum Beispiel:
- Unterrichtsbeobachtung,
- Gespräche mit dem Kind und der Lehrperson,
- Fehleranalyse der Hefte/Mitschriften punktuellen Leistungsfeststellungen durch die
Sonderpädagogin/den Sonderpädagogen,
- das von den Wiener Sonderpädagoginnen/-pädagogen ausgearbeitete Verfahren der
Kompetenzen im Grundschulbereich,
- und ähnliche.
3.2.2 Behinderung
„Behinderung“ ist ein recht weiter und unklarer Begriff. Um ihn anwenden zu können, bedarf
es einer Definition. Je nach Berufsgruppe hat dieser Begriff teilweise sehr unterschiedliche
Bedeutungen. In vielen Bereichen hat man den Begriff „Behinderung“ gänzlich aus dem
Wortschatz gestrichen. Da die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfes auf
Grundlage der bestehenden Gesetze zu erfolgen hat, werden im folgenden
Gesetzesdefinitionen (sog. Legaldefinitionen) herangezogen.
Die Schulgesetze enthalten keine Legaldefinition des Begriffes „Behinderung“.
Der Behinderungsbegriff ist in den österreichischen Gesetzen auch nicht einheitlich
geregelt. Je nach Materie gibt es teilweise sehr unterschiedliche Definitionen, vor allem
weichen die Definitionen der Bundes- und Landesgesetze mitunter voneinander ab. (vgl.
Kommentar zum Behindertengleichstellungsgesetz, Hofer et al 2016, S. 50f)
Für die Materie der „inneren Organisation“ der Pflichtschulen ist nach Art. 14 B-VG
ausschließlich der Bund zuständig. Dabei wird unter „innerer Organisation“ der Schulbetrieb
selbst verstanden, wie er im Schulunterrichtsgesetz geregelt ist: Aufnahme als Schüler/in,
Klassenbildung, Lehrplan, Beurteilung etc.
Davon abzugrenzen ist die „äußere Organisation“. Diese umfasst im Pflichtschulwesen
insbesondere die Errichtung und Erhaltung von Schulen, Bereitstellung und Instandhaltung
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 18
des Schulgebäudes. Auch die Bereitstellung von Hilfspersonal ist Teil der äußeren
Organisation. Dieses Hilfspersonal ist im Zusammenhang mit Inklusion vor allem bei der
Bereitstellung von pflegerisch-helfenden Personen und Schulassistentinnen/-assistenten
von Bedeutung, aber auch für die Eröffnung und Schließung von Sonderschulen. Die
Bestimmungen der äußeren Organisation werden vom Bund grundgelegt
(Grundsatzgesetzgebung) und von den Ländern in Form von Ausführungsgesetzen näher
geregelt.
Deshalb können im Zusammenhang mit Inklusion im Pflichtschulbereich durchaus
verschiedene Definitionen von Behinderung nebeneinander stehen bleiben.
Neben den Bundes- und Landesgesetzen kommt durch die UN-
Behindertenrechtskonvention eine internationale Sichtweise hinzu. In der UN-
Behindertenrechtskonvention wird der Begriff der Behinderung wieder etwas anders
definiert.
Es ist wichtig zu unterscheiden, in welchem Zusammenhang der Begriff verwendet wird:
- Geht es um die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfes, um die
Lehrplaneinstufung etc., also um Fragen der inneren Schulorganisation, so sind
Bundesgesetze anzuwenden.
- Geht es um die Bereitstellung von pflegerisch-helfenden Personen und Fragen der
äußeren Schulorganisation, so sind Landesausführungsgesetze (insbesondere die
Landes Pflichtschulerhaltungsausführungsgesetze oder Schulgesetze des Landes)
heranzuziehen.
Um einen Überblick über die möglichen Behinderungsbegriffe zu behalten, könnte es
hilfreich sein, die möglichen Definitionen in drei Gruppen (Modellen) einzuteilen:
1. medizinisches Modell,
2. bio-psycho-soziales Modell,
3. Behinderungsbegriff der UN-Konvention.
Diese Modelle haben die Gemeinsamkeit, dass eine körperliche oder psychische
Funktionsstörung bzw. Normabweichung dazu führt, dass die/der Betroffene an sozialen
Angeboten ohne Hilfe nicht teilnehmen kann. Je nach Modell gibt es verschiedene Ansätze
bei Diagnostik und Fördermaßnahmen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 19
Medizinischer Behinderungsbegriff – medizinisches Modell
Behinderung ist die Abweichung von einer körperlichen oder psychischen Norm bzw. eine
Funktionsstörung. Je weiter diese Abweichung von der Norm ist, desto stärker ist die
Behinderung ausgeprägt. Definiert ist Behinderung als
„... eine nicht nur vorübergehende erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit, die
auf dem Fehlen oder auf Funktionsstörungen von Gliedmaßen oder auf anderen Ursachen
beruht ... Weiterhin liegen Behinderungen bei einer nicht nur vorübergehenden erheblichen
Beeinträchtigung der Seh-, Hör- und Sprachfähigkeit und bei einer erheblichen
Beeinträchtigung der geistigen oder seelischen Kräfte vor.“
Zentrale Elemente des medizinischen Behinderungsbegriffs sind:
- Behinderung ist eine Normabweichung bzw. Funktionsstörung;
- Die betreffende Person wird „vermessen“ bzw. getestet und es wird über sie eine
Diagnose erstellt. Dabei wird die betroffene Person nicht aktiv in den Diagnoseprozess
mit einbezogen;
- Fördermaßnahmen werden von Spezialistinnen/Spezialisten geplant (auch dies ohne
aktive Miteinbeziehung der/des Betroffenen);
- Fördermaßnahmen zielen darauf ab, die/den Behinderte/n so weit zu behandeln und zu
verändern, dass sie/er den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht.
Sozialer Behinderungsbegriff – bio-psycho-soziales Modell
Das Verständnis von Behinderung wird bei dieser Definition weiterentwickelt. Nicht die
Normabweichung oder Funktionsstörung selbst bestimmt die Behinderung, sondern
Behinderung entsteht in der Wechselwirkung der Normabweichung/Funktionsstörung mit
der Umwelt. Die Umwelt kann für die/den Betroffene/n unterstützend wirken und ihr/ihm
helfen, an allen Angeboten teilzunehmen. Sie kann aber auch Barrieren schaffen und
die/den Behinderte/n von bestimmten Angeboten ausschließen.
Zentrale Elemente sind:
- Behinderung entsteht durch die Wechselwirkung zwischen einer Funktionsstörung und
den Barrieren der Umwelt;
- In der Diagnostik wird versucht die Barrieren zu bestimmen. Dazu braucht es die
aktive Mitarbeit der Betroffenen;
- Förderung besteht unter anderem in der Beseitigung von Barrieren.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 20
Behinderung als Menschenrecht – UN-Behindertenrechtskonvention
Die UN-Behindertenrechtskonvention definiert Behinderung aus einer bio-sozialen Sicht.
Sie geht in ihrer Definition aber noch weiter, indem auch seelische Beeinträchtigungen mit
aufgenommen werden. Außerdem wird die gleichberechtigte Teilhabe als Menschenrecht
mit aufgenommen.
In Artikel 1 heißt es: „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder
Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen
Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
hindern können.“
Teilhabe wird als Menschenrecht definiert. Dies bedeutet, dass jeder Mensch ein Recht auf
volle Teilhabe hat – und zwar so wie er ist. Die/der Betroffene muss sich nicht verändern,
sie/er muss sich nicht anpassen, um teilhaben zu dürfen. Wird dieser Gedanke fortgeführt,
so kann jede Fördermaßnahme in Frage gestellt werden, da Förderung grundsätzlich darauf
abzielt, die/den Betroffene/n zu verändern und anzupassen.
Definition „Behinderung“ im Zusammenhang mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf
Das Bundesverwaltungsgericht verwendet seit 11.05.2015 (W128 2009666-1/15E) zur
Prüfung der Behinderung die Bestimmung aus dem Behinderteneinstellungsgesetz § 3 (BEinstG). Demnach ist eine Behinderung „die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden
körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der
Sinnesfunktionen, die geeignet ist, die Teilhabe am Arbeitsleben zu erschweren. Dabei gilt als nicht
vorübergehend ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten“ § 3 BEinstG.
Die ständige Rechtsprechung stellt das Schulleben dem Arbeitsleben gleich. Daraus ergibt
sich, dass eine Behinderung die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung ist, welche
geeignet ist, die Teilhabe am Schulleben zu erschweren (in Analogie zum BEinstG).
Die Funktionsbeeinträchtigung kann körperlicher, geistiger oder psychischer Natur sein, sie
kann aber auch in einer Sinnesbeeinträchtigung liegen.
Zur Feststellung, ob eine entsprechende Funktionsbeeinträchtigung vorliegt, greift das
Bundesverwaltungsgericht auf die ICD und auf die „Einschätzverordnung zur Bemessung
des Grades der Behinderung“ zurück. Es ist ausreichend, dass die
Funktionsbeeinträchtigung in einer der beiden Quellen aufgelistet ist. Ein bestimmter Grad
der Behinderung/Funktionsbeeinträchtigung ist nicht erforderlich.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 21
Diese Feststellung ist für die/den Gutachter/in insofern von Relevanz, als der Begriff
„Behinderung“ im Gutachten nicht explizit erwähnt werden muss. Es ist ausreichend, eine
Diagnose aus der ICD bzw. der Einschätzverordnung zu benennen. Die Erstellung von ICD-
Diagnosen ist Ärztinnen/Ärzten und klinischen Psychologinnen/Psychologen vorbehalten (§
2 ÄrzteG, § 22 PsychG).
4. Gutachten
Grundsätzlich trifft eine Behörde eine Entscheidung in Form eines Bescheids. Dies erfordert
Fachwissen, über welches die Behörde meist nicht verfügt. Deshalb gibt es
Sachverständige, die ihr Fachwissen der Behörde zur Verfügung stellen.
Daraus lassen sich einige Grundsätze für die Erstellung eines Gutachtens ableiten:
- Die Gutachten liefern der fachunkundigen Behörde alle notwendigen Informationen,
die zur Entscheidungsfindung notwendig sind.
- Da die Behörde (meist) nicht über das notwendige Fachwissen verfügt, muss ein
Gutachten in verständlicher und nachvollziehbarer Weise eine Situation (den
Sachverhalt) beschreiben.
Im Feststellungsverfahren zum sonderpädagogischen Förderbedarf sind als Beweismittel
zur Sachverhaltsfeststellung folgende Gutachten vorgesehen (§ 8 Abs 1 SchPflG):
- ein sonderpädagogisches Gutachten (dieses ist zwingend vorgesehen),
- ein schulpsychologisches Gutachten, wenn die Erziehungsberechtigten diesem
zustimmen und
- allenfalls ein schul- bzw. amtsärztliches Gutachten.
Die Gutachten sollen den Sachverhalt schlüssig und widerspruchsfrei darstellen. Schlüssig
und widerspruchsfrei ist ein Gutachten dann, wenn die Gedankengänge und Ergebnisse
der/des Gutachterin/Gutachters in allen Schritten nachvollzogen werden können und es zu
keinen Gedankensprüngen oder Widersprüchen kommt.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 22
Über die Form und den Aufbau eines Gutachtens gibt es keine zwingenden Vorschriften.
Letztendlich bleibt es der/dem Gutachter/in überlassen, wie sie/er das Gutachten gestaltet.
Jedoch haben sich im Laufe vieler Jahre bewährte Modelle herausgebildet, welche auf die
Schlüssigkeit, die Nachvollziehbarkeit und die Verständlichkeit abzielen.
Den Ausgangspunkt bildet dabei die konkrete Fragestellung. Danach werden die
Untersuchungsverfahren angeführt und begründet, warum gerade diese Verfahren gewählt
wurden. Das Ergebnis der Untersuchung wird zuerst wertfrei beschrieben (Befund) und erst
in einem weiteren Schritt einer Bewertung unterzogen. Diese Trennung von Befund und
Bewertung ist für die Nachvollziehbarkeit besonders wichtig. Die Ergebnisse werden
zusammengefasst und interpretiert (in der Zusammenfassung dürfen keine neuen
Erkenntnisse vorkommen, welche nicht auch schon im Befund und der Bewertung erwähnt
wurden). Den Abschluss eines Gutachtens bildet die Beantwortung der
Ausgangsfragestellung.
4.1 Das sonderpädagogische Gutachten Das sonderpädagogische Gutachten ist ein zentrales Beweismittel im Verfahren zur
Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Aus ihm sollte sich der wesentliche
Sachverhalt feststellen lassen.
4.1.1 Inhalt des Gutachtens (Fragestellungen)
Folgende Fragen werden an die/den Sonderpädagogin/-pädagogen im Zusammenhang mit
dem sonderpädagogischen Förderbedarf gestellt:
1. Kernfrage: Kann das Kind ohne Hilfe dem Unterricht folgen?
Wenn nein: Welche Ursachen kommen dafür in Betracht?
Liegt die Ursache in einer Behinderung?
Darüber hinaus sind aber auch folgende Fragen von Bedeutung:
2. Wurden im Vorfeld alle Fördermaßnahmen ausgeschöpft?
3. An welcher Schule kann den Bedürfnissen des Kindes am ehesten entsprochen werden?
4. In welchen Gegenständen ist eine Änderung des Lehrplans notwendig?
5. Welche Fördermaßnahmen können ergriffen werden?
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 23
Alle diese Fragestellungen sind relevant und müssen im Gutachten beantwortet werden,
ansonsten könnte der Bescheid im Rahmen einer Bescheidbeschwerde aufgehoben
werden.
„Der angefochtene Bescheid ist aus folgenden Gründen mangelhaft:
[…] Da die erforderlichen entscheidungsrelevanten Feststellungen nicht getroffen wurden, ist der
Sachverhalt in zentralen Punkten ergänzungsbedürftig geblieben.“ (BVwG W 227 2130760 vom
20.01.2017)
4.1.2 Aufbau des Gutachtens
Folgender Aufbau ist auch für fachunkundige Personen nachvollziehbar:
1. Auftrag: Datum, beauftragende Behörde, Fragestellung (im genauen Wortlaut)
2. Beweismittel: Darstellung der Beweismittel und Begründung, warum gerade diese zur
Beantwortung der Fragen ausgewählt wurden. Als Beweismittel in Frage kommen für
Sonderpädagoginnen/-pädagogen unter anderem in Betracht:
- Unterrichtsbeobachtungen,
- Gespräche mit Kind, Eltern und Lehrerinnen/Lehrern (im Zusammenhang mit der
Teilhabe),
- diagnostische Schulleistungstests,
- allgemeine Entwicklungstests (soweit diese für Pädagoginnen/Pädagogen
zugelassen sind),
- Einsicht in Hefte und Dokumente der Schülerin/des Schülers (besonders Tests und
Schularbeiten)
3. Befund: Darstellung der Ergebnisse der Untersuchung. Die Ergebnisse werden sachlich
wiedergegeben. Der Befund enthält keine Bewertung dieser Ergebnisse.
4. Bewertung: In diesem Schritt werden die Ergebnisse bewertet. Wie ist das
entsprechende Ergebnis aus dem Befund zu verstehen. Handelt es sich um ein gutes oder
unterdurchschnittliches Ergebnis. Sind die Ergebnisse altersentsprechend oder liegen sie
deutlich unter der Altersnorm.
5. Interpretation/Schlussfolgerungen: Welche Schlüsse und Erkenntnisse lassen sich aus
den Ergebnissen ableiten.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 24
6. Zusammenfassung und Empfehlung: In diesem Schritt werden die Ergebnisse
zusammengefasst und die Fragestellungen aus dem Auftrag werden beantwortet.
Dieser Aufbau ist idealtypisch. In der Praxis werden nicht alle diese Schritte in einem
Gutachten in einzelne, getrennte Kapitel geteilt, sondern es kommt vor allem in den
Punkten 3 und 4 (eventuell auch 5) zu einer gemeinsamen Abhandlung. Es ist auch
möglich, Befund und Bewertung in einem einzigen Satz zu verbinden, wie zum Beispiel „Die
Schülerin erreicht bei diesem Subtest 10 Punkte (Befund), dies entspricht einem
Prozentrang von PR = 1-2 (Befund) und damit einem sehr weit unter der Altersnorm
liegendem Ergebnis (Bewertung)“.
4.2 Anforderungen an die/den Gutachter/in Die/der Gutachter/in hat eine Situation so darzustellen und zu beschreiben, dass die
entscheidende Behörde alle notwendigen Informationen aus dem Gutachten entnehmen
kann. Dazu muss die/der Gutachter/in über das notwendige Fachwissen verfügen. Laut
Judikatur müssen Sachverständige und Gutachter/innen „geeignet“ (VwSlgNF 5431 A/1960;
VwGH ZfVB 1984/1023) sein oder über „besondere Fachkenntnisse verfügen, die über das
übliche Maß hinaus“ (VwGH 23.09.1992, 92/03/133) gehen.
4.2.1 Fortbildung
Ein Gutachten muss jedenfalls dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung
entsprechen (VwSlgNF 36127 A/1955; 12878 A/1989).
Aus diesen Ansprüchen ergibt sich, dass die/der Gutachter/in stets auf dem aktuellen
Wissenstand der Forschung sein muss, sie/er muss sich ständig fortbilden. Der Dienstgeber
kann Schulungen anbieten, die/der Gutachterin ist aber selbst für den Wissensstand
verantwortlich.
4.2.2 Beratung der Eltern
Sehr oft verzichten die Eltern eines Kindes auf das Recht einer mündlichen Verhandlung.
Dann ist die/der Sonderpädagogin/-pädagoge unter Umständen die einzige fachliche
Beratung für die Eltern. Deshalb ist es notwendig, dass sie auch über das notwendige
Wissen über den Verfahrensablauf verfügt. Der Verfahrensablauf nach dem AVG wird in
einem eigenen Kapitel kurz dargestellt.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 25
4.2.3 Weisungsfreiheit der Gutachterin/des Gutachters
Die/der Gutachterin ist ein/e Amtssachverständige/r im Sinne des AVG. Sie/er ist aber auch
Pädagogin/Pädagoge und hat ein Dienstverhältnis als Landeslehrer/in. Somit ist sie/er dem
Landesschulrat gegenüber weisungsgebunden. Es wäre nun denkbar, dass der
Landesschulrat seine Macht ausübt und der/dem Gutachter/in eine Weisung erteilt. Nach
den Bestimmungen des B-VG ist eine Weisung vor allem dann abzulehnen, wenn sie von
einem unzuständigen Organ kommt oder wenn sie gegen eine strafrechtliche Bestimmung
verstoßen würde.
Im Zusammenhang mit der Gutachtenerstellung gilt folgende Interpretation: Eine generelle
Weisung ist zu befolgen. Generelle Weisungen betreffen keinen Einzelfall. Wird versucht in
einen konkreten Einzelfall von Seiten der Behörde einzugreifen, hat die/der Gutachter/in die
Weisung mit der Begründung der „Anstiftung zur Falschaussage“ (strafrechtliche
Bestimmung § 288 StGB) zurückzuweisen.
4.3 Anfechtbarkeit des Gutachtens Eine inhaltliche Überprüfung eines Gutachtens ist für die Behörde sehr schwierig, da die
Behörde (meist) nicht über das notwendige Fachwissen verfügt.
Jedoch hat die Behörde zu prüfen, ob das Gutachten schlüssig ist. Schlüssig ist es, wenn
der Inhalt logisch nachvollziehbar ist. Unschlüssig kann ein Gutachten sein, wenn es in der
Schlussfolgerung auf Tatsachen baut, die im Befund nicht enthalten sind.
Beispielsweise:
(BVwG W227 2008467-1 28.08.2014):
Das sonderpädagogische Gutachten zählt einige Schwächen des Kindes auf und dann
heißt es im Befund: „Diese Schwächen würden keine eindeutige Behinderung im Sinne der
Definition eines lang andauernden, schwerwiegenden und umfänglichen
Schulleistungsversagens zeigen.“ Und in der Schlussfolgerung: „Es wird empfohlen, dem
Antrag auf sonderpädagogischen Förderbedarf aufgrund psychischer Behinderung
stattzugeben.“
Das Bundesverwaltungsgericht hob den Bescheid unter anderem mit dem Hinweis auf das
mangelhafte Gutachten auf.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 26
Wie bereits angedeutet kann die Behörde ein Gutachten nur auf offensichtliche
Widersprüche oder Schlussfolgerungen hin überprüfen. Eine genaue inhaltliche
Überprüfung ist der Behörde nicht möglich. Dies kann nur durch ein Gegengutachten
erfolgen.
