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Der Blaue von Somor

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Atlan - Der Held vonArkon

Nr. 196

Der Blaue von Somor

Die Mikrowelt zeigt ihre Tücken -Atlan auf der Flucht vor

Sklavenjägern und Dämonen

von Marianne Sydow

Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol Hl. ein bruta­ler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten ließ, um selbst die Herr­schaft antreten zu können.

Gegen den Usurpator kämpft Gonozals Sohn Atlan, Kristallprinz und rechtmäßiger Thronerbe des Reiches, mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen, die Orbana­schols Helfershelfern schon manche Schlappe beibringen konnten.

Mit dem Tage jedoch, da der Kristallprinz Ischtar begegnet, der schönen Varganin, die man die Goldene Göttin nennt, scheint das Kriegsglück Atlan im Stich gelassen und eine Serie von empfindlichen Rückschlägen begonnen zu haben, die schließlich zu einer erneuten Versetzung des Arkoniden in die Mikrowelt führten.

Dort – nach turbulenten und gefahrvollen Abenteuern mit Dophor, Gjeima und den Jansonthenern – hat Atlan weder von Grek 3, dem Erfinder des »Zwergenmachers«, noch von Prinzessin Crysalgira, dem Experimentierobjekt der Maahks von Skrantas­quor, bisher eine Spur entdecken können. Doch Atlan gibt trotz widrigster Umstände nicht auf. Er schlägt sich durch – und sein seltsamer Begleiter auf dem Wege durch die Tücken der Mikrowelt ist DER BLAUE VON SOMOR …

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3 Der Blaue von Somor

Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Kristallprinz lernt die Tücken der Mikrowelt kennen.Beikla und Zickjal - Zwei Bruchpiloten von Somor.Unao und Saia - Mitglieder eines allzu freundlichen Völkchens.Vruumys - Ein Raumfahrer des Mikrokosmos.

1.

In meinem Kopf dröhnte es, als hätte man darin eine riesige Glocke angeschlagen. Fau­ler Gestank drang mir in die Nase. Ich fühlte Schlamm unter meinen Händen. Mir war kalt.

Über das Dröhnen in meinem Kopf hin­weg hörte ich das Glucksen von fließendem Wasser, dazwischen ein schmatzendes Ge­räusch. Ich stemmte mich mühsam mit den Armen hoch, und das Schmatzen verstumm­te. Dafür zerriß ein urweltliches Brüllen mir fast die Trommelfelle. Ein stechender Schmerz raste durch meine Stirn, als ich meine von Schweiß und Schlamm verkleb­ten Augen aufzwang.

Fünf Meter entfernt hatte ein riesiges Tier die säulenförmigen Beine in den Schlamm gerammt. Es hielt den Kopf gesenkt. Tücki­sche, blutunterlaufene Augen starrten mich an, und die Spitzen der gewaltigen Hörner glitzerten vor Nässe. Aus den faustgroßen, violetten Nüstern drangen kleine Dampfwol­ken. Ein Vorderbein hob sich und schlug ein paar Schlammbrocken aus dem Boden.

Ich tastete an meinem Körper entlang – der Gürtel war leer. Nicht einmal ein Messer steckte in den Schlaufen.

Das Tier unternahm einen kurzen Ausfall in meine Richtung. Es raste auf mich zu, als wollte es mich in den Boden stampfen, aber plötzlich kehrte es an seinen Ausgangspunkt zurück, blieb dort stehen und betrachtete mich wütend.

Ich ignorierte das Dröhnen in meinem Kopf und das schmerzhafte Ziehen in sämt­lichen Muskeln. Mit einem wilden Schrei sprang ich auf. Meine Füße fanden keinen festen Halt in dem wässerigen Schlamm, und ich ruderte verzweifelt mit den Armen

in der Luft herum. Das wirkte auf meinen Gegner aus irgendeinem Grund furchteinflö­ßend. Der Koloß warf sich beinahe in der Luft herum und stürmte auf die mit graugrü­nem Gestrüpp bewachsene Böschung zu. Als ich den Kampf gegen die Schwerkraft aufgab und in den Schlamm zurückplump­ste, verschwand das gehörnte Ungetüm gera­de über den Rand der Böschung.

Ich blieb sitzen und sah mir endlich die Umgebung an, in der ich erwacht war. Die Schlammbank füllte eine kleine Bucht im felsigen Ufer des Stromes aus. Hinter mir, wo das Wasser um scharfe Klippen gurgelte, klammerte sich ein verkrüppelter Baum mit seinen zähen Wurzeln fest. Einer der unter­sten Äste hatte den Ballonkorb aufgefangen, in dem ich in der vergangenen Nacht den Fluß hinabgetrieben war. Ein feiner kalter Regen fiel. Der Himmel war von einer dich­ten, bleigrauen Wolkenschicht überzogen, und das jenseitige Ufer des Stromes ver­schwamm im Dunst. Mühsam rappelte ich mich auf und watete zu den Überresten des Ballons hinüber. Die hölzerne Gondel war schon vorher nicht gerade wasserdicht ge­wesen. Jetzt klafften breite Lücken in der Außenwand, und der Innenraum war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Ich suchte nach Ausrüstungsgegenständen, die die wilde Fahrt überstanden hatten, fand jedoch nichts.

Ein leichter Wind kam auf und trieb mir den Regen ins Gesicht. Ich zitterte vor Käl­te. Meine Kombination klebte wie ein nasser Panzer auf meiner Haut.

Ich wandte mich der Böschung zu und folgte den Spuren des riesigen Tieres. Sie brachten mich zu einem Trampelpfad von beachtlicher Breite, der schnurgerade den steilen Hang hinaufführte. Rechts und links wuchsen niedrige Büsche. Sie waren spär­lich belaubt, dafür aber mit zahlreichen

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scharfen Dornen besetzt. Der Aufstieg war äußerst unbequem, denn der Pfad war nicht nur steil, sondern auch ungeheuer glitschig.

Keuchend erreichte ich eine grasbewach­sene Fläche, von der aus ich endlich das Ge­lände hinter der Böschung überblicken konnte. Der Anblick war entmutigend.

Rechts und links kennzeichneten niedrige Felsen und kümmerliche Bäume den Verlauf des Flusses. Landeinwärts erstreckte sich ei­ne weite, leicht gewellte Grasfläche, die stel­lenweise von graugrünen Buschgruppen und stumpf glänzenden Wasserlachen durchbro­chen wurde. Nirgends gab es auch nur eine Spur von Besiedlung. Die unglückselige Fahrt den Fluß hinunter hatte mich in eine menschenleere Gegend dieses Planeten ge­bracht. Wie sollte ich hier einen Hinweis darauf finden, wohin es die arkonidische Prinzessin Chrysalgira und den Wasserstoff-Me­than-Atmer Grek-3 verschlagen hatte?

Genau wie ich waren diese beiden unglei­chen Wesen durch den »Zwergenmacher« der Maahks in den Mikrokosmos versetzt worden. Ich betrachtete es als selbstver­ständlich, daß wir auf ein und demselben Planeten des Miniaturuniversums angekom­men waren, aber bisher hatte ich vergeblich nach ihnen gesucht. Die einzigen, die mir et­was über ihren Verbleib verraten konnten, waren die Eingeborenen dieser Welt. Ich hatte bereits mit mehreren Stämmen Kontakt gehabt und dabei zum Teil recht unerfreuli­che Erfahrungen gesammelt. Von dem Maahks und der Prinzessin wußten sie nichts, aber ich gab die Hoffnung nicht auf. Es ging nicht nur darum, den beiden zu hel­fen, sondern ich mußte auch einen Weg fin­den, auf dem ich den Mikrokosmos wieder verlassen konnte. Grek-3 kannte sich mit dem Molekularverdichter, dem wir unsere Lage verdankten, bestens aus. Darum hoffte ich, daß er uns auch den Rückweg zu zeigen vermochte.

Ich mußte niesen, und das brachte mich zu der Einsicht, daß ein ganz anderes Pro­blem im Augenblick Vorrang hatte. Ich brauchte einen Unterschlupf, in dem ich

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mich und meine Kleider trocknen konnte. Rechts ragte in geringer Entfernung ein

Gewirr von Felsbrocken auf, in dem ich ein trockenes Plätzchen zu finden hoffte. Kurz vor dem Ziel sah ich einen kleinen Baum, an dessen dürren Zweigen faustgroße, goldgel­be Früchte hingen. Der bloße Anblick brach­te meinen Magen zum Knurren. Gierig riß ich eine Frucht ab – und schleuderte sie mit einem Fluch ins Gras.

Meine Hand brannte, als hätte ich weiß­glühendes Metall berührt, und eine Welle von Schmerzen jagte durch meinen rechten Arm. Hastig wischte ich die Hand an einem Büschel Moos ab, und die Schmerzen ließen etwas nach. Ich schlug einen beachtlichen Bogen um den gemeingefährlichen Baum.

Einige Sekunden darauf vergaß ich den Vorfall, denn plötzlich bemerkte ich ein Ge­räusch, das nicht in diese Einöde paßte. Ich blieb stehen und lauschte. Das ferne Brum­men schwoll allmählich an und ließ sich we­nig später deutlich identifizieren. Es handel­te sich um das Arbeitsgeräusch eines Motors und kam eindeutig aus der Luft.

Ein Flugzeug? Ich starrte nach oben, aber die dicken Re­

genwolken hingen tief herab, und ich sah nichts. Dafür mischte sich in das Brummen ein hohes, dünnes Pfeifen. Als die Quelle des Geräusches über mich hinwegzog, duck­te ich mich unwillkürlich, und dann endlich sah ich die seltsame Maschine.

Sie schwebte höchstens zwanzig Meter über den letzten Ausläufern der Felsen, es mußte in Kürze eine harte Landung geben. Zwar verringerte sich die Geschwindigkeit, aber der Winkel, in dem das Flugzeug sich dem Boden näherte, war ausgesprochen ge­fährlich.

Ein merkwürdigeres Flugzeug als dieses hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Es mochte zehn Meter lang sein und bestand hauptsächlich aus einem Gewirr von anein­andergefügten Metallstreben. Im vorderen Teil dieses langgestreckten Gitterkäfigs sa­ßen zwei fast kugelrunde Gestalten. Nur dar­an, daß der eine der beiden Flugkünstler auf­

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geregt mit den Armen herumfuchtelte, er­kannte ich, daß es sich bei den Kugeln über­haupt um Lebewesen handelte. Ich sah den wirbelnden Kreis eines Propellers und die beiden viel zu kleinen Tragflächen und wun­derte mich darüber, daß dieses Gerät sich überhaupt in die Lüfte erhoben hatte.

Einer der beiden Piloten bemühte sich verzweifelt, die Nase der Maschine aufzu­richten, aber der Versuch scheiterte kläglich. Das hochbeinige Fahrgestell berührte kurz den Boden und brach mit einem häßlichen Knirschen ab. Schwerfällig wie ein verwun­deter Vogel tat das Flugzeug einige Sprün­ge, bei denen die Insassen von ihren Sitzen geworfen wurden, dann rutschte es noch ein Stück durch eine ausgedehnte Schlammpfüt­ze und drehte sich dabei auf die Seite. Als es endlich zum Stillstand kam, ragte die eine Tragfläche steil in die Höhe, während die andere zweifellos abgebrochen war.

Ich rannte durch das kniehohe Gras zu der Unglückstelle. Als ich das Wrack erreichte, gab der Motor gerade eine letzte Serie blub­bernder Geräusche von sich, dann ver­stummte er, und dafür erklang ein wildes, absolut unverständliches Schnattern.

Ich spähte in das Gewirr der Streben und entdeckte einen der kugelrunden Passagiere.

Der Fremde steckte unmittelbar unter ei­nem der Sessel zwischen zwei Metallstan­gen und zeterte fürchterlich. Ein kurzes Stück vor ihm lag sein Gefährte bewegungs­los zwischen einem Wust von Decken und Ausrüstungsgegenständen.

Ich sah mich vergeblich nach einer Lücke um, die groß genug war, um in den Gitter­rumpf einzudringen und den beiden zu Hilfe zu eilen. Das laute Palaver des eingeklemm­ten Fremden riß keine Sekunde lang ab, und erst als ich mit den Fäusten gegen die Stre­ben hämmerte, wandte er den Kopf in meine Richtung.

Er trug einen Schutzhelm, dessen Sichtteil so mit Schlamm bespritzt war, daß ich von dem Mann selbst vorläufig fast nichts sah. Von seinen lautstarken Anweisungen ver­stand ich natürlich nichts, und er brauchte

eine Weile, um diese Tatsache zu verdauen. Als er in seiner Ratlosigkeit endlich einmal den Mund hielt, versuchte ich es mit der Sprache der Dophor-Sippe.

»Wo ist die Tür?« Sekundenlang blieb es still, dann ruckte

der Arm des Dicken hoch. Ich sah in die an­gegebene Richtung und entdeckte einen Rie­gel.

»Nach rechts schieben!« radebrechte die Kugel mühsam.

Der primitive Mechanismus hatte sich verklemmt. Erst nach einigen Anstrengun­gen gelang es mir, den Riegel zu verschie­ben. Ein ohrenbetäubendes Knacken und Rasseln veranlaßte mich dazu, schnell zur Seite zu springen. Es war auch höchste Zeit, denn ein beträchtlicher Teil der Gitterwand hatte durch meine Manipulationen den Halt verloren und kippte mir entgegen.

Die Kugel begann schon wieder zu schimpfen.

»Ruhe!« brüllte ich ungeduldig. »Du gibst dem Flugzeug den Rest!« keifte

der Kleine zurück. »Wenn du so weiter­machst, wird kein Stück davon mehr ganz bleiben!«

Mir stockte der Atem angesichts einer derartigen Unverschämtheit. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und den Fremden seinem Schicksal überlassen.

Sei nicht albern! schimpfte mein Extra­hirn lautlos. Das Flugzeug ist gar nicht so schwer beschädigt. Wenn du mithilfst, es zu reparieren, hast du eine gute Chance, diese menschenleere Gegend schnell zu verlassen.

Schweigend kletterte ich zu den beiden Fremden in die Maschine. Ohne mich um das wütende Geschnatter des Eingeklemm­ten zu kümmern, durchwühlte ich den Hau­fen von Werkzeugen, der sich während der Bruchlandung selbständig gemacht hatte, fand einen Schraubenschlüssel und wandte mich damit meinem ersten Opfer zu.

Der Dicke verstummte abrupt, als er das klobige Werkzeug sah. Er zog den Kopf ein, und ich grinste. Der Fremde war nicht ganz so mutig, wie sein Mundwerk erwarten ließ.

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Ich besah mir die Bescherung und stellte fest, daß alles halb so schlimm war, wie es zuerst ausgesehen hatte.

Eine halbe Stunde später verließen die beiden fremden Piloten schlammverschmiert das Wrack. Ich folgte ihnen erschöpft. Erst jetzt wurde mir die Konsequenz dieser selt­samen Begegnung bewußt: mein Plan, mög­lichst bald erneut Verbindung mit den Be­wohnern dieser Mikrowelt aufzunehmen, war schneller in Erfüllung gegangen, als ich es mir hätte träumen lassen.

*

Der kleine Fremde, der mich so ausdau­ernd beschimpft hatte, hörte auf den zungen­brecherischen Namen Beiklanterfaceris, was ich aus Gründen der Rationalisierung rigo­ros abkürzte. Ich nannte ihn »Beikla«.

Das mißfiel ihm zwar, aber er wagte es nicht, gegen diese Verschandelung seines Namens zu protestieren. Seit er aus dem Wrack geklettert war, benahm er sich mir gegenüber etwas höflicher. Ich vermutete, daß das mit meiner Körpergröße zusammen­hing. Selbst mit dem umfangreichen Schutz­helm auf dem Kopf reichte Beikla mir nur knapp über die Hüften.

Er zeigte sich sehr besorgt um Zickjal, seinen Gefährten, der erst nach intensiven Wiederbelebungsversuchen die Augen auf­schlug – oder doch jedenfalls das, was die­sen kleinen Piloten als Sehorgan diente. Bei­kla bettete seinen benommenen Artgenossen auf ein Bündel Decken und begann dann umständlich, sich zu entblättern. Ich sah mir inzwischen das Flugzeug genauer an, um einen Überblick über das Ausmaß der Zer­störung zu gewinnen. Mein Extrahirn behielt wieder einmal recht. Ich schätzte, daß wir knapp zwei Tage für die Reparatur brauchen würden.

Als ich von meinem Rundgang zurück­kehrte, erkannte ich Beikla kaum wieder. Er war inzwischen arg zusammengeschmolzen. Zwar konnte man ihn beim besten Willen nicht als schlank bezeichnen, aber er besaß

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von Natur aus tatsächlich nicht die Form ei­ner Kugel. Neben ihm türmte sich ein Berg von Kleidungsstücken, der fast so groß war wie das Männlein selbst.

»Es ist sehr kalt da oben«, machte Beikla mir klar, als er meinen erstaunten Blick auf­fing.

»Das kann ich mir vorstellen«, nickte ich. »Wäre es nicht besser gewesen, das Flug­zeug mit Wänden auszustatten? Durch das Gitterwerk streicht der Fahrtwind ja völlig ungehindert hindurch!«

»Es handelt sich um einen Prototyp!« ant­wortete Beikla würdevoll und zerrte wild an einem Riemen, der sich um seine ausladen­den Hüften schlang. »Unsere besten Techni­ker haben Jahre gebraucht, um dieses Wun­derwerk zu bauen. Durch unseren Flug ha­ben wir wertvolle Erfahrungen gewonnen, die uns bei der Planung des nächsten Mo­dells helfen werden.«

»Um diese Erfahrungen den verantwortli­chen Technikern mitzuteilen, müßtet ihr aber erst einmal zu ihnen zurückkehren«, machte ich ihn taktvoll auf eine kleine Schwierigkeit aufmerksam.

Beikla gab den Kampf mit dem Riemen auf. Als er aufhörte, am falschen Ende zu ziehen, löste sich das Problem von selbst. Der Riemen verlor seine Spannung, und die wattierte Hose, die den letzten Teil der um­fangreichen Schutzkleidung bildete, rutschte dem Kleinen in die Kniekehlen.

»Wir werden das Flugzeug reparieren!« sagte er.

»Du wirst uns dabei unterstützen!« Ich war überrascht. Zwar entsprach das

genau meinen Vorstellungen, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Beikla erwar­tete, daß ich ihm und seinem Freund half, war verblüffend.

Für Beikla war das Thema damit erledigt. Er wandte sich seinem Gefährten zu und schälte auch ihn aus seinen zahlreichen Hül­len. Ich setzte mich auf eine leidlich saubere Decke und wartete geduldig. Dabei hatte ich Gelegenheit, mir die beiden Bruchpiloten genauer anzusehen.

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Ihre makellos glatte, himmelblaue Haut war völlig unbehaart. Arme und Beine wirk­ten im Verhältnis zu den rundlich geformten Körpern lächerlich dünn und kurz. Die klei­nen Hände wiesen fünf Finger auf, die wie Würstchen aussahen, die man am vorderen Ende plattgeklopft hatte. Auf einem kurzen, dünnen Hals saß der kugelrunde Kopf, der sich in alle Richtungen drehen ließ. Ein brei­ter, dünnlippiger Mund lag über einem kaum angedeuteten Kinn. Wurde er zu einem Lä­cheln verzogen, so sah man zwei Reihen winziger, nadelspitzer Zähne. Die Nase über diesem Schlitzmund war nicht viel mehr als eine kleine Murmel mit zwei Löchern. Dar­über verlief ein Augenband mit einem halb-en Dutzend Pupillen darin quer über das Ge­sicht, das zu beiden Seiten von sehr großen, dünnhäutigen, flach an den Schädel ge­drückten Ohrmuscheln begrenzt wurde.

Endlich hatte auch Zickjal sich unter Bei­klas Hilfestellung aus seiner panzerartigen Bekleidung befreit. Die beiden Fremden leg­ten dünne, orangefarbene Gewänder an, stärkten sich aus einer Feldflasche, die Beik­la aus dem Flugzeug holte, und waren nun­mehr dazu bereit, sich mit den anfallenden Problemen zu beschäftigen.

»Wo sind wir eigentlich gelandet?« wollte Zickjal wissen.

Beikla blickte mich fragend an. »Ich weiß es nicht«, erklärte ich. »Ich

wurde den Fluß hinuntergetrieben und habe keine Ahnung, in welchem Land ich mich finde. Woher kommt ihr?«

»Von sehr weit her!« verkündigte Beikla wichtigtuerisch. »Wir sind Somorer. Unser Land liegt im Süden, am Blauen Meer. Hast du noch nie von uns gehört?«

»Nein«, erwiderte ich kurz. Beikla holte tief Luft. »Die Somorer«, begann er pathetisch,

»gehören zu den technisch am weitesten fortgeschrittenen Völkern dieser Welt. Wir haben bereits unzählige Wunder vollbracht, und unser Ruhm reicht bis in die fernen Schneeberge. Aus welcher Fremde kommst du, daß du so unwissend bist?«

»Von jenseits der Schneeberge«, behaup­tete ich, um die Diskussion abzukürzen. Es hatte wenig Sinn, den beiden die Wahrheit auseinanderzusetzen. Wenn sie diese Kari­katur von einem Flugzeug als technisches Wunder betrachten, mußten sie den Mikro­kosmos zwangsläufig für ein Märchen hal­ten.

»Jenseits der Schneeberge hausen nur Barbaren und Tiermenschen«, warf Zickjal mit breitem Grinsen ein.

»Ich glaube nicht, daß Atlan uns bei der Reparatur helfen kann!«

»Er ist stark«, gab Beikla zu bedenken. »Außerdem glaube ich ihm kein Wort. Der Strom kommt aus der Richtung, in der der große Ruinenwald liegt. Er ist bestimmt ein entsprungener Sklave. Sonst würde er sich nicht ohne Begleitung in dieser gefährlichen Gegend herumtreiben!«

Die beiden unterhielten sich über dieses Thema so ungeniert, als wäre ich gar nicht vorhanden. Sie mußten wirklich sehr von sich überzeugt sein, denn sie kamen über­haupt nicht auf die Idee, daß sie mich etwa beleidigen könnten. Nach einer unergiebigen Diskussion über meinen Wert erhob sich Beikla, kroch in das Wrack und kehrte nach einigen Minuten zurück. Als er die Blätter feierlich entfaltet und auf dem Boden ausge­breitet hatte, sah ich, daß es sich um eine Landkarte handelte. Sie war handgezeichnet und wies eine imponierende Zahl von wei­ßen Flecken auf.

»Das ist der Fluß«, murmelte Beikla im Ton einer geheimnisvollen Beschwörung. »Dort, liegt der Ruinenwald, und hier das Blaue Meer. Wir haben den Dreifluß über­quert und sind dann nach Norden abgetrie­ben. Also müssen wir uns jetzt ungefähr hier befinden.«

Seine Froschhand bedeckte ein Gebiet von der Größe eines kleinen Kontinents. Ich beugte mich ebenfalls über die Karte, in der Hoffnung, dort Näheres über dieses Land zu erfahren, aber die wenigen Linien und Zei­chen sagten mir nichts.

»Wah!« machte Zickjal ehrfürchtig. »Wir

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sind weit geflogen! Diese Maschine ist tat­sächlich ein Wunderwerk. Das ist Molta­phur, nicht wahr?«

»Moltaphur!« bestätigte Beikla düster. »Und das heißt nichts anderes, als daß wir über zwanzig Tagesreisen von Somor ent­fernt sind, falls es uns nicht gelingt, dieses Fahrzeug zu reparieren.«

Sie schwiegen nachdenklich. »Das dürfte nicht besonders schwer sein«,

machte ich mich bemerkbar. Die beiden Kleinen sahen erstaunt zu mir

hoch. »Was verstehst du schon davon?« wehrte

Beikla verächtlich ab. »Ein Barbar …« Nun reichte es aber! Wenn ich mit den

beiden Unglücksvögeln friedlich auskom­men wollte, mußte ich jetzt ein für allemal die Fronten klären.

»Ich bin kein Barbar!« teilte ich ihnen in sehr bestimmtem Tonfall mit. »Und euer Flugzeug flößt mir nicht die geringste Ach­tung ein. Im Gegenteil, ich bewundere eher euren Mut, mit diesem Klapperkasten über­haupt einen Flug zu wagen. Es ist erstaun­lich, daß ihr so weit gekommen seid, ohne abzustürzen. Aber ich denke, wir können dieses Wrack soweit in Ordnung bringen, daß es uns eurem herrlichen Somor wenig­stens ein kleines Stück näher bringt. Voraus­setzung ist allerdings, daß wir zusammenar­beiten. Also: fangen wir an, oder habt ihr Sehnsucht nach einem längeren Fußmar­sch?«

Sie blinzelten verwirrt mit ihren Augen­bändern, dann raffte Beikla sich dazu auf, zu fragen:

»Wie willst du beweisen, daß du etwas von unserer Technik verstehst?«

»Indem ich dir jetzt genau erklären werde, was du zu tun hast!« fuhr ich ihn ärgerlich an.

»Vielleicht ist er wirklich nicht so dumm, wie er aussieht«, meinte Zickjal vorsichtig. »Auf jeden Fall ist er stärker als wir!«

Beikla musterte erst mich, dann das Wrack, das in seiner derzeitigen Lage nicht gerade majestätisch wirkte, dann seufzte er

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abgrundtief. »Was verlangst du für deine Hilfe?« er­

kundigte er sich resignierend. »Ihr nehmt mich mit!« Zickjal schniefte leise. »Es gibt nur zwei Sitze«, wandte er klein­

laut ein. »Dann werden wir noch einen einbauen!«

knurrte ich. »Worauf wartet ihr? An die Ar­beit!«

2.

Der Regen hatte aufgehört. Über der Step­pe wallten dichte Nebel-Schwaden. Die Feuchtigkeit schlug sich nieder, und beson­ders gründlich tat sie das auf den Metalltei­len, die ich vor mir hatte.

Ich wischte mir fluchend die Tropfen von der Stirn. Schweiß mischte sich mit Kon­denswasser und ergab eine teuflische Mi­schung, die meine Augen zum Tränen brachte. Neben mir arbeitete Zickjal mit ei­nem Schraubenschlüssel. Er war im Verlauf der letzten Stunden immer freundlicher zu mir geworden. Ich konnte mir denken, wo­her dieser Gesinnungswandel kam.

Um es schonend auszudrücken: die bei­den Somorer gehörten nicht eben zu den Kraftprotzen. In ihren rundlichen Körpern steckte eine erstaunliche Zähigkeit, und sie arbeiteten mit einer Ausdauer, die mir Hoch­achtung abnötigte. Ging es jedoch um die Anwendung roher Muskelkraft, versagten sie kläglich. Ohne meine Hilfe hätten sie mindestens eine Woche für diese Reparatur gebraucht.

Der Nebel hielt den ganzen Tag über an. Als das Licht so schlecht wurde, daß jedes weitere Arbeiten dadurch unmöglich wurde, hatten wir einen beträchtlichen Teil unserer Aufgabe gelöst. Die Tragfläche war wieder fest angeschraubt, der Rumpf des Flugzeugs aufgerichtet, und alle Schrauben, die sich bei der Bruchlandung gelockert hatten, waren nachgezogen. Zum Glück war keine der Me­tallstreben zerbrochen.

Inzwischen hatte wohl auch Beikla einge­

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sehen, daß es besser war, mich höflich zu behandeln. Jedenfalls teilte er mir beim Abendessen eine reichliche Portion trockenes Brot, Dörrfleisch und eine Flasche mit säuerlich schmeckendem Fruchtsaft zu.

»In eure berühmte Stadt kommen sicher auch viele Fremde«, bemerkte ich, als wir uns satt und müde gegen den Rumpf des Flugzeugs lehnten.

»Sehr viele!« prahlte Beikla prompt. »Naja, ein paar«, verbesserte Zickjal gut­

mütig. »Ich suche nach einem Mädchen«, erklär­

te ich. »Es sieht so ähnlich aus wie ich, und bei ihm ist ein Mann, der in einem grauen Anzug steckt, keinen Hals hat und unsere Luft nicht atmen kann. Habt ihr einen von den beiden gesehen?«

Sie überlegten, verneinten dann jedoch die Frage. Ich seufzte. Immer noch keine Spur!

»Sind das auch Sklaven?« fragte Beikla interessiert.

Zickjal versetzte ihm einen Rippenstoß und blinzelte mich gutmütig an.

»Nimm es ihm nicht übel«, bat er und wandte sich dann an seinen Gefährten: »Schlaf jetzt lieber. Wenn du müde bist, er­zählst du doch nur Unsinn.«

Beikla schien verwirrt, wickelte sich je­doch gehorsam in seine Decke und schlief sofort ein. Zickjal wollte es ihm gerade nachmachen, da fiel mir etwasein.

»Halt!« rief ich. »Und wer hält Wache?« »Wozu soll das gut sein?« wollte Zickjal

verwundert wissen. »Wir könnten angegriffen werden«, ent­

gegnete ich verständnislos. »Es gibt wilde Tiere, vielleicht sogar Eingeborene in dieser Gegend.«

»Wir wachen schon rechtzeitig auf, wenn etwas passiert«, versprach der Somorer gleichgültig, zeigte gähnend seine zahlrei­chen Zähne und steckte den Kopf unter die Decke. Als ich den Blauen ärgerlich anstieß, erntete ich nur ein unwilliges Schnaufen.

Der Nebel war so dicht, daß ich das Ende des Flugzeugrumpfes nur verschwommen

erkennen konnte. Es schien tatsächlich sinn­los, unter diesen Umständen eine Wache aufzustellen. Ich lehnte mich zurück und starrte in die Dämmerung. Meine Gedanken kreisten um Chrysalgira, Grek-3 und die Frage, wie wir den Mikrokosmos verlassen sollten. Bei meinem ersten, unfreiwilligen Besuch im Reich der kleinsten Dinge war al­les so ganz anders gewesen. Ich begriff erst jetzt, daß ich mehr Glück als Verstand ge­habt hatte, als ich damals so schnell und mü­helos den Rückweg fand. Dann kam mir Or­banaschol wieder in den Sinn, und ich malte mir aus, welche Überraschung es für ihn sein würde, wenn ich plötzlich mitten in sei­nem Palast aus dem Miniaturuniversum auf­tauchte, um den Mord an meinem Vater zu rächen.

Über diesen Wachträumen schlief ich ein.

*

Der Morgen brachte eine Überraschung ganz besonderer Art. Eines der riesigen Horntiere hatte sich in unsere Nähe verirrt und verwechselte offensichtlich unser Flug­zeug mit einem Rivalen, der in sein Revier eingedrungen war. Ein lautes Krachen schreckte mich aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch und erblickte das Biest, wie es sich mit gesenktem Kopf und dampfenden Nüstern auf genau die Stelle des Gitterrumpfes stürz­te, deren Reparatur uns besonders viel Schweiß gekostet hatte.

Die Wut darüber, daß das liebe Tierchen drauf und dran war, unsere Arbeit zunichte zu machen, ließ mich jede Vorsicht verges­sen. Ich entsann mich meines ersten Zusam­mentreffens mit dieser Spezies und sprang mit lautem Gebrüll auf.

Aber ich hatte Pech. Dieses Exemplar war bei weitem nicht so geräuschempfindlich wie sein Kollege von der Schlammbank.

Der Bulle stutzte nur kurz, warf mir einen bitterbösen Blick zu und stürmte dann wei­ter. Die langen Hörner senkten sich kra­chend in das Gitterwerk. Das ganze Flug­zeug erbebte unter diesem Aufprall.

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Neben mir im Gras lag eine kurze Strebe, die zum Fahrgestell gehörte. Während ich mich danach bückte, zog der Bulle mit eini­ger Mühe die gekrümmten Hörner aus dem Flugzeugrumpf. Er verharrte, betrachtete mich nachdenklich und beschloß dann, zu­erst diesen herumhüpfenden Ableger seines Gegners auszuschalten. Ich ließ alles stehen und liegen und rannte.

Es gab weit und breit weder einen Baum, noch einen Felsen, auf den ich hätte klettern können, und so blieb mir keine andere Wahl, als diese Ansammlung von Metallteilen als Bollwerk zwischen mir und der wutschnau­benden Bestie zu benutzen.

Die beiden Somorer lagen unterdessen im Schutz der rechten Tragfläche zwischen ih­ren warmen Decken und schliefen friedlich. Ich verwünschte sie in alle möglichen Höl­len, brüllte wie ein Besessener – sie wachten nicht auf. Auch als das gewichtige Riesen­tier in weniger als zwei Metern Entfernung an ihnen vorbeitrampelte, störte sie das nicht im geringsten.

Roll dich unter eine Tragfläche und bleib still liegen, raunte die lautlose Stimme des Extrahirns mir zu. Wenn das Tier dich nicht mehr vor sich sieht, wird es auch seinen An­griff einstellen.

Schon möglich, dachte ich zurück. Dafür wird es dann das Flugzeug in seine Einzel­teile zerlegen.

Mein Gegner verfolgte mich mit der Stur­heit eines Roboters. Er kam im vollen Lauf um die Ecke gestürmt. Auf seinem rechten Horn hing der Propeller. Ich schlüpfte ge­duckt unter dem Flugzeugrumpf hinweg, denn die Zeit war zu knapp, um das Schwanzende der Maschine zu umrunden. Die Bestie wollte mir auf dem gleichen Weg folgen, hatte aber in der Aufregung ihre ei­genen Körpermaße vergessen. Sie rammte ihren gewaltigen Kopf mit solcher Wucht in das Gitterwerk hinein daß sich die Hörner hoffnungslos darin verkeilten.

Das Tier raste vor Wut. Seine Versuche, sich aus der Falle zu befreien, blieben er­folglos. Riesige Grasbüschel flogen durch

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die Luft, und das Flugzeug schwankte, als wollte es jeden Moment umkippen.

Ich rannte zur Einstiegluke, zerrte eine Axt zwischen den Werkzeugen hervor und kletterte auf den Gitterrumpf. Das Gestell wackelte, als würde es von einem Erdbeben geschüttelt. Mühsam kroch ich über die Me­tallstangen an das wütende Tier heran. Als die gefährlichen Spitzen der Hörner nur noch wenige Zentimeter unter mir waren, hob ich die Axt. Da schien das Tier die nahe Gefahr zu spüren. Der Kopf stieß in einer gewaltigen Anstrengung nach oben, und das eine Horn verfehlte meinen Kopf nur um Millimeter.

Ich legte alle Kraft in den Schlag, der die Axt nach unten sausen ließ und spürte, wie ich auf Widerstand traf. Gleichzeitig gab es einen heftigen Ruck, und ich glitt von den glatten Streben ab. Noch im Fallen warf ich mich zur Seite. Erdbrocken prasselten auf mich herab. Ich rollte mich aus der unmittel­baren Reichweite der gewaltigen Beine und sprang auf, bereit mich in Sicherheit zu brin­gen, falls der Bulle sich noch einmal losrei­ßen sollte.

Aber ich hatte gut getroffen. Es dauerte nur Sekunden, bis das Leben aus dem zotti­gen Körper wich. Schweratmend wischte ich mir den Sand aus den Augen und wollte eben meine unerwünschte Beute begutach­ten, da erscholl hinter mir ein wütender Schrei.

»Nun sieh dir das an!« Ich fuhr herum und erblickte Beikla. Er

hatte sich endlich aus seihen Decken ge­wickelt, stand neben der Tragfläche und deutete mit einer anklagenden Gebärde auf mich.

»Dieser Vielfraß!« schimpfte er weiter. »Begnügt sich nicht mit einem normalen Tier, sondern muß ausgerechnet einen Rie­senbullen jagen! Und dazu wird unser kost­bares Flugzeug nun mißbraucht! Atlan, du Dummkopf, konntest du dir nicht eine ande­re Methode einfallen lassen, um dieses Hornvieh zu fangen?«

Zickjal war durch das Gezeter seines Ge­

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fährten ebenfalls erwacht. Er sah sich schlaf­trunken um, erblickte dann das Haupt des Untiers und wurde schlagartig munter.

»Der Propeller!« schrie er und sprang so hastig auf, daß er sich in seiner Decke ver­fing und bäuchlings in der letzten Schlammpfütze landete, die sich noch in der Nähe des Flugzeugs gehalten hatte. »Das Biest hat den Propeller abgerissen. Warum hast du das nicht verhindert?«

Ich setzte zum Sprechen an, aber Beikla schnitt mir das Wort ab.

»Unerhört!« keifte er. »Siehst du nicht, was er angestellt hat, Zickjal? Er hat den Bullen hierhergelockt und dafür gesorgt, daß das dumme Biest seine Hörner in unserem Flugzeug festhakte, damit er es in aller Ruhe erschlagen konnte. Wir sollten ihn davonja­gen! Wie kann ein Mensch nur so gefräßig …«

»Ruhe!« brüllte ich, aber Beikla hörte gar nicht erst hin. Ich drehte mich um und hob die blutverschmierte Axt auf. Als ich sie drohend durch die Luft schwang, verstumm­ten die beiden Somorer auf einen Schlag.

»Schluß mit der Komödie!« sagte ich wü­tend. »Ich werde euch erklären, was passiert ist.«

Ich trat einen Schritt vor, und Zickjal robbte hastig unter die Tragfläche zurück.

»Er ist verrückt geworden!« hörte ich ihn leise jammern. »Der Bulle genügt ihm noch nicht. Ich habe ja gleich gesagt, daß er ein Barbar ist! Wen er sich wohl zum Nachtisch aussuchen wird?«

»Zickjal, halt den Mund!« fauchte ich und setzte den Somorern dann auseinander, was der Bulle beabsichtigt hatte.

»Ist das wahr?« erkundigte Beikla sich mißtrauisch. Er wandte keinen Blick von dem Ungetüm.

»Du kannst deinen Freund fragen. Ich habe gestern abend noch gesagt, es

wäre besser, eine Wache aufzustellen. Aber auf mich hört ja niemand.«

»Er hat recht«, murmelte Zickjal und lug­te unter der Tragfläche hervor. »Atlan, tu mir einen Gefallen und lege endlich diese

Axt aus der Hand!« Ich warf das Mordwerkzeug ins Gras.

Beikla zögerte kurz, dann trat er vorsichtig näher.

»Ist er wirklich tot?« fragte er. »Nein«, knurrte ich. »Er macht nur ein

Nickerchen. Den Propeller benutzt er als Schlafmütze.«

Der Somorer wagte sich zentimeterweise an den Kadaver heran. Mißtrauisch streckte er die rechte Hand aus und tippte gegen den massigen Kopf. Die Tatsache, daß der Bulle nicht reagierte, verlieh ihm Mut. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und ergriff eines der riesigen Hörner. Prüfend rüttelte er dar­an, dann sprang er fast einen halben Meter hoch in die Luft.

»Er ist tot!« kreischte er mit überschnap­pender Stimme. »Wir haben den großen Bullen besiegt. Der Gegner war groß und stark, und seine Hörner trieften von Gift, aber wir waren schlauer. Wer wagt es, einen Kampf gegen uns Somorer zu führen, nach­dem wir diese Heldentat vollbrachten!«

Ich sah ihm kopfschüttelnd zu. Etwas Blaues flitzte blitzschnell an mir

vorbei, ein orangefarbenes Gewand wehte vor meiner Nase, dann beteiligte sich auch Zickjal an diesem Freudentanz. Er hüpfte mit der Grazie eines Gummiballs um das to­te Riesentier herum, raste dann zurück und holte die Axt. Die Schneide blitzte kurz in der Luft auf. Der lange, von einem leuch­tend gelben Haarbusch gezierte Schwanz des Bullen fiel in das zerwühlte Gras. Tri­umphierend schwang Zickjal seine Beute durch die Luft und stimmte dabei einen so­morischen Siegesgesang an, der meine Trommelfelle zum Klingen brachte.

Da die beiden kleinen Männer keine An­stalten machten, sich wieder normal zu be­nehmen, wandte ich mich ab und begab mich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Während ich ein Stück von dem zähen Dörr­fleisch herunterwürgte, klang die Begeiste­rung der Somorer allmählich ab. Ich hörte ein ärgerliches Schnaufen und drehte mich um. Beikla stand hinter mir. Er hielt die Axt

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in der Hand und druckste verlegen herum. »Was willst du?« fragte ich mit vollem

Mund. »Wir schaffen es nicht, die Hörner abzu­

schlagen«, erklärte er unglücklich. »Für dich wäre das bestimmt kein Problem.«

Ich nickte gleichmütig und kaute weiter. Beikla trat von einem Fuß auf den anderen. Er hielt die Axt so ungeschickt, daß ich Angst bekam, er würde sich damit selbst amputieren.

»Könntest du uns nicht schnell mal hel­fen?« platzte er nach einer Weile heraus.

»Wenn ich gegessen habe«, brummte ich. »So lange wird es doch noch Zeit haben, nicht wahr?«

*

»Wir sind reich!« schwärmte Zickjal und streichelte liebevoll das eine Horn.

»Die Mädchen werden vor unserer Tür Schlange stehen, um diese Trophäen zu be­trachten!« murmelte Beikla glücklich und wiegte das andere wie ein Baby in seinen Armen.

»Erst müßt ihr zu Hause sein«, versuchte ich sie aus ihrem Glücksrausch zu wecken. »Laßt endlich diesen Kram liegen und küm­mert euch um das Flugzeug!«

»Das kann warten!« erklärte Beikla und musterte nachdenklich den Kadaver, der jetzt neben dem Fluggerät lag. Ein versonne­nes Lächeln glitt über sein Gesicht, und sei­ne zahlreichen Pupillen glitzerten gierig.

»Stell dir nur vor, wie das Fell an der Stirnwand des Salons wirken wird!« wandte er sich an seinen Freund.

»Da bekommt es zu wenig Licht«, wider­sprach Zickjal skeptisch. »Ich wäre eher da­für, es vor dem Fenster auszubreiten. Da sieht man erst richtig das ganze Farbenspiel und die vielen feinen Punkte!«

»Ans Fenster, ha!« knurrte Beikla erbost. »Damit jeder Trottel darauf herumtrampelt, wie? Nein, an die Wand gehört es! Und da wird es auch hinkommen.«

»Das wird es nicht!« mischte ich mich un-

Marianne Sydow

gefragt in das Gespräch. »Weil es nämlich hierbleibt. Es sei denn, ihr häutet dieses Monstrum selbst. Die Reparaturen sind wichtiger. Dieses Biest hat eine Menge Schaden angerichtet und unseren ganzen Zeitplan durcheinandergeworfen. Wie lange wollt ihr noch untätig herumsitzen?«

Zuerst waren sie sprachlos. Dann schnat­terten sie sich geraume Zeit in ihrer Heimat­sprache an. Ich ergriff inzwischen einen Fettstift aus ihrem Gepäck, wanderte um das Wrack herum und kennzeichnete die Stellen, die die Bestie demoliert hatte. Als ich zu­rückkehrte, herrschte verdächtige Stille.

»Nun, was ist jetzt schon wieder los?« er­kundigte ich mich ärgerlich.

Natürlich war es Beikla, der die Verhand­lungen übernahm.

»Du willst deine Freunde unbedingt fin­den, nicht wahr?« begann er listig. Ich nick­te, und er fuhr fort: »Es gibt im Umkreis von vielen Tagesreisen kein einziges zivilisiertes Volk. Zwar wirst du Eingeborene finden, aber sie werden dir nicht helfen. Im Gegen­teil, du tust gut daran, ihnen aus dem Wege zu gehen. Wenn sie dich nicht gleich um­bringen und aufessen, dann höchstens aus dem Grund, weil sie dich als Sklave betrach­ten, mit dem man einen guten Preis erzielen kann. Die Hauptstadt unseres Landes dage­gen bietet dir alle Vorteile, die du dir wün­schen kannst. Es kommen viele Leute zu uns, um Handel zu treiben, Expeditionen werden in alle Himmelsrichtungen ge­schickt. Bestimmt würdest du dort also et­was über deine Freunde erfahren!«

Ich ahnte, worauf der Kerl hinauswollte. Es war glatte Erpressung.

Laß ihm den Spaß, empfahl mein Extra­hirn. Der Zeitverlust ist relativ gering. Zu Fuß brauchst du über zwanzig Tage!

»Ihr streikt also?« fragte ich. Beikla nickte entschlossen. »Entweder häutest du das Tier, dann wer­

den wir uns anschließend mit aller Kraft an die Reparatur machen. Du kannst dich auf uns verlassen. Glaubst du, wir würden die wertvollen Trophäen in der Hitze verderben

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lassen?« »Oder?« »Oder du weigerst dich, uns zu helfen,

und dann nehmen wir dich eben nicht mit!« »Ohne mich wird es ein bißchen schwer

für euch«, vermutete ich spöttisch. »Wir werden es schaffen!« versprach Bei­

kla grimmig. »Ich bin stärker als ihr und könnte euch

zwingen, mich trotzdem mitzunehmen.« »Vielleicht. Aber du kennst dich mit der

Bedienung des Flugzeugs nicht aus. Nur Zickjal kann die Maschine einwandfrei steu­ern. Wenn er nicht will, bewegt sich die Ma­schine keinen Zentimeter weit von der Stel­le!«

Daran zweifelte ich. Es konnte nicht über­mäßig schwer sein, mit diesem primitiven Mechanismus auszukommen. Aber je länger wir diskutierten, desto größer wurde der Zeitverlust.

Die beiden Kleinen tanzten aufgeregt um mich herum, als ich dem Bullen das Fell ab­zog. Sie starben fast vor Angst, ich könnte die wertvolle Haut nicht ordnungsgemäß be­handeln. Kaum war der letzte Schnitt getan, da eilten sie auch schon mit riesigen Bün­deln von Gras und Kräutern herbei, mit de­nen sie die Haut abrieben, um sie dann auf mühsam herbeigeschleppten Steinen zum Trocknen auszubreiten. Ihr Versprechen hat­ten sie längst vergessen. Sie widmeten sich ausschließlich der Beute und gönnten dem Flugzeug nicht die geringste Beachtung. Verärgert machte ich mich alleine an die Ar­beit.

Der Nebel war verschwunden, und die Sonne brannte heiß herab. Es wurde Mittag. Ich plagte mich schwitzend mit dem Propel­ler ab, der auf sehr verzwickte Weise befe­stigt werden mußte, als Zickjal neben mir auftauchte.

»Kann ich dir helfen?« erkundigte er sich so unbefangen, als wäre gar nichts gesche­hen.

»Wir brauchen Holz, um die Maschine hochzubocken«, erklärte ich ihm. »Sonst können wir das Fahrgestell nicht befestigen.

Aber vorher möchte ich noch etwas essen.« »Dieser Mensch denkt nur daran, seinen

Magen vollzustopfen!« knurrte Beikla aus einigen Metern Entfernung verächtlich. Er warf einen letzten bewundernden Blick auf die meterlangen Hörner, die er inzwischen mindestens fünfmal poliert hatte.

»Ich werde Holz holen«, verkündete er, als handelte es sich um ein ungeheures Op­fer seinerseits. »Zickjal kann inzwischen ein gutes Stück Fleisch für einen Braten aussu­chen. Und sei mir nicht böse, Atlan, aber ich muß dich bitten, in Zukunft sorgfältiger zu arbeiten. Diese Schraube hier sitzt viel zu locker. Willst du etwa, daß wir abstürzen, wenn wir uns mit dieser wertvollen Fracht auf dem Flug nach Somor befinden?«

Man sollte meinen, ich hätte mich inzwi­schen an die Unverfrorenheit dieses Bur­schen gewöhnt. Aber mir verschlug es doch die Sprache, und als ich bereit war, dem Blauen die entsprechende Antwort zu ertei­len, befand sich Beikla bereits außer Ruf­weite.

Wütend arbeitete ich weiter. Zickjal ge­sellte sich zu mir, nachdem er den Braten vorbereitet hatte. Wir krochen etwa eine Stunde lang schweigend in dem Gitterwerk herum, ehe mir auffiel, daß Beikla immer noch nicht von seiner Holzsuche zurückge­kehrt war.

»Er wird schon kommen«, meinte Zickjal gleichmütig. »Für so einen Braten braucht man gutes Holz, sonst schmeckt das Fleisch nicht. Es ist nicht einfach, in dieser Gegend die richtigen Bäume zu finden.«

»Mir scheint, er züchtet sie erst aus Sa­men heran«, gab ich bissig zurück.

»Wir sind fertig«, verkündigte Zickjal, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn Beikla nicht die Axt mitgenommen hätte, könnten wir jetzt anfangen Holz zu schlagen. Wir werden eine ganze Menge brauchen, um die Maschine weit genug auf­zurichten.«

Er kletterte auf den Boden hinab und wischte sich sorgfälltig die Hände an einem Grasbüschel ab. Ich kümmerte mich um das

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halbe Dutzend Schrauben, das der Somorer großzügig übersehen hatte, dann sah ich mich nach Zickjal um. Er widmete sich be­reits wieder der Betrachtung der Trophäen. Von Beikla keine Spur.

»Wir müssen ihn suchen«, sagte ich. Allmählich machte ich mir wirklich Sor­

gen um den Kleinen. Ich dachte daran, wie ungeschickt er im Umgang mit der Axt war und sah ihn im Geiste bereits halbverblutet hinter einem Felsen liegen.

Das Geschrei hättest du meilenweit ge­hört! bemerkte mein Logiksektor spöttisch.

Zickjal schrak aus seinen Gedanken hoch und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

»Du hast einen großen Fehler, Atlan«, be­hauptete er ernsthaft. »Du nimmst dir für nichts Zeit! Setz dich neben mich und ruh dich aus. Siehst du diesen herrlichen Glanz, den die Sonne über das prächtige Gehörn legt?«

»Wohin kann Beikla gegangen sein?« fragte ich ungeduldig.

»Zum Fluß«, seufzte Zickjal. »Schon gut, ich komme mit.«

Wir suchten den Blauen zuerst zwischen den Baumgruppen, die dem Landeplatz am nächsten lagen. Dabei entdeckten wir einen kleinen Stapel trockener Äste.

»Siehst du, er ist in der Nähe«, stellte Zickjal zufrieden fest.

»Es besteht kein Grund, sich um ihn Sor­gen zu machen. Beikla!«

Der Ruf hallte zwischen den nahen Felsen wider. Es raschelte, dann tauchte der Kleine aufgeregt winkend aus einem Gesträuch am Rande des Steilhangs auf.

»Was ist los?« schrie Zickjal fröhlich. Beikla schoß wie eine Rakete aus seinem

Versteck, raste auf uns zu und hielt seinem Gefährten den Mund zu.

»Unten auf dem Fluß ist ein Boot!« zisch­te er aufgeregt. »Sklavenjäger! Und du voll­führst einen Lärm, daß man dich bis zu den Schneebergen hören kann!«

»Konnte ich ja nicht ahnen!« fauchte Zickjal und befreite sich aus dem Griff sei­nes Gefährten. »Sklavenjäger? Was suchen

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die denn hier?« »Sie haben eine Ladung Glasdämonen da­

bei«, erklärte Beikla besorgt. »Es sind zwan­zig Zradus. Sie fahren sehr langsam und be­obachten die Ufer. Hoffentlich hat Atlan sie nicht auf unsere Spur gelockt!«

Ich schnitt ihm eine Grimasse und lief ge­duckt zu dem Gebüsch hinüber. Nachdem ich einen Zweig vorsichtig zur Seite gebo­gen hatte, konnte ich den Fluß in seiner vol­len Breite überblicken.

Nah dem gegenüberliegenden Ufer kämpfte ein großes, flaches Boot gegen die Strömung. Zwanzig muskulöse Männer mit blitzenden Harnischen saßen entlang der Bordwand. Die meisten von ihnen ruderten. Einer stand aufrecht am Bug und hielt Aus­schau nach Hindernissen, und zwei andere hatten lange Fernrohre auf die Ufer gerich­tet. In der Mitte des Bootes lagen alptraum­hafte Gestalten gefesselt am Boden. Ich ent­deckte Wesen mit zwei Köpfen und einer Vielzahl von Gliedmaßen. Das waren wohl die Glasdämonen, von denen Beikla gespro­chen hatte. Woher diese Bezeichnung stammte, war mir unklar. Der Name hatte die Erinnerung* an Eiskralle in mir wachge­rufen, aber die Gefangenen in diesem Boot waren beileibe nicht durchsichtig.

»Sie sind bewaffnet!« wisperte Beikla ne­ben mir. Er und Zickjal hatten sich ebenfalls einen Beobachtungsposten gesucht und schlotterten vor Angst beim Anblick der Fremden. »Sieh nur, die vielen Schwerter und Speere am Heck! Wenn die uns angrei­fen, sind wir verloren!«

Ich wollte ihn gerade fragen, weshalb die­se Fremden sich mit uns beschäftigen soll­ten, da hob einer der Beobachter im Boot den Arm. Laute Rufe schallten über das Wasser. Die beiden Somorer zischten er­schrocken.

»Sie haben den Ballonkorb entdeckt!« stieß Beikla hervor. »Warum, bei allen Göt­tern von Jongquatz, hast du das Ding nicht vernichtet, Atlan? Jetzt werden sie herüber­kommen und nachsehen. Wir müssen uns verstecken!«

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»So schnell geht es nun auch wieder nicht«, meinte ich. »Der Fluß ist an dieser Stelle viel zu reißend. Wenn sie beidrehen, verlieren sie die Kontrolle über das Boot.«

»Sie werden eine Stelle zum Übersetzen finden«, versicherte Zickjal düster. »Ein Zradu gibt niemals auf. Wenn diese Kerle die Spur eines Sklaven gefunden haben, het­zen sie ihn bis ans Ende der Welt. Beikla hat recht. Wir müssen schleunigst verschwin­den!«

»Und das Flugzeug?« fragte ich spöttisch. »Wollt ihr es unsichtbar machen? Wenn die Sklavenjäger das Wrack finden, werden sie wissen, daß wir nicht weit gekommen sind. Noch dazu, wenn ein frischer Braten, neben der Maschine liegt.«

»Da bleibt nur eines«, murmelte Beikla traurig. »Wir verzichten auf unseren Braten, schrauben so schnell wie möglich das Fahr­gestell an und sehen zu, daß wir in der Luft sind, ehe diese Kerle uns erreicht haben. Hoffentlich ist die Haut des Bullen bis dahin einigermaßen getrocknet. Es wäre zu scha­de, wenn sie uns verdirbt!«

Wir zogen uns vorsichtig zurück. Sobald wir den Felsen zwischen uns und den Zradus hatten, begannen die Somorer mit Feuerei­fer, nach brauchbarem Holz zu suchen. Die Angst vor den schwerbewaffneten Sklaven Jägern saß ihnen im Nacken. Innerhalb we­niger Minuten trugen sie einen beachtlichen Haufen von Ästen zusammen. Beikla drück­te mir die Axt in die Hand und zeigte mir einen Baum, von dem er wußte, daß er fe­stes, elastisches Holz besaß. Schon nach dem ersten Schlag wußte ich, daß der Somo­rer sich nicht geirrt hatte – die Axt prallte ab, als wäre sie auf Hartplastik getroffen.

Endlich hatten wir eine ausreichende Menge an starken Ästen und Stammteilen neben dem Flugzeug aufgestapelt. Ich rollte zwei große Steine herbei, die als Ansatz­punkt für einen Hebel dienten, stemmte mich dann mit aller Kraft gegen einen rissi­gen Baumstamm, und qualvoll langsam hob sich der Gitterrumpf. Die beiden Somorer rollten in fliegender Hast Holzstücke unter

die Maschine, dann begann der Vorgang von neuem. Mir lief der Schweiß über den Kör­per.

Warum schuftest du eigentlich so? raunte das Extrahirn mir zu. Laß dich doch ruhig von den Sklavenjägern einfangen. Burschen wie sie kommen weit herum. Es ist sehr gut möglich, daß sie etwas über Chrysalgira und Grek-3 wissen!

Die Idee war nicht schlecht. Sie hatte nur einen Schönheitsfehler: Als Sklave hatte ich zu wenig Bewegungsfreiheit, um die erhalte­nen Hinweise auch ausnützen zu können.

Ich spuckte in die Hände und stemmte das Flugzeug wieder ein paar Zentimeter hoch. Zickjal rannte davon und zerrte keuchend ei­nes der Landebeine näher heran. Es fehlten nur noch zehn Zentimeter.

Na und? fragte das Extrahirn spöttisch. Die Verschraubungen kosten noch eine Menge Zeit, und selbst wenn ihr es schafft – mit diesem Gestell kommt ihr doch nicht weit!

Halt den Mund! dachte ich wütend. Dann war es soweit. Sogar Beikla, der es

bisher hervorragend verstanden hatte, sich nach Möglichkeit um jede Arbeit zu drücken, nahm sich etwas von dem Werk­zeug. Aber er stellte sich so dumm an, daß es selbst Zickjal zu viel wurde.

»Such du lieber unsere Sachen zusammen und verlade sie«, empfahl er seinem Artge­nossen. »Dadurch sparen wir mehr Zeit, als wenn wir dauernd deine Fehler beseitigen müssen!«

Beikla trollte sich beleidigt. Eine Minute später kämpfte er sich ächzend neben mir in die enge Luke hinein. Er hatte sich eines der Hörner aufgeladen.

Nachdem auch das schwere Fell sicher im luftigen Ladeabteil verstaut war, ließ Beiklas Arbeitstempo spürbar nach. Aber das mach­te nichts aus, denn wir hatten genug Schwie­rigkeiten mit dem Fahrgestell, um den Zeit­verlust zu verschmerzen. Die größten Sor­gen bereitete uns ein gerissener Keilriemen. Ein Ersatz befand sich nicht an Bord, und so waren wir zu einer improvisierten Lösung

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gezwungen. Zickjals einziges leichtes Klei­dungsstück überstand die Feuerprobe nicht. Beikla wehrte sich zunächst erbittert gegen die Zumutung, auch sein Gewand der Tech­nik zu opfern, aber schließlich gab er nach. Während ich das dünne Gewebe in schmale Streifen zerriß, schickte Zickjal seinen Ge­fährten zum Fluß.