„Ein von einem tauglichen Sachverständigen erstelltes, mit den Erfahrungen des Lebens
und den Denkgesetzen nicht im Widerspruch stehendes Gutachten kann in seiner
Beweiskraft nur durch ein gleichwertiges Gutachten bekämpft werden.“ (VwGH, 27.05.1987,
87/01/0022)
4.4 Stellung des sonderpädagogischen Gutachtens im Verfahren zum SPF Im Feststellungsverfahren zum sonderpädagogischen Förderbedarf ist das
sonderpädagogische Gutachten als einziges Amtsgutachten zwingend einzuholen.
Das schulpsychologische Gutachten ist mit Zustimmung der Eltern
(Erziehungsberechtigten) und das schul- bzw. amtsärztliche Gutachten
„erforderlichenfalls“ einzufordern.
Es sind also Verfahren denkbar, die ausschließlich auf ein sonderpädagogisches Gutachten
aufbauen.
Da es sich bei der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfes jedoch um
teilweise sehr weitreichende Entscheidungen handelt (Behinderung? Welche Schule kommt
für das Kind in Frage? Nach welchem Lehrplan wird unterrichtet? …), empfiehlt es sich
immer, die Entscheidung möglichst gut abzusichern und auf mehrere Gutachten zu stützen.
Auch aus pädagogischen Gründen empfiehlt es sich, die Eltern dahingehend zu beraten, ihr
Einverständnis zum schulpsychologischen Gutachten zu geben. Denn die Gutachten
enthalten Informationen, welche für die Förderplanung sehr hilfreich sind.
Für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs müssen zwei
Voraussetzungen gegeben sein. Erstens muss eine Behinderung vorliegen und zweitens
muss sich die Behinderung so auswirken, dass das Kind dem Unterricht nicht folgen kann.
Im Vorfeld müssen alle pädagogischen Maßnahmen ausgeschöpft worden sein.
Die Feststellung der Behinderung ist das primäre Fachgebiet der Medizin (vgl. § 2
Ärztegesetz). Auch Psychologinnen/Psychologen sind berechtigt, bestimmte Diagnosen zu
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 27
stellen (§ 22 Psychologengesetz). Ergänzend zum ärztlichen bzw. psychologischen
Gutachten beschreibt die/der Sonderpädagogin/-pädagoge die Auswirkungen der
festgestellten Behinderung im Zusammenhang mit Schule. Dabei muss sie/er die
Behinderung nicht unbedingt erneut feststellen. So kann die Diagnose auch aus den bereits
vorliegenden Gutachten übernommen werden. Es muss in diesem Fall eindeutig
beschrieben werden, welche Informationen aus welchem Gutachten stammen
(Nachvollziehbarkeit).
Somit kann auf ein schulärztliches Gutachten vor allem dann verzichtet werden, wenn es
um eine psychische Behinderung geht und ein Psychologe eine entsprechende ICD-
Diagnose erstellt hat. Umgekehrt kann auf ein schulpsychologisches Gutachten verzichtet
werden, wenn die Behinderung von einer Ärztin bzw. einem Arzt festgestellt wurde oder ein
aktuelles psychologisches Gutachten bereits vorliegt.
Nur im begründeten Ausnahmefall sollte die/der Sonderpädagogin/-pädagoge versuchen
die Behinderung selbst festzustellen.
Ein Beispiel dafür findet sich im Erkenntnis des BVwG vom 09.08.2015 (W128 2112862-1):
Dieses sonderpädagogische Gutachten beantwortet eindeutig und nachvollziehbar die oben
dargelegte ausschlaggebende Frage, ob bei dem Kind eine Behinderung vorliegt oder nicht.
Sowohl die laut Gutachten vorliegende Dyskalkulie als auch die Lese- und
Rechtsschreibschwäche sowie die gravierende Beeinträchtigung des Lernens im Sinne
einer Lernbehinderung stellen umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer
Fertigkeiten nach Code F 81 der von der WHO herausgegebenen International
Classification of Diseases (ICD-10) und somit – wie folgend dargestellt wird – eine
Behinderung, dar.“
5 Das Allgemeine Verwaltungsverfahren (AVG) – Einführung Der Landesschulrat entscheidet mittels Bescheid über die Zukunft eines Kindes. Dabei
werden sehr weitreichende Entscheidungen getroffen. Es wird unter anderem festgelegt,
welche Schule ein Kind zu besuchen hat und nach welchem Lehrplan es zu unterrichten ist.
Gerade bei so weitreichenden Entscheidungen ist es wichtig, die Elternrechte zu wahren.
Die wichtigsten Bestimmungen des Verfahrens und der Elternrechte sind im Allgemeinen
Verwaltungsverfahren (AVG) grundgelegt. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick gegeben
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 28
werden, soweit er für die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs notwendig
ist.
5.1 Verfahrensablauf
5.1.1 Einleitungsverfahren (§ 39 Abs. 2 AVG)
Grundsätzlich kann das Verfahren entweder durch Parteienantrag oder von Amts wegen
eingeleitet werden. Die Einleitung durch Parteienantrag muss jedoch in den jeweiligen
Materiengesetzen festgeschrieben sein. Ist in den Materiengesetzen eine Einleitung durch
Parteienantrag nicht vorgesehen, so kommt nur eine amtswegige Verfahrenseinleitung in
Frage.
Jedoch ist die Behörde verpflichtet ein Verfahren amtswegig einzuleiten, wenn die dafür
notwendigen Gründe vorliegen. Jede Partei hat die Möglichkeit, die Behörde vom Vorliegen
relevanter Tatsachen mittels Anbringen zu verständigen.
5.1.2 Ermittlungsverfahren (§ 37 AVG)
Das Ermittlungsverfahren dient der Behörde dazu, den wesentlichen Sachverhalt
festzustellen. Dazu können Gutachten eingeholt werden. Es sind aber auch andere
Beweismittel zugelassen. So dient alles als Beweismittel, was zur Klärung des Sachverhalts
dienlich ist. Somit sind auch Schülerstammblatt, pädagogischer Bericht oder Zeugnisse als
Beweismittel zu sehen.
Die Eltern dürfen weitere Beweismittel einbringen (Privatgutachten etc.).
Im Sinne der materiellen Wahrheit hat die Behörde den relevanten Sachverhalt zu prüfen.
Es ist nicht möglich, wichtige Fragestellungen „außer Streit zu stellen“.
Mündliche Verhandlung
Die mündliche Verhandlung kann grundsätzlich unter verschiedenen Gesichtspunkten
gesehen werden. Sie dient der Behörde, den relevanten Sachverhalt mit den Parteien
(Eltern bzw. Erziehungsberechtigten) zu klären. Zusätzlich bietet die mündliche
Verhandlung den Eltern bzw. Erziehungsberechtigten die Möglichkeit, Einsicht in die Akten
zu nehmen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 29
5.1.3 Erledigungsverfahren
Jedes Verfahren ist mit einem Bescheid zu erledigen. Auch, wenn es zu einer Ablehnung
des sonderpädagogischen Förderbedarfs kommt.
5.2 Grundsätze des Verwaltungsverfahrens
5.2.1 Offizialmaxime (§ 39 Abs. 2 AVG)
Die Offizialmaxime besagt, dass die Behörde ein Verfahren zu leiten hat. Die Behörde leitet
das Verfahren ein, sie bestimmt, welche Beweise (vor allem Gutachten) einzuholen sind,
bewertet diese und entscheidet in Form eines Bescheids. Die Offizialmaxime gibt der
Behörde sehr viel Macht. Diese Macht eröffnet ihr die Möglichkeit, auch gegen den Wunsch
der Eltern/Erziehungsberechtigten ein Verfahren einzuleiten, durchzuführen und zu
entscheiden.
Dabei sind sowohl die entscheidende Behörde als auch die Gutachter/innen
(Schulpsychologin/-psychologe und Sonderpädagogin/-pädagoge) Teile des Schulsystems.
Um die Elternrechte zu wahren, gibt es im Zusammenhang mit der Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfes einige Elternrechte, auf welche die Eltern
hinzuweisen sind:
Die Eltern dürfen ein Verfahren einleiten. Sie haben das Recht weitere Beweismittel
(Gutachten) einzubringen, sind über alle Ergebnisse zu informieren und haben das Recht
auf eine mündliche Verhandlung.
Wichtig ist dabei, dass die Eltern über diese Möglichkeiten aufgeklärt werden. Dies nennt
man die Manuduktionspflicht der Behörde (lat. manus = Hand; ducere = führen: an der
Hand führen).
Diese Aufklärung hat vor allem den Verfahrensablauf, die möglichen Beweismittel, den
Stand des aktuellen Verfahrens, die Rechte der Eltern und die Rechtsmittel zu beinhalten.
5.2.2 Grundsatz der materiellen Wahrheit (§§ 37 ff AVG)
Nach dem Grundsatz der Offizialmaxime hat die Behörde den relevanten Sachverhalt selbst
festzustellen. Dies bedeutet, dass sie alle Angaben auch zu prüfen hat. Es ist daher nicht
zulässig, dass Angaben von den Eltern oder Lehrpersonen ungeprüft übernommen werden.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 30
5.2.3 Grundsatz des Parteiengehörs (§§ 37, 45 Abs. 3 und 65 AVG)
Das Recht auf Parteiengehör ist ein zentrales Recht der Eltern. Die Eltern bekommen die
Möglichkeit, alle für sie bedeutsamen Gesichtspunkte vorzubringen. Dadurch können sie
auf das laufende Verfahren Einfluss nehmen. Auch haben sie aus diesem Grundsatz das
Recht, sich zu allen Gutachten zu äußern. Die bloße Möglichkeit der Akteneinsicht reicht
nicht aus. Eine Vernachlässigung dieses Grundsatzes stellt einen groben Verfahrensfehler
dar.
5.2.4 Recht, weitere Gutachten einzubringen (§ 8 Schulpflichtgesetz)
Die Eltern haben nach dem Schulpflichtgesetz das Recht, auch weitere Gutachten
einzubringen. Diese Gutachten müssen im Bescheid gewürdigt werden.
5.2.5 Freie Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG)
Liegen mehrere Gutachten vor, so obliegt es der Behörde, wie stark sie die einzelnen
Gutachten bewertet. Es gibt keine zwingenden Regeln, wie verschiedene Gutachten zu
werten sind. Alle Gutachten und Befunde sind grundsätzlich gleichwertig. Dies gilt auch für
die Privatgutachten. Jedoch hat die Behörde ihre Gründe für die Beweiswürdigung im
Bescheid anzuführen.
5.3 Befangenheit (§ 7 AVG) Die Eltern haben kein Recht, eine/n Amtssachverständige/n abzulehnen. Jedoch hat die/der
Sachverständige in folgenden Fällen von sich aus die Erstellung eines Gutachtens
abzulehnen und der Behörde gegenüber zu begründen:
- wenn es um die eigenen Kinder (auch Pflegekinder) geht (§ 7 Abs1 Z 1 AVG);
- wenn sonst wichtige Gründe vorliegen, die geeignet sind, die volle Unbefangenheit in
Zweifel zu ziehen (§ 7 Abs 1 Z 3 AVG).
In diesen Fällen hat die Behörde eine/n andere/n Sachverständige/n mit der Erstellung des
Gutachtens zu beauftragen.
5.4 Mündliche Verhandlung (§ 43 Abs. 4 AVG) Die mündliche Verhandlung dient im Ermittlungsverfahren der Behörde, offene Fragen zu
klären.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 31
Darüber hinaus kann die mündliche Verhandlung aber auch als Elternrecht gesehen
werden. Die Eltern haben nach dem Grundsatz des Parteiengehörs das Recht, zu allen
Gutachten und sonstigen relevanten Sachverhaltselementen Stellung zu nehmen. Dies ist
jederzeit möglich. Die mündliche Verhandlung bietet eine Gelegenheit, dieses Elternrecht
wahrzunehmen.
Zur mündlichen Verhandlung lädt die Behörde (Landesschulrat) die Eltern und die
Gutachter/innen ein. Die vorliegenden Gutachten und sonstigen Beweismittel werden
besprochen. Den Eltern wird dabei die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben. Danach
erklärt die Behörde, wie sie die einzelnen Beweismittel bewertet und wie sie entscheiden
wird.
Die mündliche Verhandlung dient dazu, die Eltern zu informieren und ihnen die Möglichkeit
zu geben sich zu äußern. Den Eltern kommt dabei aber kein Entscheidungsrecht zu.
5.5 Rechtsmittelbelehrung Die Eltern haben das Recht, gegen einen Bescheid binnen vier Wochen eine Beschwerde
einzubringen. Die Rechtsmittelbelehrung ist ein wichtiger Teil des Bescheids. Im
Beratungsgespräch sind die Eltern auf dieses Recht hinzuweisen.
6 Vom medizinischen zum bio-psycho-sozialen
Behinderungsmodell Die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
wurde 2001 nach jahrelanger Entwicklungsarbeit von der WHO verabschiedet. In der ICF
wird ein biosoziales Behinderungsmodell umfassend umgesetzt. Behinderung wird nicht
mehr als eine bloße Eigenschaft einer Person gesehen, sondern in ihren vielfältigen
Wechselwirkungen mit der Umwelt beschrieben.
Beim medizinischen Behinderungsmodell ist eine Behinderung als Schädigung oder
Krankheit (Beeinträchtigung/Funktionsstörung) eines Menschen definiert, durch welche die
Teilhabe an der sozialen Umwelt beeinträchtigt ist. Zentral an diesem Modell ist die
Beeinträchtigung der/des Betroffenen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 32
Eine physische oder psychische Beeinträchtigung führt zu einer Einschränkung der
Aktivitäten und diese zu einer erschwerten Teilhabe am sozialen Leben.
Eine Beeinträchtigung (Schädigung oder Krankheit) auf körperlicher Ebene führt dazu, dass
bestimmte Aktivitäten wie „sich fortbewegen“ oder die Selbstversorgung nur erschwert
ausgeführt werden können. Diese eingeschränkten Aktivitäten führen in Folge dazu, dass
eine soziale Teilhabe erschwert wird.
Dazu folgende Beispiele:
1. Max, ein siebenjähriger Knabe, möchte gerne ins Kino, um sich mit seinen Freunden
den neuesten Film anzusehen. Max ist schwer körperbehindert (Schädigung) und
braucht einen Rollstuhl (eingeschränkte Aktivität der Fortbewegung). Leider sind am
Kinoeingang mehrere Stufen, welche Max mit seinem Rollstuhl nicht bewältigen kann
(Barriere). Bekommt er keine Hilfe, so kann Max am gemeinsamen Kinoerlebnis nicht
teilhaben.
2. Sabine, ein stark sehbeeinträchtigtes Mädchen (Schädigung), möchte gerne ihrer
Freundin zum Geburtstag schreiben (Aktivität). Dazu benötigt sie einen speziellen
Computer. Mit Hilfe des Computers gelingt es ihr, den Brief zu verfassen.
Die Grundform des medizinischen Modells:
Der Lösungsansatz im medizinischen Modell besteht im Versuch, die physische oder
psychische Beeinträchtigung zu minimieren. Der Betroffene wird behandelt, therapiert und
gefördert. Letztlich ist es das Ziel, die betroffene Person so weit zu ändern, dass sie am
sozialen Leben möglichst teilhaben kann.
6.1 Kritik am medizinischen Modell Jahrzehntelange Forschungen haben gezeigt, dass der medizinische Ansatz in vielen
Fällen zu kurz greift. Der beschriebene Prozess von der Beeinträchtigung zur erschwerten
physische / psychische
Beeinträchtigung
Einschränkung der Aktivitäten
erschwerte Teilhabe
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 33
Teilhabe ist nur eine Form des Ablaufes von vielen. Es ist auch der umgekehrte Ablauf
denkbar.
Dazu folgendes Beispiel:
Walter, ein etwas unsicherer junger Mann, trifft sich mit Bekannten auf einer Party.
Aufgrund einer Ungeschicklichkeit verschüttet er etwas Wein. Er versucht das Missgeschick
mit Humor zu nehmen, dieser Scherz geht jedoch völlig daneben und so machen sich die
Gäste an diesem Abend über Walter lustig. Diese Erfahrung prägt den jungen Mann und er
vermeidet es ab sofort an Partys teilzunehmen. Zunehmend verstärkt sich seine
Unsicherheit und Walter isoliert sich immer mehr, obwohl er gerne in Gesellschaft wäre.
Durch die zunehmende Isolation und Verunsicherung kränkt sich Walter und er wird
schließlich körperlich krank.
In diesem Beispiel läuft der Prozess genau umgekehrt zum medizinischen Modell ab.
Aufgrund der fehlenden Teilhabe kommt es zu einer körperlichen Krankheit.
Krankheit, Aktivitäten und Teilhabe beeinflussen sich also gegenseitig. Es sind auch
positive Beeinflussungen denkbar.
So führt zum Beispiel das Erlernen und Ausüben einer Sportart (Aktivitäten) in vielen Fällen
zur Linderung einer Krankheit.
Die Freundschaft zu anderen Menschen kann einer beeinträchtigten Person viel Kraft und
Hoffnung geben und sie dadurch stärken.
Es sind alle möglichen Wechselwirkungen positiver und negativer Art denkbar.
In der ICF wird versucht, diese Wechselwirkungen zu erfassen und eindeutig zu
beschreiben. Dafür wurde ein Klassifikationsschema geschaffen, welche über die Krankheit
fehlende Teilhabe
Einschränkung der Aktivitäten Krankheit
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 34
hinaus auch die Aktivitäten, die Teilhabe/Partizipation, die Angebote und Barrieren der
Umwelt in eindeutiger Weise erfasst.
Für das Verständnis von Behinderung und Teilhabe ist aber noch ein wesentlicher
Denkschritt notwendig.
Dazu folgendes Beispiel:
Klaus, ein Bub mit einer Körperbehinderung, benötigt zur Fortbewegung einen Rollstuhl. Im
alltäglichen Leben wird er oft behindert, zum Beispiel wenn er mit einem Bus fahren möchte
und dieser nicht barrierefrei ist. Oder wenn er ins Kino will und am Eingang Stufen sind. Es
gibt aber auch Momente, in denen Klaus nicht behindert wird. Das ist immer dann, wenn
sich seine eingeschränkten Aktivitätsmöglichkeiten nicht auf sein Alltagsleben auswirken.
Zum Beispiel wenn er sich mit einem Freund einen guten Film im Fernsehen ansieht. Oder
wenn er im Restaurant an einem (barrierefreien) Tisch sitzt und mit Freunden isst.
Aus diesem Beispiel lässt sich ableiten, dass ein Mensch ein Gesundheitsproblem zwar
immer hat, dieses ihn aber nur in bestimmten Situationen behindert.
Es kann also nicht das alleinige Ziel sein, einen Menschen mit einem Gesundheitsproblem
so weit zu therapieren und zu verändern, dass dieser in die gesellschaftlichen Vorgaben
passt, sondern vielmehr müssen Barrieren abgebaut werden, um allen Menschen eine
Teilhabe zu ermöglichen.
Die Notwendigkeit der Veränderung besteht in einer veränderten Sichtweise:
Nicht die/der Betroffene muss sich ändern und sich an die Umwelt anpassen, sondern die
Umwelt muss sich so verändern, dass jede/r mit ihren/seinen Fähigkeiten und
Einschränkungen gleichermaßen teilhaben kann.
Auch für diese Sichtweise bereitet die ICF den Weg, indem hemmende und fördernde
Umweltfaktoren in Form von Barrieren und Ressourcen benannt und beschrieben werden.
Gegenüberstellung:
medizinisches Modell bio-psycho-soziales Modell
Ärztin/Arzt bestimmend, dominierend beratend, begleitend
Patient/in (Eltern) passiv, erduldend aktiv, eigenverantwortlich
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 35
Strategie kurativ, „behandelnd“ optimierend
7 ICF (International Classification of Functioning, Disability and
Health) Die ICF wurde von der WHO im Jahre 2001 entwickelt. Sie dient dazu, Behinderungen in
ihrer Ausprägung und in ihren Wechselwirkungen mit Umweltbedingungen zu beschreiben.