»Sieh mal nach, ob die Kerle schon kom­men«, befahl er.

Der Dicke protestierte empört. »Immer soll ausgerechnet ich mich der

Gefahr aussetzen«, zeterte er wütend. »Geh du doch!«

Zickjal warf mit einem Schraubenschlüs­sel nach seinem Artgenossen, und Beikla verzog sich brummend.

Nachdem wir beim ersten Versuch das Gewebe einfach zusammengedreht hatten, bestand ich diesmal darauf, ein ordentliches Seil zu flechten. Zickjal litt Höllenqualen bei dem Gedanken an die Zeit, die wir da­durch verloren, aber ich blieb hart.

»Die paar Minuten, die wir gewinnen, nützen uns gar nichts, wenn das Seil wieder reißt«, wies ich ihn zurecht. »Kümmere dich lieber um den Rest der Befestigungen und fang dann an, das Holz unter der Maschine wegzuräumen.«

Ich hatte gerade den provisorischen Keil­riemen mit viel Mühe an seinen Platz ge­bracht, da kam Beikla im aufgeregten Stol­pergalopp herbeigerannt.

»Sie kommen!« schrie er schon von wei­tem.

Zickjal ließ vor Schreck den Ast los, den er eben aus dem Stapel gezogen hatte. Das schwere Holzstück landete auf den Zehen des Kleinen, der umgehend ein lautes Schmerzgebrüll ausstieß.

»Sie haben eine Überfahrt gefunden!« versuchte Beikla ihn zu übertönen. »Jetzt sind sie auf dieser Seite des Flusses. Sie ru­dern gerade auf die Felsen zu.«

Ich überzeugte mich davon, daß der Strick auch dann an seinem Platz blieb, wenn die Räder sich zu drehen begannen, dann sprang ich auf den Boden hinunter.

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»Kümmere dich um den Motor!« wies ich Zickjal an, der mit schmerzverzogenem Ge­sicht auf einem Bein balancierte und seine Zehen untersuchte. »Beikla, du hilfst mir!«

Wir hatten getan, was wir konnten, um das primitive Fluggerät wieder flott zu ma­chen. Wenn nicht der Motor selbst beschä­digt war, mußte der Start glücken. Voraus­setzung dafür war, daß wir das Holz entfern­ten, das zur Zeit noch fast allein das Ge­wicht des Rumpfes trug.

Wir hatten nur noch zwei Stämme vor uns, als knallende Fehlzündungen die Luft erschütterten. Zickjal fluchte schnatternd in seiner Heimatsprache, und Beikla starrte angsterfüllt zu ihm hinauf. Dann besann sich der Klobige Verbrennungsmotor auf seine Pflichten. Ein beruhigend gleichmäßiges Tuckern ließ das Flugzeug leicht vibrieren. Gleichzeitig erscholl hinter den Felsen ein vielstimmiges Gebrüll. Unsere Gegner wa­ren im Anmarsch.

»Hat dieses Ding einen Rückwärtsgang?« schrie ich zu Zickjal hinauf.

Er begriff sofort und zerrte an einem überdimensionalen Hebel. Das Flugzeug setzte sich ruckhaft in Bewegung. Die bei­den Stämme kippten ins Gras. Während ich sie aus der Fahrtrichtung rollte und zog, kletterte Beikla bereits mit affenartiger Be­hendigkeit in die Kabine. Das Geschrei hin­ter uns wurde lauter. Als ich einen Blick in Richtung Flußufer warf, sah ich zwischen dem dichten Gestrüpp das Blinken metalle­ner Harnische.

Zickjal wartete, bis ich neben Beikla an­gelangt war, dann stieß er den Steuerhebel nach vorne. Schwerfällig und rumpelnd setz­te sich das Flugzeug in Bewegung. Von hier oben sah unsere »Startbahn« wie ein schlechtgepflückter Acker aus. Beikla quietschte entsetzt, als die Maschine über im Gras verborgene Steine rollte und dabei ge­fährlich ins Schaukeln geriet. Zickjal dage­gen war die Ruhe in Person. Er beobachtete eifrig das Gelände und steuerte auf einen Sandstreifen zu, der sich in geringer Entfer­nung leuchtend weiß aus dem Unkraut ab­

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hob. Da wir für den Einbau einer dritten Sitz­

gelegenheit keine Zeit mehr gefunden hat­ten, hockte ich reichlich unbequem auf dem vordersten Rand der Ladefläche. Direkt vor mir saß Beikla, der immer wieder den Kopf um die Ecke streckte, um sich nach unseren Verfolgern umzusehen.

Die Zradus hatten das freie Gelände er­reicht und schienen fest damit zu rechnen, daß unser Fluchtversuch fehlschlug. Sie wa­ren beachtlich gute Läufer. Während sie hin­ter uns herrannten, fanden sie sogar noch Zeit, ihre Speere in Wurfposition zu bringen. Ich zählte zehn Verfolger und wunderte mich, wo der Rest blieb. Sekunden später prallte ein Speer klirrend gegen das Gitter­werk. Da wir uns jetzt parallel zum Flußufer bewegten, hatten einige der Sklavenjäger uns erfolgreich den Weg abgeschnitten.

Ein zweiter Speer flog durch die Luft und ratschte über die linke Tragfläche. Zickjal arbeitete verbissen an seinen Hebeln. Das Brummen des Motors rutschte eine Oktave höher, und unsere Geschwindigkeit nahm zu. Noch ein Speer traf den Rumpf und bohrte sich neben unserem Piloten durch die Strebung, dann wies die Nase der Maschine nach oben. Eine Sekunde später befanden wir uns in der Luft. Das wütende Geheul der Zradus ging im Dröhnen des Motors unter.

Wir gewannen schnell an Höhe. Zickjal zwang das Flugzeug in eine weite Kurve, die uns vom Fluß wegbrachte. Unter uns husch­te die Steppe hinweg, dann tauchten Bäume auf, die sich zu einem lichten Wald zusam­menschlossen. Und genau in dem Augen­blick, als ich weit voraus die Wasserfläche eines kleinen Sees zwischen den Bäumen glitzern sah, fiel mir auf, daß unser Flug plötzlich unsicher wurde.

Mühsam zog ich mich gegen den Fahrt­wind weiter nach vorne.

Der letzte Speer hatte sein Ziel nicht ver­fehlt. Die Spitze hatte Zickjal an der Hüfte getroffen. Der Kleine hatte lange genug durchgehalten, um uns aus der unmittelbaren Gefahr zu bringen, aber nun hing er besin­

nungslos auf dem Pilotensitz. Beikla bemüh­te sich verzweifelt, den Steuerknüppel zu er­reichen, aber unser Flugzeug schwankte so stark, daß er bei jedem Versuch Gefahr lief, aus dem Sitz zu fallen. Da unter ihm nichts als ein paar lächerlich dünne Streben waren, wagte er sieh nicht weit genug vor.

Ich klammerte mich am Metall fest und zwängte mich zwischen den beiden Sitzen hindurch. Zickjals Hände hatten sich in ei­nem Krampf um den Steuerhebel geschlos­sen. Schwankend balancierte ich auf der schmalen Fußleiste vor den Sitzen, während das Flugzeug bockte und schaukelte. Beikla war jetzt vor Angst wie gelähmt und tat ab­solut nichts, um mir zu helfen.

Es gelang mir, die Hände des Somorers von dem Hebel zu lösen, aber inzwischen hatten wir so viel Höhe verloren, daß ich mir keine Illusionen mehr machte. Ich konnte nur noch versuchen, einen geeigneten Platz für die Bruchlandung zu finden.

Vor uns stachen spitze Felsnadeln durch das Laub der Bäume. In den Streben knirschte und krachte es, als ich den Steuer­hebel nach rechts schob. Widerwillig rea­gierte das plumpe Fahrzeug. Die Felsen ra­sten unter uns hinweg. Der See war jetzt schon sehr nahe. Ich entdeckte eine grün ge­färbte Grasfläche und hielt darauf zu. Als ich versuchte, ein paar Meter Höhe zu ge­winnen, begriff ich, warum auch die erste Landung der Maschine so hart ausgefallen war. Wenn dieses Flugzeug sich erst einmal auf dem Wege nach unten befand, weigerte es sich beharrlich, von der einmal gewählten Richtung abzuweichen.

Einige hochragende Bäume bildeten die Begrenzung des Waldes. Ich sah das Gewirr der Äste heranrasen und stemmte mich ge­gen den Hebel. Die Maschine reagierte nicht mehr. Es gab einen harten Ruck, als das Fahrgestell das Laubwerk streifte, dann hör­te ich das häßliche Kreischen von zerbre­chendem Metall. Die mühsam reparierte Tragfläche war den Anforderungen nicht mehr gewachsen und wirbelte davon. Ich wurde nach vorne geschleudert, sah eine der

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Streben auf mich zukommen, spürte einen scharfen Schmerz in der Stirn – und dann gar nichts mehr.

3.

Zuerst glaubte ich, die Begegnung mit den Somorern hätte nur in einem wilden Traum stattgefunden. Mein Kopf brummte, als hätte sich ein Bienenschwarm darin ein­genistet, und ich war naß. Dann schlug ich vorsichtig die Augen auf und sah die Metall­streben über mir. Das brachte meine Erinne­rung in Schwung.

Vorsichtig richtete ich mich auf. Mir war schwindelig, und ich mußte einen Moment warten, bis ich wieder etwas sehen konnte. Ich tastete nach meiner Stirn und spürte eine beachtliche Beule. Als ich die Hand zurück­zog, war sie rot und klebrig von meinem Blut.

Ich lag im unteren Teil des Flugzeugs. Bräunliches Wasser bedeckte den Boden, vermischt mit dem stinkenden Brei zer­quetschter Pflanzen. Mit einiger Mühe ge­lang es mir, mich aufzurichten, ohne mir meinen mitgenommenen Schädel öfter als dreimal zu stoßen. Beikla hing regungslos in dem engen Raum zwischen der Kante des Sitzes und der Fußleiste. Zickjal war aus dem Sessel herausgeschleudert worden und lag quer über der Metallplatte, in der der Steuerhebel verankert war. Er war tot. Aus seinem Rücken ragte die Spitze einer zerbro­chenen Strebe heraus.

Das Flugzeug hatte sich zum Teil in den weichen Moorboden eingegraben, und der günstigen Bodenbeschaffenheit hatten Beik­la und ich vermutlich unser Leben zu ver­danken. Der größte Teil der Ausrüstung war noch vorhanden, und der Rumpf selbst war zwar verbogen und wies an mehreren Stellen klaffende Risse auf, hatte uns jedoch nicht hoffnungslos unter sich begraben. Ich ent­fernte zwei Träger, die den Weg nach drau­ßen versperrten, dann holte ich Beikla aus seiner ungemütlichen Ecke und trug ihn auf die Wiese hinaus.

Marianne Sydow

Der Boden war mit Feuchtigkeit gesättigt. Unter meinen Füßen quoll das Wasser durch die Graswurzeln. Ich bahnte mir einen Weg durch hüfthohes Gras. Eine Gruppe leuch­tender, von Violett bis Blau irisierender Blu­men tauchte vor mir auf. Der nächste Schritt, und ein Schwarm von fliegenden In­sekten stob auf, die mit zornigem Brummen auf mich zuschossen. Ich duckte mich. Der Schwarm raste über mich hinweg, zog einen Kreis und ließ sich wieder auf den Blüten nieder. Vorsichtig wich ich zurück und um­ging von da an jede Blüte, die sich in diesem Moor zeigte.

Etwa hundert Meter vom Wrack entfernt stieß ich auf trockeneren Boden. Ein hoher Baum mit glatter, kreideweißer Rinde und riesigen Blättern, die wie blaugrüne Regen­schirme aussahen, spendete kühlen Schatten. Ich legte Beikla in das hier nur spärlich wachsende Gras und untersuchte ihn kurz. Aber die Körperfunktionen der Somorer wa­ren mir zu fremd, als daß ich etwas über sei­nen Zustand hätte sagen können. Er lebte noch, und ich hoffte, daß er bald aus seiner Ohnmacht erwachte.

Keine Sentimentalitäten! warnte mich mein Extrahirn, als ich vor Zickjals Leiche stand. Die Ausrüstung ist wichtiger!

Ich brachte trotzdem zuerst den toten Pi­loten aus dem Flugzeug, das langsam immer tiefer in den weichen Boden sank. Allmäh­lich bildete sich ein schmaler Trampelpfad in dem dichten Gras. Unter dem Baum mit den Schirmblättern entstand ein ständig wachsender Haufen von Werkzeugen, Kar­ten, Decken, Proviant und ähnlichen Dingen. Als ich überzeugt war, daß nichts Wichtiges mehr in dem Wrack zurückgeblieben war, setzte ich mich neben Beikla und wartete darauf, daß der Kleine die Augen aufschlug.

Die Sonne begann zu sinken, und dichter Nebel hob sich aus der feuchten Wiese. Aus dem lichten Wald hinter mir drangen die Geräusche, die die dort umherschleichenden Tiere verursachten. Ein jämmerliches Schreien ließ mich erschrocken zusammen­fahren, und mir kam plötzlich zu Bewußt­

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sein, in welch unglaublich fremdartiger Um­gebung ich mich befand.

Ich hatte die Welten nicht gezählt, die ich bereits kennengelernt hatte, und überall war ich auf fremdartige, abenteuerliche Dinge gestoßen. Hier jedoch befand ich mich auf einem Planeten, den es eigentlich gar nicht geben durfte. Diese namenlose Welt war so winzig, daß Millionen ihrer Art nicht die Masse eines Staubkorns im Makrokosmos ergaben.

Bist du sicher? fragte das Extrahirn. Hast du schon einmal überlegt, wie ein solcher Kosmos überhaupt existieren soll? Bestehen nicht auch hier alle Dinge aus Atomen?

Ich dachte darüber nach und kam zu dem unbefriedigenden Ergebnis, daß ich zu we­nig vom Universum wußte, um die hier an­fallenden Fragen zu lösen. Welcher Zusam­menhang bestand zwischen dem Mikrokos­mos und dem normalen Universum, in dem ich geboren war? War der Ausdruck »Mikrokosmos« am Ende sogar falsch, und handelte es sich lediglich um ein Paralleluni­versum? Ich hatte den durch den Molekular­verdichter hervorgerufenen Schrumpfungs­prozeß erlebt – aber das konnte auch eine Täuschung sein.

Ein Gedanke durchzuckte mich: Was ge­schah, wenn jemand in dieser Miniaturwelt einen Molekularverdichter baute? Ging es immer weiter hinab, in immer winzigere Re­gionen?

Schon möglich, bemerkte der Logiksektor mit der ihm eigenen Trockenheit. Und nicht nur das. Wahrscheinlich auch immer weiter hinauf. Woher willst du wissen, daß nicht auch der Makrokosmos nur ein kleiner Teil eines gewaltigen Ganzen ist? Vielleicht ist das Weltall, aus dem du kommst, nur eine Zelle in einem gewaltigen Organismus, der sich ebenfalls als Teil einer ganz gewöhnli­chen Welt fühlt und mit all den Milchstraßen in seinem Innern lebt und arbeitet und stirbt – und wiederum Teil eines Wesens ist. Du wirst bei dieser Spekulation niemals heraus­finden, wo der Anfang und wo das Ende liegt!

»Hör auf!« stöhnte ich unterdrückt und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Vor­stellung eines solchen Weltgefüges reichte aus, einen Menschen um den Verstand zu bringen.

Ich war froh, als ein leises Stöhnen mich ablenkte. Beikla kam endlich zu sich. Er warf sich unruhig hin und her, ehe er die Hautfalte über seinem Augenband öffnete. Sekundenlang starrte er mich verständnislos an, dann richtete er sich ruckartig auf.

»Wo ist Zickjal?« stieß er hervor. Ich deutete schweigend auf die kleine Ge­

stalt, die ich mit einer Decke umhüllt hatte. Beikla erhob sich taumelnd und schlug

das Tuch zurück. Lange Zeit starrte er in das Gesicht des Toten. Dann ließ er sich neben Zickjal auf den Boden sinken und begann so jämmerlich zu weinen, daß es seinen ganzen Körper schüttelte. Ich stand daneben und fühlte mich entsetzlich hilflos. Der Kummer des Kleinen war so echt und tief, daß ich kein Mittel dagegen wußte.

Um mich abzulenken, holte ich die groß gezeichnete Landkarte und versuchte, aus den krakeligen Zeichen schlau zu werden. Aber es wurde dunkler, und bald konnte ich nichts mehr sehen. Beikla hatte aufgehört zu weinen, reagierte jedoch nicht, als ich ihn ansprach. Regungslos hockte er neben der Leiche und schien mit seinen Gedanken in einer anderen Welt zu sein. Ich versuchte ihn abzulenken, indem ich ihm berichtete, daß auch die wertvollen Trophäen geborgen waren, aber er hatte eine Mauer des Schwei­gens um sich errichtet, an der jedes Wort ab­prallte. Schließlich gab ich es auf. In meiner Stirn pochte ein dumpfer Schmerz, und die Anstrengungen des Tages machten sich be­merkbar. Ich rollte mich in eine Decke, legte mich neben den Haufen von Ausrüstungsge­genständen und war Sekunden später einge­schlafen.

*

Wir bestatteten Zickjal unter einem be­sonders großen, prächtig blühenden Baum,

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und als das Grab geschlossen war, taute Bei­kla so weit auf, daß er einem Gespräch über unser weiteres Vorgehen zugänglich wurde.

»Diesmal sieht es böse aus«, meinte er, nachdem er dem Wrack einen Besuch abge­stattet hatte. »Du wirst dich ganz schön an­strengen müssen, um das Fluggerät zu repa­rieren!«

Ich sah ihn verblüfft an. »Das Fahrgestell ist zerfetzt«, zählte er an

seinen Fingern ab, »die Bruchstücke der Tragfläche liegen zwischen den Bäumen herum, der Propeller ist verbogen, der Rumpf teilweise zerfetzt und der Motor ziemlich zerbeult. Wie lange wirst du brau­chen, um das alles in Ordnung zubringen?«

»Ich habe nicht die leiseste Absicht, es auch nur zu versuchen!« lehnte ich ärgerlich ab. »Die Reparatur ist sinnlos.«

»Aber wir können doch nicht ohne das Flugzeug nach Somor zurückkehren! Was sollen meine Freunde dazu sagen, wenn ich die wertvolle Maschine nicht mitbringe?«

»Das ist mir egal. Es geht nicht, verstehst du das nicht? Die Maschine ist hinüber. Selbst wenn die Schäden geringer wären, hätte es keinen Sinn, auch nur einen Tag an einen solchen Versuch zu verschwenden. Aus diesem Moorboden bringen wir sie nicht mehr heraus. Und wer sollte sie wohl steuern?«

Beikla schwieg. Er brütete düster vor sich hin.

»An allem bist nur du schuld!« platzte er nach einer Weile heraus. »Durch dich haben die Sklavenjäger uns entdeckt. Ohne dich wäre Zickjal noch am Leben, und wenn du das Flugzeug nicht in diesen Morast gesteu­ert hättest, könnten wir es bestimmt retten.«

Das hatte ich gerne! Ich gab mir die größ­te Mühe, schleppte sogar das schwere Fell aus dem Moor, und dieser Kerl machte mir auch noch Vorwürfe. Eine Diskussion über dieses Thema war sinnlos.

»Wie soll ich nun in meine Heimat zu­rückkommen?« fragte Beikla weinerlich, als ich auf seine Anklage nicht einging.

»Zu Fuß«, stellte ich trocken fest. »Da

Marianne Sydow

liegt die Karte. Welchen Weg müssen wir nehmen?«

Beikla zögerte, warf dem Wrack bedau­ernde Blicke zu und seufzte dann abgrund­tief. Mißmutig entfaltete er die Blätter und starrte lange Zeit auf die wenigen Zeichen, die sich zwischen den weißen Flecken ziem­lich verloren ausnahmen.

»Es wird viel zu lange dauern«, jammerte er. »Tage und Tage.«

»Schon möglich«, nickte ich ungeduldig. »Aber wenn du tatenlos sitzenbleibst, geht es bestimmt nicht schneller. Also mach schon!«

Beikla bequemte sich endlich dazu, sich auf die Landkarte zu konzentrieren. Ich sah ihm aufmerksam zu, denn ich legte großen Wert darauf, wenigstens die wichtigsten so­morischen Zeichen zu erlernen.

»Wir sind jetzt in diesem Waldgebiet«, überlegte der Somorer. »Wenn wir uns nach Süden halten, stoßen wir auf die Glassteppe. Das ist ein sehr gefährliches Gebiet. Die Glasdämonen, die du auf dem Boot der Zra­dus gesehen hast, leben dort. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber sie betrachten je-den Fremden als ihren Feind und greifen rücksichtslos an. Natürlich können wir die Glassteppe umgehen, indem wir uns durch den Dschungel im Osten schlagen. Aber da­durch verlieren wir viel Zeit, und außerdem drohen auch dort große Gefahren. Auf jeden Fall müssen wir den Jongquatz erreichen, den Dreifluß, der in das Blaue Meer mündet. Von dort aus ist es nicht mehr weit, und wir werden dann auch auf befreundete Stämme treffen, die uns weiterhelfen.«

»Der Umweg durch den Dschungel wäre Unsinn«, stimmte ich zu, nachdem ich die Zeichen auf der Karte mit Beiklas Angaben verglichen hatte.

»Aber wenn wir die Steppe im Westen umgehen, verlieren wir nur wenig Zeit, und es gibt auch dort flaches Land, in dem wir gut vorankommen.«

»Oh nein!« wehrte Beikla entsetzt ab. »Das ist Teghment. Niemand wagt sich in dieses Land!«

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»Warum?« fragte ich verwundert. »In Teghment wohnen die, die aus dem

Dunkel kamen«, flüsterte Beikla furchter­füllt. »Einige tapfere Männer haben ver­sucht, zu ihnen vorzustoßen, aber keiner kehrte zurück. Die Bewohner dieses Landes sind unvorstellbar grausam. Allein ihr An­blick ist tödlich, und sie haben Waffen, die bis an den Rand des Himmels reichen.«

Seine Beschreibung machte mich neugie­rig. Was mochte hinter diesem Schauermär­chen stecken?

Raumfahrer! behauptete das Extrahirn la­konisch.

Ich gab ihm recht. Es klang sehr wahr­scheinlich. »Die aus dem Dunkeln kamen« – damit könnte der Weltraum gemeint sein. Und die Waffen, die bis an den Rand des Himmels reichten? Energiestrahlen natür­lich!

Dorthin mußte ich vordringen! Die Idee hatte mich gepackt, und ich war

fest entschlossen, nach Teghment zu gehen. Die Fremden verfügten zweifellos über tech­nische Mittel, die denen aller anderen Völ­ker des Planeten überlegen waren. Mit ihrer Hilfe mußte es mir gelingen, Chrysalgira und Grek-3 zu finden. Und dann – bei dem Gedanken an mein gewohntes Universum packte mich ein unvorstellbares Heimweh. Ischtar fiel mir ein, Fartuloon, all die Ge­fährten, die nicht einmal wußten, ob ich noch lebte. Ich mußte endlich zu ihnen zu­rückkehren, und Teghment sollte den An­fang des Weges bilden. Nach all dem zielo­sen Umherirren auf dem Planeten der Mi­krowelt sah ich zum erstenmal ein vernünfti­ges, vielversprechendes Ziel vor mir. Nichts würde mich davon abbringen.

Du vergißt Beikla, warf das Extrahirn ein. Er hat eine höllische Angst vor diesem Land.

Ich werde notfalls alleine gehen, dachte ich.

Unsinn! behauptete der Logiksektor. Wenn du dir die Begleitung des Blauen si­cherst, sind deine Chancen viel größer. Hast du die Frucht schon vergessen, die dir die Hand verätzte? Beikla kennt sich aus – du

nicht! Gewinne ihn für deinen Plan. Er hap einen wunden Punkt: seinen Stolz!

Ich zweifelte daran, daß das Organ in meinem Kopf Beikla richtig einschätzte. Der Kleine war ein ausgesprochener Dickkopf – und abgesehen davon nicht der Mutigsten ei­ner. Ich beschloß, die Diskussion über unser Ziel auf einen günstigeren Zeitpunkt zu ver­schieben. Zuerst galt es, ein anderes Pro­blem zu lösen.

Wir konnten nicht alles mit uns schlep­pen, was ich aus dem Wrack geborgen hatte. Die Auswahl der wichtigsten Gegenstände war für Beikla eine einzige Qual. Er muster­te den Haufen, ging langsam darum herum und zog verschiedene Gegenstände hervor.

»Die schönen Sachen«, klagte er. »Schau nur, diese Werkzeuge! Jedes Stück davon hat einen großen Wert. Soll das alles hier liegen bleiben? Nun, du hast natürlich recht, wir können sie nicht wegtragen. Aber auch wenn wir noch so viel aussortieren – es wird auf jeden Fall zu viel zusammenkommen, als daß wir das Zeug auf unseren Schultern davonschleppen können.«

»Das fürchte ich auch«, sagte ich grim­mig. »Besonders wenn man bedenkt, daß du ganz bestimmt nicht auf deine wertvollen Trophäen verzichten willst!«

»Sie bedeuten Ruhm und Ehre«, behaup­tete er weinerlich und sah mich unglücklich von unten herauf an. »Versetz dich doch mal in meine Lage! Ich bin schlimm genug dran. Das Flugzeug ist hinüber, Zickjal ist tot. Soll ich mit leeren Händen zu meinem Volk zu­rückkehren?«

»Wir können bestenfalls eines von den Hörnern mitschleppen«, gab ich wütend zu­rück. »Der Rest bleibt hier!«

Beikla wandte sich schweigend ab. Seine Schultern zuckten. Ohne ein weiteres Wort ging er zu Zickjals Grab, setzte sich daneben und überließ sich hemmungslos seinem Kummer.

Der Kleine tat mir ehrlich leid, aber er mußte doch selbst einsehen, daß es nicht an­ders ging! Die riesige Haut allein bildete ei­ne volle Traglast für mich – Beikla wäre un­

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ter diesem Gewicht nach spätestens einer Stunde zusammengebrochen.

Ärgerlich stellte ich für jeden von uns ei­ne vernünftige Ausrüstung zusammen, such­te zwei Decken aus besonders haltbarem Stoff heraus und rollte die Sachen darin ein. Die dicken Schutzanzüge der Somorer lie­ferten mir eine Reihe von Gurten und Rie­men, mit deren Hilfe sich die Bündel gut auf dem Rücken befestigen ließen. Meine eigene Traglast krönte ich mit einem der schweren Hörner, um Beikla zu versöhnen, und ein Messer steckte griffbereit in meinem Gürtel.

So ausgestattet, ging ich zu dem Blauen. »Komm!« forderte ich ihn auf und hielt

ihm sein Bündel entgegen. Beikla rührte sich nicht. »Wenn du nicht sofort aufstehst, gehe ich

alleine!« drohte ich. Keine Reaktion. Ich seufzte. Natürlich hatte ich nicht die

Absicht, den Kleinen hier zurückzulassen. Erstens zweifelte ich daran, daß er ohne mich eine Chance hatte, seine Heimat wie­derzusehen, und zweitens brauchte ich ihn. Und wenn ich ihn am Kragen hinter mir her­ziehen mußte – ich würde ihn dazu bringen, diesen Ort zu verlassen.

Hinter herziehen? Das war die Lösung! »Also gut«, sagte ich. »Zwischen den

Bäumen da drüben muß das eine Rad vom Fahrgestell liegen. Das andere hole ich aus dem Moor. Wir bauen einen Karren, und dann laden wir die Haut obendrauf. Zufrie­den?«

Beikla sprang mit einem Freudenquiet­scher auf die Füße.

»Ich wußte doch, daß dir etwas einfällt!« erklärte er strahlend. »Man muß dich eben nur dazu bringen, alles genau zu überden­ken!«

Sprach's und rannte davon, um das Rad zu suchen. Ich sah ihm kopfschüttelnd nach und stapfte dann durch die schlammige Wie­se, um die traurigen Überreste des somori­schen Wunderwerks zu demontieren.

Marianne Sydow

*

Am Mittag des nächsten Tages zog ich die letzte Schraube fest. Beikla musterte den zweirädrigen Karren traurig.

»Er ist viel zu klein«, behauptete er. »Wir hätten ihn doppelt so groß bauen sollen. Dann wäre alles draufgegangen, was wir jetzt zurücklassen müssen.«

Ich legte unsere Bündel auf die Ladeflä­che, packte den gesamten Proviant, einige Feldflaschen, Becher und Reservedecken dazu und lud dann das Fell auf. Beikla sah mir zu und rührte keinen Finger.