Für den Einsatz bei Kindern und Jugendlichen wurde eine besondere Form der ICF
entwickelt, in welcher die Besonderheiten der Entwicklung von der frühen Kindheit bis zum
Erwachsenenalter besonders berücksichtigt werden. Dies ist die ICF-CY (International
Classification of Functioning, Disability and Health Children and Youth).
7.1 ICD versus ICF Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Internationale Klassifikation der
Krankheiten und weiterer Gesundheitsprobleme (ICD) als länderübergreifend einheitliches
Diagnosesystem weltweit etabliert. Da sich mit der ICD viele Fragen jedoch nicht klären
lassen, wurde von der WHO als Ergänzung zur ICD eine weitere internationale
Klassifikation geschaffen. Während mittels ICD ein Gesundheitsproblem diagnostiziert wird,
beschreibt die ICF das Gesundheitsproblem mit allen seinen Ausprägungen und
Wechselwirkungen.
Gesundheitsprobleme sind meist multifaktoriell. Bei der medizinischen Diagnose wird
zunächst die Ausprägung einzelner Faktoren bestimmt und danach werden die einzelnen
Werte addiert. Je nach der Gesamtsumme der einzelnen Faktoren (Scores) ergibt sich eine
bestimmte Diagnose. Aus dieser ICD-Diagnose lassen sich oft nur sehr bedingt
Rückschlüsse auf die Ausprägung in den einzelnen Bereichen ziehen.
Beispielsweise:
ICD: F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
In welchen schulischen Gegenständen sich diese Entwicklungsstörung manifestiert, kann
aus der Diagnose nicht unmittelbar abgeleitet werden. Ähnlich breite und häufige
Diagnosen im Zusammenhang mit Schule sind:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 36
F83: kombinierte umschriebene Entwicklungsstörungen
F92: kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
Im therapeutischen Setting führt eine solche Diagnose dazu, dass die/der Therapeut/in
erneut feststellen muss, welche Bereiche wie stark von einer Störung betroffen sind.
Deshalb hat die WHO als Ergänzung zur ICD eine weitere Klassifikation entwickelt: die
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF).
In der ICF wird ein Gesundheitsproblem auf mehreren Ebenen dargestellt und die
verschiedenen Wechselwirkungen werden beschrieben. Therapeutische Maßnahmen und
Förderungen können direkt von dieser Beschreibung abgeleitet und umgesetzt werden.
7.2 Aufbau
7.2.1 Körperstrukturen
Damit ein Kind in der Schule die notwendigen Leistungen erbringen kann, muss es
zunächst über die körperlichen und psychischen Voraussetzungen verfügen. Diese
körperlichen und psychischen Voraussetzungen werden in den Komponenten der
Körperstrukturen und Körperfunktionen beschrieben.
Im Rahmen der ICF wird eine Behinderung in verschiedenen Komponenten erfasst. Wenn
eine Störung auf der körperlich-organischen Ebene angesiedelt ist (z. B. die Missbildung
eines Organs oder Muskels), so ordnet die ICF diese Schädigung der Komponente der
Körperstrukturen zu.
„Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre
Bestandteile.“ (Hollenweger und de Camargo, ICF-CY, Bern 2013, S. 38)
Eine Schädigung der Körperstruktur kann eine „Anomalie, ein Defekt, Verlust oder eine
andere wesentliche Abweichung der Körperstruktur sein.“ (ebda., S. 38)
Die Körperstrukturen werden in Körpersysteme gegliedert (Übersicht erste Ebene).
Körperstrukturen
1. Nervensystem
2. Auge, Ohr
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 37
3. Stimme und Sprechen
4. Verdauung, Stoffwechsel
5. Urogenital- und
Reproduktionssystem
6. Bewegung
7. Haut
Wie aus der Übersicht der ersten Ebene ersichtlich ist, erfolgt die Unterteilung nicht nach
Organen, sondern nach funktionell zusammenhängenden Bereichen.
7.2.2 Körperfunktionen
Es reicht nicht aus, dass die Organe angelegt und ausgebildet sind, sie müssen auch
„funktionieren“ und zusammenwirken. Erst die Summe mehrerer Organe oder Körperteile
macht durch ihr Zusammenspiel eine Leistung möglich.
Deshalb kommt es auf der körperlichen Ebene zu einer zusätzlichen Komponente, den
„Körperfunktionen“.
„Köperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich
psychologische Funktionen.“ (Hollenweger und de Camargo, ICF-CY, Bern 2013, S. 38)
Die Körperstrukturen und Körperfunktionen stehen in einem engen Zusammenhang.
Entsprechend dieses Zusammenhangs gibt es eine große Übereinstimmung in der
Gliederung zwischen den Körperstrukturen und -funktionen in den einzelnen Ebenen:
Körperfunktionen
1. mentale Funktionen
2. Sinnesfunktionen (und Schmerz)
3. Stimm- und Sprechfunktionen
4. Funktionen des kardiovaskulären,
hämatologischen, Immun- und
Atmungssystems
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 38
Körperstrukturen
1. Nervensystem
2. Auge, Ohr
3. Stimme und Sprechen
4. Verdauung,
Stoffwechsel
5. Urogenital- und
Reproduktionssystem
6. Bewegung
7. Haut
Körperstrukturen und Körperfunktionen beschreiben die körperlichen und psychischen
Komponenten, welche allgemein für das Lernen als Voraussetzung notwendig sind. Wie
gerade gezeigt wurde, wird dabei nicht auf einzelne Organe reduziert, sondern es werden
Funktionsgruppen gebildet.
Da gibt es Parallelen zum sonderpädagogischen Denken. In der Sonderpädagogik werden
die physischen und psychischen Lernvoraussetzungen in die Bereiche Kognition, Sprache,
Sensorik, Motorik und Sozioemotionales gegliedert.
Die kognitiven Lernvoraussetzungen werden im ICF auf körperlicher Ebene in der
Komponente Körperstrukturen dem 1. Kapitel „Nervensystem“ und in der Komponente
„Körperfunktionen“ dem 1. Kapitel „Mentale Funktionen“ zugeordnet.
Die sensorischen Lernvoraussetzungen der Sonderpädagogik werden in der ICF auf
körperlicher Ebene im 2. Kapitel abgebildet („2. Auge und Ohr“ in den Körperstrukturen und
„2. Sinnesfunktionen und Schmerz“ in den Körperfunktionen).
Die Sprache findet sich im 3. Kapitel der ICF und die Motorik im 6. Kapitel.
Die emotionalen Voraussetzungen haben meist keine anatomische Abweichung als
Grundlage, deshalb sind sie in den Körperstrukturen nicht zu finden und in den
Körperfunktionen als Unterpunkt der kognitiven Funktionen angeführt.
5. Funktionen der Verdauung und des
Stoffwechsels
6. Funktionen des Urogenital- und
Reproduktionssystems
7. bewegungsbezogene Funktionen
8. Funktionen der Haut (und
Hautanhangsgebilde)
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 39
Alle diese Kapitel der ICF lassen sich noch differenzierter beschreiben. Dazu werden
Unterkapitel eingeführt. ICF spricht von 2. und 3. Ebene.
So untergliedert sich beispielsweise das Kapitel 1 der Körperstrukturen in der zweiten
Ebene (Struktur des Nervensystems) in:
S110 Struktur des Gehirns
S120 Struktur des Rückenmarks und mit ihm im Zusammenhang stehende Strukturen
S130 Struktur der Hirnhaut
S140 Struktur des sympathischen Nervensystems
…
Der Aufbau der Codes erfolgt dabei nach einem einheitlichen Muster:
Der Code beginnt bei den Körperstrukturen immer mit dem Buchstaben „S“ für Strukturen.
Danach folgen auf der zweiten Ebene 3 Ziffern. Die erste der drei Ziffern ergibt das Kapitel.
Die beiden weiteren Ziffern eine mögliche Unterkategorisierung.
Analog dazu werden die Körperfunktionen codiert. Anstelle des „s“ steht bei den
Körperfunktionen ein „b“ (body). Danach kommen die Ziffern:
b130 Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs
b140 Funktionen der Aufmerksamkeit
7.2.3 Aktivitäten
Sind die körperlichen Voraussetzungen gegeben (Körperstrukturen und -funktionen), so
kann ein Kind lernen und Aktivitäten entwickeln.
Somit kommt eine dritte Komponente hinzu, in welcher die Aktivitäten beschrieben werden:
„Eine Aktivität ist die Durchführung einer Aufgabe oder einer Handlung (Aktion) durch einen
Menschen.“ Hollenweger 2011, S. 161
„Beeinträchtigungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch haben kann, die
Aktivität durchzuführen.“ ebda., S. 161
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 40
Dabei umfassen die Aktivitäten alle Bereiche, in denen das Kind lernt bzw. etwas gelernt
hat, vom einfachen Zuschauen oder Zuhören bis hin zu komplexen Leistungen wie Lesen,
Schreiben oder Rechnen.
Die ICF unterscheidet zwischen dem Leistungsstand und der Leistungsfähigkeit eines
Menschen. Leistungsfähigkeit ist diejenige Leistung, welche die/der Betreffende unter
möglicher Ausschaltung aller Umweltfaktoren zu leisten im Stande ist.
Leistungsstand sind die tatsächlich unter den jeweiligen Umweltvoraussetzungen
erbrachten Leistungen. Gibt es zwischen diesen beiden gravierende Abweichungen, so ist
zu prüfen, ob der Grund für diese Differenz nicht in Barrieren der Umwelt liegt. Diese
Barrieren könnten eventuell beseitigt werden.
Nach der ICF erreicht ein Kind seine maximale Leistung, wenn es keine Barrieren in der
Umwelt gibt.
Ein weiterer Grund dafür, dass ein Kind seine Leistungsfähigkeit nicht voll ausschöpft, kann
auch in der Motivation liegen.
Somit kann die tatsächliche Leistung auf drei Faktoren zurückgeführt werden:
- Leistungsfähigkeit
- Motivation
- Angebote und Barrieren der Umwelt
Nur wenn alle diese drei Voraussetzungen vorliegen, wird eine Aktivität auch tatsächlich
ausgeführt. Deshalb kann auch nicht von der Leistungsfähigkeit alleine auf die tatsächliche
Leistung geschlossen werden. In der ICF wird die Motivation des Kindes nicht
berücksichtigt.
Einteilung der Aktivitäten und der Partizipation (Teilhabe) 1. Kapitel
Aktivitäten und Partizipation
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 41
• 1. Lernen und Wissensanwendung
• 2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
• 3. Kommunikation
• 4. Mobilität
• 5. Selbstversorgung
• 6. Häusliches Leben
• 7. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
• 8. Bedeutende Lebensbereiche
• 9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Aus dieser Aufstellung ist ersichtlich, dass die Gliederung der Aktivitäten von der
Gliederung der Körperstrukturen und -funktionen in manchen Bereichen abweicht.
Kapitel 1: Da ist eine durchgängige Darstellung vom Nervensystem (Körperstrukturen) über
mentale Funktionen (Körperfunktionen) hin zum Lernen und zur Wissensanwendung
möglich.
So auch im Kapitel 3: Stimme bis hin zur Kommunikation.
Hier kommt es also zu einem Bruch in der übergeordneten Darstellung. Durch eine einfache
Änderung der Reihenfolge lässt sich aber eine für Pädagoginnen bzw. Pädagogen
brauchbare Übersicht erstellen, aus welcher die Zusammenhänge und Wechselwirkungen
auch vertikal ablesbar sind. Um den Bezug zur Codierung der ICF nicht zu verlieren,
werden die Codes nicht verändert:
Beispielsweise:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 42
Körperfunktionen Körperstruktur Aktivitäten Umweltfaktoren
1. Mentale Funktion
2.Sinnesfunktion und
Schmerz
3. Stimm- und
Sprechfunktionen
4. Funktionen der
kardiovaskulären,
hämatologischen,
Immun- und
Atmungssystems
5. Funktionen des
Verdauungs-, des
Stoffwechsel- und
des endokrinen
Systems
6. Funktionen des
Urogenital- und
Reproduktions-
systems
7.2.4 Partizipation (Teilhabe)
Die vierte Komponente bildet die Partizipation oder Teilhabe. In der ICF werden die beiden
Begriffe Partizipation und Teilhabe synonym verwendet.
Teilhabe ist das Einbezogensein einer Person in eine Lebenssituation oder einen
Lebensbereich. (Hollenweger 2011, S. 161)
Beeinträchtigungen der Teilhabe sind Probleme, die eine Person beim Einbezogensein in
eine Lebenssituation oder einen Lebensbereich erlebt. (ebda., S. 161)
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 43
Wichtig ist die persönliche Sichtweise der Betroffenen. Es kommt in dieser Komponente
noch nicht so sehr auf die Angebote der Gesellschaft an (dies wird in den Kontextfaktoren
abgebildet), sondern auf das subjektive Erleben.
Somit steht die Komponente der Partizipation stark mit dem Grundrecht der UN-Konvention
im Zusammenhang.
Die Komponente der Teilhabe ist in der ICF (noch) nicht codiert. Dies lässt viel
Interpretationsspielraum zu. Schuntermann unterscheidet drei Interpretationsmöglichkeiten
(ICF – Einführung in die ICF, 4. Aufl., Hamburg 2013, S. 60ff):
1. Interpretation von Teilhabe in der ICF
In der ICF wurden die Komponenten Aktivitäten und Teilhabe (ursprünglich) nicht
voneinander getrennt betrachtet. Es herrschte die Annahme, dass sich Teilhabe über die
Aktivitäten bestimmen lasse. Ein Mensch, welcher alle notwendigen Aktivitäten beherrscht,
sei auch in seiner Teilhabe nicht eingeschränkt. Diese Annahme stimmt in der Praxis nur
zum Teil. So ist es auch denkbar, dass ein Mensch alle Aktivitäten ausführen kann, jedoch
von der Teilhabe aufgrund von Mobbing ausgeschlossen ist.
2. Interpretation von Teilhabe im Zusammenhang mit den Menschenrechten
Die Menschenrechte umfassen auch
- den Zugang zu Lebensbereichen,
- in Lebensbereiche integriert zu werden (Teilhabe),
- ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Dabei beziehen sich diese Rechte auf das subjektive Empfinden einer Person. Fühlt sich
die/der Betroffene auch einbezogen und integriert?
3. Ansatz von Rentsch und Bucher (2005)
Dies ist ein therapeutischer Ansatz. Das Ziel der Therapie ist die größtmögliche Teilhabe.
Dabei wird dieses Ziel in einzelnen Schritten erreicht. Der erste Schritt besteht darin, die
notwendigen Aktivitäten zu erlernen. Danach werden die erlernten Aktivitäten stufenweise in
das Leben der/des Patientin/Patienten integriert – zuerst in einer kontrollierten Umgebung
und später immer mehr in den Lebensalltag.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 44
Zusammenhang zwischen Aktivität und Teilhabe
Schuntermann führt dazu folgendes Beispiel an (Schuntermann 2013, S. 63f): Eine Person liegt im Krankenhaus. Sie könnte sich waschen und möchte dies auch
(Leistungsbereitschaft vorhanden, Teilhabe im Lebensbereich ‚sich waschen´). Ihr Zeitbedarf für das
Waschen ist jedoch deutlich erhöht und sie benötigt dazu eine Assistenz. Wenn im Krankenhaus der
erhöhte Zeitbedarf und eine Assistenz zur Verfügung gestellt würden, dann hätte sie auch Teilhabe
am Lebensbereich Waschen. Aus Zeitgründen und wegen der Personalsituation (Barrieren der
Umwelt) wird die Person jedoch in ihrem Bett gewaschen (dies wird von der betreffenden Person als
Missachtung ihrer Selbstbestimmung und als unangenehm erlebt).
Aus diesem Beispiel leitet Schuntermann folgende Erkenntnisse ab:
- Jedes Item aus der Komponente Aktivität kann sowohl unter dem Aspekt der Aktivität
(Leistungsfähigkeit) als auch unter dem Aspekt der Teilhabe (Menschenrecht,
subjektive Erfahrung) gesehen werden.
- Teilhabe und Leistung haben einen ganz starken Bezug zur Umwelt. Beide sind von
Umweltfaktoren abhängig.
- Beide Komponenten, Aktivität und Teilhabe, können nur dann gemeinsam beurteilt
werden, wenn sie sich auf dieselbe Situation beziehen. Dabei wird die Aktivität meist
fremdbeurteilt, während die Beurteilung der Teilhabe auf einer Selbsteinschätzung
beruht.
7.2.5 Kontextfaktoren
Gerade die beiden letztbesprochenen Komponenten (Aktivitäten und Teilhabe) lassen sich
ohne Berücksichtigung des Kontextes nicht abschließend beurteilen. Die Möglichkeiten und
Hemmnisse der Umwelt spielen eine große Rolle dafür, wie weit eine Person an den
verschiedenen Lebensbereichen teilhaben kann.
In der ICF wird deshalb ein starkes Augenmerk auf die Beschreibung von Barrieren und
Ressourcen in der Lebensumwelt gelegt. Diese Überlegung folgt dem sozialen
Behinderungskonzept. Gelingt es, Barrieren in der Lebensumwelt abzubauen oder
Ressourcen anzubieten, so führt dies zu einer gesteigerten Teilhabemöglichkeit.
In der ICF werden die Kontextfaktoren in zwei Komponenten gegliedert:
„Umweltfaktoren“ und „personenbezogene Faktoren“
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 45
Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der
Menschen leben und ihr Dasein entfalten. (Hollenweger 2011, S. 228)
Im Zusammenhang mit Schule werden vor allem die familiären und schulischen
Lebensbereiche erfasst, welche im Zusammenhang mit der Einschätzung einer
Behinderung sehr ausführlich beschrieben werden. Dabei wird angegeben, inwieweit in der
Familie bzw. Schule Ressourcen, aber auch Barrieren vorhanden sind.
Die zweite Komponente beinhaltet Faktoren in der betroffenen Person selbst. Es sind dies
alle jene Faktoren, welche nicht im Zusammenhang mit der primären Beeinträchtigung
stehen.
Personenbezogene Faktoren sind der besondere Hintergrund des Lebens und der
Lebensführung einer Person (ihre Eigenschaften und Attribute) und umfassen
Gegebenheiten des Individuums, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder -zustandes
sind. Diese Faktoren sind in der ICF derzeit noch nicht klassifiziert.
(Schuntermann 2013, S. 25)
Dabei ist noch einmal wichtig darauf hinzuweisen, dass bei den personenbezogenen
Faktoren klar zu unterscheiden ist, ob sie Teil des Gesundheitsproblems sind oder nicht. So
ist zum Beispiel eine mangelnde Anstrengungsbereitschaft in vielen Fällen ein
personenbezogener Faktor. Ist das Gesundheitsproblem jedoch eine Depression, so stellt
die mangelnde Anstrengungsbereitschaft einen Teil des Gesundheitsproblems dar.
Die Umweltfaktoren werden auf der ersten Ebene in folgende Kapitel eingeteilt:
Umweltfaktoren
• 1. Produkte und Technologien
• 2. Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt
• 3. Unterstützung und Beziehung
• 4. Einstellungen
• 5. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 46
7.3 Codierung von Störungen In der ICF werden die einzelnen Items in Form von Codes dargestellt. Diese Codes
beginnen mit einem Buchstaben:
s (für Körperstrukturen)
b (für Körperfunktionen)
d (für Aktivitäten und Teilhabe)
e (für Umweltfaktoren)
Danach folgen Ziffern für die Ebenen (eine Ziffer für die erste Ebene und weitere Ziffern für
zweite und dritte Ebene = Unterkapitel).
z. B.
b2 = (b=Körperfunktionen, 2 = 1. Ebene 2. Kapitel = Wahrnehmung)
b210 = (b= Körperfunktionen, 210 = 2. Ebene 2. Kapitel = Funktionen des Sehens)
Abweichungen und Störungen werden nach der letzten Ziffer, nach einem Punkt als weitere
Ziffer eingefügt:
z. B.
b210.3
Dabei sind die Ziffern 0 bis 4, 8 und 9 möglich.