»Fang einen von den Riesenbullen, zähme ihn und richte ihn als Zugtier ab!« empfahl ich grimmig. »Dann baue ich dir einen Wa­gen, auf dem sogar der Schrotthaufen von Motor noch Platz hat. Wir haben das sogar hundertmal besprochen. Der Wagen darf nur so groß sein, daß jeder von uns ihn alleine ziehen kann. Sobald wir in die Glassteppe kommen, müssen wir ständig mit Angriffen rechnen. Wenn wir dann nicht beweglich sind, können wir uns nicht wehren. Deine Trophäen sind in Sicherheit, und das muß genügen!«

»Ein somorischer Techniker hätte be­stimmt eine Möglichkeit gefunden«, erklärte Beikla bitter. »Aber du besitzt eben nicht die unvergleichliche Genialität, die uns Somorer auszeichnet. Für einen entlaufenen Sklaven hast du deine Sache sogar recht gut ge­macht!«

»Noch ein Wort …«, brüllte ich und hob die Faust.

Beikla duckte sich hastig und griff nach dem Seil, mit dessen Hilfe wir den kleinen Wagen ziehen konnten.

»Schon gut«, wehrte er kleinlaut ab. »Wenn wir erst in Somor sind, werde ich da­für sorgen, daß unsere besten Techniker dich unterrichten. Aus dir kann noch viel wer­den!«

»Es wird eine Weile dauern, bis du dein Versprechen einlösen kannst«, sagte ich langsam. »Denn bevor wir nach Somor ge­

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hen, werden wir dem Land Teghment einen Besuch abstatten.«

Der Dicke ließ das Seil, fallen und starrte mich mit offenem Mund an.

»Wie meinst du das?« erkundigte er sich fassungslos.

»So wie ich es gesagt habe. Wir gehen nach Teghment und sehen uns die Leute an, die aus dem Dunklen kamen.«

»Du bist krank, Atlan!« behauptete Beikla besorgt. »Die Sonne hat deine Gedanken verwirrt. Komm, setz dich in den Schatten. Ich werde dir etwas zu trinken bringen und deinen Kopf kühlen …«

»Das ist nicht nötig. Ich bin durchaus nor­mal. Erinnerst du dich an die beiden Frem­den, nach denen ich dich und Zickjal gefragt habe? Ich will nach Teghment, weil ich hof­fe, sie dort zu finden.«

Beiklas dünne, kurze Beine gaben nach, und er ließ sich schwerfällig ins Gras plumpsen. Verzweifelt wischte er mit seinen Froschhänden ein paar Schweißtropfen von seinem kahlen Schädel.

»Nimm doch Vernunft an, Atlan!« flehte er jämmerlich. »Ich bin noch jung und möchte nicht sterben!«

»Wer redet denn hier vom Sterben? Wel­chen Grund sollten die Leute von Teghment haben, uns umzubringen? Wir kommen in friedlicher Absicht. Wir werden mit ihnen reden, weiter nichts. Vielleicht lassen sie so­gar mit sich handeln. Stell dir vor, welchen Empfang man dir bereitet, wenn du als erster einen Bericht aus diesem Land mitbringst. Du könntest versuchen, eines der Hörner für etwas anderes einzutauschen – für eine weit wertvollere Trophäe, die dich mit einem Schlag zum berühmtesten Mann deines Vol­kes macht!«

»Ein toter Mann hat nichts von seinem Ruhm«, verkündete Beikla mit Grabesstim­me. »Ich will keine Trophäen aus Teghment. Ich will nur nach Hause. Laß uns nach So­mor gehen, Atlan! Ich verspreche dir, daß du es nicht bereuen wirst. Du kannst mein Haus haben. Das schönste Mädchen werde ich dir beschaffen, und ich werde dein Diener sein,

der dir jeden Wunsch von den Augen ab­liest.«

»Wir gehen nach Teghment!« erwiderte ich fest.

Beikla starrte mich aus seinen zahlreichen Pupillen von unten herauf an. Er sah wie ein Häufchen Unglück aus. Aber ich war fest entschlossen, meinen Willen durchzusetzen. Zu viel stand für mich auf dem Spiel.

Nach einer Weile kam Beikla zu dem Ent­schluß, daß es sinnlos war, mich umstimmen zu wollen. Er erhob sich langsam. Seine Be­wegungen wirkten müde, und er machte ganz den Eindruck eines Mannes, der mit seinem Leben abgeschlossen hat.

»Nach Teghment!« sagte er dumpf und setzte sich in Bewegung, als sei er der An­führer eines Trauermarsches. »Die Dämonen des Blauen Meeres mögen uns beschützen!«

So begann unser Marsch nach Süden. In den ersten Stunden kamen wir sehr gut

voran. Wir umrundeten den See, durchwate­ten einen seichten Bach und kamen dann wieder in den lichten Wald. Die Bäume standen weit auseinander. Es gab so gut wie gar kein Unterholz. Der Boden war hart, teilweise steinig und nur spärlich mit Gras bewachsen. Aber dann senkte sich das Ge­lände. Moorige Senken mußten umgangen werden, und immer wieder verstellte uns dichtes Gebüsch den Weg. Der Wagen, so klein und leicht ich ihn auch gebaut hatte, erwies sich allmählich als eine arge Bela­stung. Schon nach kurzer Zeit verfingen sich die Räder in den langen, zähen Zweigen ei­ner heimtückischen Kriechpflanze.

»Oje!« machte Beikla und besah sich die Bescherung. »Wir werden die ganzen Ran­ken abschneiden müssen. Weißt du was, At­lan? Während du den Wagen aus dieser Fal­le holst, suche ich uns ein paar Früchte. Von dem Dörrfleisch alleine kann ja niemand auf die Dauer bei Kräften bleiben!«

»He, bleib hier!« rief ich ihm nach, aber er war bereits hinter einer wahren Mauer von Sträuchern verschwunden. Wütend hol­te ich die Axt von der Ladefläche und schlug die Ranken ab. Aber die Pflanzen hatten sich

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mit klebrigen Fäden an das Metall geheftet, und ich mußte jedes Stück einzeln davon ab­kratzen. Als ich damit fertig war und den Karren erschöpft aus dem Bereich der Ran­kepflanze zog, tauchte Beikla freudestrah­lend wieder auf.

»Prima!« lobte er mich herablassend. »Schau dir mal diese Boljos an. Die schmecken phantastisch!«

Er legte seine Beute auf die Ladefläche und überließ es großzügig mir, den Wagen das nächste Stück zu ziehen.

»Daß du auch niemals aufpassen kannst!« schimpfte er zwei Minuten später. »Hast du keine Augen im Kopf? Jetzt sitzt der Wagen schon wieder fest. Wie soll denn das weiter­gehen, he?«

Natürlich fand er auch diesmal einen Vor­wand, sich um die Arbeit zu drücken. Nach­dem dieser Vorgang sich ungefähr zehnmal wiederholt hatte, geriet ich zu allem Über­fluß an eine Pflanze, deren Saft wie Feuer auf der Haut brannte. Beikla goß hilfsbereit Wasser aus einer Flasche über meine Hände, zielte jedoch so schlecht, daß die Hälfte da­von in meinen Stiefeln landete.

»Jetzt reicht es!« explodierte ich. »Der Karren bleibt stehen! Ich habe keine Lust mehr, mich mit diesem verdammten Ding abzuplagen, nur damit du deine Trophäen behältst!«

Beikla wich erschrocken zurück. »Das kannst du nicht machen!« klagte er

mich an. »Nach all der vielen Arbeit, die wir mit dem Wagen hatten …«

»Wir?« lachte ich höhnisch. »Du hast die ganze Zeit danebengestanden und geredet. Und seit wir unterwegs sind, hast du das Seil nicht mehr in die Hand genommen. Nein, Beikla, so geht es beim besten Willen nicht!«

»Ich werde dir ganz bestimmt von jetzt an helfen«, jammerte der Kleine verzweifelt. »Wirklich, Atlan! Nur laß den Wagen nicht einfach stehen. Ich schwöre, daß ich besser auf den Weg achten werde. Ich werde auch die Ranken beseitigen, wenn wir noch ein­mal hängen bleiben. Bitte …«

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Ich gab nach. Am Abend holte ich die zerknitterte Karte

hervor. Ich versuchte festzustellen, welche Entfernung wir inzwischen zurückgelegt hatten, aber das erwies sich als undurchführ­bar. Dieses prächtige Werk somorischer Zei­chenkunst wies nämlich weder einen Maß­stab auf, nach dem ich mich richten konnte, noch waren auffällige Geländemarken darin eingetragen. Selbst die Himmelsrichtungen stimmten nicht ganz mit der Wirklichkeit überein.

»Wenn wir die Glassteppe erreichen, wer­den wir es schon merken«, murmelte Beikla verständnislos, als ich ihn danach fragte, wie weit es bis zu diesem Gebiet noch wäre. »Verfehlen können wir sie auf keinen Fall. Außerdem – was hast du nur an der Land­karte auszusetzen? Da steht groß und deut­lich, daß dieses Gebiet bewaldet ist. Das reicht doch wohl, oder nicht? Jeder weiß schließlich, wie es in einem Wald aussieht!«

Mir gefiel das alles nicht. Anhand der Karte ließ sich nicht kontrollieren, ob wir uns wirklich auf dem Weg nach Teghment befanden. Ich war voll und ganz darauf an­gewiesen, daß der Somorer mich an mein Ziel führte. Er berührte das Thema Tegh­ment nicht mehr, und ich selbst hütete mich, das Gespräch auf diesen Punkt zu bringen. Aber meine Unsicherheit wuchs mit jedem Schritt, den wir zurücklegten. Ich traute dem Blauen nicht so recht. Obwohl er keinen Blick auf die Karte warf, schien er sehr ge­nau zu wissen, wo wir uns befanden. Er ver­riet sich durch Kleinigkeiten, wie zum Bei­spiel den Hinweis auf eine Quelle, die noch gar nicht zu sehen war.

Ich schlief in dieser Nacht sehr schlecht. Immer wieder weckten mich irgendwelche Geräusche, und jedesmal fuhr ich hoch und sah mich nach Beikla um. Aber der Kleine rührte sich nicht.

Am Vormittag des nächsten Tages verlie­ßen wir die feuchte Niederung. Dennoch ka­men wir nicht schneller voran als am ver­gangenen Tag. Der Grund dafür bestand dar­in, daß Beikla an längere Fußmärsche offen­

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sichtlich nicht gewöhnt war. Er hatte sich die Füße wundgerieben und humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht neben dem Wagen her. Wir machten mehrmals Rast, und als ich gegen Abend einen günstigen Lagerplatz entdeckte, war ich heilfroh. Ich hatte den primitiven Karren den ganzen Tag hindurch über den holprigen Boden gezo­gen, und meine Schultern schmerzten.

»Schluß für heute«, sagte ich. Beikla sah sich nachdenklich um. Mitten im Wald lagen ein paar Fels­

brocken, die uns eine gewisse Deckung bo­ten. Zwischen ihnen leuchtete feiner, wei­cher Sand. Ein paar Schritte entfernt plät­scherte ein schmaler Bach über weiße Stei­ne. Das Wasser war kristallklar und sehr kalt. Einen besseren Ort für die Nacht konn­ten wir gar nicht finden.

»Es ist ja noch nicht einmal dunkel«, maulte Beikla. »Wir sollten noch ein Stück weitergehen. Es reicht, wenn wir unsere Wasservorräte ergänzen. Außerdem schlafe ich lieber im Gras. Es ist weicher.«

In mir klingelte eine feine Alarmglocke. Der Blaue war todmüde und konnte kaum noch laufen. Warum legte er unter diesen Umständen solchen Wert darauf, den Mar­sch jetzt fortzusetzen? Ich fragte ihn nicht danach, aber er hatte meinen mißtrauischen Blick aufgefangen.

»Ich dachte ja nur, du hast es eilig«, mur­melte er schlechtgelaunt. »Aber wenn du nicht mehr weiterkannst, machen wir selbst­verständlich Pause.«

Brummend zerrte er seine Decke vom Wagen und breitete sie im Schutz der Felsen aus. Er schob höchst persönlich den Wagen an einen geschützten Platz und machte sich dann daran, Früchte zu sammeln. Ich suchte trockenes Holz und entfachte ein kleines, rauchloses Feuer. Etwas oberhalb unseres Lagerplatzes hatte sich in dem Bach eine tie­fe Stelle gebildet. Das Wasser reichte mir auch dort nur etwa bis zur Gürtellinie, aber ich war restlos verschwitzt und wollte die günstige Gelegenheit zu einem Bad wahr­nehmen. Als ich jedoch zwei große, wohlge­

nährte Fische in dem Kolk sah, war mein ur­sprünglicher Plan vorerst vergessen.

Mein größter Kummer bei dieser Wande­rung war, daß die Somorer nicht eine einzige weitreichende Waffe mitgenommen hatten. Wir besaßen jeder ein Messer, und wir hat­ten eine Axt – das war alles. Mit diesen Hilfsmitteln ließen sich die schnellfüßigen Waldtiere nicht überwältigen. Das Dörr­fleisch aus unserem Proviant besaß in etwa den Geschmack ungegerbten Leders. Bei­klas Früchte waren genießbar, aber sie lie­ferten dem Körper wenig Energie. Unter diesen Umständen lief mir bei dem Gedan­ken an saftiges Fischfleisch vom Spieß das Wasser im Munde zusammen. Die Frage, wie ich die flinken Tiere fangen sollte, löste sich auf ziemlich dramatische Weise.

Ganz langsam tauchte ich meine Hände in das Wasser. Die Fische kümmerten sich nicht um mich. Sie hatten die Köpfe gegen die Strömung gestellt, hielten mit leichten Schwanzschlägen ihre Position und schnappten nach Futterbrocken, die das Wasser ihnen zutrieb. Das änderte sich, als meine Hände in ihrem Sichtbereich auf­tauchten. Ich sah die silbernen Bäuche auf­blitzen und fühlte gleichzeitig einen stechen-den Schmerz in meinen Fingern. Wütend riß ich die Hände zurück. Die beiden Fische hatten sich festgebissen. An jeder Plana hing einer von ihnen – es war unmöglich, sie los­zuwerden. Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber bei jeder Bewegung wurden die Schmerzen größer. Feine Blutfäden rannen an meinen Händen herab. Es störte die Fi­sche überhaupt nicht, daß sie auf verlorenem Posten kämpften, weil sie sich außerhalb des Wassers befanden.

Meine wilden Flüche alarmierten endlich Beikla. Aufgeregt kam der Kleine herbeige­rannt.

»Was hast du denn jetzt schon wieder an­gestellt?« fragte er ärgerlich. »Jeder weiß doch, daß diese dummen Fische beißen. Wa­rum hast du ihnen nicht einen Zweig vor die Nase gehalten? Seine eigenen Finger als An­gelhaken zu benutzen – wirklich, Atlan, das

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hätte ich selbst dir nicht zugetraut!« Ich hätte ihm mit Wonne den dürren Hals

umgedreht, aber die Fische verhinderten den Mord. Im Todeskampf drückten sie ihre Kiefer noch fester zusammen.

»Tu endlich was!« brüllte ich den Blauen an, der interessiert die sadistischen Fische betrachtete. Beikla zuckte zusammen, hob einen Stein auf und schlug der Bestie an meinem linken Zeigefinger den Brocken ge­nau zwischen die Augen. Sofort öffnete sich das breite Maul. Der Fisch platschte auf meine nackten Füße. Beikla bückte sich blitzschnell und hob das Tier auf.

»Der ist ganz schön groß«, kommentierte er. »Selbst ein so gefräßiger Kerl wie du sollte es kaum schaffen, ihn alleine aufzues­sen!«

Zähneknirschend befreite ich meine rech­te Hand und kehrte zum Lagerfeuer zurück. Die Lust auf ein Bad war mir vorerst ver­gangen.

Nachdem ich meine schmerzenden Finger verarztet hatte, weidete ich die Fische aus und bereitete sie zum Braten vor. Sie waren tatsächlich so groß, daß sie mehrere Mahl­zeiten ergeben hätten. Beikla setzte seine Suche nach genießbaren Zutaten fort. Er kehrte freudestrahlend mit einem ganzen Arm voller Früchte zurück und setzte sich zu mir ans Feuer. Die bratenden Fische ver­breiteten einen appetitanregenden Geruch, und für den Augenblick hatte ich jedes Miß­trauen vergessen.

»Zu einem Festessen gehört das passende Getränk!« verkündete Beikla. »Ich werde uns einen wunderbaren Saft zubereiten.«

Er holte unsere Becher und begann unver­züglich mit der Arbeit. Mir fiel zwar auf, daß er heute darauf verzichtete, das Fell ab­zuladen und auszubreiten, um sich von des­sen tadellosem Zustand zu überzeugen, aber ich dachte, die Vorfreude auf die ungewöhn­liche Mahlzeit wäre daran schuld. Wir aßen und tranken, und es wurde ein sehr erfreuli­cher Abend. Beikla erzählte die unglaublich­sten Geschichten, und ich revanchierte mich, indem ich von meinen Abenteuern bei der

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Dophor-Sippe berichtete, von Gjeima und dem Bruzack, den Jansonthenern und der mißglückten Ballonfahrt.

Dann wurde ich plötzlich so müde, daß ich mich am liebsten direkt neben dem Feu­er hingelegt hätte. Mühsam wankte ich zu meiner Decke. Kurz darauf erwachte ich, weil mich etwas ungeheuer Hartes am Hin­terkopf traf. Die Finsternis vor meinen Au­gen belebte sich mit einem Gewirr greller Blitze, dann holte eine tiefe Ohnmacht mich ein.

4.

Stöhnend blinzelte ich in das grelle Son­nenlicht und rieb mir meinen schmerzenden Schädel. Nur zögernd kehrte die Erinnerung zurück. Als mir klar wurde, was in der ver­gangenen Nacht geschehen war, hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Ich war dem Somorer ahnungslos auf den Leim gegan­gen.

Ich setzte mich vorsichtig auf und stellte in Gedanken ein Sortiment ausgesuchter Flüche zusammen. Dieser blaue Giftzwerg sollte mich kennenlernen! Wenn er doch we­nigstens darauf verzichtet hätte, meinen ge­plagten Kopf mit einer weiteren Beule zu versehen!

Ich stellte fest, daß Beikla und der Wagen verschwunden waren. Das überraschte mich nicht. Beikla hatte noch immer nicht die ge­ringste Lust, Teghment kennenzulernen. Ein großer Minuspunkt für den Somorer war es in meinen Augen jedoch, daß er die gesamte Ausrüstung hatte mitgehen lassen. Ich ver­fügte nur noch über das Messer in meinem Gürtel und die Decke, auf der ich lag.

»Nicht gerade viel, wenn man in einer un­bekannten Gegend durch die Wildnis mar­schieren muß!« murmelte ich vor mich hin, erhob mich taumelnd und stattete dem Bach einen Besuch ab. Ich überzeugte mich da­von, daß keiner dieser heimtückischen Fi­sche in der Nähe war, ehe ich meinen Kopf in das eiskalte Wasser tauchte. Danach fühl­te ich mich etwas wohler.

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Beikla hatte auch die Reste der gebrate­nen Fische mitgenommen, und da ich großen Hunger hatte, ging ich auf die Suche nach eßbaren Früchten. Zum Glück hatte ich Beikla in den letzten zwei Tagen gründlich beobachtet. Ich fand genug, um das wilde Knurren meines Magens zu dämpfen.

Beikla hatte mich betäubt. Irgendeine Frucht in meinem Saft hatte dafür gesorgt, daß ich tief und fest schlief. Gut. Aber er wollte sichergehen und hatte mir deshalb beinahe den Schädel eingeschlagen. Das war gewiß keine mutige Tat, aber es vermittelte mir einige Erkenntnisse über die Psyche des Dicken.

Der Somorer scheute jedes unnötige Risi­ko. Er hatte mit seinem feigen Überfall ge­wartet, bis die Lage für ihn günstig war. Es lag ihm bestimmt nichts daran, sich mit dem Wagen durch unwegsamen Dschungel zu kämpfen. Er hatte oft genug davon gespro­chen, daß wir in der Glassteppe schnell und leicht vorankommen würden. Vermutlich lag also dieses geheimnisvolle Gebiet direkt vor uns. Der Blaue hatte sich einen guten Vorsprung gesichert. Das würde ihm jedoch wenig nützen. Ich kam auf jeden Fall schnel­ler voran.

Schon nach kurzer Zeit lichtete sich der Wald noch stärker, und bald verschwanden auch die letzten Bäume. An ihre Stelle trat hartlaubiges Gebüsch. Beiklas Spuren waren deutlich zu erkennen. Erst als sich die ersten Geröllflächen vor mir ausbreiteten, erkannte ich, daß die Verfolgung noch einige Schwie­rigkeiten mit sich bringen würde. Ich kon­zentrierte mich so stark auf die Fährte, daß ich erst im letzten Augenblick reagierte, als die fremdartigen Laute an mein Ohr dran­gen. Hastig duckte ich mich hinter einen Busch.

Vor mir lag ein schmaler Geröllstreifen, der in niedriges Gras überging. An einer Stelle waren die Halme auf einer breiten Fläche niedergewalzt, und eine dünnere Spur führte direkt zu einer Gruppe kleiner, knorriger Bäume, zwischen denen sich et­was bewegte. Unartikulierte Rufe waren zu

hören. Ich strengte meine Augen an, konnte die Wesen jedoch durch die hitzeflimmernde Luft nicht deutlich erkennen. Ich stellte nur fest, daß sie sehr groß waren und auf zwei Beinen gingen.

Plötzlich waren ähnliche Laute auch hin­ter mir zu hören. Ich zog mich vorsichtig weiter unter die dornigen Zweige zurück. Eine Gruppe urweltlicher Gestalten betrat den Geröllstreifen.

Sie waren im Durchschnitt an die drei Meter groß und von Kopf bis Fuß so be­haart, daß ich kaum erkennen konnte, wo die zotteligen Pelze, die ihnen als Kleidung dienten, begannen und ihre eigenen Haare aufhörten. Sie unterhielten sich lautstark in einer gutturalen Sprache und wirkten äußerst zufrieden. Jeder der acht Riesen schleppte einen Speer mit sich, der mindestens so dick wie mein Unterarm war, und an jedem Speer hing ein erlegtes Tier.

Von der Baumgruppe klang vielstimmiges Geschrei herüber. Die Riesen schwenkten ihre Speere und brüllten zurück. Dem Busch, in dem ich steckte, gönnten sie kei­nen Blick. Gewichtig stampften sie durch das Gras.

Ich beobachtete sie ärgerlich und fragte mich, was ich jetzt machen sollte. Die Kerle versperrten mir den Weg. Entweder umging ich sie, und dann lief ich Gefahr, Beiklas Spur zu verlieren, oder ich wartete, bis sie weiterzogen, und dann verlor ich eine Men­ge Zeit. Seit meinem Aufbruch war ich auf keine Quelle mehr gestoßen. Ich war hung­rig und durstig und hatte es sehr eilig, Beikla einzuholen, denn auf dem Karren lag alles, was ich mir jetzt wünschte.

Eben entschied ich mich dafür, den zeit­raubenden Umweg in Kauf zu nehmen, denn die Riesen entfachten zwischen den Bäumen ein großes, stark rauchendes Feuer und of­fenbarten somit die Absicht, an diesem Ort eine längere Rast einzulegen. Da bannte mich ein neues Geräusch an meinen Platz.

Dieses Schnattern kannte ich nur zu gut. Es riß dann abrupt ab, und dafür erschütterte dröhnendes Gelächter die Luft. Die Situation

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war eindeutig. Es war kaum anzunehmen, daß noch mehr

Somorer in dieser Gegend herumliefen. Das Schnattern stammte also von Beikla. Wo der Blaue war, da konnte der Wagen nicht weit sein. Der Somorer war den Riesen in die Hände gefallen, und somit waren sie auch die neuen Besitzer des Karrens und der dar­auf verpackten Kostbarkeiten.

Die Sonne stand schon ziemlich tief, ehe ich mein Versteck verlassen konnte. Mit knurrendem Magen schlich ich den vierzehn ungeschlachten Kerlen nach. Meine Stim­mung war auf dem Nullpunkt angelangt, seitdem ich stundenlang das Vergnügen ge­habt hatte, den von ihrem Lagerfeuer her­überwehenden Bratenduft genießen zu dür­fen. Es versöhnte mich auch nicht mit mei­nem Schicksal, als ich entdeckte, daß der Lagerplatz der Fremden neben einer kleinen Quelle lag. Ich konnte zwar meinen Durst stillen, aber die Pflanzen, die hier wuchsen, kannte ich nicht.

Die letzten Büsche verschwanden, und ich war gezwungen, den Riesen einen noch grö­ßeren Vorsprung zu lassen, denn in diesem freien Gelände gab es praktisch gar keine Deckung mehr. Wir hatten die Glassteppe erreicht.

*

Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen verwandelten das Land vor mir in eine von grellen Lichtreflexen durchzuckte Fläche. Halbhohes Gras bildete kleine, graugrüne Inseln zwischen blendend weißen Geröllfel­dern. Überall verteilt gab es verschieden große Stellen irgendeines Minerals, das das auftreffende Licht wie ein Spiegel zurück­warf.

Jeder Schritt wirbelte mehlfeinen Staub auf. Meine Augen tränten. Ich versuchte, auf eine der Grasflächen auszuweichen, um dem Staub zu entkommen, zog mich jedoch schnell wieder zurück. Die Gräser, die sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung be­haupteten, waren mit messerscharfen Kanten

Marianne Sydow

ausgestattet und trugen zu allem Überfluß an der Spitze kleine Widerhaken.

Als ich an eine Ansammlung des spie­gelnden Minerals kam, begriff ich, woher die Glasteppe ihren Namen erhalten hatte. Ich hob einen der glänzenden Brocken auf. Es handelte sich um ein glattes, fast völlig durchsichtiges Material. Im Innern des selt­samen Steines erkannte ich etliche Blasen und verschiedene dunkle Einschlüsse. Ich hatte diese Art von »Steinen« schon früher gesehen, brauchte jedoch eine Weile, um auf den richtigen Gedanken zu kommen, weil mir ihr Vorhandensein an diesem Ort so völ­lig unwahrscheinlich vorkam.

Es handelte sich um simples Glas, ge­schmolzen unter sehr hohen Temperaturen und anschließend zu diesen glatten Brocken erstarrt. Genau solche Glasklumpen fand man nach atomaren Explosionen.

Gegend Abend tauchte weit voraus ein dunkler Fleck auf. Dort schien es Felsen oder eine Baumgruppe zu geben – die Um­risse verschwammen in der flimmernden Luft. Die Spuren führten schnurgerade dar­auf zu. Als ich näherkam, sah ich einen dün­nen Rauchfaden aufsteigen. Die Riesen hat­ten ihr Nachtlager erreicht.

Ich wartete, bis es dunkel genug gewor­den war. Von einem der letzten Bäume hatte ich einen Ast abgebrochen und ihn zu einer einfachen Keule verarbeitet. Gegen die Waf­fen der Riesen wirkte sie wie ein Kinder­spielzeug, und auch mein Messer war für einen offenen Kampf gegen die Giganten nicht geeignet. Mein Durst wuchs schon wieder, und in mir brodelte eine gesunde Wut auf den Somorer, dem ich das alles zu verdanken hatte.

Düster und drohend ragten endlich ein paar Felsen vor mir auf. Ich hörte die Stim­men der Fremden und schlich mich vorsich­tig an sie heran. Ein leichter Wind kam auf und wehte mir den Duft gebratenen Flei­sches entgegen. Die Kerle aßen also schon wieder!

Ein schwacher Lichtschimmer zwischen zwei Felsblöcken wies mir den Weg. Die Jä­

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ger hatten keine Wache aufgestellt, und den Geräuschen nach zu urteilen, war jenseits des steinernen Schutzwalls gerade ein Fest­mahl im Gange. Millimeterweise schob ich mich vorwärts und spähte um die Ecke. Die bärtigen Gestalten hockten im Kreis um das Feuer und waren emsig damit beschäftigt, sich unseren Proviant einzuverleiben. Der Karren stand etwas abseits unter einem dür­ren Busch, der direkt aus dem Felsen zu wachsen schien. Unsere beiden Bündel la­gen noch auf der Ladefläche, alles andere häufte sich vor den schmatzenden Riesen auf.Als einer der Burschen eine Feldflasche ansetzte und das Wasser in sich hinein­gluckern ließ, hätte ich fast die Beherr­schung verloren.

Dann entdeckte ich Beikla. Der arme Kerl hatte seinen eigenwilligen

Ausflug bitter zu büßen. Er war mit Stricken an einen in den Boden gerammten Speer ge­fesselt und durfte zuschauen, wie seine Fein­de speisten. Er war den Riesen mit seinem Protestgeschrei wohl zu sehr auf die Nerven gefallen, denn man hatte ihn geknebelt. Ab und zu drangen quäkende Laute unter dem schmutzigen Tuch hervor, und die Pupillen des Augenbandes funkelten zornig.