0 = Problem/Schädigung nicht vorhanden (ohne, kein, unerheblich, …)
1 = Problem/Schädigung leicht ausgeprägt (schwach, gering, …)
2 = Problem/Schädigung mäßig ausgeprägt (mittel, ziemlich, …)
3 = Problem/Schädigung erheblich ausgeprägt (hoch, äußerst, …)
4 = Problem/Schädigung voll ausgeprägt (komplett, total, …)
Die beiden Ziffern 8 und 9 haben eine besondere Bedeutung:
8 = Problem/Schädigung nicht spezifizierbar
9 = nicht anwendbar
Nicht spezifizierbar = Wenn das Problem vorhanden ist, jedoch nicht genau bestimmt
werden kann.
Nicht anwendbar = Wenn ein Item auf eine Person nicht anwendbar ist (beispielsweise
„d140 Lesen lernen“ bei einem Kindergartenkind).
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 47
Beispiele:
d145.1 = ein leichtes Problem in der Aktivität Schreiben lernen
b730.2 = ein mäßiges Problem in der Funktion der Muskelkraft
d150.0 = kein Problem in der Funktion Rechnen lernen
Nun stellt sich die generelle Frage der Abgrenzung einzelner Problemstärken. In der ICF
werden als Vergleichswerte dafür Prozentzahlen (nicht zu verwechseln mit Prozentrang!)
vorgeschlagen:
xxx.0 = Problem nicht vorhanden = 0 – 4 %
xxx.1 = Problem leicht ausgeprägt = 5 – 24 %
xxx.2 = Problem mäßig ausgeprägt = 25 – 49 %
xxx.3 = Problem erheblich ausgeprägt = 50 – 95 %
xxx.4 = Problem voll ausgeprägt = 96 – 100 %
Dieser Vorschlag gilt jedoch nicht als starre Grenze, sondern als Orientierungshilfe.
7.4 Zusammenspiel der Komponenten Wir haben nun die verschiedenen Komponenten isoliert voneinander betrachtet. Die Stärke
der ICF liegt jedoch gerade darin, das Zusammenwirken der Komponenten zu beschreiben.
Den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet ein Gesundheitsproblem. Dieses wirkt sich auf
die verschiedenen Komponenten der Person unterschiedlich aus. Wobei die verschiedenen
Komponenten sich aber auch gegenseitig beeinflussen.
Gesundheitsproblem
(Störung, Krankheit)
Körperfunktionen
Körperstrukturen Aktivitäten Partizipation
Teilhabe
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 48
Dieses Schema zeigt deutlich, dass sich das Gesundheitsproblem direkt auf die
Körperstrukturen bzw. -funktionen, aber auch direkt auf die Aktivitäten und die Teilhabe
auswirkt.
(Im medizinischen Modell wird das Gesundheitsproblem oft mit den Körperstrukturen und
-funktionen gleichgesetzt. Dies entspricht aber nicht dem Denkschema der ICF).
Gleichzeitig wirken sich die Aktivitäten auf die Körperstrukturen und -funktionen aus und
umgekehrt. Es gibt auch eine direkte Verbindung zwischen den Körperstrukturen und
-funktionen und der Partizipation (und umgekehrt).
Es kann zusammenfassend gesagt werden, dass sich jede Komponente auf jede andere
Komponente auswirkt. Alle gemeinsam bilden das Gesundheitsproblem oder umgekehrt,
das Gesundheitsproblem manifestiert sich in allen Komponenten.
Dem gegenüber stehen die Kontextfaktoren. Ressourcen und Barrieren der Umwelt bzw.
persönliche Kontextfaktoren können sich auf alle Komponenten auswirken:
Gesundheitsproblem
(Störung, Krankheit)
Körperfunktionen
Körperstrukturen Aktivitäten Partizipation
Teilhabe
Umweltfaktoren personenbezogene
Faktoren
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 49
Wir haben somit ein sehr komplexes System wechselseitiger Beeinflussungen.
Dies führt zu einem großen Aufwand in der Erhebung der einzelnen Faktoren, jedoch zahlt
sich dieser Aufwand aus. Es ist möglich, mit Hilfe dieser Darstellung einzelne Faktoren zu
bestimmen, welche leichter verändert werden können als andere. Dies betrifft in vielen
Fällen die Umweltfaktoren. Da sich diese unmittelbar auf alle anderen Komponenten
auswirken, kann der/dem Betroffenen durch den Abbau von Barrieren und dem Bereitstellen
von Ressourcen sehr geholfen werden.
Sehen wir uns dazu die Verbindungen der Umweltfaktoren zu den anderen Komponenten
noch etwas detaillierter an:
Umweltfaktoren → Aktivitäten:
Aktivitäten sind diejenigen Faktoren, welche durch Lernen und Entwicklung gebildet
werden. Somit werden die Aktivitäten durch Lern- und Förderangebote direkt
beeinflusst.
Umweltfaktoren → Körperstrukturen und -funktionen:
Darunter können Hilfsmittel verstanden werden. Wenn einer stark kurzsichtigen
Person etwa eine Brille angeboten wird, so verändert sich dadurch ihre
Kurzsichtigkeit nicht, die Person lernt auch nichts dazu, jedoch gleicht diese Brille
den körperlichen Mangel aus.
Umweltfaktoren → Partizipation:
Dies sind alle Formen des Abbauens von Barrieren bzw. des Bereitstellens von
Ressourcen, um eine selbstbestimmte Teilhabe zu ermöglichen.
7.5 Zuständigkeiten: Medizin, Psychologie, Pädagogik Die ICF ist so konzipiert, dass keine der drei Disziplinen für sich alleine eine vollständige
Diagnose erstellen kann. Je nach Fachrichtung werden schwerpunktmäßig unterschiedliche
Komponenten abgedeckt:
Ärztin/Arzt: Körperstrukturen und Körperfunktionen
Psychologin/Psychologe: Körperfunktionen und Aktivitäten
Pädagogin/Pädagoge: Aktivitäten und Partizipation
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 50
Aus der Zusammenschau der verschiedenen Ergebnisse, lässt sich eine Behinderung mit
allen ihren Wechselwirkungen darstellen. Dadurch wird ein wichtiges Prinzip der ICF
verwirklicht, nämlich das Mehraugenprinzip.
7.6 Prinzipien der ICF Mit der Entwicklung der ICF wurde nicht nur eine neue Klassifikation geschaffen, sondern
die WHO hat darüberhinausgehend Prinzipien festgelegt, nach welchen gearbeitet werden
soll. Diese Prinzipien sollen eine hochwertige Qualität sichern.
7.6.1 Das Mehraugenprinzip
Wesentlich für die ICF ist es, bei einer Diagnose mehrere Disziplinen beizuziehen, um
Behinderung mit ihren Wechselwirkungen abzubilden. Wie oben ausgeführt, haben Medizin,
Psychologie und Pädagogik einen gleichwertigen Anteil.
Medizin
Psychologie
Pädagogik
Es kommt in einzelnen Komponenten teilweise zu Überschneidungen der Zuständigkeiten.
So können zum Beispiel Körperfunktionen ein Teilbereich der Medizin oder der Psychologie
sein. Die genaue Abgrenzung ergibt sich dann in einer differenzierteren Betrachtung. So
sind beispielsweise die Items b117 (Funktionen der Intelligenz) und b140 (Funktionen der
Aufmerksamkeit) der klinisch psychologischen Disziplin zugeordnet, während die Medizin
eher zum Beispiel b210 (Funktionen des Sehens) oder b410 (Herzfunktionen) erfasst.
Körper-
strukturen
Körper-
funktionen Aktivitäten Partizipation
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 51
Auch zwischen Pädagogik und Psychologie gibt es bei den Aktivitäten teilweise
Überschneidungen. Die Aktivitäten d140 (Lesen lernen) oder d145 (Schreiben lernen)
werden von beiden Disziplinen erfasst und beurteilt.
Jedoch haben Pädagogik und Psychologie, auch wenn sie dasselbe Item bewerten,
unterschiedliche Zugänge, welche es zu berücksichtigen gilt.
Gerade in den Schulleistungen kommen diese unterschiedlichen Zugänge sehr deutlich
zum Ausdruck. Während die Psychologie das Leistungsvermögen eines Kindes bewertet,
erfasst die Pädagogik die tatsächliche Leistung im schulischen Kontext.
7.6.2 Einbeziehung von Betroffenen
Das zweite wichtige Prinzip ist die Einbeziehung der Betroffenen. Wie bereits ausführlich
beschrieben (soziales Behinderungsmodell) ist es ein wesentliches Prinzip der ICF, dass
eine Diagnose nicht über ein Kind erstellt wird, sondern gemeinsam von einer Fachperson
mit dem Kind. Dies ist gerade für die Komponente Partizipation und die Erfassung von
Umweltfaktoren wichtig.
Inwieweit ein Mensch partizipieren kann, kann nur die betroffene Person selbst erklären.
Auch kann die Person selbst am ehesten bestimmen, wo es im Alltag Barrieren
(Umweltfaktoren) gibt. Eine Diagnoseerstellung ohne Einbeziehung der/des Betroffenen ist
im Sinne der ICF nicht denkbar.
7.6.3 Bedeutung für die Beurteilung eines Kindes im schulischen Kontext
Die Berücksichtigung der ICF-Grundprinzipien hat eine weitreichende Auswirkung auf die
Beurteilung von Kindern im schulischen Kontext. So war es bisher weitgehend nicht üblich,
die Betroffenen aktiv in die Befunderstellung einzubinden. Auch der Austausch zwischen
den einzelnen Disziplinen wurde nicht in diesem Ausmaß gepflegt. Viel eher war es bisher
üblich, dass jede/r Fachfrau/-mann ihr Gutachten unabhängig von anderen erstellte und erst
die Behörde führte die einzelnen Gutachten zusammen.
Um auch unter den Grundprinzipien der ICF schlüssige und nachvollziehbare Gutachten zu
erstellen, braucht es eine ganz klare Vorgangsweise. Es ist wichtig, dass Befunde und
Ergebnisse nachvollziehbar bleiben und auch im Nachhinein klar ersichtlich ist, wer durch
welche Methode welches Ergebnis und welchen Befund erstellt hat. Die Zusammenarbeit
der Disziplinen darf nicht zu einer Vermischung von Kompetenzen und Ergebnissen führen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 52
Deshalb ist es notwendig, dass jede Disziplin zunächst unabhängig ihren Befund erhebt.
Sollten diese Ergebnisse in einem anderen Gutachten erwähnt werden, so ist dies
nachvollziehbar und erkennbar zu vermerken.
7.7 Mögliche Darstellung In einer Darstellung könnte das Grundschema der ICF mit schulrelevanten Items abgebildet
werden:
Grundschema:
Gesundheitsproblem
(Störung, Krankheit)
Körperfunktionen
Körperstrukturen Aktivitäten Partizipation
Teilhabe
Umweltfaktoren personenbezogene
Faktoren
1
2 3 4
5 6
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 53
1
2 3 4
5
6
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 54 Name: _______________________ Hauptdiagnose:________________________________ Geb. am: ____________________ Körperstrukturen Körperfunktionen Aktivitäten Partizipation (Teilhabe) 1. Struktur des Nervensystems
S110 Gehirn b110 Bewusstsein d131 lernen durch Handlungen
S120 Rückenmark b114 Orientierung d155 Fertigkeiten aneignen
S130 Hirnhaut b130 Energie und Antrieb d166 lesen
S140 sympathisches Nervensystem b140 Aufmerksamkeit d170 schreiben
S150 parasympathisches Nervensystem b152 Emotionen d172 rechnen
b164 höhere kognitive Funktionen d 175 Probleme lösen
b172 das Rechnen betreffende Funktionen
2. Das Auge, das Ohr und damit zusammenhängende Systeme
S210 Augenhöhle b210 Sehen d110 zuschauen
S220 Augapfel b230 Hören d115 zuhören
S230 um das Auge herum b280 Schmerz d120 andere bewusste sinnliche
Wahrnehmungen
S240 äußeres Ohr
S250 Mittelohr
S260 Innenohr
3. Strukturen, die an der Stimme und beim Sprechen beteiligt sind
S310 Nase b310-b399 Stimm- und d133 Sprache erwerben
S320 Mund Sprechfunktionen d310 kommunizieren als Empfänger
S330 Pharynx d330 sprechen
S340 Kehlkopf d335 Nonverbale Mitteilungen
produzieren
d720 komplexe interpersonelle
Interaktionen
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 55 d740 formelle Beziehungen
4. Mit der Bewegung in Zusammenhang stehende Strukturen
S710 Kopf- und Halsregion b735 Muskeltonus d250 sein Verhalten steuern
S720 Schulterregion b760 Willkürbewegungen d410 elementare Körperposition
wechseln
S730 obere Extremitäten d440 feinmotorischer Handgebrauch
S740 Beckenregion
S750 untere Extremitäten
S760 Rumpf
S770 muskuloskeletale Struktur d230 tägliche Routine durchführen
d530 Toilette benutzen
d540 sich kleiden
d550 essen
d571 auf die eigene Sicherheit
achten
Umweltfaktoren
persönliche
Faktoren
Familie Schule Hilfsmittel Raumangebot Unterstützung Förderung
Beziehung Einstellung
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 56
Diese Übersicht ist in folgender Weise zu lesen:
Beim Knaben XY besteht folgende Behinderung (Hauptdiagnose).
Diese Behinderung manifestiert sich in einzelnen Komponenten.
Im körperlichen Bereich kommt es zu Normabweichungen in (Körperstrukturen) und
(Körperfunktionen). Es können einige Aktivitäten (Aktivitäten) nicht erlernt werden und es
kommt zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen
(Partizipation).
Erschwerend kommen hinzu (Barrieren), als hilfreich/unterstützend erweist sich
(Ressourcen).
Um die Übersichtlichkeit zu wahren, werden verschiedene Farben verwendet:
Rot = Problem stark/voll ausgeprägt
Orange = Problem mäßig ausgeprägt
Schwarz = Problem nicht/leicht ausgeprägt
Grün = individuelle Stärke
Beispiele:
1. Gregor
Gregor, ein sechsjähriges Kind, wird im Herbst eingeschult.
Der Bub hat eine Schädigung des Rückenmarks, welche zu einer inkompletten Lähmung
der unteren Extremitäten führt (rot dargestellt). Die Rumpfmuskulatur und die
Mundmuskulatur sind weniger betroffen (orange).
In den Körperfunktionen führt diese Lähmung zu einer starken Beeinträchtigung des
Muskeltonus (rot) und zu einer mittleren Beeinträchtigung der Stimm- und
Sprechfunktionen (orange). Stärken hat Gregor im kognitiven Bereich, vor allem in den
höheren kognitiven Funktionen, der Aufmerksamkeit und den Emotionen (grün).
Hilfe braucht der Knabe in den Bereichen der Aktivitäten vor allem in der täglichen
Routine, dem Essen, beim An- und Auskleiden und dem Toilettenbesuch (rot). Auch hat er
aufgrund des schwachen Muskeltonus Probleme in der Stifthaltung und Strichführung
(orange).
Die Partizipation wurde nicht beurteilt, da Gregor noch den Kindergarten besucht.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 57
Die Kontextfaktoren im familiären Bereich wurden aufgrund der Schilderungen der
Sonderkindergärtnerin und der Eltern eingeschätzt.
Die Familie verfügt nur sehr eingeschränkt über die notwendigen Hilfsmittel. So hat der
Bub beispielsweise einen einfachen Rollstuhl, welchen er nicht selbst steuern kann. Er
könnte aber mit einem elektrisch betriebenen Rollstuhl selbst umgehen (dies haben
Versuche in der Familie gezeigt). Trotzdem wird zurzeit nicht an die Anschaffung eines
solchen Rollstuhles gedacht (orange).
Das Raumangebot zu Hause ist großzügig, die Familie bewohnt ein großes Bauernhaus.
Auch bietet die Umgebung viel Raum (grün).
Die Eltern lieben ihren Sohn (grün), haben aber ein Problem mit der Behinderung, welche
sie nicht wahrhaben wollen. Deshalb lassen sie ihm auch kaum Förderung zukommen
(orange).
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 58 Name: ____Gregor______________ Hauptdiagnose: ____inkomplette Querschnittlähmung____ Geb. am: ________________________ _________________________________ Körperstrukturen Körperfunktionen Aktivitäten Partizipation (Teilhabe)
1. Struktur des Nervensystems S110 Gehirn b110 Bewusstsein d131 Lernen durch Handlungen
S120 Rückenmark b114 Orientierung d155 Fertigkeiten aneignen S130 Hirnhaut b130 Energie und Antrieb d166 lesen S140 sympathisches Nervensystem b140 Aufmerksamkeit d170 schreiben S150 parasympathisches Nervensystem b152 Emotionen d172 rechnen b164 höhere kognitive Funktionen d 175 Probleme lösen b172 das Rechnen betreffende Funktionen 2. Das Auge, das Ohr und damit zusammenhängende Systeme S210 Augenhöhle b210 Sehen d110 zuschauen S220 Augapfel b230 Hören d115 zuhören S230 um das Auge herum b280 Schmerz d120 andere bewusste sinnliche Wahrnehmungen S240 äußeres Ohr S250 Mittelohr S260 Innenohr 3. Struktur., die an der Stimme und beim Sprechen beteiligt sind S310 Nase b310-b399 Stimm- und Sprechfunktionen d133 Sprache erwerben S320 Mund d310 kommunizieren als Empfänger S330 Pharynx d330 sprechen S340 Kehlkopf d335 Nonverbale Mitteilungen produzieren d720 komplexe interpersonelle Interaktionen d740 formelle Beziehungen 7. Mit der Bewegung in Zusammenhang stehende Strukturen S710 Kopf- und Halsregion b735 Muskeltonus d250 sein Verhalten steuern S720 Schulterregion b760 Willkürbewegungen d410 elementare Körperposition wechseln S730 obere Extremitäten d440 feinmotorischer Handgebrauch S740 Beckenregion S750 untere Extremitäten S760 Rumpf S770 muskuloskeletale Struktur d230 tägliche Routine durchführen d530 Toilette benutzen d540 sich kleiden d550 essen d571 auf die eigene Sicherheit achten
Umweltfaktoren Persönliche Faktoren
Familie Schule
Hilfsmittel
Raumangebot
Unterstützung Förderung
Beziehung Einstellung
Sehr fröhliches Kind, Kontaktfreudig
Sehr wissbegierig, motiviert
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 59
Aus dieser Darstellung lässt sich auch deutlich ablesen, in welchen Bereichen Barrieren
bestehen und welche Maßnahmen eingeleitet werden sollen.
So gibt es ein knappes Raumangebot in der Schule und Gregor braucht eine Assistenz bei
Handlungen im Bereich der täglichen Routine und Hilfe beim Schreiben (eventuell sollte
ein PC eingesetzt werden).
2. Beispiel: Nathalie
Nathalie, 6 Jahre alt, wird im Herbst eingeschult.
Aus einem psychologischen Gutachten geht hervor, dass das Mädchen kognitiv stark
beeinträchtigt ist (IQ = 67). Davon sind auch die Aufmerksamkeitsfunktionen betroffen.
Das Mädchen ist etwas übergewichtig und lethargisch (Energie und Antrieb).
In den Aktivitäten ergeben sich dadurch Schwierigkeiten in allen kognitiven Bereichen (1.
Ebene), wobei die schulischen Fertigkeiten wie Rechnen, Lesen und Schreiben noch nicht
von dem Mädchen verlangt werden. Jedoch zeigen sich in den Vorläuferfertigkeiten große
Probleme.
Das Mädchen stammt aus einer sehr einfachen Familie. Beide Eltern haben einen
Sonderschulabschluss und leben von Sozialleistungen. Dadurch können sie ihre Tochter
nur sehr eingeschränkt fördern. Auch können sie sich keine besonderen Hilfsmittel oder
Förderangebote leisten.
Für die bevorstehende Einschulung ist zu erwarten, dass die wohnortnahe Schule sehr gut
ausgestattet ist (Hilfsmittel, Raumangebot) und die Lehrerinnen das Mädchen sicher gut
fördern werden. Jedoch bestehen von Seiten der Lehrerinnen gewisse Vorurteile der
Familie gegenüber (Nathalie hat mehrere ältere Geschwister). Dies kommt im Feld
„Beziehung, Einstellungen“ zum Ausdruck.
Als Ansatzpunkt für Fördermaßnahmen und Hilfestellungen ergibt sich aus der Abbildung,
dass Unterstützungsmaßnahmen im häuslichen Umfeld dringend notwendig sind. So
werden Fördermaterialien zur Verfügung gestellt und eine Lernförderung organisiert.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 60 Name: ___Nathalie___ Hauptdiagnose: ____Umschriebene Entwicklungsstörung der kognitiven Funktionen__ Geb. am: ________________________ _________________________________ Körperstrukturen Körperfunktionen Aktivitäten Partizipation (Teilhabe)
1. Struktur des Nervensystems S110 Gehirn b110 Bewusstsein d131 lernen durch Handlungen
S120 Rückenmark b114 Orientierung d155 Fertigkeiten aneignen S130 Hirnhaut b130 Energie und Antrieb d166 lesen S140 sympathisches Nervensystem b140 Aufmerksamkeit d170 schreiben S150 parasympathisches Nervensystem b152 Emotionen d172 rechnen b164 höhere kognitive Funktionen d 175 Probleme lösen b172 das Rechnen betreffende Funktionen 2. Das Auge, das Ohr und damit zusammenhängende Systeme S210 Augenhöhle b210 Sehen d110 zuschauen S220 Augapfel b230 Hören d115 zuhören S230 um das Auge herum b280 Schmerz d120 andere bewusste sinnliche Wahrnehmungen S240 äußeres Ohr S250 Mittelohr S260 Innenohr 3. Struktur., die an der Stimme und beim Sprechen beteiligt sind S310 Nase b310-b399 Stimm- und Sprechfunktionen d133 Sprache erwerben S320 Mund d310 kommunizieren als Empfänger S330 Pharynx d330 Sprechen S340 Kehlkopf d335 Nonverbale Mitteilungen produzieren d720 komplexe interpersonelle Interaktionen d740 formelle Beziehungen 7. Mit der Bewegung in Zusammenhang stehende Strukturen S710 Kopf- und Halsregion b735 Muskeltonus d250 sein Verhalten steuern S720 Schulterregion b760 Willkürbewegungen d410 elementare Körperposition wechseln S730 obere Extremitäten d440 feinmotorischer Handgebrauch S740 Beckenregion S750 untere Extremitäten S760 Rumpf S770 muskuloskeletale Struktur d230 tägliche Routine durchführen d530 Toilette benutzen d540 sich kleiden d550 essen d571 auf die eigene Sicherheit achten
Umweltfaktoren Persönliche Faktoren
Familie Schule
Hilfsmittel
Raumangebot
Unterstützung Förderung
Beziehung Einstellung
Etwas schwerfällig,
nicht motiviert,
kaum Beziehungen zu anderen
Kindern od Erwachsenen
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 61
8 Das schulische Standortgespräch SSG
Das schulische Standortgespräch ist ein strukturiertes Gespräch zwischen Kind,
Eltern, Lehrer/in und Sonderpädagogin/-pädagoge. In diesem Gespräch soll durch
gemeinsame Bewertung ein Überblick über die Aktivitäten und die Partizipation des
Kindes in der Schule gewonnen werden. Aus diesem Überblick werden Ziele
abgeleitet und mittels einer schriftlichen Vereinbarung fixiert. Diese schriftliche
Vereinbarung ist wie ein Vertrag zwischen den Beteiligten, in welchem Maßnahmen
und Verantwortungen fixiert werden.
Materialien und Erklärungen finden sich auf der Homepage des Volksschulamtes
Zürich: (www.volksschulamt.zh.ch)
8.1 Aufbau
Das SSG besteht im Wesentlichen aus drei Teilen:
1. Einschätzung der Aktivitäten/Teilhabe
2. Formulierung der Ziele
3. Vereinbarung über die Maßnahmen und Verantwortlichkeiten
Ad 1) Das SSG beginnt mit der Erhebung von relevanten Daten:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 62
Diese Daten brauchen nicht von jeder/jedem Teilnehmer/in gesondert ausgefüllt
werden. Es reicht, wenn die fallführende Person, also in der Regel die/der
Sonderpädagogin/-pädagoge, dies in Absprache mit der Klassenlehrperson macht.
Danach werden die Aktivitäten erfasst. Dieses Blatt wird von allen Beteiligten
möglichst selbständig ausgefüllt. Dabei sollen nicht die Schulnoten abgebildet
werden, sondern eine möglichst persönliche Einschätzung der Aktivitäten aus Sicht
der jeweiligen Person dargestellt werden:
Von oben nach unten nimmt das Problem zu. Das heißt, dass ein Kreuz in der
obersten Reihe eine individuelle Stärke des Kindes bedeutet. Je tiefer die Reihe,
desto ausgeprägter ist das Problem. Rechts neben der Erklärung gibt es Platz, an
dem jede/r der Bewerter/innen Anmerkungen anbringen kann. Dies ist aber nicht
unbedingt notwendig.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 63
Ad 2) Als nächster Schritt werden Ziele formuliert:
Diese Aufgabe übernimmt die/der Sonderpädagogin/-pädagoge. Es werden zwei
Schwerpunktthemen formuliert.
Ad 3) Die letzte Seite enthält eine Kurzzusammenfassung, die Vereinbarung
bezüglich der Maßnahmen und Verantwortlichkeiten (Wer macht was?), den
Zeitpunkt des nächsten Treffens und eine Unterschriftenliste.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 64
8.1 Durchführung 1. Die Einschätzungsblätter werden an die Anwesenden verteilt. Die/der
Sonderpädagogin/-pädagoge erklärt den Ablauf. Jede/r Beteiligte soll in den
genannten Bereichen eine subjektive Einschätzung abgeben (von einer
individuellen Stärke bis Problem voll ausgeprägt). Dafür werden ca. 10 Minuten
veranschlagt. Diese Einschätzungen sollen nicht die Schulnoten abbilden, sondern
ein subjektives Bild der Beteiligten darstellen. Am rechten Rand gibt es auch die
Möglichkeit Anmerkungen einzutragen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 65
Sehr oft sind die Eltern oder Kinder nicht in der Lage, das Blatt selbständig
auszufüllen. Da empfiehlt es sich, dass sich die/der Sonderpädagogin/-pädagoge
schon eine Viertelstunde vorher mit den Eltern trifft und mit ihnen gemeinsam das
Blatt ausfüllt. Gemäß den Grundsätzen der ICF sind die Kinder als vollwertige
Mitglieder im Gespräch mit dabei und füllen das Blatt selbständig aus.
2. Im zweiten Schritt werden die Einschätzungsblätter nebeneinandergelegt. Es ist
dabei unerheblich, wer welche Einschätzung getroffen hat, da alle Bewertungen
grundsätzlich gleichwertig sind. Besprochen werden zuerst übereinstimmende
Einschätzungen, danach werden die divergierenden Einschätzungen besprochen.
Welche Gründe kann es für die abweichende Beurteilung geben?
X
X
X X
X
X
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 66
3. Aus den Einschätzungen werden zwei ausgewählt, in welchen das Problem stark
oder voll ausgeprägt ist. Diese zwei werden durch eine gemeinsame Absprache
festgelegt.
4. Die beiden gewählten Bereiche werden möglichst genau beschrieben. Wie zeigt
sich das Problem (Ist-Stand).
5. Aus dem Ist-Stand wird ein Ziel formuliert. Das Ziel sollte möglichst genau
beschrieben (operationalisiert) werden. Es wird auch festgelegt, in welcher Zeit
das Ziel realistischerweise erreicht werden kann und welche Maßnahmen dafür
notwendig sind.
6. Im letzten Schritt wird vereinbart, wer für welche Maßnahme verantwortlich ist. Die
Verantwortlichkeiten werden schriftlich fixiert und in Form eines Vertrages von
allen unterschrieben. Es wird festgelegt, wann sich die Beteiligten erneut treffen,
um die Fortschritte zu besprechen und die vereinbarten Maßnahmen bei Bedarf zu
verändern.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 67
9 Das standardisierte Abklärungsverfahren SAV Das standardisierte Abklärungsverfahren dient dazu, alle für die Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs notwendigen Daten zu erheben. Darüber
hinaus werden jene Daten erhoben, welche für die gezielte schulische Förderung
notwendig sind. Im Sinne der ICF werden Ressourcen und Barrieren in den
Umweltfaktoren benannt. Insgesamt wird das Kind mit seinen Stärken und
Schwächen in seiner Umwelt beschrieben, um daraus Maßnahmen ableiten zu
können. Da es sich dabei um eine große Menge an Daten handelt, ist es wichtig,
strukturiert vorzugehen und den Überblick zu behalten.
9.1 Aufbau/Elemente Die Daten werden in zwei Gruppen eingeteilt:
1. Basisabklärung
2. Bedarfsabklärung
In der Basisabklärung wird der IST-Stand erhoben. Aus diesem IST-Stand wird in der
Bedarfsabklärung eine Zielvorstellung formuliert. In dieser Zielformulierung werden
die Maßnahmen festgelegt, durch die das Ziel erreicht werden soll.
Basisabklärung = IST-Stand Bedarfsabklärung = Ziel und notwendige Maßnahmen
9.2 Basisabklärung Die fallführende Person erhebt zunächst die Daten des Kindes:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 68
Sehr wichtig ist es, die Fragestellung – möglichst im Wortlaut – zu erfassen. Die
Fragestellung ist vor allem für das Gutachten von zentraler Bedeutung.
Die Umwelt beeinflusst die Auswirkung der Funktionsstörung auf die Teilhabe.
Deshalb muss auch die Umwelt des Kindes erfasst und beschrieben werden.
Zunächst wird die schulische Situation beschrieben.
Im Sinne der ICF können sich schulische Rahmenbedingungen als Ressourcen oder
als Barrieren für ein Kind auswirken. Es reicht also nicht aus, die
Rahmenbedingungen zu benennen, sondern sie sollten in der Wechselwirkung mit
dem Kind als förderlich oder hemmend (Ressourcen oder Barrieren) beschrieben
werden. Allerdings ist es dabei notwendig, sich vor allem auf überprüfbare und
nachvollziehbare Tatsachen zu beziehen. In der Schule können dies sein:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 69
Klassenschüler/innen-Zahl, Abteilungsunterricht, zusätzliche Lehrer/innen in der
Klasse, etc. Im familiären Umfeld ist dies erheblich schwieriger und muss mit den
Eltern besprochen werden. Derartige Aussagen dürfen aber nicht auf Spekulationen
basieren.
Im SAV bildet das häusliche Umfeld den zweiten wichtigen Bereich der
Kontextfaktoren. Auch hier werden Rahmenbedingungen zunächst benannt und in
einem zweiten Schritt die Wechselwirkungen mit der Funktionsstörung des Kindes
beschrieben.
In der Österreichversion des SAV wurde versucht die Bewertungen des familiären
Umfeldes zurückhaltend zu formulieren. Auch die/der Gutachter/in sollte hier sehr
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 70
vorsichtig vorgehen. Es empfiehlt sich, in diesem Bereich bei Beschreibungen zu
bleiben und nicht zu bewerten.
Die anamnetischen Daten werden im Anschluss zu den familiären Daten erhoben.
Ein zentrales Element in der Basisabklärung ist die Erfassung der Funktionsfähigkeit
und der Aktivitäten eines Kindes. Diese Elemente sind direkt von der ICF
übernommen. Da der SAV im Zusammenhang mit schulischen Fragestellungen
durchgeführt wird, wurden aus der ICF nur jene Items ausgewählt, welche mit Schule
in Beziehung stehen. In vielen Fällen ist diese Aufzählung aber nicht ausreichend.
Deshalb wird dringend empfohlen, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, die
Liste zu ergänzen und fehlende Items mittels der ICF händisch nachzutragen. Im
SAV fehlen Angaben aus den Körperstrukturen vollständig. Dazu wird auf
vorhandene ICD Diagnosen (Hauptdiagnose) verwiesen. Für unsere Beschreibung,
vor allem schwerst- und mehrfachbehinderter Kinder, ist es aber unbedingt
notwendig, auch die Körperstrukturen zu erfassen und zu beschreiben.
Abgebildet werden die Körperfunktionen und Aktivitäten, wie in der Grafik ersichtlich:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 71
Durch diese Form der Abbildung werden die Funktionen übersichtlich dargestellt. Es
ist für unsere Arbeit wichtig, dass exakt definiert wird und es einheitliche Vorgaben
gibt, wie stark ein Problem einzustufen ist. Deshalb findet sich im Anhang eine
detaillierte Beschreibung aller dieser Items und Anregungen zur Einstufung.
In den Anmerkungen neben der Einschätzung ist zu vermerken, warum diese
Einschätzung getroffen wurde und welche Eigenschaften des Kindes zu dieser
Bewertung des Problems geführt.
Wie im Kapitel über die ICF bereits gezeigt wurde, dient die ICF der Beschreibung
einer konkreten Funktionsstörung, während die ICD die Diagnose (das
Gesundheitsproblem) liefert. Deshalb werden als letzter Punkt der Basisabklärung
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 72
bereits vorliegende ICD Diagnosen angeführt.
Es genügt nicht, nur die Diagnosen anzuführen, sondern es ist auch anzumerken,
wer diese Diagnose wann erstellt hat.
(z. B. F83 Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung, Dr. Muster, 18.01.2017).
Dies ist für die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens wichtig.
9.3 Bedarfsabklärung Nach der Erhebung des IST-Standes werden im Rahmen der Bedarfsabklärung die
Ziele für das Kind und die dafür notwendigen Maßnahmen festgelegt.
Dabei werden zunächst die Bereiche ausgewählt, in welchen das Kind
schwerpunktmäßig gefördert werden soll. Vorgegebene mögliche Bereiche sind:
1. Lernen und Wissensanwendung
2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
3. Kommunikation
4. Mobilität
5. Selbstversorgung
6. Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 73
Jeder dieser Bereiche kann entweder altersgemäß entwickelt oder individualisiert
sein. Altersgemäße Entwicklung bedeutet, dass keine besondere Förderung
notwendig ist und das Kind mit anderen Kindern seiner Altersgruppe vergleichbar ist.
Individualisiert bedeutet, dass das Kind, ganz allgemein gesprochen, eine
individuelle Förderung braucht.
Altersgemäße oder individualisierte Entwicklung können zum Zeitpunkt der Erhebung
(IST-Stand) oder in der Zukunft liegen.
Dabei sind verschiedene Kombinationen denkbar:
Aktuelle Situation: altersgemäß → anvisierte Situation: altersgemäß
(hier ist das Ziel der Förderung einen Leistungsstand zu halten).
Aktuelle Situation: individualisiert → anvisierte Situation: altersgemäß
(das Kind soll seine derzeitigen Defizite durch die Förderung ausgleichen und
aufholen)
Aktuelle Situation: individualisiert → anvisierte Situation: individualisiert
(trotz intensiver Förderung wird es kaum möglich sein, die bestehenden Defizite
auszugleichen)
Um das Ziel erreichen zu können, sind bestimmte Maßnahmen notwendig. Diese
werden im Folgenden beschrieben:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 74
Eine wichtige Maßnahme könnte in einer Lehrplanänderung liegen. Wichtig dabei ist
es, diese mit den Eltern und Lehrpersonen zu besprechen (vgl. Grundsatz des
Parteiengehörs, Elternrechte im AVG).
Behinderung entsteht nach dem bio-psycho-sozialen Modell der ICF in der
Wechselwirkung einer Person mit Barrieren der Umwelt. Ein wichtiges Ziel ist es,
diese Barrieren zu benennen und nach Möglichkeit zu beseitigen. Deshalb werden
im Folgenden die im Verfahren zu Tage getretenen Barrieren benannt.
Aus der Abklärung ergeben sich auch Maßnahmen, welche das Kind braucht, um
sich gut entwickeln zu können. Diese Maßnahmen werden beschrieben und fixiert.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 75
Dabei wird unterschieden, welche Maßnahmen direkt aus dem SAV ableitbar sind
und welche sich durch andere Informationen ergeben.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 76
Als letzter Schritt werden alle empfohlenen Maßnahmen zusammengefasst.
Wie gezeigt wurde, wird im Rahmen des SAV eine sehr große Menge an Daten
erhoben. Um den benötigten Zeitaufwand in Grenzen zu halten, sollte dabei sehr
gezielt vorgegangen werden.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 77
10 Das sonderpädagogische Gutachten Das sonderpädagogische Gutachten dient im Verfahren zur Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs der entscheidenden Behörde als zentrales
Beweismittel. Deshalb ist es wichtig, dass in diesem Gutachten alle
entscheidungsrelevanten Fragen beantwortet werden.
Das Gutachten ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse aus den schulischen
Standortgesprächen (SSG) und dem SAV. Dabei wird folgender grundlegende
Aufbau empfohlen.
10.1 Schematischer Aufbau An den Landesschulrat für [Bundesland]
[Außenstelle]
[Straße]
[PLZ Ort] [Datum]
Sonderpädagogisches Gutachten: [Name (Geb.Dat.)]
Gutachtenauftrag Fragestellungen
Bereits vorliegende Gutachten
Angaben zum Kind Schullaufbahn
Bereits ausgeschöpfte Maßnahmen
Sonderpädagogische Überprüfung Unterrichtsbeobachtung (Beobachtungen)
Durchgeführte Tests (Ergebnis)
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 78
Darstellung der Ergebnisse Bewertung und ICF-basierte Darstellung
Beantwortung der Fragen Zusammenfassung und Empfehlungen
Mit freundlichen Grüßen
10.2 Gutachten Beispiel Ausformuliert könnte das Gutachten in etwa wie folgt lauten.
KOPF des SPZ/ZIS/PBZ
An den Landesschulrat für [Bundesland]
[Außenstelle]
[Straße]
[PLZ Ort] [Datum]
Sonderpädagogisches Gutachten: [Name (Geb.Dat.)]
Gutachtenauftrag
Der Landesschulrat [Bundesland, Außenstelle] hat das [PBZ/SPZ/ZIS] am [Datum
des Auftrages] im Rahmen des Feststellungsverfahrens zum „sonderpädagogischen
Förderbedarf“ (gem. § 8 SchPflG) beauftragt, ein sonderpädagogisches Gutachten
über das Kind [Name (Geb.Dat.)] zu erstellen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 79
Fragestellungen
Im Rahmen des Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs wurden vom Landesschulrat dem [PBZ/SPZ/ZIS] folgende Fragen zur
Beantwortung vorgegeben:
a) Kann die/der Schüler/in dem Unterricht folgen? b) Sollte die/der Schüler/in dem Unterricht nicht folgen können, worin liegt die
Ursache? c) Welche Fördermaßnahmen wurden bereits ausgeschöpft? d) Wie kann die/der Schüler/in ihren/seinen Fähigkeiten entsprechend am besten
gefördert werden? e) Welche Schule entspricht den Bedürfnissen der Schülerin/des Schülers am
ehesten? f) Welche weiteren Maßnahmen sind notwendig?
Bereits vorliegende Gutachten
Folgende Gutachten liegen bereits vor:
Angaben zum Kind: Name: [Name] Geboren am: [Geb.Dat.]
Schule: [Schule] Klasse: [Klasse]
Schullaufbahn:
[Jahr] [Schule] [Klasse] [Stufe] [JdSpfl] [Lehrer/in]
Sonderpädagogische Überprüfung Zur Beantwortung der Fragestellungen wurden [mehrere] teilnehmende Unterrichts-
beobachtungen (Dat., Stunde) und eine gezielte pädagogische Testung am [Dat.]
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 80
durchgeführt. Zusätzlich wurden Gespräche mit dem Kind, den Lehrpersonen und
den Eltern geführt.
Unterrichtsbeobachtung (ICF Teilhabe) Die Unterrichtsbeobachtung(en) wurde(n) mittels eines vom PBZ Villach
ausgearbeiteten Protokollbogens durchgeführt. Dabei werden im 5-Minuten-Intervall
verschiedene Komponenten erfasst:
- Beteiligung am Unterricht - Benötigte Hilfestellungen - Störendes Verhalten - …
Die Komponenten sind operationalisiert und werden jeweils in vier Stufen bewertet.