Ich zog mich lautlos aus der unmittelba­ren Nähe der Jäger zurück, verkroch mich in einer Felsspalte und wartete darauf, daß die Kerle sich zur Ruhe begaben. Es dauerte ei­ne kleine Ewigkeit, bis es hinter den Felsen still wurde. Ich sondierte die Lage und stell­te erfreut fest, daß auch jetzt keiner der Gi­ganten Wache stand.

Das Feuer brannte noch. Wie unförmige Steine lagen die Fremden im Sand. Einer hatte seinen rechten Arm liebevoll um den Wagen gelegt, und ein anderer benutzte das Fell des Bullen als wärmende Decke. Die übrigen Trophäen hatten ebenfalls ihren Be­sitzer gewechselt, aber zum Glück hatte man unsere Bündel noch nicht geöffnet. Beikla war wach. Er starrte seine Bezwinger wü­tend an und zerrte wild an seinen Fesseln. Als er mich sah, stieß er einen überraschten Laut aus. Hastig hob ich den Finger an die

Lippen. Zum Glück verstand der Somorer meine

Warnung. Er deutete zornig mit den Augen auf das Fell und zerrte noch nachhaltiger an dem Strick, der um seine Arme lag. Mir war klar, daß er trotz der Gefahr, in der wir schwebten, darauf bestehen würde, seine Kostbarkeiten in Sicherheit zu bringen. Ich war nicht gewillt, mich durch seine Unver­nunft ans Messer liefern zu lassen.

Ich ging betont sanft mit Beikla um, denn verletzt nützte er mir wenig. Also tippte ich ihm mit meiner improvisierten Keule nur ganz vorsichtig auf den kahlen Kopf, als er dachte, ich würde ihn von seinen Fesseln be­freien. Er gab keinen Laut von sich. Erst als ich mich von der Wirksamkeit dieser Vor­sichtsmaßnahme überzeugt hatte, löste ich die zahlreichen Knoten und wickelte den Blauen aus dem Kokon von Stricken. Den Knebel ließ ich vorerst noch an seinem Platz. Ich trug Beikla an den schlafenden Jä­gern vorbei aus dem kleinen Felskessel und kehrte dann zurück, um unsere wertvolle Ausrüstung zu bergen.

Der baumlange Kerl, der unseren Wagen so liebgewonnen hatte, versperrte mir den Weg. Ich konnte ihn nicht umgehen, ohne dabei einem anderen Urmenschen auf die Finger zu treten. Also stieg ich vorsichtig über die Beine des Giganten hinweg. Kaum hatte ich das Hindernis überwunden, da wälzte der Mann sich unruhig auf die andere Seite. Ein langer Arm wischte durch die Luft und versetzte mir einen Schlag auf das ver­längerte Rückgrat, der mich von den Beinen riß. Ich wollte neben den Wagen, kauerte mich hinter ein Rad und wartete mit ange­haltenem Atem. Sekundenlang blieb alles ruhig, dann ließ ein wildes Blubbern, mir das Blut in den Adern stocken. Ein zischen-des Pfeifen folgte, dann kam wieder das Blubbern, und nachdem der ganze Vorgang sich einige male rhythmisch wiederholt hat­te, wußte ich Bescheid.

Eine halbe Minute später verließ ich auf Zehenspitzen das Lager der Riesen. Inzwi­schen hatten noch zwei andere zu schnar­

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chen begonnen. Als ich unsere Bündel ne­ben Beikla absetzte, erkannte ich, daß der Somorer bereits aufgewacht war. Er grunzte und quakte zornig vor sich hin, während er sich vergeblich bemühte, den Knoten des Knebels auf seinem Hinterkopf zu lösen. Er sah die Bündel, stellte fest, daß kein einziges Stück von dem Bullen in meiner Fracht ent­halten war, und drehte durch. Ich erwischte ihn knapp zwei Meter vor dem Lager am Kragen und hielt ihn fest. Er wand sich wie eine Katze, versuchte zu kratzen und trat mit seinen dünnen Beinchen nach mir, aber ich schleifte ihn unerbittlich von der Felslücke fort.

»Paß gut auf, Beikla!« zischte ich, als wir uns weit genug entfernt hatten. »Entweder nimmst du jetzt Vernunft an und kommst mit, oder ich gebe dir eins über den Schädel und lasse dich liegen. Die Riesen werden sich freuen!«

Hinter dem Tuch ächzte es entsetzt, dann kam eine Pause, in der der Somorer einge­hend über mein Angebot nachdachte. Um seine Entschlußfreudigkeit anzuregen, hob ich demonstrativ meine Keule. Er duckte sich ängstlich und gab mir durch Gesten zu verstehen, daß er einverstanden war. Den Knebel nahm ich ihm trotzdem erst ab, als die Jäger uns bestimmt nicht mehr hören konnten. Das war auch ganz gut so, denn al­len guten Vorsätzen zum Trotz schimpfte der Blaue fürchterlich über den schweren Verlust, der ihn getroffen hatte. Ich hob die beiden Traglasten auf und marschierte da­von.

»Du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen!« beschwerte er sich weinerlich, als er mich eingeholt hatte. »Ohne Ausrü­stung bin ich in dieser Wildnis verloren!«

»Was du nicht sagst!« gab ich bissig zu­rück. »Das ist für mich tatsächlich eine völ­lig neue Erkenntnis!«

Beikla brauchte ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen.

»Es tut mir leid, Atlan!« behauptete er dann. »Wirklich! Es war nicht recht von mir, dich dort am Bach niederzuschlagen und den

Marianne Sydow

Wagen mitzunehmen. Verzeih mir!« »Du vergißt, daß du mich außerdem auch

noch betäubt hast.« »Das hast du gemerkt? Du bist wirklich

klug, das muß man dir lassen. Aber sieh mal, ich wollte doch nur nach Hause. Jetzt ist ja alles in Ordnung. Unsere Trophäen sind weg. Wenn wir nichts mehr haben, was wir den Unheimlichen von Teghment anbie­ten können, brauchen wir gar nicht erst hin­zugehen. Sie würden uns doch nur die Keh­len durchschneiden. Jetzt, wo es endlich nach Somor geht, habe ich keinen Grund mehr, dir davonzulaufen.«

»Es geht immer noch nicht nach Somor«, bemerkte ich sanft.

Schweigen. »Warum nicht?« fragte Beikla etliche Me­

ter weiter fassungslos. »Weil ich nach Teghment will. Und ich

werde dorthin gehen, ob es dir nun paßt oder nicht.«

»Dann geh!« fauchte Beikla wütend. »Renn in dein Verderben, du Narr. Aber ich werde dich auf keinen Fall begleiten!«

»Das brauchst du ja auch gar nicht.« »Du läßt mich frei? Ich darf nach Somor

zurückkehren?« »Natürlich«, nickte ich freundlich. »Du

kannst gehen, wohin es dir paßt.« Beikla stieß einen erfreuten Laut aus,

dann streckte er die Hand aus. »Gib mir mein Bündel!« forderte er. »Warum?« wollte ich mit gespieltem Er­

staunen wissen. Jetzt wußte der Somorer überhaupt nicht mehr, woran er war. Es tat mir beinahe leid, daß ich ein so schmutziges Spiel mit ihm treiben mußte, aber ich erin­nerte mich deutlich genug an seine Hinter­list. Die Beule auf meinem Kopf schmerzte immer noch.

»Ich kann doch …«, begann der Dicke stockend.

»… nicht ohne Ausrüstung weitergehen«, setzte ich seinen Satz fort. »Das weiß ich ja schon alles. Siehst du, Beikla, jedes Ding hat seine zwei Seiten. Du hast mich ganz ge­mein hintergangen. Vorhin hätte ich ebenso­

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gut nur die beiden Packen mitnehmen kön­nen. Welchen Grund hatte ich denn, ausge­rechnet dir zu helfen? Aber ich bin eben an­ders als du. Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um dich zu retten. Was ist dein Dank dafür? Du verlangst, daß ich mit dir teile und dich ziehen lasse. Nein, mein Lie­ber! Du kannst gehen, wohin du willst, aber diese beiden Bündel sind meine Beute. Wenn du sie haben willst, wirst du mit mir kämpfen müssen. Und noch einmal werde ich es dir nicht so einfach machen!«

Er starrte mich lange Zeit fassungslos an, dann trottete er wortlos weiter.

Der Himmel war klar, und die Sterne spendeten genug Licht, um uns die gefähr­lichsten Hindernisse erkennen zu lassen. Ich achtete darauf, daß wir uns in möglichst ge­rader Richtung von dem Lager der Jäger ent­fernten und dabei nicht ausgerechnet über weiche Sandflächen liefen. Bis zum Mor­gengrauen hatten wir eine ganz ordentliche Strecke zurückgelegt. Wir fanden eine fla­che Bodensenke, die uns Schutz vor Ent­deckung und dem Wind bot, der in der Nacht aufgekommen war. Erschöpft breite­ten wir unsere Decken auf dem harten Bo­den aus, gönnten uns ein paar Bissen aus un­serem nun arg zusammengeschrumpften Proviant und einen Schluck Wasser und ge­nossen die Wohltat, die Beine auszu­strecken.

Die Situation war verzwickt. Solange Bei­klas Verhalten mir nicht einwandfrei bewies, daß er von nun an zu mir hielt, mußte ich ständig auf der Hut sein. Beikla dagegen war zum Umfallen müde, wagte jedoch ebenfalls nicht zu schlafen, denn er hatte Angst, ich könnte mich davonmachen.

»Du meinst es ernst, nicht wahr?« erkun­digte er sich nach einer Weile.

Ich schrak aus dem Dahindösen auf. »Ja.« Beikla schniefte traurig. »Also gut«, seufzte er. »Ich komme mit.

Vielleicht ist es sogar gut so. Ein Bericht über Teghment und seine Bewohner wird mich tatsächlich berühmt machen. Mag sein,

daß ich Somor niemals wiedersehe. Aber ohne das Bündel schaffe ich es ohnehin nicht. Du kannst dich auf mich verlassen!«

Ich nickte müde. Noch traute ich dem Frieden nicht, aber warum sollte ich dem Kleinen das mitteilen? Ich beschränkte mich darauf, die beiden Riemen, mit denen ich beide Traglasten gesichert hatte, um meine Handgelenke zu winden.

*

»Was hatten die Riesen eigentlich mit dir vor?« fragte ich, als wir uns gegen Mittag des nächsten Tages wieder auf den Weg machten.

Die höhersteigende Sonne hatte die Senke in einen Backofen verwandelt, und die Hitze hatte uns vertrieben. Über die Steppe wehte immer noch ein leichter Wind, der zwar an­genehm kühlte, dafür aber auch das Wasser aus unseren Körpern saugte. Unsere Reser­veflaschen waren fast leer. Beikla hatte mir versichert, es gäbe Quellen in dieser Einöde, und eine davon sei ganz in der Nähe.

»Sie wollten mich braten«, erklärte Beikla empört. »Diese Kerle haben keine Ahnung von Kultur. Stell dir vor, sie wollten mich schlachten. Aber ich habe ihnen eingeredet, es wäre besser, mich lebend in ihr Hauptla­ger zu bringen, weil frisches Fleisch bei die­ser Hitze zu leicht verdirbt. Das sahen sie ein, aber glaubst du, sie hätten mir etwas zu essen gegeben? Bei dieser Behandlung wäre ich als ungenießbares Skelett am Ziel ange­kommen.«

Ich mußte lachen. Beikla plapperte mun­ter weiter, und nach und nach erfuhr ich die ganze Geschichte. Der Somorer versuchte zwar, seine eigene Klugheit herauszustellen, aber er schnitt nicht gut dabei ab. Er war den Riesen völlig ahnungslos in die Falle gegan­gen.

»Was sind das überhaupt für Leute?« er­kundigte ich mich, als der Redestrom all­mählich versiegte. »Du sagtest doch, es gibt hier keine Eingeborenen!«

»Ich wußte nicht, daß sie sich jetzt hier

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herumtreiben«, murmelte Beikla schuldbe­wußt. »Sie leben nur an den Grenzen der Glassteppe. Sie sind wie Tiere, ziehen um­her und bleiben niemals lange an einem Ort. Sie essen buchstäblich alles, und manchmal veranstalten sie auch Jagden auf die Glasdä­monen. Ihre einzigen Feinde sind die Zra­dus. Die Barbaren taugen zwar nicht als Sklaven, weil sie zu dumm sind, aber sie ha­ben den Sklaven Jägern schon oft Ärger ge­macht. Seitdem verfolgt man sie.«

»Da du gerade von der Glassteppe sprichst«, kam ich auf ein anderes Thema, »was weißt du eigentlich über dieses Land?«

»Wenig«, behauptete Beikla. »Aber es gibt eine Legende. Vor langer Zeit soll hier ein gewaltiger Palast gestanden haben, der nur aus Glas gebaut war. Es war ein prächti­ges und reiches Land mit vielen Menschen und großen Viehherden. Aber der Wahnsin­nige Motros, der über dieses Volk herrschte, wurde übermütig. Er schickte eine Expediti­on nach Teghment, weil er glaubte, er könne sich mit den Bewohnern dieses geheimnis­vollen Landes vergleichen. Als Strafe für seine Neugier zerstörten die, die aus dem Dunkeln kamen, seinen Palast. Der Wahn­sinnige Motros verging in einer ungeheuren Leuchterscheinung. Der Palast zersprang, und die Splitter aus seinen Wänden bedeck­ten das ganze Land. Sie machten den Boden unfruchtbar, und der Reichtum der Motrorer verging. Sie selbst wurden in Dämonen ver­wandelt, die ruhelos durch ihre frühere Hei­mat irren.«

Ich ließ meine Blicke über das verwüstete Land wandern und nickte langsam. Ein Teil dieser Geschichte mochte stimmen. Aber vieles war auf mystische Weise gedeutet, weil das notwendige Wissen für eine logi­sche Erklärung fehlte.

Hier hatte zweifellos eine Atomexplosion stattgefunden. Die Teghmenter verfügten al­so über Waffen, durch die sie den in techni­scher Hinsicht noch sehr primitiven planeta­ren Völkern überlegen waren. Ein Grund mehr für mich, mit ihnen in Verbindung zu treten.

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Die Glasdämonen hatte ich bereits ken­nengelernt. Wenn ich ihr Aussehen mit Bei­klas Geschichte in Verbindung brachte, dann stand fest, daß es sich bei ihnen um mutierte Nachkommen der ehemaligen Bevölkerung handelte. Die Riesen mochten ebenfalls zu diesem hochzivilisierten Volk gehört haben. Sie hatten sich zwar äußerlich nicht stark verändert, waren jedoch auf den kulturellen Stand von primitiven Nomaden zurückge­sunken.

»Da vorne ist die Quelle«, machte Beikla mich auf einen smaragdgrünen Flecken auf­merksam, der wie ein Fremdkörper in der staubigen Öde leuchtete.

»Nicht so eilig!« warnte ich den Kleinen. »Laß uns erst einmal nachschauen, ob diese Oase nicht schon andere Besucher hat.«

Beikla blieb stehen, als wäre er gegen ei­ne Mauer gerannt.

»Du meinst, es gibt dort Glasdämonen?« erkundigte er sich ängstlich.

»Ich weiß es nicht«, machte ich ihm klar. »Aber es kann doch sein, nicht wahr? Auch diese Wesen kennen doch die wenigen Quel­len in ihrem Gebiet!«

»Dann müssen wir verdursten«, behaupte­te Beikla düster. »Diese Ungeheuer sind noch schlimmer als, die Riesen. Sie kennen nicht einmal das Feuer. Wenn sie uns erwi­schen, fressen sie uns roh.«

»Erst müssen sie uns haben«, beruhigte ich ihn. »Wir warten hier, bis es dämmerte. Dann schleiche ich mich näher heran.«

Wir suchten uns einen Platz, von dem aus wir die Umgebung im Auge behalten konn­ten, ohne deswegen selbst von weither gese­hen zu werden. Im Laufe unserer Wande­rung hatte ich immer wieder nach den Rie­sen Ausschau gehalten. Es gab keine Anzei­chen dafür, daß wir verfolgt wurden. Beikla schien in diesem Punkt die Wahrheit zu sa­gen. Er behauptete nämlich, diese Barbaren würden sich nur dann in den Herrschaftsbe­reich der Glasdämonen wagen, wenn akuter Nahrungsmangel sie dazu zwang.

Die kleine Oase erweckte nicht den An­schein, als wimmelte es in ihr von Mutanten.

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Nichts rührte sich. Die Stille machte mich nervös. Es gab fast kein Geräusch in der Steppe. Nur manchmal schabten leise die Schuppen einer Schlange über die glühend heißen Steine. Die harten Grashalme rieben sich im Wind aneinander und erzeugten ein dünnes Sirren.

Die Dämmerung kam, und die Tempera­tur sank innerhalb einer halben Stunde bis auf einen Wert nahe dem Gefrierpunkt. Ich ließ Beikla bei den Bündeln zurück. Er wür­de sich nicht davonmachen, denn ich hatte die Feldflaschen bei mir.

Als ich die ersten Büsche erreichte, kauer­te ich mich unter die Zweige und lauschte. Ich vernahm ein leises Rascheln und packte mein Messer fester. Ein dunkler Schatten huschte über die vor mir liegende freie Flä­che und tauchte hastig im Gesträuch unter. Das Rascheln entfernte sich ein Stück, dann blieb es kurze Zeit still. Gleich darauf hörte ich ein leises Schlürfen.

Ich nickte zufrieden. Dieses sechsbeinige Tier gab mir die fast völlige Gewißheit, daß ich das einzige denkende Wesen in der Oase war. Beikla hatte mir versichert, daß die Glasdämonen einen so starken Geruch aus­strömten, daß selbst die Somorer sie auf etli­che Meter Entfernung wittern konnten. Das Tier, das jetzt seinen Durst stillte, hätte die Jäger also rechtzeitig bemerkt. Trotzdem un­tersuchte ich die Umgebung der Quelle, ehe ich zu Beikla zurückkehrte.

»Die Luft ist rein«, teilte ich ihm mit. »Komm!«

Wir blieben vorsichtig. Nur einer von uns trank, während der andere Wache hielt. Dann füllten wir unsere Feldflaschen und zogen uns leise zurück. Erleichtert setzten wir unseren Weg durch die Steppe fort. Wir hatten für zwei Tage Wasser, vorausgesetzt, wir gingen sparsam mit dem kostbaren Naß um. Bis dahin würden wir die nächste Quel­le erreichen, von der – laut Beikla – die Grenze Teghment nur noch einen Tagesmar­sch entfernt lag.

»Wir werden noch etwa eine Stunde ge­hen«, entschied ich. »Dann suchen wir uns

einen Platz für die Nacht.« Beikla schrie erschrocken auf, und ich

drehte mich um. Keine fünf Meter hinter uns war ein dunkler Felsbrocken zum Leben er­wacht. Wir waren trotz aller Vorsicht auf einen Glasdämon gestoßen.

5.

Das Wesen hatte uns zweifellos schon lange beobachtet. Wie ein Raubtier schoß es hoch und stürzte sich auf uns.

Beikla war vor Angst wie erstarrt. Ich riß ihn im letzten Moment zur Seite, und der er­ste Schlag des Mutanten ging fehl. Der schwere Körper wirbelte mit erstaunlicher Geschicklichkeit um seine Achse, dann stand der Fremde vor uns, geduckt und wachsam. In der Größe konnte er sich mit den riesigen Jägern durchaus messen, und im schwachen Sternenlicht wirkte er massig und schwer.

Vorsichtig zog ich mein Messer aus dem Gürtel. Der Mutant bemerkte die Bewegung und sprang. Aber ehe er mich erreichte, war ich ausgewichen, und wieder rannte das We­sen ins Leere. Beikla hatte sich inzwischen soweit von seinem ersten Schrecken erholt, daß er mit einem kurzen Quietscher hinter einem Felsbrocken verschwand.

Der Mutant schenkte dem Kleinen vorerst keine Aufmerksamkeit. Ich war eine größere Beute für ihn. Mit wiegenden Schritten kam er näher. Die Arme hatte er leicht abgewin­kelt. Seine gewaltigen Hände bewegten sich unruhig.

Wachsam verfolgte ich jede seiner Bewe­gungen. Als er zum nächsten Sprung ansetz­te, war ich schon wieder außer Reichweite. Er stieß ein unwilliges Grunzen aus und bückte sich blitzschnell. Ein kopfgroßer Stein flog auf mich zu. Ich duckte mich und warf mich gleichzeitig zur Seite. Der Mu­tant, der seinem Wurfgeschoß nachgesetzt hatte, konnte nicht schnell genug abbremsen und rutschte auf dem Geröll aus. Aber die harte Landung reizte ihn nur noch mehr.

Mit einem Knurren rannte der mordlüster­

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ne Kerl auf mich zu, und diesmal war die Zeit zu knapp. Ich brachte meinen Kopf in Sicherheit, fing jedoch einen Schlag auf die linke Schulter ein. Der rasende Schmerz be­täubte mich fast. Ich rächte mich, indem ich mit voller Wucht nach seinem Schienbein trat. Er stolperte nur kurz.

Bei der nächsten Runde dieses Kampfes brachte ich mein Messer zum Einsatz. Ich stach nach dem Schenkel des Mutanten, aber die scharfe Klinge glitt ab. Die Haut dieses Wesens war wie ein Panzer. Damit war ich um eine Illusion ärmer. Auch die Reaktio­nen des Fremden waren verhältnismäßig gut. Auf einen Nahkampf, in dem ich meine Da-gor-Kenntnisse an den Mann bringen konn­te, durfte ich mich in diesem Fall nicht ein­lassen, und somit stand die Partie ziemlich schlecht für mich.

Als er das nächstemal aus dem Gleichge­wicht kam, griff ich seine eigene Taktik auf und warf ihm einen schweren Stein an den Kopf. Der Mutant schüttelte sich kurz, sprang dann ungerührt auf und setzte den Kampf fort.

»He, Beikla!« schrie ich wütend, während ich unter der riesigen Faust wegtauchte. »Wo ist dieser Kerl verwundbar?«

Der Dicke schwieg sich aus. Mein linker Arm war fast unbrauchbar.

Ein dumpfer Schmerz strahlte von der Schulter aus. Ich war nahezu am Ende mei­ner Kräfte. Noch einmal gelang es mir, den Mutanten zum Stolpern zu bringen, und jetzt setzte ich alles auf eine Karte. Bevor er sich aufrichten konnte, sprang ich auf seinen Rücken. Ich spürte ein Haarbüschel zwi­schen den Fingern und krallte mich daran fest. Ein schmerzerfülltes Stöhnen war die Antwort.

Das Messer glitt am Nacken des Fremden ab. Die Panzerung schien seinen ganzen Körper zu umhüllen. Ich holte von neuem aus, da schüttelte sich der Gigant wie ein Tier, das sich von einem lästigen Reiter be­freien will. Ich schlang einen Arm um den Hals meines Gegners. Die Luft drückte ich ihm damit nicht ab, im Gegenteil, meine

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Finger glitten hilflos über die glatte, schup­pige Haut. Verzweifelt stieß ich mit dem Messer auf den Kopf des Mutanten ein, aber das störte ihn anscheinend wenig, denn er langte mit einer Hand über den Rücken und bekam mich an der lädierten Schulter zu packen. Der Schmerz raubte mir fast die Be­sinnung. In einem puren Reflex jagte ich das Messer nach vorne – und diesmal fand die Klinge ihr Ziel.

Ein wildes Brüllen ließ die Luft erzittern. Ich wurde davongeschleudert und überku­gelte mich im Gras. Wie tausend feine Mes­ser zerschnitten die Halme meine Haut über­all dort, wo ich nicht geschützt war. Ich biß die Zähne zusammen, um nicht ebenfalls zu schreien und hechtete auf das Geröll zurück. Wie ein wandelnder Turm stampfte der Mu­tant auf mich zu, und ich dachte, mein letz­tes Stündlein hätte geschlagen. Aber der Glasdämon hatte genug von mir. Er raste an mir vorbei in die Steppe und brüllte seinen Schmerz hinaus.

Ich blieb keuchend liegen. Es dauerte lan­ge, bis ich die Kraft fand aufzustehen. Tau­melnd gelangte ich zu dem Felsen, hinter dem Beikla den Ausgang des Kampfes abge­wartet hatte und ließ mich neben den Blauen fallen. Meine Schulter tat teuflisch weh, und erst jetzt spürte ich die zahlreichen Prellun­gen und sonstigen kleinen Verletzungen, die ich davongetragen hatte. Die Schreie des Mutanten verloren sich allmählich in der Ferne.

»Ist er weg?« wisperte eine Stimme an meinem Ohr.

»Es scheint so«, murmelte ich apathisch. »Du hast ihn ins Auge getroffen«, stellte

Beikla fest, und seine Stimme klang schon wesentlich mutiger. »Das hast du sehr gut gemacht, Atlan. Ich selbst hätte es nicht bes­ser gekonnt.«

Ich war zu erledigt, um diesem Giftzwerg die passende Antwort zu geben.

»Zum Glück war es nur ein Einzelgän­ger«, schwatzte der Somorer weiter. »Wären zwei von ihnen dagewesen, so hätte ich selbstverständlich eingegriffen. Aber ich ha­

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be gleich gesehen, daß es sich um ein schwächliches Exemplar handelte, mit dem du spielend fertig werden konntest. Natür­lich war es dumm von dir, so lange zu war­ten, ehe du richtig losgelegt hast. Aber laß nur, bald wirst du genug Übung haben …«

Ich hatte genug. Es war einfach nicht mehr fair. Ich legte die letzte Kraft, die ich noch besaß, in den Schlag, mit dem ich Bei­kla von seinem bequemen Sitzplatz beför­derte. Der Somorer rollte quietschend einen kurzen Abhang hinunter und schimpfte em­pört von unten herauf. Ich schloß die Augen und zählte ganz langsam bis zehn. Dann hat­te ich den Wunsch, diesem unverschämten Kerl ein für allemal die dürre Kehle zuzu­drücken, überwunden.

Mühsam raffte ich mich auf und sammelte die Bündel ein. Mein Mund war knochen­trocken, und ich gönnte mir einen winzigen Schluck Wasser. Dann erst zog ich den So­morer aus den stacheligen Ranken heraus, zwischen denen er sich verstrickt hatte.

*

Die zweite Begegnung mit den Glasdä­monen fand am nächsten Tag statt und ver­lief zum Glück weniger kräftezehrend. Wir sahen die kleine Gruppe von etwa zehn die­ser Wesen früher als sie uns und schafften es daher, ihnen aus dem Wege zu gehen. Im­merhin verschaffte mir der Anblick dieser Gestalten eine ungefähre Vorstellung davon, gegen wen oder was ich in der Wacht ge­kämpft hatte.

Auch die Mutanten waren im Durch­schnitt etwa drei Meter groß, und ihre Schul­terbreite fiel dementsprechend aus. Einige waren durchgehend behaart, andere hatten eine geschuppte Haut. Die gewaltige Größe und der wuchtige Körperbau stellten aller­dings auch schon das einzige Merkmal dar, das allen Glasdämonen gemeinsam war. Die Strahlung hatte die absonderlichsten Gestal­ten geschaffen, und ich dankte sämtlichen unbekannten Göttern dieses Planeten, daß ich nicht gegen einen Feind mit zwei oder

mehr Armpaaren hatte kämpfen müssen. Die alptraumhaften Wesen verschwanden

in der Ferne. Sie hielten auf die Quelle zu, von der wir kamen. Ich hoffte, daß sie dort ihren verletzten Artgenossen finden und ihm helfen würden. Die Natur hatte diese Wesen grausam genug bestraft, und ich war fest entschlossen, keines von ihnen zu töten, falls ich nicht dazu gezwungen war.

Beikla lachte mich aus. »Das sind doch nur Tiere«, meinte er ab­

fällig. »Sieh sie dir an: Sie laufen nackt durch die Gegend und fressen, was ihnen unter die Finger kommt. Sie kennen kein Feuer, keine wirkliche Sprache, bauen keine Häuser, und was das Monstrum betrifft, mit dem du gekämpft hast, so will ich dir deine Illusionen rauben. Wenn diese Burschen ihn finden und er sich bis dahin nicht erholt hat, ist sein Schicksal besiegelt. In dieser Ge­gend darf man es sich nicht erlauben, auch nur den kleinsten Brocken Fleisch verkom­men zu lassen. In besonders harten Jahren fressen sie sogar ihre eigenen Kinder!«

Ich verzichtete auf eine Antwort. Beiklas Vortrag erweckte in mir weniger Abscheu gegen die Mutanten als gegen die Somorer und alle anderen Stämme, die in der Umge­bung der Glassteppe wohnten. Die Nach­kommen der strahlenverseuchten Ureinwoh­ner konnten nichts für ihr Schicksal. Würde man sie in Ruhe lassen, so wären sie be­stimmt auch imstande, sich allmählich ein besseres Leben aufzubauen. Statt dessen jag­te man sie und machte sie sogar zu Sklaven, die der Belustigung sadistischer Häuptlinge dienten. Wer so handelte oder Vorgänge die­ser Art auch nur stillschweigend duldete, der sollte über Kultur lieber nicht zu laut reden!