Dadurch kann für jede beobachtete Stunde ein übersichtliches Verlaufsprofil erstellt
werden.
Ergebnis der Unterrichtsbeobachtung
Am [Dat.] wurde die [x.] Stunde beobachtet. Dabei handelte es sich um das
Unterrichtsfach [Fach]. Anwesend waren [Zahl] Schülerinnen und [Zahl] Schüler,
welche von [Lehrperson] unterrichtet wurden.
Aufbau der Stunde: [Zeit von bis] [Inhalt] [Sozialform]
Besondere Beobachtungen:
Protokoll:
Pädagogische Diagnose (ICF Aktivitäten) Die pädagogische Diagnose wurde am [Datum] durchgeführt. Erhoben wurden dabei
mittels standardisierter Schulleistungstests die Lese-, Schreib- und Rechenleistungen
des Kindes. Das Ergebnis wird in Prozenträngen (PR) angegeben, wobei
PR 0 – 2 = eine massive Beeinträchtigung darstellt.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 81
Lesen (d166 Lesen): Die Leseleistungen wurden mittels des Salzburger Lesetests SLT II (überprüft:
Wortlesen, lautes Lesen, Lesegeschwindigkeit, Fehleranzahl) und des Elfe Lesetests
ELFE 1-6 (überprüft: leises Lesen, Leseverständnis, Textverständnis) durchgeführt.
SLT II: Wortlesen: PR:
Pseudowortlesen: PR:
ELFE 1-6: Wortverständnis: PR:
Satzverständnis: PR:
Textverständnis: PR:
Gesamtleseleistung: PR:
Schreiben (d170 Schreiben): Die Rechtschreibleistungen des Kindes wurden mittels des Salzburger
Rechtschreibtests SRT II (überprüft: Wortdiktat) und des HSP [Zahl]+ (überprüft:
Wortdiktat und Satzdiktat) festgestellt. Zusätzlich wurde der/dem Schüler/in ein
kurzer Text diktiert, welcher von der/dem Schüler/in fortgesetzt werden sollte
(überprüft: Satzdiktat und selbständiges freies Schreiben):
SRT II: gesamt Fehler: PR:
O-Fehler: Zahl /kritischer Wert:
NO-Fehler Zahl /kritischer Wert:
Groß-Kleinschreibung Fehler: Zahl /kritischer Wert:
HSP _+
Freies Schreiben:
Diktiert wurde:
„Die Sonne scheint. Peter spielt im Hof mit dem Ball. Plötzlich fällt der Ball auf die
Straße. Da kommt ein Auto.“ Die/der Schüler/in sollte den Text in wenigen Sätzen
fortsetzen.
Von der/dem Schüler/in wurde geschrieben: …
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 82
Mathematik (d172 Rechnen): Die mathematischen Kompetenzen wurden mittels Eggenberger Rechentest ERT
[_]+ geprüft. Dieser Test erfasst die mathematischen Kompetenzen in vier
Komponenten:
- Grundkompetenzen PR: - Algebra PR: - Mengen- und Größenbeziehungen PR: - Angewandte Mathematik PR:
Summe der mathematischen Leistungen: PR:
Weitere Beobachtungen in den Bereichen Motorik, Sensorik, Sprache, Selbstversorgung:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 83 Aktivitäten und Partizipation
* Vorwiegend den Schulbereich betreffend (Alle übrigen Kriterien gelten sowohl für den Frühbereich als auch für den Schulbereich).
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Bemerkungen/Erläuterungen/Hinweise auf besondere Stärken
Lernen und Wissensanwendung (d1)
Zuschauen (d110)
Zuhören (d115)
Andere bewusste sinnliche Wahrnehmungen (d120)
Lernen durch Handlungen mit Gegenständen (d131)
Sprache erwerben (d133)
Sich Fertigkeiten aneignen (d155)
Lesen * (d166)
Schreiben * (d170)
Rechnen * (d172)
Probleme lösen * (d175)
Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (d2)
Die tägliche Routine durchführen (d230)
Sein Verhalten steuern (d250)
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 84 Kommunikation (d3)
Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen (d310)
Sprechen (d330)
Nonverbale Mitteilungen produzieren (d335)
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 85 Aktivitäten und Partizipation (Folge)
* Vorwiegend den Schulbereich betreffend (Alle übrigen Kriterien gelten sowohl für den Frühbereich als auch für den Schulbereich).
Pro
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eblic
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rägt
Pro
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e A
ngab
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dbar
Bemerkungen/Erläuterungen/Hinweise auf besondere Stärken
Mobilität (d4)
Eine elementare Körperposition wechseln (d410)
Feinmotorischer Handgebrauch (d440)
Selbstversorgung (d5)
Toilette benutzen (d530)
Sich kleiden (d540)
Essen (d550)
Auf eigene Sicherheit achten (d571)
Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
Komplexe interpersonelle Interaktionen (d720)
Formelle Beziehungen * (d740)
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 86
Bereits ausgeschöpfte Maßnahmen: Differenzierung und Individualisierung: Ein differenziertes Lernangebot wurde in [Bereichen] gemacht. Die
Differenzierungsmaßnahmen bestehen dabei vor allem in einer besonders anschaulichen
Darbietung des Unterrichtsstoffes, in vermehrter Hilfestellung und Unterstützung und in
einer teilweisen Reduktion des Stoffumfangs.
(konkrete Beispiele)
Besondere Förderung: [Name] nimmt regelmäßig am Förderunterricht teil. Dabei wurden die wesentlichen Inhalte
wiederholt und gefestigt. Nicht Verstandenes wurde anschaulich erklärt und es wurden
Hilfestellungen angeboten.
(konkrete Beispiele)
Beratung über mögliche Fördermaßnahmen: Die Eltern wurden von Seiten der Schule am [Datum] und am [Datum] wiederholt über
mögliche außerschulische Fördermöglichkeiten aufgeklärt und beraten.
(konkrete Beispiele)
Außerschulische Förderung: Die Eltern haben für [Name] eine Nachhilfe organisiert. Diese fördert das Kind regelmäßig.
Die Inhalte der Nachhilfe werden mit den Lehrpersonen der Schule abgesprochen und
koordiniert.
(Beschreibung)
Klassenwiederholung: [Name] hat die [Klasse] Klasse ( . Schulstufe) wiederholt.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 87
Beantwortung der Fragen: Ad a) Kann das Kind dem Unterricht folgen? Aus der Unterrichtsbeobachtung geht eindeutig hervor, dass [Name] in den beobachteten
Unterrichtsstunden dem Unterricht nicht folgen kann. Sie/er braucht sehr viel
Unterstützung und individuelle Hilfestellungen. Dabei ist das Lernangebot in den
Bereichen [Bereich] schon sehr differenziert.
Diese Beobachtung wird durch die Aussagen des Kindes, der Eltern und der Lehrperson
untermauert: [Aussagen]
b) Sollte das Kind dem Unterricht nicht folgen können, worin liegt die Ursache? Die möglichen Ursachen können in verschiedenen Bereichen liegen:
- Es handelt sich nur um eine vorübergehende, kurzzeitige Schwäche: Dazu ist festzuhalten, dass die Problematik seit Jahren besteht und auch eine
Klassenwiederholung und gezielte Förderung keine Verbesserung gebracht haben.
- Fehlende schulische oder außerschulische Förderung: Wie oben angeführt, nimmt das Kind regelmäßig am schulischen Förderunterricht
teil und erhält regelmäßig auch eine außerschule Lernförderung bzw. Nachhilfe.
- Die Ursache könnte in einer Behinderung liegen:
Aus dem [GA] geht hervor, dass bei [Name] eine Behinderung im Sinne des § 8
SchPflG vorliegt:
Diese Behinderung ist geeignet, die Teilhabe am Unterricht zu erschweren und
erklärt die schulischen Probleme in nachvollziehbarer Weise.
c) Welche Fördermaßnahmen wurden bereits ausgeschöpft? Diese Fragestellung wurde oben bereits ausführlich beantwortet.
d) Wie kann das Kind seinen Fähigkeiten entsprechend am besten gefördert werden? Aus der beiliegenden Übersicht wird deutlich, dass [Name] große Probleme in den
Aktivitäten [Probleme] hat. Als Fördermöglichkeiten bieten sich dabei an:
[Förderprogramme]
e) Welche Schule entspricht den Bedürfnissen des Kindes am ehesten?
Ich empfehle den Besuch der [Schule], da an dieser Schule [Fördermaßnahmen]
(fördernde Umweltfaktoren im Sinne der ICF) bestehen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 88
f) Welche weiteren Maßnahmen sind notwendig? [Maßnahmen]
Zusammenfassung und Empfehlung
[Name] besucht in diesem Schuljahr die [Klasse] [Schulstufe] der [Schule]. Aufgrund der
von [GA] festgestellten [Diagnose] kann sie/er dem Unterricht ohne sonderpädagogische
Förderung nicht folgen. Andere Ursachen für das Unvermögen dem Unterricht zu folgen
können ausgeschlossen werden. Im Vorfeld des Antrags zur Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs wurden alle möglichen Fördermaßnahmen,
insbesondere Differenzierung und Individualisierung, Beratung und
Schulstufenwiederholung ausgeschöpft.
Deshalb wird von Seiten des [PBZ/SPZ/ZIS] empfohlen, für [Name] den
sonderpädagogischen Förderbedarf festzustellen. Den Bedürfnissen des Kindes kann am
ehesten an der [Schule] entsprochen werden. Da [Name] dem Unterricht in den
Gegenständen [Gegenstände] nicht folgen kann, wird empfohlen, diese nach dem
Lehrplan der Sonderschule zu unterrichten.
Mit freundlichen Grüßen
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 89
11 Anhang
11.1 Beschreibung der ICF-Items nach dem Schweizer Modell (SAV –
Volksschulamt Zürich): d110 zuschauen
Definition: Absichtsvoll den Sehsinn benutzen, um visuelle Reize wahrzunehmen, wie einen
Gegenstand visuell verfolgen, Personen beobachten, einer Sportveranstaltung oder dem
Spiel von Kindern zuschauen.
Beschreibung: Dieser Code beinhaltet, mit dem Sehsinn und der visuellen Wahrnehmung in einer
Situation anwesend zu sein sowie durch Fokussierung und Lenkung des Blicks über eine
gewisse Zeit Informationen aus visuellen Stimuli zu entnehmen. Mit «Zuschauen» ist das
anhaltende Verfolgen visueller Stimuli gemeint, nicht die Fähigkeit, einen kurzen,
konzentrierten Blick auf ein Objekt zu lenken; dies würde unter d160 «Aufmerksamkeit
lenken» kodiert werden. Dieser Code unterscheidet sich von der Körperfunktion «Visuelle
Wahrnehmung» (Subcode von b156 «Funktionen der Wahrnehmung») dadurch, dass er
sich auf ein spezifisches, intentionales Verhalten bezieht, während sich die Funktionen der
Wahrnehmung auf die Integrität von neurologischen Verarbeitungsfunktionen beziehen.
Fallbeispiel: Ein 8-jähriges Kind mit korrigierter Sehschwäche kann im Frontalunterricht den schriftlichen Ausführungen
der Lehrperson nur dann folgen, wenn es in der ersten Tischreihe sitzt.
Ein 15-jähriger Knabe ist nach einer Hirnverletzung im schulischen Kontext sehr erregt und unkonzentriert.
Er kann seinen Blick nicht auf die Wandtafel lenken. Vor seinem Unfall hat er sich sehr für Fußball
interessiert, doch jetzt kann er kein Fußballspiel während mehr als einer halben Minute verfolgen.
Ein 10-jähriges Kind mit einer schweren mehrfachen Behinderung verfolgt mit den Augen nur Gegenstände,
die auffällig sind und in einer kurzen Distanz vor ihm hin- und her bewegt werden.
Ein 4-jähriges Mädchen kann die Bewegungen von spielenden Kindern nur bei hellem Licht als Schatten
verfolgen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 90
d115 zuhören
Definition:
Absichtsvoll den Hörsinn benutzen, um akustische Reize wahrzunehmen, wie solche aus
dem Radio, eine menschliche Stimme oder Musik, beim Hören eines Vortrags oder einer
vorgetragenen Geschichte.
Beschreibung: Dieser Code beinhaltet Aspekte des Codes «Aufmerksamkeit fokussieren» (d160),
insoweit die Entnahme von Informationen aus Gehörtem einer gewissen Aufmerksamkeit
bedarf. Er reflektiert die Fähigkeit, vorzugsweise bestimmte auditive Stimuli zu beachten
und sich so über eine gewisse Zeit hinweg Informationen zu beschaffen. Mit «Zuhören» ist
das anhaltende Verfolgen auditiver Stimuli gemeint, nicht die Fähigkeit, sich kurz an
Geräuschen zu orientieren; dies würde unter d160 «Aufmerksamkeit lenken» kodiert
werden. Dieser Code unterscheidet sich von den Körperfunktionen «Auditive
Wahrnehmung» (Subcode von b156 «Funktionen der Wahrnehmung») oder von den
«Funktionen des Hörens» (b230) dadurch, dass er sich auf ein spezifisches, intentionales
Verhalten bezieht, während sich Körperfunktionen auf die Integrität von physiologischen
oder neurologischen Funktionen beziehen.
Fallbeispiel: Ein 6-jähriges Mädchen fühlt sich in der Gruppe nur angesprochen, wenn man sich direkt an das Kind
wendet. Es lässt sich durch Störgeräusche leicht ablenken.
Durch die Anwendung eines Sprachgenerators kann ein 9-jähriger Knabe mit Autismusspektrumsstörung
sprachlichen Äußerungen lange genug folgen, um ein kurzes Wort zu buchstabieren.
Auch in einer ruhigen Umgebung kann ein 17-jähriger Jugendlicher mit schweren auditiven
Verarbeitungsstörungen den Ausführungen des Schulpsychologen nicht lange genug folgen, um die Aufgabe
zu verstehen.
Ein 13-jähriges hirnverletztes Kind reagiert nicht, wenn es angesprochen wird oder wenn ihm seine frühere
Lieblingsmusik vorgespielt wird.
d120 andere bewusste sinnliche Wahrnehmungen
Definition:
Absichtsvoll andere elementare Sinne benutzen, um Reize wahrzunehmen, wie die materielle Struktur tasten
und fühlen, mit dem Mund erkunden, Süßes schmecken oder Blumen riechen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 91
Beschreibung:
Fallbeispiel: Ein 3-jähriges Kind mit Down-Syndrom erkundet seine Spielumgebung fast ausschließlich dadurch, dass es
die Gegenstände in den Mund nimmt.
Ein 16-jähriger Jugendlicher mit Asperger-Syndrom vermeidet konsequent die Berührung und Erkundung
von ihm unbekannten Gegenständen.
Ein 1-jähriges Mädchen mit starken spastischen Bewegungsstörungen kann Gegenstände nur mit großer
Mühe erkunden.
Ein 8-jähriger tetraplegischer Junge kann seine Hände nicht zur Erkundung seiner näheren Umgebung
einsetzen.
d131 Lernen durch Handlungen mit Gegenständen
Definition:
Lernen durch einfache Handlungen mit einem einzelnen Gegenstand, mit zwei oder mehr
Gegenständen, durch Funktions- oder Symbolspiele, wie mit Gegenständen klopfen,
Bausteine stoßen und mit Puppen oder Autos spielen.
Beschreibung: Dieser Code beinhaltet verschiedene Aspekte des Lernens (z. B. d135 «Üben», d175
«Probleme lösen») und je nach Spielinhalt und Spielkontext auch motorische und soziale
Kompetenzen. Durch Spielhandlungen lernen ist v. a. in der frühen Kindheit bis zum Alter
von etwa 10 Jahren von großer Bedeutung für die Entwicklung.
Fallbeispiel: Ein 10-jähriger Knabe mit Migrationshintergrund hat anhaltende Schwierigkeiten, sich an gängigen
Regelspielen zu beteiligen.
Ein 3-jähriges Mädchen mit zerebralen Bewegungsstörungen und kognitiven Schwierigkeiten stößt beim
Spielen einen mit Sand gefüllten Lastwagen, den ihm ein anderes Kind gibt, jeweils nur um, statt den Inhalt
in einen Güterwagen zu leeren.
Ein 5-jähriges Kind mit Autismusspekturmsstörung erkennt Spielangebote anderer Kinder nicht, nimmt ihnen
die Spielzeuge weg und schlägt diese wiederholt an die Wand.
Ein 1-jähriges Mädchen mit Rett-Syndrom verwendet seine Hände für keinerlei Funktionsspiele und benützt
sie nicht zum Erkunden der Umwelt.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 92
d133 Sprache erwerben
Definition:
Die Fähigkeit entwickeln, Personen, Gegenstände, Ereignisse und Gefühle durch Wörter,
Symbole, Redewendungen oder Sätze zu repräsentieren.
Exkl. «Zusätzliche Sprache erwerben» (d134); «Kommunikation» (d310–d399).
Beschreibung: Mit Spracherwerb ist das ungesteuerte Lernen der Erstsprache gemeint. In der Regel
haben Kinder bis zum Alter von 12 Jahren auch komplexere syntaktische Strukturen
erworben. Obwohl der Spracherwerb nie abgeschlossen ist, ist seine Einschätzung vor
allem im Vorschulalter von großer Bedeutung.
Fallbeispiel: Ein 5-jähriges Kind hat Schwierigkeiten sich auszudrücken, weil es über einen geringen Wortschatz verfügt,
und versteht oft die Anweisungen der Kindergärtnerin nicht.
Ein 8-jähriges Mädchen mit Down-Syndrom spricht in Zwei-Wort-Sätzen und versteht Anweisungen, wenn
sie mit Gesten begleitet werden.
Ein 2-jähriger gehörloser Knabe (kurz vor einer Cochlea-Implantation) verwendet nur familieninterne
Bezeichnungen, zum Beispiel für Mama, Papa oder Essen.
Ein 12-jähriger Knabe mit einer Mehrfachbehinderung macht durch Lallen und Schreien auf sich
aufmerksam und reagiert nicht auf sprachliche Äußerungen anderer.
d155 sich Fertigkeiten aneignen
Definition:
Elementare und komplexe Fähigkeiten für integrierte Mengen von Handlungen und
Aufgaben entwickeln, um die Aneignung einer Fertigkeit anzugehen und zu Ende zu
bringen, wie Werkzeuge oder Spielzeuge handhaben oder Spiele spielen.
Beschreibung: Dieser Code bezieht sich auf eine verbesserte Performanz über eine gewisse Zeit und
kann deshalb nur unter Berücksichtigung von mindestens zwei Zeitpunkten eingeschätzt
werden. Er umfasst primär Fähigkeiten, die nicht mit Schreiben, Lesen oder Rechnen
lernen in Zusammenhang stehen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 93
Wenn eine bestimmte Fähigkeit in engem Zusammenhang mit einem spezifischen
Lebensbereich steht (z. B. sich ankleiden lernen), können allfällige Schwierigkeiten sowohl
hier als auch dort kodiert werden.
Fallbeispiel: Eine 18-jährige Jugendliche mit einem Schädel-Hirn-Trauma hat große Schwierigkeiten beim Wiedererwerb
alltäglicher Fähigkeiten wie selbstständig essen, einen Weg finden oder einen Koffer packen.
Ein 12-jähriger Knabe mit Down-Syndrom zeigt große Schwierigkeiten beim Lernen von Stricken und Nähen
im textilen Werkunterricht.
d166 Lesen
Definition:
Aktivitäten im Zusammenhang mit der Erfassung und Interpretation von Texten
durchführen (z. B. aus Büchern, Anweisungen oder Zeitungen – auch in Braille), um
allgemeines Wissen oder besondere Informationen zu erlangen.
Beschreibung: Mit d166 «Lesen» sind die gegenwärtigen Fähigkeiten im Kompetenzbereich «Lesen»
(Leseverständnis, Dekodierungsfähigkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit) gemeint. Die
Lesefähigkeiten sollten mit einem standardisierten Verfahren erfasst werden. Hier geht es
primär um Fähigkeiten, die im Zusammenhang mit Lernprozessen stehen.
d170 Schreiben
Definition:
Symbole und Sprache verwenden oder produzieren, um Informationen zu vermitteln, wie
schriftliche Aufzeichnungen von Ereignissen oder Ideen produzieren oder einen Brief
entwerfen.
Beschreibung: Zum Kompetenzbereich d170 «Schreiben» gehören die Fähigkeiten Sprachverständnis,
Enkodierungsfähigkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit. Die Schreibfähigkeiten sollten
mit einem standardisierten Verfahren erfasst werden. Hier werden primär Fähigkeiten
erfasst, die im Zusammenhang mit Lernprozessen stehen. Spezifische Probleme können
zum Beispiel im Zusammenhang mit motorischen Koordinationsproblemen,
Wahrnehmungsproblemen und Rechtschreibschwächen stehen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 94
d172 Rechnen
Definition:
Berechnungen unter Anwendung mathematischer Prinzipien durchführen, um in Worten
beschriebene Probleme zu lösen und die Ergebnisse zu produzieren oder darzustellen,
wie die Summe aus drei Zahlen berechnen oder das Ergebnis der Division einer Zahl
durch eine andere finden.
Beschreibung: Zum Kompetenzbereich d172 «Rechnen» gehören die Fähigkeiten Zählen, Messen, Raum
und Form, Funktionen und Wahrscheinlichkeit. Die Rechenfähigkeiten oder
mathematischen Kompetenzen sollten mit einem standardisierten Verfahren erfasst
werden.
d175 Probleme lösen
Definition:
Lösungen für eine Frage oder eine Situation finden, indem das Problem identifiziert und
analysiert wird, Lösungsmöglichkeiten entwickelt und die möglichen Auswirkungen der
Lösungen abgeschätzt werden und die gewählte Lösung umgesetzt wird, wie die
Auseinandersetzung zweier Personen schlichten.
Beschreibung: Der Code d175 «Probleme lösen» bezieht sich auf die Integration und gezielte Nutzung
der eigenen geistigen Fähigkeiten, um ein gestelltes Problem zu lösen.
Fallbeispiel: 1 Ein 17-jähriger Knabe mit einer geistigen Behinderung (IQ 40) hat Probleme, mögliche Lösungen für eine
einfache Labyrinth-Aufgabe zu finden.
d230 die tägliche Routine durchführen
Definition:
Einfache und komplexe sowie koordinierte Handlungen ausführen, um die Anforderungen
der alltäglichen Abläufe oder Pflichten zu planen, zu handhaben und zu bewältigen, wie
Zeit einplanen und den Tagesplan für die verschiedenen Aktivitäten aufstellen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 95
Inkl. die tägliche Routine handhaben und zu Ende bringen; das eigene Aktivitätsniveau
handhaben. Exkl. «Mehrfachaufgaben übernehmen» (d220).
Beschreibung: 1
Fallbeispiel: 1 Ein 2-jähriger Knabe hat große Mühe, sich an den Tagesablauf (aufstehen, Wachphase, essen,
Mittagsschlaf, etc.) zu gewöhnen.
Ein 12-jähriges Mädchen mit Down-Syndrom hat Probleme, alle Unterlagen für die Erledigung der
Hausaufgaben beisammen zu haben und vergisst, in der Schule die Blumen zu gießen, wenn ihm diese
Aufgabe übertragen wurde.
d250 sein Verhalten steuern
Definition: 1 Einfache oder komplexe und koordinierte Handlungen auf einheitliche Art ausführen als Reaktion auf neue Situationen,
Personen oder Erfahrungen, z. B. sich in einer Bibliothek ruhig verhalten.
Beschreibung:
Fallbeispiel: Ein 4-jähriges Mädchen mit Entwicklungsverzögerung zeigt gegenüber unbekannten
Personen und bei neuen Aufgaben anhaltend motorische Unruhe und Abwehr, es weicht
aus und bricht die Kooperation ab.
Ein 5-jähriger Knabe mit Autismusspektrumsstörung reagiert auf ungewohnte Situationen
mit einem Schreianfall und Selbstverletzungen.
Ein 15-jähriges Mädchen mit Down-Syndrom geht auf der Straße auf fremde Menschen zu
und versucht sich an ihren Arm zu hängen.
d310 Kommunizieren als Empfänger gesprochener Mitteilungen
Definition:
Die wörtliche und übertragene Bedeutung von gesprochenen Mitteilungen erfassen, wie
verstehen, ob eine Aussage eine Tatsache behauptet oder ob sie eine idiomatische
Wendung ist.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 96
Beschreibung: Dieser Code wird verwendet um zu beschreiben, ob jemand – ob hörend oder gehörlos –
gesprochene Mitteilungen versteht oder nicht. Er erfasst somit das erfolgreiche
Verständnis von gesprochener Sprache und beinhaltet etwa Wortverständnis oder das
Verständnis der Bedeutung der jeweiligen Intonation.
Fallbeispiel: Ein 11-jähriger Bub mit Lernbehinderung erfasst sprachliche Inhalte, die einen übertragenen Sinn andeuten, jeweils nur
nach spezieller Erläuterung und Erklärung.
Ein 10-jähriges Mädchen kann einer einfachen Geschichte nur bruchstückweise folgen, wenn sie erzählt wird. Wird die
Geschichte mit Bildern begleitet, gelingt ihm das weit besser.
Ein 13-jähriger Bub kann lediglich eindimensionale, klar formulierte und direkt an ihn gerichtete Mitteilungen
aufnehmen. Auch einfache Kinderwitze, deren Pointen auf einem Wortspiel beruhen, kann er nicht nachvollziehen.
Eine Jugendliche mit schwerer geistiger Behinderung ist nicht in der Lage, den Inhalt von Wörtern und Sätzen, die an
sie gerichtet werden, aufzunehmen.
d330 Sprechen
Definition:
Wörter, Wendungen oder längere Passagen in mündlichen Mitteilungen mit wörtlicher und
übertragener Bedeutung äußern, wie in gesprochener Sprache eine Tatsache ausdrücken
oder eine Geschichte erzählen.
Beschreibung: Mit diesem Code wird die verbale Produktion von Mitteilungen erfasst; er beschreibt die
erfolgreiche Kommunikation der eigenen Ideen, Gedanken, Bedürfnisse und Wünsche.
Hier soll weniger die grammatikalisch korrekte Produktion von Sätzen und Wörtern erfasst
werden, sondern die erfolgreiche Kommunikation von Ideen.
Fallbeispiel: Ein 8-jähriger Bub kann seinen Redefluss nur ungenügend kontrollieren. Für das Verständnis wichtige Elemente lässt er
regelmäßig aus, so dass das Gegenüber den Inhalt nur mit Mühe verstehen kann.
Ein 10-jähriges gehörloses Mädchen kann mittels Lautsprache nur einfache Botschaften und Wünsche übermitteln.
Ein 13-jähriger Bub mit einer geistigen Behinderung kann Erlebtes nur in Einzelbegriffen bzw. in grammatikalisch
unvollständigen Sätzen wiedergeben.
Eine 15-jährige Jugendliche mit einer zentralen Sprachstörung kommuniziert mit Lautäußerungen und Gesten.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 97
d335 nonverbale Mitteilungen produzieren
Definition:
Gesten, Symbole und Zeichnungen zur Vermittlung von Bedeutungen einsetzen, wie
seinen Kopf schütteln, um Uneinigkeit anzuzeigen, oder ein Bild oder Diagramm zeichnen,
um eine Tatsache oder eine komplexe Vorstellung zu vermitteln. Inkl. Körpergesten,
Zeichen, Symbole, Zeichnungen und Fotos produzieren.
Beschreibung: Dieser Code wird für Mitteilungen oder Botschaften verwendet, die anders als über Lesen
und Schreiben vermittelt werden. Er ist besonders bedeutsam in Situationen, in denen
nonverbale Mittel das Sprechen unterstützen oder in Situationen, in welchen nonverbale
Kommunikation das primäre Mittel zur Kommunikation darstellt.
Fallbeispiel: Ein 8-jähriges Kind mit geistiger Behinderung kann durch Zeigen auf Gegenstände oder auf eine Tafel mit
Symbolen eine begrenzte Anzahl an Informationen vermitteln.
Ein 10-jähriger Bub kann einige elementare Aussagen wie «ja» und «nein», «ich habe genug gegessen»,
«ich muss auf das Klo» durch eindeutige Gesten ausdrücken.
Ein 13-jähriges Mädchen kann durch Kopfnicken und Kopfschütteln lediglich «ja » und «nein» eindeutig
ausdrücken.
Ein 7-jähriger Bub ist nach einer Unfall-Hirnverletzung nicht in der Lage, eigene Wünsche oder andere
Informationen durch Körpergesten zu vermitteln.
d410 eine elementare Körperposition wechseln
Definition:
In eine und aus einer Körperposition gelangen und sich von einem Ort zum anderen
bewegen, wie sich von einer Seite auf die andere drehen, sich setzen, aufstehen, von
einem Stuhl aufstehen, sich in ein Bett legen sowie in eine kniende oder hockende oder
aus einer solchen Position gelangen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 98
Inkl. seine Körperposition aus einer liegenden, knienden oder hockenden, sitzenden oder
stehenden Position heraus verändern, sich beugen und seinen Körperschwerpunkt
verlagern.
Beschreibung:
Fallbeispiel: Ein 11-jähriger Bub mit starken Lähmungserscheinungen ist nicht in der Lage, sich selbstständig vom
Rollstuhl auf sein Bett oder auf einen Stuhl zu verlagern.
d440 feinmotorischer Handgebrauch
Definition:
Koordinierte Handlungen mit dem Ziel ausführen, Gegenstände mit der Hand, den Fingern
und dem Daumen aufzunehmen, zu handhaben und loszulassen, wie es für das
Aufnehmen von Münzen von einem Tisch, für das Drehen einer Wählscheibe, das Tippen
auf einer Telefontastatur oder das Drehen eines Knaufes erforderlich ist.
Inkl. aufnehmen, ergreifen, handhaben, loslassen.
Beschreibung: Dieser Code umfasst alle Fähigkeiten, mit den Händen und Fingern koordiniert und
zielgerichtet Objekte zu manipulieren. Dabei stehen die bewegungsbezogenen Funktionen
im Vordergrund, nicht explizit psychomotorische Funktionen.
Fallbeispiel: Ein 6-jähriger Knabe mit einem Schädel-Hirn-Trauma kann kein Blatt Papier vom Tisch aufheben und hat
große Probleme, aus Lehm eine Kugel zu formen.
d530 die Toilette benutzen
Definition:
Das Bedürfnis zur Beseitigung menschlicher Ausscheidungen (Urin, Stuhl,
Menstruationssekrete) anzeigen, die Beseitigung planen und durchführen sowie sich
anschließend reinigen.
Inkl. die Belange der Blasen- und Darmentleerung sowie der Menstruation regulieren.
Exkl. «sich waschen» (d510), «seine Körperteile pflegen» (d520).
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 99
Beschreibung:
Fallbeispiel: Ein 4-jähriges Mädchen mit leichter Zerebralparese benötigt in der Nacht noch Windeln, manchmal auch
tagsüber, etwa bei ungewohntem Tagesablauf oder wenn es besonders aufgeregt ist.
Ein 11-jähriger Knabe mit Muskeldystrophie Typ Duchenne muss für den Stuhlgang beim Transferieren vom
Rollstuhl zur Toilette unterstützt werden, kann aber alle weiteren notwendigen Handgriffe selber ausführen.
Meistens erfolgt der Stuhlgang zuhause und nicht in der Schule.
Ein 15-jähriger Knabe mit Autismusspektrumsstörung spürt selten, wann er auf die Toilette gehen muss.
Eine Betreuerin muss deshalb mit ihm regelmäßig die Toilette aufsuchen. Es kommt etwa 1–2 Mal pro
Woche vor, dass er den Gang zur Toilette nicht rechtzeitig schafft.
Ein 7-jähriges Mädchen mit Tetraplegie nach einem Autounfall muss zur Blasenentleerung katheterisiert
werden. Auch der Stuhlgang muss künstlich herbeigeführt werden.
d540 sich kleiden
Definition:
Die koordinierten Handlungen und Aufgaben durchführen, welche das An- und Ausziehen
von Kleidung und Schuhwerk in Abfolge und entsprechend den sozialen und klimatischen
Bedingungen betreffen.
Beschreibung:
Fallbeispiel: Ein 11-jähriger Bub mit Hemiplegie holt seine Kleider selbst aus dem Schrank und kann sich selbstständig
an- und ausziehen, benötigt aber viel Konzentration und Zeit dafür. Für das Binden der Schuhe und das
Einfädeln des Reißverschlusses benötigt er Hilfe.
Ein 13-jähriges Mädchen mit geistiger Behinderung kann sich weitgehend selbstständig anziehen, wenn alle
Kleidungsstücke in richtiger Position bereitgelegt werden. Es benötigt immer wieder Unterstützung, um den
richtigen Ärmel zu finden oder die Socken richtig über die Füße zu ziehen.
Ein 8-jähriger Bub mit starken motorischen Einschränkungen und geistiger Behinderung wird auf einem
speziellen Sitzgerät von einer hinter ihm sitzenden Person an- und ausgezogen. Er kann ansatzweise
mithelfen (z. B. den Ärmel eines Pullovers nach hinten ziehen).
Ein 10-jähriges Mädchen mit schwerer mehrfacher Behinderung muss vollständig an- und ausgekleidet
werden.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 100
d550 essen
Definition:
Das Bedürfnis anzeigen und die koordinierten Handlungen und Aufgaben durchführen, die
das Essen servierter Speisen betreffen, sie zum Mund führen und auf kulturell akzeptierte
Weise verzehren, Nahrungsmittel in Stücke schneiden oder brechen, Flaschen und Dosen
öffnen, Essbesteck benutzen, Mahlzeiten einnehmen, schlemmen oder speisen.
Beschreibung:
Fallbeispiel: Ein 10-jähriges Mädchen mit ausgeprägter Zerebralparese kann selbstständig essen und trinken, wenn die
Speisen vorgeschnitten werden und spezielle Hilfsmittel zur Verfügung stehen (Teller mit hohem Rand,
abgewinkelter Löffel, Schnabeltasse).
Ein 12-jähriger Knabe mit Down-Syndrom verschlingt alles Essbare in seiner Nähe und zeigt am Tisch
Essgewohnheiten, die kulturell nicht leicht akzeptiert werden können.
Ein 15-jähriges Mädchen kann nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma nicht mehr selbstständig essen
und hat Probleme mit dem Kauen, so dass es nur pürierte Nahrung aufnehmen kann.
d571 auf die eigene Sicherheit achten
Definition:
Vermeiden von Risiken, die zu körperlichen Verletzungen oder Leid führen können, sowie
Meiden von riskanten Situationen etwa beim Missbrauch von Feuer oder bei
Gefährdungen im Straßenverkehr.
Beschreibung:
Fallbeispiel: Eine 14-Jährige mit schwerer geistiger Behinderung stößt sich wiederholt spitze Gegenstände wie Scheren
oder Stricknadeln in die Nase und verletzt sich dabei schwer.
Ein 8-jähriger Bub klettert unbeirrt auf Balkongeländer oder Baugerüste und droht wiederholt abzustürzen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 101
d720 komplexe interpersonelle Interaktionen
Definition:
Die Interaktionen mit anderen in einer kontextuell und sozial angemessenen Weise
aufrechterhalten und handhaben, wie Gefühle und Impulse steuern, verbale und physische
Aggressionen kontrollieren, bei sozialen Interaktionen unabhängig handeln und in
Übereinstimmung mit sozialen Regeln und Konventionen handeln.
Inkl. Beziehungen eingehen und beenden; Verhaltensweisen bei Interaktionen regulieren;
sozialen Regeln gemäß interagieren und sozialen Abstand wahren.
Beschreibung: Dieser Code umschreibt die sozialen Fähigkeiten, sich in Beziehungen zu anderen
Menschen der Situation entsprechend adäquat zu verhalten.
d740 formelle Beziehungen
Definition:
Spezielle Beziehungen in formellen Rahmen aufnehmen und aufrechterhalten, wie mit
Lehrern, Arbeitgebern, Fachleuten oder Dienstleistungserbringern.
Inkl. mit Autoritätspersonen, Gleichaltrigen, jüngeren oder älteren Kindern/Jugendlichen.
Beschreibung: Dieser Code wird verwendet, wenn zum Beispiel im schulischen Kontext spezifische
Beziehungsprobleme auftreten.
b114 Funktionen der Orientierung
Definition:
Allgemeine mentale Funktionen, die das Erkennen und Ermitteln der Beziehung zu
Objekten, zu sich selber, zu anderen Personen, zu Zeit, Umgebung und Raum betreffen.
Inkl. Funktionen der Orientierung zu Zeit, Ort und Person sowie der Orientierung zur
eigenen Person und zu anderen Personen; Desorientierung zu Zeit, Ort und Person.
Exkl. «Funktionen des Bewusstseins» (b110), «Funktionen der Aufmerksamkeit» (b140),
«Funktionen des Gedächtnisses» (b144).
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 102
Beschreibung: Die Funktionen der Orientierung beziehen sich spezifisch auf die Bewusstheit in Bezug auf
Personen (selbst und andere), Ort und Zeit. Allgemeine Einschränkungen der Reaktionen
auf alle Stimuli werden eher unter Funktionen des Bewusstseins erfasst.
Fallbeispiel: Nach einem Schädel-Hirn-Trauma findet sich ein 13-jähriges Mädchen auf seinem Schulweg nicht mehr
zurecht.
b130 Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs
Definition:
Allgemeine mentale Funktionen, die physiologische und psychologische Vorgänge
betreffen, welche bei einer Person ein nachhaltiges Streben nach Befriedigung bestimmter
Bedürfnisse und das Verfolgen allgemeiner Ziele verursachen.
Inkl. Funktionen, welche die psychische Energie, die Motivation, den Appetit, die Sucht
(einschließlich Sucht nach Substanzen, die zu einer Abhängigkeit führen) und die
Impulskontrolle betreffen.
Exkl. «Funktionen des Bewusstseins» (b110), «Funktionen des Schlafes» (b134),
«psychomotorische Funktionen» (b147), «emotionale Funktionen» (b152).
Beschreibung: Dieser Code beinhaltet verschiedene Aspekte des Verfolgens eines Ziels, wie etwa das
Ausmaß von psychischer Energie oder Motivation. Konstrukte wie Appetit, Drang,
Verlangen beziehen sich auf bestimmte Substanzen oder Verhalten (z. B. psychoaktive
Substanzen, Essen, Spielen) und werden auch unter diesem Code erfasst, wie auch die
Impulskontrolle – generell oder in Bezug auf bestimmte Verhaltensweisen. Dieser Code
sollte nur verwendet werden, wenn die damit erfassten Charakteristiken oder
Verhaltensweisen systematisch und über längere Zeit auftreten.
Der Code kann im Zusammenhang mit Suchtverhalten verwendet werden, wenn eine
Beeinträchtigung dieser Funktionen Teil der Störung ist. Eine Beeinträchtigung der
psychischen Energie und Motivation kann auch bei Verletzungen des zentralen
Nervensystems und bei psychischen Erkrankungen wie der Depression bedeutsam sein.
Die Beeinträchtigung der Impulskontrolle ist für verschiedene psychische Störungen von
Bedeutung, wie etwa für Hyperaktivität, Verhaltensstörungen oder bipolare Störungen.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 103
Fallbeispiel: Ein 12-jähriger Knabe mit Adipositas fühlt sich immer hungrig und kann sich deshalb nicht an die
Therapievorgaben halten. Ein 14-jähriges Mädchen mit Autismusspektrumsstörung reißt sich zwanghaft ihr
Kopfhaar aus.
b140 Funktionen der Aufmerksamkeit
Definition:
Spezifische mentale Funktionen, die die Fokussierung auf einen externen Reiz oder auf
innere Vorgänge für eine geforderte Zeitspanne betreffen.
Inkl. Funktionen, welche die Daueraufmerksamkeit, den Wechsel der Aufmerksamkeit, die
geteilte Aufmerksamkeit, die mit anderen geteilte Aufmerksamkeit, die Konzentration und
die Ablenkbarkeit betreffen.
Exkl. «Funktionen des Bewusstseins» (b110), «Funktionen der psychischen Energie und
des Antriebs» (b130), «Funktionen des Schlafes» (b134), «Funktionen des
Gedächtnisses» (b144), «psychomotorische Funktionen» (b147), «Funktionen der
Wahrnehmung» (b156).