Noch zweimal wichen wir dahintrotten­den Gruppen dieser bedauernswerten Krea­turen aus, dann erreichten wir die nächste Quelle. Auch sie war verlassen. Ich wunder­te mich darüber, bis ich mir die besondere Situation der Glasdämonen vergegenwärtig­te.

Die Quellen waren für sie die Garantie zum Überleben. Das wußten aber auch jene,

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die sich auf die Jagd nach Sklaven speziali­siert hatten. Die Mutanten mußten damit rechnen, daß jede Wasserstelle ihnen zur Falle wurde. Unter diesen Umständen ein Lager innerhalb einer Oase zu errichten, war der sicherste Weg in die lebenslange Gefan­genschaft.

Eineinhalb Tage später tauchte vor uns ein dunkler Streifen am Horizont auf.

»Das ist Teghment!« sagte Beikla aufat­mend. »Jetzt haben wir es fast geschafft.«

»Ich dachte, auch Teghment ist in erster Linie eine ausgedehnte Steppe«, wendete ich mißtrauisch ein.

»Das stimmt auch«, behauptete Beikla selbstsicher. »Aber es gilt nur für das Innere des Landes. Die Grenze wird durch dichten Dschungel und stellenweise auch durch un­überwindliche Felswände gebildet. In den Urwäldern gibt es zahlreiche Ungeheuer, die jeden Fremden sofort zerfleischen. So haben sich die Unheimlichen dieses Landes vor der Rache der Glasdämonen geschützt.

Sie müßten ja sonst ständig damit rech­nen, von diesen Barbaren überfallen zu wer­den.«

Das klang logisch. Überhaupt war meine Wachsamkeit gegenüber dem Somorer all­mählich abgeklungen. Er schien sich mit sei­nem Schicksal abgefunden zu haben und lie­ferte mir keinen Anhaltspunkt mehr für einen Verdacht. Zudem glaubte ich dem Sonnenstand entnehmen zu dürfen, daß wir uns immer weit genug nach Westen gehalten hatten.

Der Gedanke an den kühlen Schatten der Bäume ließ uns flotter ausschreiten. Noch brannte die Sonne ungehindert auf uns her­ab. Unsere Kehlen kratzten von dem Staub, den wir ständig einatmeten. Wir hatten uns zeitweilig Tücher vor den Mund gebunden, aber dadurch wurde die Hitze nur noch uner­träglicher, und der Staub drang trotzdem in Mund und Nase. So hatten wir uns darauf beschränkt, den Mund so selten wie möglich aufzumachen. Daher war unsere Wanderung in fast vollkommenem Stillschweigen ver­laufen.

Marianne Sydow

Jetzt wurde Beikla redselig. Er berichtete die haarsträubendsten Einzelheiten über die Bestien, die uns erwarteten, und als wir am Nachmittag auf eine geschützte Stelle stie­ßen, meinte er:

»Hier sollten wir eine ausgiebige Rast einlegen. Wir werden morgen alle unsere Kräfte brauchen, um die vielen gefährlichen Kämpfe zu überstehen.«

Ich warf einen langen Blick auf den Dschungel, der inzwischen nahe genug war, um einige Einzelheiten erkennen zu lassen. Es war so viel Zeit vergangen, seit ich meine Suche aufgenommen hatte. Es drängte mich, weiterzugehen und endlich greifbare Resul­tate zu erhalten, aber ich sah ein, daß es bes­ser war, mit frischen Kräften ans Werk zu gehen.

Das stimmt, gab das Extrahirn mir recht. Außerdem sieht es nicht so aus, als ob es sich nur um einen schmalen Waldstreifen handelt. Die Gefahr, mitten im Dschungel von der Nacht überrascht zu werden, ist zu groß.

Das gab den Ausschlag. Ich willigte ein und bezwang meine Ungeduld. Wir richteten uns im Schutz einiger großer Steine für die Nacht ein, untersuchten sorgfältig die Um­gebung, um vor unangenehmen Überra­schungen sicher zu sein, und tranken etwas von unserem kostbaren Wasser. Die Fla­schen waren fast leer.

»Wir werden sie bald wieder füllen kön­nen«, versprach Beikla. Dann setzte er dü­ster hinzu: »Falls uns die Bestien nicht vor­her verspeisen!«

Irgend etwas machte mich stutzig. Ich konnte meinen Verdacht nicht formulieren, es war mehr eine verschwommene Ahnung. Aber ich traute Beikla immer noch nicht ganz. Erst als ich sicher war, daß der Somo­rer fest schlief, gab auch ich der Müdigkeit nach. Die Riemen unserer Bündel schlang ich fest um mein Handgelenk.

*

Mein erster Blick galt den beiden Bün­

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deln. Sie waren noch da. Ich atmete auf. Dann drehte ich den Kopf zur Seite. Der Platz, auf dem Beikla sich hingelegt hatte, war leer. Selbst die Decke war verschwun­den.

Verwirrt stand ich auf, reckte mich und kletterte auf einen Felsen. Es war noch früh am Morgen, die Luft war klar und die Aus­sicht großartig, aber der Blaue war nirgends zu sehen. Ich suchte nach Spuren, aber auf dem harten, steinigen Boden waren keine Fußabdrücke zu erkennen. Erst als ich in weiten Kreisen das Lager umstreifte, fand ich die Fährte. Sie führte geradewegs auf den Dschungelrand zu.

Sekundenlang glaubte ich noch, Beikla wäre den seelischen Belastungen nicht ge­wachsen gewesen und hätte sich freiwillig den zwischen den Bäumen lauernden Besti­en ausgeliefert, um seine Leiden zu verkür­zen. Dann gab mir das Extrahirn mit einem kurzen Impuls zu verstehen, daß ich die Psy­che meines kleinen Begleiters völlig falsch einschätzte.

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Wütend fragte ich mich, ob der Molekular­verdichter der Maahks etwa mein Gehirn im Verhältnis stärker verkleinert hatte als mei­nen Körper. Fluchend packte ich meine Sa­chen zusammen, lud mir die schwere Last auf den Rücken und folgte den Spuren des Somorers.

Schon gestern abend hatte mich irgend et­was an diesem Dschungel gestört. Es gab keinen Übergang zwischen der Steppe und dem saftigen Grün. Außerdem erschien mir die Form der Gewächse merkwürdig. Sie sa­hen wie riesige Baumwipfel aus, besaßen je­doch keine Stämme. Ich brauchte nur ein paar Minuten zu gehen, um den Grund für diese auffällige Erscheinung zu finden.

Vor mir fiel der Boden übergangslos steil ab. Eine Schlucht, deren Grund ich wegen der Baumwipfel nicht zu erkennen vermoch­te, durchschnitt die Steppe. Ein durchdrin­gender Geruch nach Moder, Feuchtigkeit und fremden Pflanzen wehte zu mir herauf. Beiklas vielzitierte Bestien ließen sich nicht

blicken. Ich würde sie an diesem Ort auch kaum antreffen.

Denn dies war nicht Teghment! Ich folgte dem Rand der Schlucht in süd­

licher Richtung. Ab und zu fand ich Beiklas Spuren, aber ich schenkte ihnen keine Be­achtung mehr. Dieses Spiel hatte ich verlo­ren. Selbst wenn ich den Somorer noch ein­mal einholte, nützte mir das gar nichts. Der Blaue hatte sein Ziel erreicht. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch zwingen, mir den Weg ins Reich der Unheimlichen zu weisen.

Als eine Lücke zwischen den Baumwip­feln den Blick auf das unter mir liegende Gelände freigab, sah ich meine düstere Ah­nung bestätigt.

Vor mir dehnte sich ein breites Tal aus. Nur selten unterbrachen kleine Lichtungen den dichten Urwald. Die drei in der Sonne glänzenden Flüsse dagegen waren deutlich zu erkennen. Nach Süden hin weitete sich das Tal zu einem von unzähligen Wassera­dern durchzogenen Gebiet.

Ein Ausschnitt aus der handgezeichneten Karte der Somorer tauchte vor meinem inne­ren Auge auf. Beikla hatte mich nach Jong­quatz geführt. An dieser Stelle begann das riesige Delta des Dreiflusses, der weiter süd­lich in das Blaue Meer mündete. Auf der an­deren Seite des Tales begann der Einflußbe­reich der Somorer, bewohnt von ihnen freundlich gesinnten Stämmen, die dem Blauen jede nur denkbare Unterstützung auf seinem Heimweg bieten würden. Teghment dagegen lag viele Tagesmärsche entfernt am entgegengesetzten Ende der Glassteppe.

Ich setzte mich auf einen Felsen, starrte auf den Fluß hinunter und überlegte, ob sich das Risiko lohnte, auf eigene Faust ein zwei­te Durchquerung der Halbwüste zu wagen. Gedankenlos verfolgte ich dabei den Weg eines dunklen Striches, der entgegen der schwachen Strömung über die breite Was­serfläche glitt. Erst nach Minuten erkannte ich, worum es sich bei diesem kleinen Ge­bilde handelte.

Ein Boot!

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Ich sprang auf und machte mich auf die Suche nach einem Weg, der in das Tal hin­abführte.

6.

»Woher kommst du?« Der alte Mann, der diese Frage stellte,

hockte neben mir auf einer aus Gräsern ge­flochtenen Matte. Über uns, an den Verstre­bungen des Sonnendachs befestigt, schwankten kleine Bündel duftender Kräuter im Wind, die zum Trocknen aufgehängt wa­ren. Ich lehnte bequem an einem Pfosten aus dunklem Holz. Während ich den Eingebore­nen die Stationen meines mühevollen Weges aufzählte, beobachtete ich lächelnd die Kin­der, die auf der Sandfläche zwischen dem Dorf und dem Flußufer herumtobten.

Der Alte lauschte mit angehaltenem Atem. Ab und zu unterbrach ich meinen Be­richt. Dann übersetzte er das, was er von mir in der Sprache der Dophor-Sippe erfahren hatte, in den vokalreichen Dialekt seines Volkes. Die Schar der Zuhörer war groß, und es machte mir Spaß, mit welcher Anteil­nahme besonders die jungen Männer meinen Bericht verfolgten.

Ich fühlte mich ausgesprochen wohl. Man hatte mich großzügig mit Früchten und ge­bratenem Fisch bewirtet, und zum erstenmal seit vielen Tagen hatte ich so viel trinken dürfen wie ich mochte. Die Schale aus po­liertem Holz wurde auch jetzt niemals leer. Ein kaum bekleidetes Mädchen mit seidig glänzendem, blauschwarzem Haar und ma­kelloser Figur schien keine andere Aufgabe zu haben, als mich mit köstlichen Fruchtsaft zu versorgen.

Für den Augenblick hatte ich keinen an­deren Wunsch, als mich bei diesen freundli­chen fröhlichen Menschen ein paar Tage lang auszuruhen und die Strapazen zu ver­gessen, ehe ich meine Suche fortsetzte. Ich hatte es wirklich dringend nötig, neue Kräfte zu schöpfen.

Diese Begegnung war ein Glücksfall. In dem kleinen Dorf am Fluß herrschte vollen-

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dete Harmonie, die auch durch meine Ge­genwart nicht im geringsten gestört wurde. Die Eingeborenen wirkten so vollkommen glücklich und zufrieden, daß sich mir der Vergleich mit einem kleinen Paradies auf­drängte. Zudem sahen sie den Arkoniden so ähnlich, daß es eine wahre Erholung für meine Augen war, sie zu betrachten. Die schwarzen Haare und die mandelförmigen, dunklen Augen verliehen ihnen exotischen Reiz.

Sie waren auch sehr rücksichtsvoll. Erst als ich gesättigt war, begannen sie, Fragen an mich zu richten. Ich sah keinen Grund, ihnen zu mißtrauen und ließ mich freimütig über meine Abenteuer aus. Sie waren über diese Abwechslung hocherfreut.

Nachdem ich meinen Bericht zu Ende ge­bracht hatte, zogen sich die Zuhörer nach und nach zurück. Schließlich war ich mit dem Alten und dem Mädchen, das sich als mein ganz persönlicher Mundschenk betä­tigte, allein.

»Du wirst dich ausruhen wollen«, vermu­tete der alte Mann mit Namen Unao und gab dem Mädchen einen Wink. »Saia wird dich in ihre Hütte führen und sich um dich küm­mern. Sie ist meine Enkelin und versteht die Sprache, derer du dich bedienst. Wenn du ir­gendeinen Wunsch hast, teile ihn ihr mit. Heute abend feiern wir ein großes Fest.«

Er erhob sich elegant von der Matte, ver­beugte sich leicht und schritt über den wei­chen Sand davon.

Lachend und rufend rannten einige junge Männer vorbei, schoben die schmalen Ein­bäume ins Wasser und ruderten auf den Fluß hinaus. Das Wasser glitzerte wie geschmol­zenes Silber. Der leichte Wind brachte zar­ten Blütenduft mit sich und ließ die Hitze er­träglich werden.

»Komm!« sagte Saia und lächelte mich verführerisch an.

Es war das erste Wort, das ich von ihr hörte, und ich fand, daß ihre weiche, dunkle Stimme zu ihrem wundervollen Körper paß­te.

Sie führte mich zwischen den Hütten hin­

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durch auf einen breiten Sandweg, der um das einzige größere Gebäude des Dorfes her­umführte. Dieses Haus aus fest zusammen­gefügten Baumstämmen mit seiner breiten Veranda war das Zentrum der Siedlung und diente allen möglichen Zwecken, wie Saia mir erklärte. Sie hatte die gutgemeinte Ab­sicht, mir auch als Fremdenführerin zu die­nen, aber obwohl sie ihre Sache ausgezeich­net machte, erfaßte ich nur wenig von dem, was sie sagte. Das war zwar nicht Saias Feh­ler. Ich war in ihrer Gegenwart einfach nicht voll aufnahmefähig.

Eine Gruppe kichernder junger Mädchen bog um die Ecke. Ihnen auf dem Fuße folg­ten ein paar braungebrannte Kinder, die sich mit so riesigen Blumensträußen beladen hat­ten, daß man von ihnen selbst kaum noch et­was sah. Sie legten ihre farbenprächtige Fracht auf dem Holzboden der Veranda ab und rannten lachend und plappernd in Rich­tung auf den Waldrand davon. Saia winkte den Mädchen zu und rief ihnen etwas nach, als sie mit den Blumen in das Haus gingen.

»Sie bereiten das Fest vor«, erklärte Saia. »Es wird bestimmt sehr schön. Eine Jagd­gruppe ist auf dem Fluß unterwegs. Dir zu Ehren werden sie die besten und schmack­haftesten Fische fangen. Es wird sogar Fleisch geben. Und siehst du die Frauen un­ter dem Sonnendach dort drüben? Sie berei­ten Uanai vor, das ist ein berauschendes Ge­tränk, das dir sicher gefallen wird. Aber trin­ke nicht zu viel davon, sonst …«

Sie schlug verlegen die Augen nieder und wandte sich hastig ab.

»Man schläft ein, wenn man nicht daran gewöhnt ist«, murmelte sie.

Ich grinste. Saia schien sich bereits ganz bestimmte Vorstellungen über den weiteren Verlauf meines Aufenthalts zu machen. Ich zweifelte jedoch daran, daß es eines beson­deren Gebräus bedurfte, um mich in dieser Nacht fest schlafen zu lassen. Auch wenn ich mich nach dem ausgiebigen Mahl bereits sehr viel wohler fühlte, steckte eine unge­heure Müdigkeit in mir.

Das Mädchen machte absichtlich einige

Umwege, um mir möglichst viel zu zeigen. Ich begutachtete die gutgenährten Haralas, von denen einer dazu ausersehen war, heute abend als Festspeise zu dienen. Die Tiere sa­hen wie Miniaturausgaben der wilden Bul­len aus, waren jedoch zahm und drängten sich grunzend und schnaufend näher an den Zaun, um sich streicheln zulassen. Dann ka­men wir zu den etwas abseits vom Dorf auf­gebauten Trockengestellen mit den auf lan­gen Stangen aufgespießten Fischen.

»Sie schmecken entsetzlich«, gestand Saia fröhlich. »Aber wir tauschen sie bei den Völkern jenseits des Tales gegen andere Waren ein. Wir liefern ihnen außerdem wertvolle Kräuter und Wurzeln, edle Steine, die wir aus den Felsen brechen, und Bast­matten. Das ist ein gutes Geschäft für uns.«

Diese Bemerkung zerbrach für einen Mo­ment den seltsam traumhaften Eindruck, den das Dorf und insbesondere Saia auf mich machten.

Handel! Nach ihren Andeutungen betrieben sie ih­

re Tauschgeschäfte mit Beiklas Artgenos­sen, beziehungsweise mit somorerfreundli­chen Stämmen. Und auch Beikla hatte das Tal überquert. Verdankte ich ihm diesen bei­nahe zu freundlichen Empfang? War alles nur ein geschickt eingefädeltes Manöver, das mich von der Verfolgung des Blauen ab­halten sollte?

Ich wollte Saia danach fragen, aber ein kurzer Impuls des Extrahirns ließ mich den Mund halten. Ärgerlich über mich selbst stellte ich fest, daß die Dorfbewohner mich bereits erfolgreich eingelullt hatten – falls das ihre Absicht war. Ich wurde allmählich unvorsichtig.

Endlich nachdem wir noch den Bootsbau­ern und den Netzknüpfern zugesehen hatten, erreichten wir die Hütte, die der Alte für mich bestimmt hatte. Sie sah sauber und an­heimelnd aus, wie alles in der Siedlung. Die Wände bestanden aus geflochtenen Matten, die auf hölzerne Rahmen gespannt waren. Das Dach hatte man mit großflächigen Blät­tern gedeckt, und von innen war es mit be­

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sonders dichten Matten bespannt – ein guter Schutz vor Ungeziefer. Vor der Tür, im Schutz des weit überragenden Giebeldachs, gab es eine kleine Feuerstelle, daneben Mengen an einer Art Spalier verschiedene Geräte. Der Innenraum der Hütte war nicht in einzelne Zimmer unterteilt. Auch hier hingen duftende Kräuterbündel unter der Decke. Matten bedeckten den Boden, einige niedrige Hocker standen an der einen Wand, an der anderen ein breites, mit weichen Fel­len bedecktes Bett. Dann gab es noch einen Kasten mit kunstvoll geschnitztem Deckel, in dem Saia ihre privaten Besitztümer aufbe­wahrte, und einen kleinen Tisch mit einer Öllampe darauf. Daneben standen zwei Schalen. Die eine enthielt Fruchtsaft, die an­dere quoll von Leckerbissen aller Art fast über. Meine beiden Bündel lagen am Fußen­de des Bettes.

»Die Hütte gehört dir, solange du bleiben möchtest«, versicherte Saia.

Ich ließ mich todmüde auf die weichen Felle sinken. Das Mädchen legte sich wie selbstverständlich neben mich und gab sich die größte Mühe, verführerisch zu wirken. Aber mir fielen buchstäblich die Augen zu. Als Saia begriff, daß ich einfach nur schla­fen wollte, stellte sie sich mit der ihr eigenen Geschmeidigkeit auf die veränderte Situati­on ein.

Als ich aufwachte, dämmerte es bereits. Ein schwacher Lichtschein drang durch die offene Tür. Ich war allein. Schlaftrunken ging ich zur Tür und sah hinaus. Die Sied­lung war wie ausgestorben. Kein Laut war zu vernehmen.

Nachdenklich kehrte ich zurück und setz­te mich auf das Bett. Meine Müdigkeit war verflogen. Hier stimmte doch etwas nicht!

Na endlich! bemerkte das Extrahirn. Die Eingeborenen waren zu freundlich.

Ich zweifelte nicht daran, daß sie tatsächlich ein fröhliches kleines Völkchen waren, aber sie konnten doch unmöglich jeden Fremden so großzügig behandeln. Was steckte hinter der lächelnden Kulisse? Oder war ich zu mißtrauisch? Warum regte sich jetzt draußen

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nichts? Es sollte doch ein Fest vorbereitet werden!

Steckte Beikla hinter der ganzen Sache? Um mich aufzuhalten, war es keineswegs

nötig, ein rauschendes Fest zu veranstalten. Ich war absolut sicher, daß dieser gerissene kleine blaue Mann in engem Zusammen­hang mit den Vorgängen in diesem Dorf stand. Was hatte er sich diesmal ausgedacht? Ich zermarterte mir den Kopf, aber ich kam nicht darauf. Auch der Logiksektor konnte mir nicht helfen. Die Ahnung einer nahen­den Gefahr wurde so groß, daß ich auf­sprang und zur Tür lief. Ich war fest ent­schlossen, mich still und heimlich aus dem Dorf zu schleichen.

Da erblickte ich Saia. Sie rannte auf die Hütte zu und sah sich ab und zu um.

»Du mußt fliehen!« flüsterte sie, als sie mich erreicht hatte. In ihren Augen stand nackte Angst. Sie ergriff meine Hände und zog mich vorwärts. Ich wollte fragen, was mich eigentlich bedrohte, aber wir hatten uns kaum zwei Schritte von der Tür entfernt, da tauchte eine lachende Gruppe junger Männer vor uns auf. Saia riß mich zurück in das dämmerige Dunkel der Hütte.

Draußen begannen Trommeln zu dröhnen. Kinder lachten und stimmten dann ein ei­genartiges, monotones Lied an, daß so gar nicht zu der fröhlichen Stimmung passen wollte. Das Mädchen ließ den Kopf hängen.

»Es ist zu spät«, sagte sie leise. »Das Fest beginnt, und sie würden dich auf jeden Fall sehen. Atlan, was immer auch geschieht: ich werde versuchen, dir zu helfen. Du mußt mir glauben!«

Ich sah ihr in die Augen, las nichts als aufrichtige Besorgnis darin und nickte lang­sam. Die jungen Männer hatten die Hütte er­reicht und warteten vor der Tür. Saia zog mich dem Ausgang entgegen. Verwirrt folg­te ich ihr zu dem großen Haus, in dem die Festtafel bereits gedeckt war.

*

Alles schien in bester Ordnung zu sein.

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Jeder behandelte mich freundlich, alle waren bemüht, mich zu unterhalten und meine Gunst zu erringen. Aber jetzt wußte ich, daß diese Mauer des Lächelns, die mich von al­len Seiten umgab, nur eine Fassade war, hin­ter der wer weiß was stecken mochte.

Ich bemühte mich, in Saias Nähe zu blei­ben, denn nur sie konnte mich über die dro­hende Gefahr aufklären. Aber das ständige Kommen und Gehen in dem großen Raum gab uns keine Gelegenheit, auch nur eine Sekunde lang ungestört miteinander zu spre­chen. Vergeblich suchte ich nach Anzeichen dafür, daß man mich bedrohte. Die Kleidung der Eingeborenen war so spärlich, daß sich unter den winzigen Tüchern nicht einmal ein Messer verbergen ließ. Keiner der Männer war bewaffnet. Sie alle aßen und tranken mit Begeisterung und bedienten sich großzügig von den dargebotenen Holzplatten, die sich unter der Last der Leckerbissen bogen. Da man mir völlig freie Auswahl unter den Speisen ließ, schied auch die Möglichkeit aus, daß man mir Gift ins Essen schmuggel­te.

Das Festmahl dauerte eine mittlere Ewig­keit. Als es dunkel wurde, zündeten die Mädchen kleine Lampen an, die mit duften-dem Öl gefüllt waren. Die zahllosen Blüten an den Wänden erweckten im zuckenden Lichtschein den Eindruck, ein gespensti­sches Eigenleben zu führen.

»Atlan, mein Freund, komm und setz dich neben mich!«

Ich fuhr erschrocken herum. Unao, Saias Großvater, klopfte einladend auf einen mit goldgelben Fellen bedeckten Ehrenplatz. Mit gemischten Gefühlen befolgte ich die Aufforderung.

»Der Bericht über deine vielen Abenteuer hat uns sehr erfreut«, fuhr Unao fort. »Der Besuch eines so weitgereisten Mannes ist ei­ne große Ehre für unser Dorf.«

Schon wieder diese Schmeicheleien! Oh­ne Saias Warnung hätte ich mich vielleicht sogar darüber gefreut, daß man mir so viel Achtung entgegenbrachte. So jedoch machte mich Unaos freundliche Ansprache nur noch

unruhiger. Ich sah, daß er auf eine Antwort wartete, und verbeugte mich kurz.

»Es bereitete mir große Freude, euch von unbekannten und fremdartigen Völkern zu berichten«, erklärte ich mühsam beherrscht. »Und ich möchte euch für alles danken. Ich bin es, der sich geehrt fühlen muß, denn ihr habt mich mit eurem Fest fast beschämt. Einen solchen Aufwand habe ich nicht ver­dient.«

»Bescheidenheit ist die Tugend der Wei­sen«, bemerkte Unao zufrieden. »Aber, Freund Atlan, wir kennen niemanden, der so weit herumgekommen ist. Unsere jungen Männer bewundern dich, und ihre Achtung vor dir könnte noch steigen, wenn sie wüß­ten, warum du all die Strapazen und Kämpfe auf dich genommen hast.«

Aha, dachte ich. Du alter Fuchs verstehst dein Geschäft. Unao ging diplomatisch vor. Die Frage nach einem Ziel brannte in ihm, aber er wagte es nicht, sie offen zu stellen. Ich spürte ein Kribbeln in den Haarwurzeln – untrügliches Zeichen dafür, daß eine Ent­scheidung bevorstand.

»Ich bin auf der Suche nach zwei Freun­den«, erklärte ich und beschrieb dem Alten Chrysalgira und Grek-3. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden seine Augen schmal, dann drückte das wettergegerbte Gesicht wieder nichts als Bewunderung aus. Er über­setzte seinen Artgenossen meine Antwort. Ein leises Raunen ging durch den Saal.

»Wir haben die beiden gesehen«, wandte Unao sich an mich, nachdem er seine Dol­metscherpflichten erfüllt hatte.

Und das war der Moment, in dem ich vor lauter Überraschung alles vergaß. Saias Warnung wurde bedeutungslos. Allein die Tatsache, daß hier endlich eine greifbare Spur vorlag, war von Wichtigkeit. Aufgeregt beugte ich mich vor.

»Wann?« fragte ich. »Wohin gingen sie?« »Immer eines nach dem anderen«, lächel­

te Unao freundlich und füllte meinen Becher von neuem mit dem leicht berauschenden Getränk. »Sie kamen vor vielen Tagen hier vorbei. Aber sie waren nicht frei. Man

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brachte sie auf einem Boot den Fluß hinab.« Er trank mir zu, und ich leerte automa­

tisch ebenfalls meinen Becher. »Deine Beschreibung paßt sehr gut auf

sie«, fuhr er immer noch lächelnd fort. »Besonders der Mann, der unsere Luft nicht atmen kann, ist unverkennbar. Ja, ich bin si­cher, daß es sich bei den Fremden um deine Freunde handelte.«

»Was weißt du noch?« bohrte ich weiter. »In welche Richtung fuhr das Boot? Zum Blauen Meer? Waren die beiden gefesselt? Wessen Gefangene waren sie überhaupt? Kennst du die Leute, denen das Boot gehör­te?«

»Das sind sehr viele Fragen, Atlan«, mur­melte Unao und warf dabei einen bedauern-den Blick in seinen leeren Becher. »Ich wer­de versuchen, sie dir zu beantworten.«

Ich hörte ihn reden und hatte gleichzeitig das eigenartige Gefühl, mich von mir selbst zu entfernen. Die Szene wurde abstrakt. Ich sah mich selbst auf den Fellen sitzen, leicht zusammengesunken, die Augen unverwandt auf Unao gerichtet, der redete, redete …

Die Wirklichkeit wich vor mir zurück. Die Blüten verwandelten sich in zahllose Gesichter, die die verschiedensten Züge tru­gen. Somorer waren darunter, ich erkannte Gjeima, die abgrundhäßliche Tochter Do­phors, dann Dophor selbst, und plötzlich war sogar Ischtar dabei. Ein Kaleidoskop von Köpfen kreiste um mich. Ich blinzelte ver­wirrt, und die Köpfe verwandelten sich in Schmetterlinge, die langsam zu den Zweigen eines hohen Baumes hinaufstiegen. Sie dehnten sich aus, flossen zu einem farben­prächtigen Muster zusammen. Ein buntes Gewand wehte vor meinen Augen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hunderte von Metern über mir das Gesicht Farnathias. Sie lächelte auf mich herab und begann zu singen. Das überirdisch schöne Lied wurde immer leiser, bis es sich im Dröhnen gigan­tischer Orgeln verlor. Die riesige Farnathia zerbröckelte vor meinen Augen. Ein auf­kommender Sturm wehte ihre Überreste da­von. Ich verlor den Halt unter den Füßen

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und breitete instinktiv die Arme aus. Wie ein Vogel flog ich über eine blumen­

übersäte Wiese. Der Sturm ließ nach, und ich sank langsam dem Boden entgegen. Ich fühlte mich federleicht. Meine Füße berühr­ten das Gras – und schlagartig verwandelte sich die Wiese in eine Stätte des Grauens. Endlose Weiten erstreckten sich vor mir. Überall lagen Gebeine herum. Ganze Berge von Skeletten türmten sich vor mir auf. Aus der Ferne hörte ich Farnathias Stimme, die leise meinen Namen rief. Ich rannte über splitternde Knochen. Totenschädel kollerten über meinen Weg. Die Skelette erwachten zum Leben und griffen mit langen Armen nach mir. Die Berge aus Knochen wölbten sich, brachen auf und spien Scharen riesiger schwarzer Vögel aus, die kreischend durch die Luft wirbelten. Ich raste durch das Cha­os, stieß mit dem Kopf gegen eine Mauer und schlug verzweifelt mit den Händen da­gegen.

Ein spöttisches Gelächter neben meinem Ohr ließ mich herumfahren. Beikla stand vor mir, die dünnen Ärmchen vor der Brust ver­schränkt.

»Mach dir nichts daraus«, kicherte er und wackelte mit den Ohren. »Aus dir wird noch mal ein ganz guter Techniker. Du mußt nur tüchtig lernen.«

Plötzlich glaubte ich zu begreifen. Farna­thia war tot. Ich hatte eine Halluzination ge­sehen. Dieser Zwerg hatte mich grausam ge­nug genarrt. Ich streckte die Hände aus, leg­te meine Finger um den dünnen Hals. Etwas zerbrach mit dem Knacken eines trockenen Zweiges. Ich hielt Beiklas Kopf in der Hand. Der Blaue streckte mir die Zunge heraus und löste sich mit einem leisen Puffen in Luft auf. Ich schrie enttäuscht, dann stürzte ich in bodenlose Finsternis.

Ein leises Glucksen neben meinem Ohr riß mich aus meiner Betäubung. Ich schlug die Augen auf und sah Saias verzerrtes Ge­sicht. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich vernahm keinen Laut. Sie schien zu weinen. Ich wollte den Arm heben, um sie zu trösten, aber da wrar es gar nicht mehr Saia, sondern

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ein gräßliches Ungeheuer, dessen Rachen sich öffnete, um mich zu verschlingen. Ich wich entsetzt zurück. Stinkender Atem schlug mir entgegen, Zähne blitzten vor meinen Augen.

»Oho, Junge, paß auf!« schrie eine Stim­me, und der Kopf des Ungeheuers fiel zu Boden. Die Zähne schlossen sich um mein linkes Fußgelenk. Der Körper rollte mit gro­tesk um sich schlagenden Gliedern die schiefe Ebene hinab, auf der ich lag, änderte seine Form, und Fartuloon stapfte gewichtig auf mich zu. Ein Fartuloon ohne Kopf, aber mit seinem Skarg in der Hand.

»Da kann man nichts machen«, erklärte er ungerührt. »Du mußt das verstehen, Atlan. Ich brauche meinen Kopf noch für die Zu­kunft.«

Das Skarg blitzte auf. Ich verfolgte den Weg der scharfen Klinge mit den Augen und schrie vor Grauen. Der Schlag trennte mei­nen Fuß samt dem daranhängenden Kopf ab. Mit einem häßlichen Lachen zwang mein kopfloser Lehrmeister die Zähne des Unge­heuers auseinander. Ein Strom von Blut schoß aus meinem Beinstumpf auf den spie­gelglatten Boden, verrauchte in einigen Me­tern Entfernung und bildete einen dichten Nebel, aus dem eine Unzahl fliegender Ba­bys von zehn Zentimetern Länge auf mich zurasten. Fartuloon, den monströsen Kopf der Bestie auf den Schultern, stapfte um mich herum und schwang sein Schwert ab­wehrend durch die Luft.

»Sie haben Hunger, die kleinen Biester!« schrie er dabei fröhlich. »Ischtar, wo steckst du? Kümmere dich endlich um deine Bäl­ger!«

Ein verrosteter Roboter mit rasselnden Gelenken tauchte neben mir auf. Die Babys flogen darauf zu und klammerten sich an dem fleckigen Metall fest.

»Alles wird gut«, sagte der Roboter mit Ischtars Stimme. Aus seinen Gelenken dran­gen kleine blaue Rauchwolken. »Alles wird gut, meine Kinder!«

»Ruhig, Atlan, nur ruhig!« Die Stimme klang plötzlich anders. Die

schreckliche Umgebung verblaßte. Die Gol­dene Göttin legte ihre schmalen, kühlen Hände um mein Gesicht.

»Nicht dagegen ankämpfen, Atlan!« bat sie mit dieser fremden Stimme, die zu je­mand anderem gehörte, den ich kannte, des­sen Name mir jedoch entfallen war. »Es geht vorbei. Die ersten Stunden sind entsetzlich, aber dann hast du das Schlimmste überstan­den. Sie wollen dich den Somorern auslie­fern. Dort würde man dich zu einem Sklaven machen, aber du brauchst keine Angst zu ha­ben. Sie sind jetzt alle müde, und niemand hat Verdacht geschöpft. Das Boot ist bis zum neuen Tag so weit getrieben, daß sie dich nicht mehr finden werden.«

Schweiß stand auf meiner Stirn. Ischtars Bild verwandelte sich für einen kurzen Mo­ment.

»Saia!« stöhnte ich. »Wenn der Tag graut, werden die Illusio­

nen für kurze Zeit schwächer!« sagte das Mädchen eindringlich. »Dann mußt du das Gegenmittel nehmen. Verstehst du mich, At­lan?«

Ich nickte mühsam, spürte einen glatten Gegenstand in meiner Hand und griff da­nach.

»Paß gut auf die Flasche auf. Ohne sie wirst du nie mehr in die Wirklichkeit zu­rückfinden. Ich würde dich gerne begleiten, Atlan, aber ich darf nicht fortgehen, denn es wäre mein Tod. Leb wohl, und vergiß mich nicht!«

Es gab einen Ruck, ein leises Plätschern. Ich lag auf dem Rücken, spürte hartes Holz unter mir und sah verschwommen die Zwei­ge eines Baumes über mir dahingleiten. Ich befand mich in einem Boot, das langsam über das Wasser trieb.

»Danke, Saia!« flüsterte ich, und im näch­sten Moment wußte ich nicht einmal mehr, ob es sich bei dieser Szene um die Wirklich­keit gehandelt hatte. Die grauenvolle Halb­welt der Träume sog mich in sich auf.

*

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Ich kämpfte, tötete, floh von Grauen er­füllt vor den namenlosen Dingen, die mein Unterbewußtsein unter dem Einfluß der Droge produzierte, und unterhielt mich mit Leuten, die längst nicht mehr am Leben wa­ren und durchschritt tausend Höllen, ehe ich endlich wieder einen klaren Moment hatte.

Ich fühlte mich wie zerschlagen, und mei­ne Hände zitterten unkontrolliert. Keuchend, von Fieberschauern durchrast, zog ich mich an der schmutzigen Bordwand hinauf, starrte auf die weite Wasserfläche, die mich umgab und sank dann erschöpft wieder zurück.

Das Gegenmittel! Ich tastete nach der Flasche, die meinen

Fingern entglitten war. Dämmerte es be­reits? Vor meinen Augen wallten dunkle Schleier, und immer wieder wollten sich Trugbilder zwischen mich und die Wirklich­keit schieben. Ich wehrte mich verzweifelt gegen den bedrohlichen Einfluß, aber es fiel mir schwer, mich auf die Gegenwart zu kon­zentrieren. Gehörten die zwei Dutzend blau­häutiger Zwerge, die auf dem Rand des Boo­tes balancierten, zu meinen Träumen, oder gab es sie tatsächlich?

Ich griff nach einem der Männchen und bekam einen dünnen Arm zu fassen. Der Zwerg überschüttete mich mit einer Flut von Schimpfwörtern, biß mich in die Nase und sprang über Bord. Das Wasser schäumte auf, und die blaue Gestalt landete im aufgerisse­nen Rachen eines riesigen Tieres. Die Bestie schmatzte geräuschvoll und richtete sich dann auf, um auch mich zu verschlingen. Ich spürte den Griff eines Messers in meiner Rechten und schleuderte die Waffe mit vol­ler Wucht nach dem einzigen Auge des Un­geheuers.

Im gleichen Augenblick erlosch das Bild. Ich sah eine blanke Wasserfläche. Die schimpfenden Zwerge waren spurlos ver­schwunden, die Bestie ebenfalls. Und außer­halb meiner Reichweite versank die Flasche mit dem Gegenmittel in den Fluten.

Ich schrie wütend auf, dann begriff ich in voller Konsequenz die Auswirkungen, die der Verlust des kleinen Behälters für mich

Marianne Sydow

haben mußte. Ich ließ mich mutlos zurück­sinken. Sekunden später wurde ich von hy­sterischem Lachen geschüttelt. Vorry, der Magnetier, hockte vor der Tür einer Dusch­kabine, beschnupperte lüstern Fartuloons zerbeulten Harnisch, leckte sich die Lippen und beobachtete dabei den empörten Besit­zer des Panzers, der splitternackt und tropf­naß um das Tonnenwesen herumtanzte.

Ich vermag bis heute nicht zu sagen, wie lange ich so über den Fluß trieb. Immer neue Halluzinationen narrten mich. Die tollste war zweifellos ein schnittiges Fahrzeug, das auf Prallfeldern über das Wasser auf mich zuraste. Die Illusion war so echt, daß ich zu winken begann. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, weil ich den Mann hinter der Windschutzscheibe erkannte. Es war der Blinde Sofgart, der einen Impulsstrahler auf mich richtete. Der Schuß löste sich, eine grelle Lichtbahn floß zeitlupenhaft langsam auf mich zu, erreichte mich, hüllte mich in einen Kokon aus schmerzhafter Helligkeit und ungeheurer Hitze,' und dann wurde es schwarz um mich.

7.

»Hiosf a psuji?« Ich schlug die Augen auf und starrte ver­

ständnislos in zwei gelbe Augen, die mich aus einem kohlschwarz bepelzten Gesicht anfunkelten.

Schon wieder eine Zwangsvorstellung! Erschöpft machte ich die Augen wieder

zu, in der Hoffnung, dieser neue Quälgeist möge verschwinden, wenn ich keine Reakti­on zeigte.

Das war ein Irrtum. Eine neue Serie un­verständlicher Laute folgte. Mein Verstand regte sich und flüsterte mir zu, daß die Si­tuation sich nicht mit meinen Träumen ver­einbaren ließ. Dort hatten selbst die wilde­sten Phantasiefiguren mich auf arkonidisch angesprochen.

Als der Fremde in einer anderen Sprache den nächsten Versuch startete, mir eine Ant­wort zu entlocken, entschied ich, daß die

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Halluzinationen aus irgendeinem Grunde wenigstens für den Augenblick von mir ab­gelassen hatten.

Der Fremde war humanoid. Er war etwa so groß wie ich und trug einen hellblauen, glänzenden Schutzanzug, der aus zahllosen winzigen, gegeneinander beweglichen Me­tallsegmenten bestand. In der rechten Hand hielt er einen kleinen, gelben Becher. Ich hatte einen faden, süßlichen Geschmack im Mund, und mir dämmerte die Erkenntnis, daß dieses schwarz bepelzte Wesen mir et­was eingeflößt hatte.

Ich mußte mich mehrmals räuspern, ehe meine Stimmbänder einen verständlichen Laut produzierten.

»Ich verstehe diese Sprache nicht«, er­klärte ich dann hoffnungsvoll in dem Dia­lekt, den ich bei Dophor gelernt hatte. Das schwarze Gesicht verzog sich zu einem er­freuten Grinsen.

»Geht es dir jetzt besser?« wollte der Fremde mitfühlend wissen.

Ich nickte und versuchte mich aufzurich­ten, aber kaum hob ich den Kopf, da kam auch schon eine dunkle Wand in Sicht, die mit atemberaubender Geschwindigkeit auf mich zuraste. Hastig ließ ich mich zurück­sinken.

»Trink das aus!« befahl der Schwarze und hielt mir den Becher an die Lippen. Ich schluckte gehorsam, und sofort spürte ich ei­ne Hitzewelle, die meinen Körper durchlief. Mir brach der Schweiß aus sämtlichen Po­ren. Meine Beine vollführten die verrückte­sten Verrenkungen und kümmerten sich überhaupt nicht um meinen Befehl, endlich stillzuhalten. Aber als auch das überstanden war, fühlte ich mich tatsächlich wohler.

Ein paar Minuten später war ich fähig, Vruumys, wie der Fremde sich nannte, eine schmale Treppe hinauf zu folgen. Eine Tür schwang auf, und frische Luft wehte in die Kabine. Ich schnupperte erstaunt – es roch nach Tang und Salz. Dann stand ich an Deck eines kleinen Schiffes, das sich durchaus mit arkonidischen Erzeugnissen messen konnte. Zwar fehlte es etwas an dem gewohnten

Komfort, aber es gab technische Spielereien, mit denen ich auf diesem Planeten schon nicht mehr gerechnet hatte.

Vruumys nötigte mich auf einen weichen Sitzplatz unter dem Sonnensegel.

»Ich bin gleich wieder da«, versprach er und kehrte Augenblicke später mit einem Tablett zurück. Ich löffelte schweigend eine würzige Suppe, trank etwas sehr Kühles und lehnte mich dann zufrieden an ein weiches Kissen. Meine Lebensgeister kehrten all­mählich zurück. Vruumys saß neben mir und wartete höflich, bis ich mich ausrei­chend erholt hatte.

»Wo sind wir hier?« lautete meine erste Frage.

»Jongquatz«, erklärte der Schwarte lako­nisch. »Im äußersten Bereich des Deltas.«

»Vielen Dank, daß du mich aufgefischt hast«, holte ich etwas verspätet das nach, was ich für meine moralische Pflicht hielt.

»Nichts zu danken!« lächelte Vruumys amüsiert. »Wir von draußen müssen doch zusammenhalten. Wie bist du eigentlich in diese scheußliche Situation geraten? Und wo hast du deine Ausrüstung gelassen?«

Auch wenn ich jetzt unzweifelhaft wach war – das Gespräch drohte ins Unwirkliche abzugleiten. Was meinte der Kerl über­haupt? Wieso redete er von »zusammenhalten«, und was bedeutete »von draußen«?

Er ist ein Raumfahrer, du Dummkopf! be­lehrte mich das Extrahirn. Dein Aussehen hat ihn auf die Idee gebracht, daß du auch nicht von diesem Planeten stammst.

Mein Verstand war wohl doch noch nicht ganz warmgelaufen, denn zu dieser Schluß­folgerung hätte ich auch von selbst kommen müssen. Ich hatte Mühe, die neuen Fakten mit der Realität in Verbindung zu bringen. Die Nachwirkungen der Droge veranlaßten meine Gedanken, immer wieder auseinan­derzulaufen und dann in den unmöglichsten Kombinationen zurückzukehren.

Ich riß mich zusammen und servierte Vru­umys eine fast wahre Version meiner Ge­schichte. Auf das »Raumschiff«, mit dessen

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Hilfe ich den Planeten erreicht hatte, ging ich nicht näher ein. Auch meine Ausrüstung überging ich ziemlich großzügig. Dafür reg­te ich mich um so mehr über den undankba­ren Somorer und die hinterlistigen Eingebo­renen auf. Vruumys lachte mitfühlend.

»Du hattest Glück. Bei den Somorern ist zwar die Sklaverei und der Handel mit Men­schen offiziell abgeschafft, aber das ändert nicht viel an den tatsächlichen Zuständen. Wen sie einmal liebevoll in ihre Frosch­händchen genommen haben, der kommt schwer wieder von ihnen los. Sie haben da so ihre Methoden, die kleinen Schlauberger! Aber du erwähntest zwei Freunde, die du auf dieser Welt suchst. Vielleicht kann ich dir helfen. Wie sahen sie aus?«

Ohne viel Hoffnung gab ich ihm eine Be­schreibung der arkonidischen Prinzessin und ihres nichtmenschlichen Begleiters. Der Hinweis Unaos war in meinen Augen nicht viel wert. Ich glaubte seit dem Zwischenfall mit der Droge nicht mehr daran, daß sie die beiden Gesuchten wirklich gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte Beikla ihnen diese Ge­schichte eingetrichtert, um sicherzugehen, daß ich mich lange genug in dem kleinen Dorf aufhielt.

Vruumys bedauernde Antwort bestätigte meine Befürchtungen. Er hatte die beiden nicht gesehen, obwohl er seit Wochen in diesem Gebiet kreuzte. Er merkte, daß seine Auskunft mich deprimierte, und schnitt takt­voll ein anderes Thema an.

»Ich bin auf der Suche nach dem ewigen Leben«, teilte er mir beiläufig mit.

Ich fuhr wie elektrisiert hoch, denn dieses Stichwort rief eine Menge Erinnerungen wach.

»Der Stein der Weisen!« Dann kam die Ernüchterung. Wieder ein­

mal hatte ich nicht bedacht, daß ich ja im Mikrokosmos steckte. Es war wohl kaum denkbar, daß die Varganen auch hier ihre Spuren hinterlassen hatten!

»Vor sehr langer Zeit«, fuhr Vruumys im Tonfall eines Märchenerzählers fort, »versenkten Wesen, deren Ursprung und

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Geschichte unbekannt ist, im Mündungsge­biet des Jongquatz eine Anzahl von Urnen. Sie waren in Kämpfe verwickelt worden, und einige Angehörige ihres Volkes hatten den gewaltsamen Tod gefunden, die Wesen selbst – so behauptet die Legende – waren unsterblich.«

Er machte eine kurze Pause und goß sei­nen Becher voll. Als er weitersprach, klang seine Stimme wieder nüchtern und sachlich.

»Vor etwa zweihundert Jahren landete ein Raumfahrer zufällig hier in der Nähe. Er entführte einen Eingeborenen, um sich In­formationen über diesen Planeten zu be­schaffen. Dabei erfuhr er das Märchen von den Unsterblichen. Aber er kam zu der Überzeugung, daß die Geschichte einen wahren Hintergrund haben mußte. Er suchte nach den Urnen, fand einen stählernen Be­hälter und öffnete ihn. Zu seinem Erstaunen enthielt das Ding lediglich eine klare Flüs­sigkeit. Er entnahm eine Probe und brachte sie zur Untersuchung in sein Labor. Als er zurückkehrte, sah er den Eingeborenen, der eben einen Becher aus der Urne zog und daraus trank. Blitzartig entwickelte der Wil­de ungeahnte Kräfte. Er überwältigte den Raumfahrer, obwohl der ihm waffenmäßig weit überlegen war, sprang dann über Bord und schwamm mit ungeheurer Geschwindig­keit davon. Der Raumfahrer probierte den Trank nun ebenfalls aus. Er bekam zwar kei­ne ungewöhnlichen Kräfte, vermochte je­doch klarer zu denken. Erst viel später stellte er fest, daß er nicht mehr alterte. Er bekam Schwierigkeiten mit Leuten, denen das merkwürdig vorkam. Seitdem irrt er ruhelos durch das Weltall. Nur wenige kennen sei­nen Namen. Ich traf ihn zufällig, als er sich in einer ähnlichen scheußlichen Lage befand wie du vorhin. Ich half ihm, und zum Dank verriet er mir sein Geheimnis.«

Ich brauchte einige Zeit, um diese Ge­schichte zu verdauen. Sie hörte sich allzu märchenhaft an. Aber Vruumys glaubte an das Vorhandensein des lebensverlängerden Tranks, und er kannte seine Welt schließlich besser als ich.

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»Hast du schon etwas gefunden?« fragte ich ihn.

»Sechzehn Urnen«, seufzte der Schwarze. »Aber nicht eine davon war brauchbar. Das Meerwasser hat die Hüllen teilweise zer­stört.«

Ich behielt meine Zweifel für mich, um Vruumys nicht zu verärgern, wechselte je­doch lieber den Gesprächsstoff.

»Ich war auf dem Wege nach Teghment«, begann ich vorsichtig.

Vruumys zeigte keine Reaktion. Mein Verdacht, er gehöre zu den geheimnisum­witterten Bewohnern dieses Landes, schien nicht zuzutreffen.

»Eine gefährliche Reise für einen unbe­waffneten Mann, der noch dazu kein anderes Verkehrsmittel als seine eigene Beine zur Verfügung hat«, meinte er nur.

Ich nickte bedächtig. »Aber eine Reise, die vielleicht auch ein

noch größeres Risiko wert ist«, gab ich zu­rück. »Ich muß meine Freunde finden. Ohne ihre Hilfe werde ich diese Welt niemals mehr verlassen können.«

»Und du glaubst, man hat sie ausgerech­net nach Teghment gebracht?« fragte Vruu­mys erstaunt.

»Warum nicht? Sie können überall sein. Ein Gefühl sagt mir, daß Teghment der wahrcheinlichste Ort ist. Ich weiß, daß ich dir schon genug Scherereien verursacht ha­be, und darum mag meine Bitte unverschämt klingen. Aber könntest du mich nicht am westlichen Ufer des Jongquatz absetzen, da­mit ich mich wieder auf den Weg machen kann?«

Vruumys starrte einige Minuten gedan­kenverloren auf den fast glatten Wasserspie­gel, in dem sich nur hier und da kleine Stru­del und schwache Strömungen zeigten. Ganz langsam trieb ein Stück Rinde vorbei. Es drehte sich behäbig um sich selbst, und plötzlich tauchte eine spitze Flosse daneben auf. Die Rinde war fort. Ein paar Luftblasen stiegen auf und zerplatzten an der Oberflä­che.

»Ich hätte einen guten Vorschlag«, erklär­

te der schwarz bepelzte Mann neben mir ge­lassen. »Wir bleiben noch zwei Tage hier, und du hilfst mir bei der Suche nach den Ur­nen. Wenn diese Frist abgelaufen ist, ohne daß wir Erfolg hatten, bringe ich dich an Land und gebe dir auch noch ein paar Dinge mit, die du auf deiner Wanderung gut ge­brauchen kannst.

Haben wir inzwischen aber einen unver­sehrten Behälter gefunden, so beteilige ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln an der Suche nach deinen Freun­den.«

»Einverstanden«, nickte ich und stand vorsichtig auf.

Der Trank des Fremden hatte gewirkt. Die entsetzliche Schwäche war wie fortgeblasen, und ich fühlte mich zu neuen Taten bereit.

*

Vruumys unterwies mich im Umgang mit dem fremdartigen Tauchanzug und im Ge­brauch der harpunenähnlichen Waffe, die uns unter Wasser vor angreifenden Tieren schützen sollte. Beides, der Anzug und die Waffe, paßten zu dem Eindruck, den ich bis­her von der Zivilisation des Schwarzen ge­wonnen hatte. Die technische Ausrüstung war einwandfrei, aber es fehlte jener Hauch von Komfort, der selbst den simpelsten Er­zeugnissen arkonidischer Machart anhaftete.

Der Anzug besaß zwar eine gute, sehr lei­stungsfähige Lufterneueerungsanlage, aber eine Heizung war nicht eingebaut. Theore­tisch konnte man bis zu einhundert Stunden unter Wasser bleiben, praktisch sah es so aus, daß man schon nach wenigen Stunden vor Kälte mit den Zähnen klapperte. Die Harpune wurde mit Hilfe kleiner Preßluft­kapseln abgeschossen, die man jeweils per Hand einzusetzen hatte. Aber die Spitzen hakten auf Knopfdruck an einem Seil ein, wenn man beabsichtigte, das erlegte Tier zu bergen. Wurde das Geschoß ohne dieses Seil auf die Reise geschickt, so trat automatisch das komplizierte Innenleben der Harpunen­spitzen in Funktion. Ein System von Senso­

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ren löste eine Explosion aus, sobald das Ge­schoß die Haut des Opfers durchstoßen hat­te. Vruumys versicherte mir, daß die Ladung ausreichte, um Tiere von der dreifachen Länge des Bootes in Fetzen zu reißen.

Der Schwarze war kaum mit seinen Erklä­rungen fertig, da drang ein schrilles Klingeln aus der Kabine. Er rannte die Treppe hinun­ter, und ich folgte ihm hastig. Gegen meinen Willen packte mich das Jagdfieber.

Vruumys beugte sich über einen kleinen, quadratischen Sichtschirm. Ein leuchtender Punkt wanderte vom rechten Rand langsam auf die Mittelmarkierung zu.

»Das ist eine von den Urnen!« stieß der Mann in dem seltsamen Metallanzug aus.

Er rannte zu einem Schrank, zerrte in wil­der Hast einen zweiten Taucheranzug hervor und legte ihn an. Als er damit fertig war, be­fand sich das Objekt, dessen Reflex wir auf dem Schirm sahen, genau unter dem Boot. Vruumys hantierte an den überall verteilten Geräten. Das Boot kam zum Stillstand. Ein letzter Knopfdruck, und es würde automa­tisch diese Position halten, bis es einen neu-en Befehl erhielt.

»Fast einhundert Meter«, murmelte Vruu­mys vor sich hin, nachdem er den Zeiger ei­ner bunten Skala auf einen bestimmten Punkt eingependelt hatte. »Das kann ein gu­tes Zeichen sein. Die anderen lagen alle in ziemlich flachem Wasser, und da macht sich die Strömung noch bemerkbar.«

Er befestigte ein Gerät an seinem Handge­lenk, das uns unter Wasser den geraden Weg zu der Urne weisen sollte, ergriff seine Waf­fe und wollte über Bord springen.

»Moment!« hielt ich ihn gerade noch zu­rück. »Wie bringen wir den Behälter nach oben?«

Vruumys schlug sich in einer durchaus vertrauten Geste vor die Stirn und brachte ein handtellergroßes Kästchen, das an der einen Seite zwei Hebel, auf der anderen eine Saugfläche aufwies.

»Damit machen wir die Urne gewichtlos«, erklärte er eilig. »Und jetzt los!«

Er schloß seinen Helm und ließ sich in ei-

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ner geschickten Rückwärtsrolle über die Re­ling kippen. Der Gedanke an das ewige Le­ben erzielte wohl bei allen intelligenten We­sen die gleiche Wirkung: Sie drehten durch. Die Urne würde uns nicht davonschwim­men. Trotzdem überschlug sich Vruumys fast vor Eifer.

Das Wasser schlug über mir zusammen. Vruumys befand sich bereits in etwa zehn Metern Tiefe. Er sah sich nach mir um und winkte aufgeregt. Da die Helme nicht mit Funkgeräten ausgestattet waren, mußten wir uns mit Gesten verständigen. Ich beeilte mich, neben ihn zu kommen.

Das Meer war ziemlich trübe. Wir befan­den uns noch in der Brackwasserzone, und obwohl die Ufer des Jongquatz sich nur als dünne, dunkle Streifen am Horizont abzeich­neten, reichte die Strömung des gewaltigen Flusses noch sehr viel weiter hinaus. Sie führte Schlamm und Schmutz mit sich, Pflanzenteile und tote Tiere. Die Kadaver waren ein willkommenes Futter für allerlei Fische, alles andere sank langsam nach un­ten und half mit, das Delta immer weiter auszudehnen. Von oben wirkte das alles nicht sehr beeindruckend, aber jetzt kamen mir gelinde Zweifel daran, daß wir die rät­selhafte Urne überhaupt finden würden. Im Laufe der Zeit mußte sich doch eine dicke Schlammschicht darüber gebildet haben!

Je tiefer wir kamen, desto schlechter wür­den die Sichtverhältnisse. Bei vierzig Me­tern reichte unser Blick nur noch etwa fünf Meter weit. Das Sonnenlicht verlor zuse­hends an Kraft. Aus der grünen Dämmerung tauchten kleine Fische auf. Sie umkreisten uns neugierig und rissen die Mäuler auf, als wollten sie Maß nehmen. Ich kam mir wie ein Wurm an einer Angel vor. Aber noch ließen sich die großen Brüder unserer Besu­cher nicht blicken.

Zehn Meter tiefer waren wir gezwungen, die Helmlampen einzuschalten. Meine Unsi­cherheit wuchs. Ich hielt die Harpune griff­bereit und tastete nach den Preßluftkapseln an meinem Gürtel. Wenn das Licht nicht als Köder diente …

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Und da waren sie auch schon. Eine gewaltige Flosse schwang durch den

Lichtkegel, den meine Lampe in die trübe Suppe aus Brackwasser und Sinkstoffen bohrte. Vruumys packte mich am Arm und deutete in eine andere Richtung. Als die Lampe herumschwang, blickte ich genau in ein faustgroßes, tückisches Auge. Das Auge glitt vorüber, dann folgte ein Körper, der an­scheinend überhaupt kein Ende mehr nahm. Ein langer Schlag der riesigen Schwanzflos­se wirbelte uns hilflos durch das Wasser.

Vruumys fing sich zuerst ab. Er hielt mich fest, gestikulierte aufgeregt und deutete zum Schluß auf einen Schalter an meinem Gürtel. Ich nickte ihm zu.