Beschreibung: Dieser Code bezieht sich auf die Fähigkeit, geistige Energien zu lenken. Funktionen der
Aufmerksamkeit repräsentieren die Integration verschiedener Fähigkeiten wie
Daueraufmerksamkeit, Wechsel oder Lenkung von Aufmerksamkeit, geteilte
Aufmerksamkeit und mit anderen geteilte Aufmerksamkeit.
Diese Körperfunktion hat einen Parallelcode im Bereich Aktivitäten/Partizipation der ICF:
d160 «Aufmerksamkeit fokussieren». Theoretisch ist es möglich, zwischen den mentalen
Funktionen, welche der Aufmerksamkeit zu Grunde liegen (Körperfunktion), und der
bewussten Lenkung der Aufmerksamkeit (Aktivität) zu unterscheiden. Da jedoch mentale
Funktionen meist nicht direkt beobachtbar sind, sondern aus dem Verhalten abgeleitet
werden, ist es nicht immer möglich, diese beiden Codes klinisch zu unterscheiden.
Dieser Code sollte nur im Zusammenhang mit klinischen Verfahren zur Abklärung der
Aufmerksamkeitsfunktionen verwendet werden.
Fallbeispiel: Ein Jugendlicher mit Autismusspektrumsstörung konzentriert sich ausschließlich auf Türklinken und bemerkt
scheinbar das Eintreten anderer Menschen in den Raum nicht.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 104 Ein Kind mit einem hyperkinetischen Syndrom kann sich in der Gegenwart von mehr als einer Person nur
einige Sekunden auf die Lernaufgabe konzentrieren.
b152 emotionale Funktionen
Definition:
Spezifische mentale Funktionen, die im Zusammenhang mit Gefühlen und den affektiven
Komponenten von Bewusstseinsprozessen stehen.
Inkl. Funktionen, welche die (Situations-)Angemessenheit der Emotion und die affektive
Kontrolle betreffen; Affekt, Trauer, Glück, Liebe, Furcht, Ärger, Hass, Anspannung,
Freude, Sorgen; emotionale Labilität; Affektverflachung.
Exkl. «Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs» (b130).
Beschreibung: Dieser Code umschreibt nicht nur den dominanten emotionalen Zustand, sondern auch die
Breite, die Regulation und den Ausdruck von Emotionen.
Spezifische Defizite betreffend Motivation oder Energielevel sollten besser unter d130
«Funktionen der psychischen Energie und des Antriebs» erfasst werden.
Fallbeispiel: Eine 15-jährige Jugendliche leidet nach einem traumatischen Ereignis an einer Depression, hat ein sehr
negatives Selbstwertgefühl, ist antriebslos, unkonzentriert und hat Angstzustände.
b164 höhere kognitive Funktionen
Definition:
Spezifische mentale Funktionen, die insbesondere von den Frontallappen des Gehirns
abhängen, einschließlich komplexe zielgerichtete Verhaltensweisen wie Entscheidungen
treffen, abstrakt denken sowie einen Plan aufstellen und durchführen, mentale Flexibilität,
sowie entscheiden, welche Verhaltensweisen unter welchen Umständen angemessen sind
(häufig «exekutive Funktionen» genannt).
Inkl. Funktionen, die das Abstraktionsvermögen oder Ordnen von Ideen betreffen,
Zeitmanagement, Einsichts- und Urteilsvermögen; Konzeptbildung, Kategorisierung und
kognitive Flexibilität.
Exkl. «Funktionen des Gedächtnisses» (b144), «kognitiv-sprachliche Funktionen» (b167).
Beschreibung:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 105
Höhere kognitive Funktionen korrelieren mit b117 «Intellektuelle Funktionen», umfassen
jedoch ein spezifisches Set von kognitiven Funktionen, die sich später entwickeln, wie
etwa Abstraktion, Erkenntnis, Urteilsfähigkeit und geistige Flexibilität. Sollen nur die
höheren kognitiven Funktionen beurteilt werden, ist es ratsam, den entsprechenden Code
zu verwenden.
Fallbeispiel: Ein 12-jähriger Knabe kann nach einer Hirnverletzung zwar ohne Probleme kognitive Routineaufgaben
lösen, hat jedoch Schwierigkeiten mit Aufgaben, die kognitive Flexibilität erfordern.
b210 Funktionen des Sehens
Definition:
Sinnesfunktionen bezüglich der Wahrnehmung von Licht sowie von Form, Größe, Gestalt
und Farbe des visuellen Reizes.
Inkl. die Sehschärfe betreffende Funktionen, das Gesichtsfeld betreffende Funktionen;
Qualität des Sehvermögens, Licht- und Farbwahrnehmung; Sehschärfe bei Weit- und
Nahsicht, einäugiges und beidäugiges Sehen, Bildqualität, Funktionsstörungen wie
Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit, Hornhautverkrümmung, Halbseitenblindheit,
Farbenblindheit, Tunnelsehen, zentrale und periphere Gesichtsfeldausfälle, Doppelbilder,
Nachtblindheit, Hell-Dunkel-Adaptation.
Exkl. «Funktionen der Wahrnehmung» (b156).
Beschreibung: Die Einschätzung der Sehfunktionen wird von einer entsprechend ausgebildeten
Fachperson vorgenommen und an dieser Stelle global bezüglich des Schweregrades
eingeschätzt.
b230 Funktionen des Hörens
Definition:
Sinnesfunktionen bezüglich der Wahrnehmung von Tönen oder Geräuschen und der
Unterscheidung von deren Herkunftsort, Tonhöhe, Lautstärke, Qualität.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 106
Inkl. Funktionen des Hörens, akustische Differenzierung, Ortung der Geräuschquelle,
Richtungshören, Spracherkennung, Funktionsstörungen wie Taubheit, Schwerhörigkeit,
Einschränkung des Hörvermögens, Hörverlust.
Exkl. «Funktionen der Wahrnehmung» (b156).
Beschreibung: Die Einschätzung der Hörfunktionen wird von einer entsprechend ausgebildeten
Fachperson vorgenommen und an dieser Stelle global bezüglich des Schweregrades
eingeschätzt.
b280 Schmerz
Definition:
Empfinden eines unangenehmen Gefühls, das mögliche oder tatsächliche Schäden einer
Körperstruktur anzeigt.
Inkl. allgemeiner oder umschriebener Schmerz in einem oder mehreren Körperteilen,
Schmerz in einem Dermatom, stechender, brennender, dumpfer, quälender Schmerz,
Muskelschmerz, aufgehobene Schmerzempfindung, gesteigerte Schmerzempfindung.
Beschreibung: Schmerz ist nur in beschränktem Maß messbar. Die Einschätzung kann durch die/den
Betroffene/n selber erfolgen (z. B. auf einer Skala von 0 bis 10) und dann entsprechend
des Schweregrades kodiert werden.
b3 Stimm- und Sprechfunktionen
Definition:
Empfinden eines unangenehmen Gefühls, das mögliche oder tatsächliche Schäden einer
Körperstruktur anzeigt. Stimm- und Sprechfunktionen betreffen alle Funktionen, die die
Lauterzeugung und das Sprechen betreffen.
b735 Funktionen des Muskeltonus
Definition:
Funktionen, die im Zusammenhang mit dem Ruhetonus der Muskeln und dem Widerstand
bei passiver Bewegung entstehen.
Inkl. Funktionen, die mit dem Tonus einzelner Muskeln und Muskelgruppen, Muskeln einer
einzelnen Extremität, einer Körperhälfte, der unteren Körperhälfte, aller Extremitäten, des
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 107
Rumpfes und aller Muskeln des Körpers verbunden sind; Funktionsstörungen wie
verminderter Muskeltonus, erhöhter Muskeltonus, Spastik.
b760 Funktionen der Kontrolle von Willkürbewegungen
Definition:
Funktionen, die mit der Kontrolle und Koordination von willkürlichen Bewegungen
verbunden sind.
Inkl. Funktionen der Kontrolle einfacher und komplexer Willkürbewegungen, der
Koordination von Willkürbewegungen, Stützfunktionen der Arme oder Beine, motorische
Rechts-Links-Koordination, Auge-Hand-Koordination, Auge-Fuß-Koordination,
Funktionsstörungen wie Kontroll- und Koordinationsprobleme, z. B. Dysdiadochokinese.
11.2 Beobachtungsbogen zur Unterrichtsbeobachtung Ein zentrales Problem bei der Beschreibung eines Kindes im Unterricht ist die
Verwendung von vagen, wertenden Begriffen wie zum Beispiel:
- kann dem Unterricht überwiegend nicht folgen
- ist sehr unaufmerksam
- stört den Unterricht wiederholt
- etc.
Begriffe, wie „überwiegend“, „sehr“ oder „wiederholt“ sind sehr diffus und unklar und
werden deshalb von juristischer Seite beanstandet.
Daher ist es wichtig, die Beobachtungen weitgehend zu operationalisieren. Eine
Möglichkeit dazu ist es, jeweils im Abstand von 5 Minuten die Beobachtungen
niederzuschreiben. Dadurch erhält man pro Stunde 10 Beobachtungszeitpunkte und
Eintragungen. Im beiliegenden Protokoll wurde diese Methode umgesetzt und auf
verschiedene Dimensionen angewandt:
- Mitarbeit
- benötigte Hilfe
- Störung des Unterrichts
- freie Kategorie
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 108
Beispiel: Mitarbeit:
Zeit
5´ 10´ 15´ 20´ 25´ 30´ 35´ 40´ 45´ 50´ arbeitet gar nicht mit arbeitet überwiegend nicht mit deutlich abgelenkt ist abgelenkt, arbeitet aber mit unauffällig
Die Schülerin arbeitete in den ersten 15 Minuten sehr gut mit. Danach beschäftigte sie
sich damit, ihre Stifte zu spitzen und mit ihrer Sitznachbarin zu reden (obwohl sie einen
Text abschreiben sollte). Nach einer kurzen Intervention von Seiten der Lehrerin (30´)
arbeitete sie noch für ca. 10 Minuten konzentriert mit. Erst in den letzten 10 Minuten
verweigerte sie die Mitarbeit völlig.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass 50 % der Unterrichtszeit eine gute Mitarbeit
stattfand, 10 % der Beobachtungen eine deutliche Ablenkung zeigen und in 40 % der Zeit
das Kind nicht entsprechend mitgearbeitet hat.
Unterrichtsbeobachtung Datum: Stunde: Zeit: Lehrer/in:
Anz Kinder (m/w): Gegenstand:
Sitzordnung:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 109
Verlauf: Beschreibung der einzelnen Unterrichtssequenzen:
Zeit Sozialform Inhalt
Protokoll: Mitarbeit (Kind beteiligt sich am Unterricht, arbeitet mit):
Zeit
5´ 10´ 15´ 20´ 25´ 30´ 35´ 40´ 45´ 50´ arbeitet gar nicht mit arbeitet überwiegend nicht mit deutlich abgelenkt ist abgelenkt, arbeitet aber mit unauffällig
Hilfestellungen (Kind braucht Hilfestellung durch die Lehrperson):
Zeit
5´ 10´ 15´ 20´ 25´ 30´ 35´ 40´ 45´ 50´ ständige Hilfestellung Lehrer/in beschäftigt sich
überwiegend mit dem Kind
braucht deutliche Hilfestellung kurze Zuwendung notwendig unauffällig
Störende Verhaltensweisen (Kind stört den Unterricht):
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 110
Zeit
5´ 10´ 15´ 20´ 25´ 30´ 35´ 40´ 45´ 50´ ständige Unterrichtsstörung überwiegende Unterrichtsstörung deutliche Unterrichtsstörung leichte Unterrichtsstörungen unauffällig
Sonstige Beobachtungen:
Zeit
5´ 10´ 15´ 20´ 25´ 30´ 35´ 40´ 45´ 50´
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 111
11.2 Kommentierte Literaturliste
Zu jedem der angeführten Bereiche gibt es zahlreiche Literaturangebote. Es ist
unumgänglich, sich mit dieser Literatur zu beschäftigen. Die im Folgenden vorgestellten
Werke stellen nur eine kleine, subjektive Auswahl des Autors dar. Es ist unbedingt
festzuhalten, dass es darüber hinaus noch eine Reihe weiterer sehr guter und
lesenswerter Bücher gibt.
11.2.1 Schulgesetz
Das Recht ist eine sich ständig ändernde Materie. Gesetze, die heute gültig sind, können
schon morgen geändert werden oder gänzlich entfallen. Deshalb ist es wichtig, gerade in
diesem Bereich nur aktuelle Literatur zu verwenden. Zum Zeitpunkt der Verfassung des
Handbuches sind dies vor allem:
Der Kodex beinhaltet die wesentlichen Schulgesetze,
Verordnungen und Erlässe in unkommentierter und aktueller
Form.
Doralt, Werner (Hrsg.) (2017): Kodex Schulgesetz 2016/17.
Wien: Line Verlag Ges.m.b.H.
Ist eine kommentierte Fassung der österreichischen
Schulgesetze. Gilt als Standartwerk und wird auch von Richtern
in Urteilen häufig zitiert. Der Jonak-Kövesi erscheint nicht
jährlich, deshalb ist auf die Aktualität zu achten.
Jonak, Felix/Kövesi Leo (2016): Das österreichische Schulrecht 14. Auflage. Wien: ÖBV Verlag.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 112
Die kommentierte Fassung der
österreichischen Schulgesetze von Götz & Münster stellt die
Alternative zum Jonak-Kövesi dar.
Durch die lose Blattsammlung ist eine ständige Aktualität der
Inhalte gegeben.
Götz, Andrea/Müster, Gerhard (2017): Die
österreichischen Schulgesetze. Sonderausgabe. Wien: Manz
Verlag.
11.2.2 Schulrecht
Als Ergänzung zu den Gesetzestexten gibt es eine große Zahl von Lehr- und
Einführungsbüchern zum Schulrecht. Gerade für juristische Laien (Lehrer/innen und
Schulleiter/innen) sind diese Bücher empfehlenswert, da sie die wichtigsten Themen in
einzelnen Kapiteln behandeln.
Gibt eine gute Einführung in das österreichische Schulrecht, wobei versucht wird, den
Bogen von den verfassungsrechtlichen Grundlagen bis hin zu unterrichtspraktischen
Fragen (Leistungsbeurteilung von Kindern mit Legasthenie, ...) zu
behandeln. Ein Kapitel ist auch dem sonderpädagogischen
Förderbedarf gewidmet.
Juranek, Markus (2016) Das österreichische Schulrecht. Einführung
in die Praxis. Wien: Verlag Österreich.
Das „Schulrecht 2016/17“ von Armin Andergassen und Karl Heinz
Auer geht zentral auf die aktuellen Überlegungen zur
Schulrechtsreform 2016/17 ein. Darüber hinaus finden sich aber
auch zahlreiche Kapitel, welche sich mit konkreten praktischen
Fragestellungen von Lehrpersonen befassen, wie zum Beispiel die
Leistungsbeurteilung oder die Aufsichtspflicht.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 113
Andergassen, Armin/Auer, Karl Heinz (2016): Schulrecht 2016/17.
Wien: Manz Verlag.
Rochel, Erich/Brezovich, Renate (2014): Schulrecht kurzgefasst.
Studien- und Arbeitsbuch. Linz: Trauner Verlag.
Eine sehr knappe und übersichtliche Darstellung der wichtigsten
Schulgesetze von Erich Rochel und Renate Brezovich.
Hans Neuweg beschreibt in diesem Buch neben den gesetzlichen
Grundlagen der LBVO auch praktische Zugänge und Möglichkeiten
der Leistungsbeurteilung. Er zeigt Hürden auf und bietet für
schwierige Fragestellungen (Beurteilung der Mitarbeit/Trennung von
Mitarbeit und Verhalten) Möglichkeiten an.
Neuweg, Georg Hans (2014): Schulische Leistungsbeurteilung.
Rechtliche Grundlagen und pädagogische Hilfestellungen für die
Schulpraxis. Linz: Trauner Verlag.
11.2.3 AVG Allgemeines Verwaltungsrecht
Zum Thema Verwaltungsrecht gibt es zahlreiche gute und
lesenswerte Bücher. Die meisten von diesen gehen jedoch sehr ins
Detail. Für Lehrpersonen ist es meist ausreichend, einen Überblick
über das Verwaltungsverfahren zu haben. Deshalb wird dieses Buch
empfohlen. Es bietet eine sehr knappe Darstellung der wichtigsten
Inhalte.
Fasching, Wolfgang/Schwarz, Walter (2014):
Verwaltungsverfahrensrecht im Überblick. EGVG – AVG– ZUStG –
VStG – VVG – E – GovG. 5. überarbeitete Auflage. Wien: Facultas
Verlags- und Buchhandels AG.
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 114
11.2.4 Gutachten im Verwaltungsverfahren
Die meisten Bücher, welche in diesem Bereich erhältlich sind, behandeln spezifische
Themen, die nur sehr eingeschränkt auf den pädagogischen Alltag übertragbar sind.
Es gibt jedoch ein gut brauchbares Skript im Internet:
Kärntner Verwaltungsakademie (2013): Die/der Sachverständige im
Verwaltungsverfahren:
http://www.ktn.gv.at/280330_DE--Der_Sachverstaendige_im_Verwaltungsverfahren
_Attlmayr_2013.pdf [15.05.2017]
Darin werden die Anforderungen an ein Gutachten beschrieben, darüber hinaus auch die
Pflichten einer/eines Sachverständigen (Fortbildung, etc.). Ebenso geht dieses Skript auf
spezielle Fragestellungen ein, wie zum Beispiel die Weisungsgebundenheit oder
Befangenheit.
11.2.5 ICF
Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ ist
ein relativ neues Instrument zur Erfassung und Beschreibung von Behinderungen. Da sie
viele Fachbereiche anspricht und sowohl diagnostischen als auch therapeutischen Wert
hat, erscheinen zahlreiche neue Bücher über die ICF am Markt.
Die ICF-CY ist speziell für Kinder und Jugendliche konzipiert.
Neben einer sehr knappen Einführung in die ICF werden alle Items
in allen Komponenten beschrieben. Dieses Buch ist aus meiner
Sicht für die Arbeit mit der ICF unerlässlich.
Hollenweger, Judith/Kraus de Camargo, Olaf (2013):
ICF-CY: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Bern:
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 115
Verlag Hans Huber.
Schuntermann bietet die wahrscheinlich verständlichste und
umfassendste Einführung in die ICF. In leicht verständlicher Sprache
und übersichtlichen Kapiteln wird in die Denkweise und den Aufbau
der ICF eingeführt. Viele praktische Beispiele erleichtern das
Verständnis.
Schuntermann, Michael F. (2013): Einführung in die ICF. Grundkurs
– Übungen – offene Fragen. 4. überarbeitete Auflage. Landsberg am
Lech: Ecomed Medizin.
Julia Waage zeigt in diesem Buch einen Weg auf, die Teilhabe von
Schulanfängerinnen/-anfängern und Kindern mit Problemen im
sprachlichen Ausdruck zu erfassen. Dieses Buch ist gerade für
Sonderpädagoginnen/-pädagogen von Interesse.
Waage, Julia (2016): Erfassung der Teilhabe bei Vorschulkindern mit
Frühförderung. Entwicklung und Erprobung eines Leitfaden-
interviews auf Grundlage der ICF-CY. Wiesbaden: Springer.
11.2.6 Links
Das schulische Standortgespräch (SSG) und der das standardisierte Abklärungsverfahren
(SAV) wurden von Schulpsychologinnen/-psychologen in der Schweiz entwickelt. Auf der
Homepage des Volksschulamtes Zürich gibt es Handbücher und Handouts zum
Download:
SAV:
http://www.vsa.zh.ch/internet/bildungsdirektion/vsa/de/schule_und_umfeld/gesundheit_pra
evention/schulpsychologie/sav.html#a-content [15.05.2017]
SSG:
http://www.vsa.zh.ch/internet/bildungsdirektion/vsa/de/schulbetrieb_und_unterricht/sonder
paedagogisches0/ssg.html [15.05.2017]
Das ICF-basierte sonderpädagogische Gutachten | Seite 116