Die Schwanzflosse verschwamm in der Dunkelheit. Wir spürten den Sog des großen Körpers, der sich langsam umdrehte. Meine Hände wurden feucht vor Schweiß. Durch den dünnen Stoff der Handschuhe spürte ich den glatten Schaft der Harpune. Gegen unse­ren Gegner erschien mir diese Waffe wie ei­ne bessere Stecknadel.

Die Umrisse des breiten Kopfes schälten sich aus der Finsternis. Vruumys drückte meinen Arm, und fast synchron lösten sich unsere Schüsse. Zischend rasten die kleinen Projektile durch das Wasser, eine breite Spur grell leuchtender Luftblasen hinter sich herziehend. Ich schlug auf den Schalter, den Vruumys mir gezeigt hatte. Wie ein Stein fiel ich in die Tiefe. Ich hielt die Luft an und zählte die Sekunden. Bei drei gab es einen dumpfen Knall, der mir fast die Trommelfel­le zerriß. Ich wurde herumgewirbelt und wußte nicht einmal mehr, wo oben und un­ten war. Als das Wasser sich beruhigte, stieß etwas gegen meine rechte Schulter, und ich fuhr herum, bereit, den nächsten Schuß ab­zugeben.

Aber es war nur Vruumys, der mich hinter der Sichtscheibe freundlich angrinste und mir mit dramatischen Handbewegungen zeigte, wie gut wir getroffen hatten. Das be­eindruckte mich wenig. Mir kamen jetzt erst die Schwächen dieser fabelhaften Waffe zu Bewußtsein. Wir setzten uns selbst einem

hohen Risiko aus, wenn wir einen Schuß auf ein zu nahes Ziel abgaben. Und hier unten gab es nur sehr nahe Ziele. Vorher sah man sie nämlich nicht.

Ich entnahm den Gesten des Schwarzen, daß wir uns durch den Abschuß des Riesen für eine Weile Luft verschafft hatten. Alle anderen Tiere in der näheren Umgebung wa­ren vorerst damit beschäftigt, den riesigen Kadaver zu beseitigen.

Der Tiefenmesser stand auf einundachtzig Metern, als das Wasser schlagartig klar wur­de. Die trübe Zone blieb wie eine dichte Wolkendecke hinter uns, und unter uns sa­hen wir den Meeresboden. Erstaunlicherwei­se gab es nur sehr geringe Schlammablage­rungen. Düstere Felsbrocken tauchten im Schein der Helmlampen auf. An den Seiten­wänden der Blöcke hatten sich purpurfarbe-ne Schwämme festgesetzt. Langbeinige, spinnenähnliche Tiere flohen vor dem Licht und drückten sich in enge Spalten. Ein bizar­rer kleiner Baum ragte vor mir auf. An sei­nen kalkig weißen Ästen hingen leuchtend gelbe, pulsierende Kugeln mit dünnen, rosa Fangarmen. Als ich näher kam, zogen sie sich blitzschnell in das Innere der Röhrenä­ste zurück.

Vruumys schenkte der seltsamen Umge­bung kaum einen Blick. Er hatte solche Bil­der wohl schon zu oft gesehen. Einen klei­nen Schwarm knallroter Fische mit silbernen Mäulern, der sich uns näherte, verscheuchte er mit einer ärgerlichen Handbewegung. Er kontrollierte die Anzeigen seines Armband­geräts und winkte mich weiter.

Das Wasser blieb klar. Mir war das ein Rätsel, denn ich merkte nichts von einer Strömung, die etwa diesen Teil des Meeres­grundes von Schlamm freihielt. Hatten die geheimnisvollen Besitzer der Urnen dafür gesorgt, daß die stählernen Behälter nicht unwiederbringlich begraben wurden?

Auf einem schmalen Geröllstreifen lag ein glänzender Gegenstand von fast zwei Metern Länge. Vruumys umschwamm ihn aufgeregt und begutachtete das Ding von al­len Seiten. Also mußte es sich wohl um die

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gesuchte Urne handeln. Sie war unversehrt. Der Schwarze befestigte hastig das An­tischwerkraftgerät an dem Behälter und schaltete es ein. Federleicht hob sich das schwere Gefäß vom Boden ab. Vruumys stieß es sanft vor sich her und bedeutete mir, daß ich den Geleitschutz übernehmen sollte. Ich überzeugte mich davon, daß meine Har­pune schußbereit war, dann kamen wir auch schon in das Reich der Unterwasserbestien.

Ich spürte die Unruhe im Wasser. Es irri­tierte mich, daß ich kein einziges Tier zu Gesicht bekam, und meine überreizten Sinne gaukelten mir die unwahrscheinlichsten We­sen vor, die jenseits meines Sichtbereichs lauerten. Auch Vruumys fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Obwohl er eine kostba­re Fracht zu dirigieren hatte, verwendete er mehr Aufmerksamkeit auf die Umgebung, als auf das steuern der Urne. Und genau das war der Fehler.

Er hatte das Gefäß nicht umgedreht und nicht einmal einen Blick auf seine Unterseite riskiert. Auch jetzt bemühte er sich nach be­sten Kräften, den Behälter in der Lage aus­zubalancieren, in der er auf dem Grund gele­gen hatte. Er wollte den Inhalt nicht gefähr­den. Es war erstaunlich, daß die Urne kei­nerlei Bewuchs aufwies. Es gab nicht einmal den kleinsten Schwamm auf ihrer Oberseite. Aber unten drunter …

Ich sah es zuerst, weil ich etwas hinter dem Schwarzen zurückgeblieben war. Der Schemen eines Fisches hatte den Rand des Lichtkegels gestreift und war dann in die Dunkelheit zurückgesunken. Als ich zu Vru­umys hinaufblickte, entdeckte ich zwei leuchtende Punkte etwa einen Meter von sei­nem Gürtel entfernt. Undeutlich nahm ich nun auch drei kurze, schwarze Gliedmaßen wahr, die aus einem plattgedrückten Körper herausragten. Das Wesen kroch näher an meinen Retter heran.

Vruumys war zuerst völlig überrascht, als ich ihn an den Beinen packte und nach unten zog. Dann erholte er sich von seinem Schrecken und trat nach mir.

Er glaubt, du willst ihn um seine Beute

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bringen, bemerkte das Extrahirn trocken. Der Schwarze klammerte sich mit den

Händen an seinen Behälter und strampelte wild. Aber ich zog ihn unbarmherzig weiter nach unten. Endlich erreichte er die Urne nur noch mit den Fingerspitzen. Dafür hatte er einen hervorragenden Ausblick auf den scharfen Hornschnabel, der direkt vor seinen gelben Augen eine unzweideutige Bewe­gung ausführte. Er ließ die Urne los, und im selben Moment brach die Hölle über uns herein.

Das Tier, das so lange auf seine Chance gewartet, wollte sich seine Beute so einfach nicht entgehen lassen. Ehe einer von uns reagieren konnte, legte sich eine dünne Sch­linge um den Hals des Schwarzen. Die Arme des Tieres warendehnbar wie Gummi und hatten sich plötzlich um ein Vielfaches ver­längert.

Ich dankte dem Instinkt, der mich dazu getrieben hatte, ein Messer in meinen Gürtel zu stecken. Vruumys Tauchanzug war flexi­bel, und die Schlinge um seinen Hals zog sich rasch zusammen. Gleichzeitig kam der Körper des Angreifers näher. Der Schnabel klappte eifrig auf und zu, und der vorher platte Körper pumpte sich pulsierend mit Wasser auf. Eine rosa Öffnung erschien un­ter dem Schnabel.

Das alles geschah so schnell, daß ich mein Messer erst einsetzen konnte, als das Biest den Schwarzen schon fast erreicht hatte. Der Schnabel war nur noch Zentimeter von Vru­umys' Schulter entfernt, als ich zustieß. Der Arm zuckte zurück, und Vruumys war frei. Dafür lag jetzt eine Schlinge um mein linkes Handgelenk.

Der Schwarze wurde durch die ruckhafte Bewegung des Tieres zur Seite gewirbelt und stieß dabei zufällig mit der Urne zusam­men. Entweder hatten der Schreck und der Zusammenprall ihn restlos verwirrt, oder er legte auf die Unsterblichkeit wesentlich grö­ßeren Wert als auf meine Gesellschaft. Je­denfalls verschwand er binnen Sekunden samt dem verdammten Behälter aus dem schwachen Lichtkreis, den meine Helmlam­

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pe aus der trüben Dämmerung riß. Ich kam nicht dazu, ihm lange nachzu­

trauern, denn die Bestie beschäftigte mich voll und ganz. Auch jetzt versuchte sie ihren Fangarm als Anker einzusetzen, mit dessen Hilfe sie ihr Opfer am leichtesten erreichen konnte. Ich stach erneut zu, aber der Arm löste sich diesmal nicht. Aus der winzigen Wunde, die ich in die zähe Haut hatte schneiden können, quoll eine gallertartige Flüssigkeit, die meine Sichtmöglichkeiten noch stärker einschränkte. Ich säbelte an dem Fangarm herum und biß die Zähne zu­sammen, als meine linke Hand zu kribbeln begann. Das Biest schnürte mir das Blut ab. Dann tauchte eines der leuchtenden Augen vor mir auf.

Etwas tastete über meinen rechten Arm, aber ehe das Tier mich endgültig fesseln konnte, stieß ich das Messer nach vorn, di­rekt in den Körper hinein. Der aufgeblähte Leib zog sich krampfhaft zusammen. Der Rückstoß des dabei herausgepreßten Was­sers wirbelte uns alle beide in einem ver­rückten Kurs durch das trübe Naß. Die Sch­linge um meinen linken Arm lockerte sich jedoch keineswegs, und nach kurzer Zeit fühlte ich, daß sich der Druck sogar noch verstärkte. Das Biest zog sich schon wieder an mich heran, und wenn es so weiter mach­te, brach es mir das Handgelenk.

Unwichtig, bemerkte der Logiksektor in diesem passenden Moment. Wenn es dich erst aufgefressen hat, wirst du nichts mehr davon merken. Du solltest versuchen, mög­lichst rasch aufzusteigen!

Ich nannte mich in Gedanken einen Vollidioten. Dann veränderte ich die Stel­lung des Schalters am Gürtel, was gar nicht so einfach war, weil ich nur eine Hand be­nutzen konnte und das Messer nicht loslas­sen wollte.

Als ich es endlich geschafft hatte, wähnte die Bestie sich am Ziel und bohrte ihren Schnabel in mein rechtes Bein. Aber der Schnabel verhakte sich völlig nutzlos in ei­ner Falte im Stoff. Ehe das Wesen seinen Irrtum berichtigen konnte, schossen wir be­

reits mit hoher Geschwindigkeit nach oben. Der Ruck reichte aus, um das Tier zum Öff­nen des Schnabels zu veranlassen. Es fiel zurück, aber der Fangarm hielt mich wie an einer Angel fest. Die Bestie hatte sogar eine ziemlich kurze Reaktionszeit, denn ich spür­te, wie meine Beschleunigung nachließ.

Das Tier kämpfte darum, in die gewohn­ten Tiefen zurückzukehren. Es ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß es mich mit­zunehmen gedachte.

Meine Augen wanderten zwischen dem Tiefenmesser und der kugelförmigen Hülle aus Licht, die mich umgab, hin und her. Bei fünfzig Metern hatte mein Gegner sich so weit erholt, daß er seine alten Waffen ein­setzte. Der heftig pulsierende Körper tauchte an der Grenze des Lichtgürtels auf. Ich ver­suchte immer noch den Fangarm zu durch­schneiden, obwohl ich allmählich das Ge­fühl hatte, es nicht mit lebendem Gewebe, sondern mit einem Stück Draht zu tun zu ha­ben. Ich griff bereits zur Harpune, bereit, das Risiko einzugehen, daß ich selbst die Aus­wirkungen des kleinen Sprenggeschosses zu spüren bekam, da war die Grenze überschrit­ten.

Vierzig Meter trennten mich noch von der Oberfläche, und der schnelle Aufstieg hatte einen starken Druckwechsel mit sich ge­bracht. Ich wurde durch das Atemsystem des Anzugs vor den Folgen geschützt. Aber die­se dreiarmige Bestie war von der Natur für die tieferen Wasserschichten ausgerüstet.

Der Körper dehnte sich aus. Verzweifelt versuchte das Tier, das überschüssige Was­ser aus seinem Leib zu drücken, aber die Muskeln schafften es nicht mehr. Die Fang­arme gerieten außer Kontrolle. Hilflos schlu­gen sie durch das Wasser. Nur der Arm, der mich gepackt hielt, spielte nicht mit. Der Reflex, sich festzuklammern, hatte sich die­sem Körperteil bereits zu stark eingeprägt.

Zweiunddreißig Meter. Es war schon ziemlich hell um mich. Ich

stieg für meine Begriffe viel zu langsam. Das Tier unter mir lebte noch, war aber zu keiner gezielten Bewegung mehr fähig. Ob­

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wohl es gar nicht so besonders groß war, be­saß es ein spürbares Gewicht. Es wirkte wie ein Schleppanker.

Ein glänzendes, torpedoförmiges Tier von etwa drei Metern Länge hatte die günstige Gelegenheit zuerst erfaßt. Es biß mit einer Leichtigkeit, die mich an meinem Verstand zweifeln ließ, ein Stück von einem der bei­den freien Fangarme ab und jagte mit seiner Beute schnurstracks davon. Ein zweiter Fisch derselben Sorte, der jedoch noch ein bißchen länger war, dachte sich, der nun reglose kugelförmige Körper wäre ein loh­nenderer Happen. Er bekam den Mund voll Wasser mit einem Stück zäher Haut dazwi­schen, und das ärgerte ihn so sehr, daß er die Verfolgung seines Artgenossen aufnahm.

Ich atmete zu früh auf, denn kaum war seine Schwanzflosse in der Dämmerung ver­schwunden, da tauchte bereits ein neuer In­teressent auf. Auch er verschluckte ein Stück Fangarm. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern beabsichtigte er, eine Mahlzeit von größerem Nährwert zu sich zu nehmen, denn er knabberte sich systematisch dem Ausgangspunkt des Armes entgegen.

Als dieser hungrige Bursche sich daran machte, auch meine Fessel aufzufressen, wurde ich skeptisch. Das Tier würde sich nicht damit begnügen, den zähen Tentakel zu vertilgen, sondern mich als delikate Nachspeise verschlucken wollen.

Mit äußerster Vorsicht betätigte ich den Gürtelschalter. Der Fisch glotzte zu mir her­auf – meine Bewegung war ihm nicht ent­gangen. Aber ich hatte meinen Auftrieb praktisch aufgehoben und schwebte ruhig knappe drei Meter über dem Maul des Rie­sen. Der Fisch schnappte zu und trennte mü­helos meine Fessel durch. Im gleichen Au­genblick schaltete ich erneut. Die plötzliche Beschleunigung riß mich so weit nach oben, daß ich das Tier aus den Augen verlor. Der Fangarm löste sich von meinem Handge­lenk. Als eine spitze Schnauze am Ende meines Sichtbereichs auftauchte, hatte ich die Harpune schußklar und drückte ab.

Das Projektil raste zischend und blasen-

Marianne Sydow

spuckend auf die gefräßige Bestie zu und explodierte. Eine Fontäne fast schwarzen Blutes schoß aus der klaffenden Wunde und wurde von der Strömung davongetragen. Der tote Fisch trudelte langsam um seine Achse, aber ehe der Körper zu sinken be­gann, waren bereits die restlichen Bestien zur Stelle, die im Schutz des trüben Wassers auf Beute gelauert hatten. Unter mir war das Wasser gefüllt von wirbelnden Leibern, Blut und kleinen Fleischfetzen. Dann erreichte ich die etwas klarere Zone oberhalb zwanzig Metern.

Ich durchbrach schließlich die Wassero­berfläche. Das Schiff des Schwarzen war noch mindestens dreißig Meter von mir ent­fernt. Ich kraulte darauf zu, da setzte es sich in Bewegung. Ein schwarzbepelzter Arm streckte sich mir entgegen, und mit einem Ruck zog Vruumys mich aus dem Wasser. Ich fiel auf das glatte, von der hüfthohen Re­ling begrenzte Deck. Fauchend löste sich hinter mir ein Schuß. Wasser sprühte in dicken Tropfen bis in den Kabinenabgang hinein.

Ich raffte mich auf und nickte Vruumys kurz zu. Noch während ich meine Harpune auf die dunklen Leiber richtete, die sich un­ter der Oberfläche drängten, hastete der Schwarze ans Steuer.

Ein schwerer Körper stieß gegen den Kiel. Das Boot schwankte stark. Das Licht brach sich auf den Wellen und machte es mir schwer, ein Ziel anzuvisieren. Ich feuer­te mehrmals in das Gewühl hinein. Mehr durch Zufall fand eines der Geschosse sein Ziel. Sofort stürzten sich die blutgierigen Riesenfische, die sich um das Boot versam­melt hatten, auf ihren verwundeten Artge­nossen.

»Festhalten!« schrie Vruumys mir über das Rauschen des Antriebs hinweg zu.

Ich klammerte mich an die Reling. Mit ei­nem gewaltigen Satz schoß das Boot vor­wärts, raste durch die Lücke im Ring der ge­waltigen Leiber und hüpfte dann über die Wellen davon.

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53 Der Blaue von Somor

*

Wir verankerten das Boot an einer ruhi­gen Stelle draußen über dem tiefen Wasser. Weder der Schwarze noch ich sprachen über die Ereignisse.

Wir hatten beide unser Bestes gegeben, um die kostbare Urne samt Inhalt in Sicher­heit zu bringen. Vruumys verdankte den re­lativ gefahrlosen Rückweg zum Boot der Tatsache, daß ich die Bestien abgelenkt hat­te.

Ich schälte mich erschöpft aus dem Tauchanzug, dann sah ich mir unsere heißer­kämpfte Beute an.

Vruumys hatte wieder seinen schimmern-den Anzug angelegt und war bereits dabei, den Behälter zu öffnen. Da es keine sichtba­ren Verschlüsse gab, war er gezwungen, den oberen Teil der Urne aufzuschneiden. Er be­nutzte dazu ein Gerät, das einem Strahler sehr ähnlich sah und auch nach diesem Prin­zip arbeitete. Ich fragte ihn, warum wir uns für den gefahrvollen Tauchgang nicht mit dieser Waffe ausgerüstet hatten, aber der Schwarze war nicht ansprechbar. Seine Beu­te faszinierte ihn restlos.

Feierlich hob er die sauber herausgetrenn­te Metallplatte hoch und spähte in das Innere des Behälters. Ich reckte mich und blickte ihm über die Schulter. Drinnen schwappte eine Flüssigkeit.

»Das Lebenselexier!« hauchte Vruumys andächtig, dann rannte er los und holte zwei Becher. Er schöpfte sie mit einer langstieli­gen Kelle voll und hielt mir einen davon hin.

»Trink, Atlan!« rief er enthusiastisch. »Du hast mir Glück gebracht und sollst dei­nen gerechten Anteil erhalten. Wir werden ewig leben! Bei den Dämonen der Finster­nis, ich kann es kaum fassen, daß ich es end­lich geschafft habe!«

Ich schnupperte mißtrauisch am Rand des Bechers.

Die Flüssigkeit war tatsächlich so klar und farblos wie Wasser, strömte jedoch einen stechenden Geruch aus. Ich suchte

krampfhaft nach einer passenden Ausrede. Ich wollte meinen Wohltäter nicht beleidi­gen, indem ich sein großzügiges Geschenk ablehnte, verspürte jedoch einen starken Wi­derwillen gegen den Inhalt des Bechers.

Aber Vruumys beachtete mich gar nicht mehr. Er trank mit andächtig geschlossenen Augen das Zeug herunter, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und nickte mir zufrieden zu. Ich hatte die günstige Ge­legenheit genutzt und meinen Anteil unbe­merkt in die Urne zurückgegossen. Die Flüs­sigkeit war mir einfach nicht geheuer.

»Das ewige Leben!« sagte Vruumys leise. »Die lange Suche hat sich gelohnt. Wir wer­den uns etwas ausruhen, und dann will ich mein Versprechen einlösen. Zeit spielt ja nun für mich keine Rolle mehr. Wir werden deine Freunde suchen – und du darfst dich darauf verlassen, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um dir zum Er­folg zu verhelfen.«

Ich war erschöpft durch den Unterwasser­kampf, gleichzeitig aber auch glücklich über den gelungenen Fang. Nicht mehr lange, dann konnte ich mit Hilfe des Schwarzen meine Suche wieder aufnehmen, und dies­mal standen die Aussichten auf einen Erfolg günstiger denn je. Ich setzte mich unter das Sonnensegel, genoß die Wärme und die Ru­he um mich her, streckte die Beine von mir und blinzelte müde und zufrieden auf die glitzernde Wasserfläche hinaus.

Ein leises Stöhnen ließ mich schon nach wenigen Minuten zusammenschrecken. Ich sprang auf und rannte in die Kabine, in die Vruumys sich nach dem Genuß des lebens­verlängernden Trankes zurückgezogen hatte.

Das pelzige Wesen lag in verkrampfter Haltung auf dem Boden. Das samtartige Fell, das seinen ganzen Körper bedeckte, war nicht mehr tiefschwarz, sondern ver­färbte sich zusehends zu einem blassen Grau. Ich kniete mich neben ihn und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. Die gelben Augen öffneten sich, starrten mich zuerst verständnislos an, dann trat der Schimmer des Erkennens in die dunklen, geweiteten

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Pupillen. »Atlan, mein Freund!« Die Stimme meines Retters war kaum

noch hörbar. Ich beugte mich tiefer zu ihm hinab, um seine Worte zu verstehen.

»Es ist aus«, flüsterte Vruumys. »Der Trank war vergiftet. Ich werde sterben.«

Ich sah mich gehetzt in der Kabine um, entdeckte ein Regal mit kleinen Flaschen darin und erinnerte mich daran, wie Vruu­mys mich aus dem Bann der Droge erlöst hatte. Aber die Flaschen trugen Bezeichnun­gen, die für mich unverständlich waren. Welche davon mochte die richtige Medizin enthalten?

»Die Flaschen können mir nicht mehr hel­fen«, keuchte Vruumys und griff nach mei­ner Hand. Er rang verzweifelt nach Luft.

»Ruhig!« beschwor ich ihn. »Sprich jetzt nicht. Du brauchst deine Kraft. Hab keine Angst, ich helfe dir!«

Vruumys hörte mich nicht. Er zitterte am ganzen Körper, und seine Blicke gingen durch mich hindurch. Ich wollte aufstehen, nach einer Medizin suchen, aber er hielt mich fest. Noch einmal wurden seine Augen klar.

»Fahr auf das Blaue Meer hinaus, Atlan!« sagte er. »Steuere an der Küste entlang west­wärts. Mein Sternenschiff …«

Der Rest des Satzes ging in lautem Stöh­nen unter. Ein heftiger Krampf durchlief den Körper des Schwarzen. Die jetzt fahlgraue Hand umschloß meine Finger ein letztesmal, dann fiel sie schlaff auf den Boden zurück.

Minutenlang blieb ich wie betäubt neben ihm sitzen. Dann stand ich langsam auf und machte mich an meine traurige Arbeit.

*

Ich legte den Körper des Fremden in den Behälter, dessen Besitz Vruumys heißester Wunsch gewesen war und nach dem er so lange vergeblich gesucht hatte – unter Ge­fahren, die ich erst jetzt ermessen konnte. Nachdem ich die Urne verschlossen hatte, steuerte ich das Boot an genau die Stelle, an

Marianne Sydow

der wir das Gefäß zum erstenmal geortet hatten.

Die Raubfische waren inzwischen ihrer Wege geschwommen. Während ich dem langsam sinkenden Behälter nachsah, dachte ich an den überall anzutreffenden Glauben, daß nach dem Vergehen des Körpers die Seele in ein besseres, schöneres, ewiges Le­ben überwechselt. So gesehen, hatte Vruu­mys das Ziel seiner Wünsche erreicht, ob­wohl er sich seine Unsterblichkeit wohl ent­schieden anders vorgestellt hatte.

Ich stieß mich von der Reling ab, ver­bannte jeden Gedanken an den tragischen Zwischenfall aus meinem Gehirn und wand­te mich der Gegenwart zu.

Westwärts! Ich brachte das Boot auf den richtigen

Kurs, stellte die Automatik ein und ging wieder an Deck, um mich endlich etwas aus­zuruhen. Erfüllt von optimistischen Vorstel­lungen über die nahe Zukunft, legte ich mich hin und schloß die Augen. Kaum hatte ich mich im Schatten ausgestreckt, da wurde ich mit einem heftigen Ruck in die Höhe ge­schleudert.

Ich griff nach der Reling, aber das glatte Metall entglitt meinen Händen. Ein lautes Krachen ertönte, dann bockte das Boot wie ein wildes Tier, und ich wurde in die Wellen hinabgeschleudert. Wieder schlug das Was­ser über mir zusammen, und diesmal trug ich weder einen Tauchanzug, noch hatte ich eine Waffe in der Hand. Als ich prustend auftauchte, war das Boot bereits weit von mir entfernt. Wütend schrie ich etwas hinter der wildgewordenen Maschine her. Dann wurde mir klar, daß die unerwartete Lan­dung im nassen Element meine Rettung ge­wesen war.

Eine gewaltige Explosion zerriß Vruumys' Schiff. Eine Stichflamme schoß in den Him­mel, und glühende Brocken wirbelten durch die Luft.

Ich hielt Ausschau nach der Küste und entdeckte einen schwärzen Strich am Hori­zont.

Es war alles beim alten. Wieder war ich

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auf mich selbst gestellt, und ein Ende meiner Suche war nicht abzusehen. Ich konnte schon von Glück sagen, wenn ich an Land kam, ohne vorher aufgefressen zu werden.

Die Götter des Blauen Meeres waren mir gnädig gesinnt. Falls es sie gab, so waren sie nach all den Opfern satt und zufrieden. Es schien, als hätte jemand die zahlreichen Tie­re, die diese Gewässer bevölkerten, zurück­gepfiffen. Ich schwamm mit ruhigen, gleich­mäßigen Bewegungen und richtete mich ab und zu wassertretend auf, um mich zu orien­tieren. Die Kälte durchdrang meinen Körper, aber meine Arme und Beine brauchten kei­nen besonderen Befehl mehr. Automatisch und zügig vollführte ich Schwimmbewegun­gen, schrak manchmal zusammen, wenn ein geschuppter Körper meine Beine streifte, hörte dann ein leises Rauschen vor mir und begriff dessen Bedeutung erst, als mich der erste Brecher unvermutet hochhob und mich anschließend in einen Wirbel von Gischt und Luftblasen stürzte. Ich stieß mich ein paarmal schmerzhaft an Steinen und anderen Dingen unter der Oberfläche und wurde schließlich auf eine breite Sandfläche ge­spült. Erschöpft kroch ich aus der Reichwei­te der mächtigen Wellen und blieb regungs­los im warmen Sand liegen, bis meine Lun­gen wieder ruhig und gleichmäßig arbeite­ten.

Dann erst sah ich mich um. Meine Umgebung war beinahe paradie­

sisch. Ein breiter, hellgelber Sandstrand dehnte sich vor mir aus. Die Wellen hatten Ketten aus Treibgut darauf zusammenge­spült. Weiter landeinwärts lag die Grenze ei­nes subtropischen Waldes. Der Duft unzähli­

ger Blüten und aromatischer Blätter ver­mischte sich mit dem Salz- und Tanggeruch des Meeres.

Inmitten der angeschwemmten Pflanzen­reste und tierischen Überbleibsel entdeckte ich ein paar dunkle Brocken, die ich mir ge­nauer ansah. Es handelte sich um Trümmer­teile des Bootes. Aufgeregt suchte ich wei­ter, fand eine Kiste und stemmte den Deckel auf.

Die Kiste enthielt einen jener metalli­schen Anzüge, wie Vruumys ihn getragen hatte. Außerdem lag ein seltsames Instru­ment darin, dessen Sinn und Zweck mir vor­erst verborgen blieb. Es war schwer wie Blei und glänzte in der Sonne wie Silber. Es be­stand aus einer drei Zentimeter durchmes­senden Kugel, um die sternförmig drei fin­gerlange Zacken angeordnet waren.

Nach kurzem Zögern schlüpfte ich in das seltsame Kleidungsstück, nahm die Kugel an mich und machte mich auf den Weg. Irgend-wo westwärts lag Vruumys' Sternenschiff. Und nach Westen mußte ich mich auch hal­ten, wenn ich allen Hindernissen zum Trotz doch noch Teghment erreichen wollte.

Chrysalgira und Grek-3? Ich hatte keine Ahnung, wo die beiden

steckten. Aber ich wußte, daß ich die Suche nicht aufgeben würde. Die Suche nach mei­nen beiden Schicksalsgefährten und nach dem Weg, der in meinen gewohnten Kos­mos zurückführte.

ENDE

E N D E