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Der einfluss Der BrüDer Grimm auf Die Brasilianische folkloreforschunG unD kinDer- unD juGenDliteratur eine untersuchung am Beispiel der märchensammlungen von monteiro lobato, sílvio romero und luís da câmara cascudo lara Brück-Pamplona 27 Brück-PamPlona Brüder Grimm in der Brasilianischen kJl Wenn im Rahmen der brasiliani- schen Kinder- und Jugendliteraturfor- schung Märchen behandelt werden, ist die unmittelbare Assoziation mit dem Werk der Brüder Jacob und Wil- helm Grimm unbestreitbar. Der Bei- trag der beiden deutschen Philologen reicht jedoch weit über die Kinder- und Jugendliteraturforschung hinaus. In der Tat zeigt sich der Einfluss der Grimmschen Arbeit in Bezug auf die Entstehung und Entwicklung der er- sten folkloristischen Schulen und die methodologische Orientierung brasi- lianischer Folkloristen als geradezu es- senziell. Die Ideale der deutschen Romantik, zu deren zentralen Vertre- tern die Brüder Grimm zählen, dienten als Inspiration für die Beschäftigung mit dem Volkstümlichen in Brasilien. In diesem Kontext steht die Diskussion über das Authentische eines Volkes und die Suche nach einer genuinen Nationalidentität im Vordergrund, wobei die Diskurse über die orale Lite- ratur als „Spiegel der Volksseele“ eine besondere Rolle einnehmen. In diesem Sinne befasst sich der vorliegende Beitrag mit den Auswir- kungen des Grimmschen Werks und methodologischen Diskurses auf die brasilianische Folkloreforschung und Kinder- und Jugendliteratur (KJL). Dabei soll das Hauptaugenmerk auf den Kinder- und Hausmärchen (KHM) und ihrer Präsenz in den Märchen- sammlungen von Monteiro Lobato, Sílvio Romero und Luís da Câmara Cascudo liegen. Zunächst werden die Begriffe „Folklore“ und „orale Literatur“ er- läutert und die Präsenz des Gedan- kenguts deutscher Romantik in den brasilianischen Folklorestudien sowie in der KJL dargestellt. Im Anschluss wird ein zusammenfassender Über-

Der einfluss Der BrüDer Grimm auf Die Brasilianische ... Regionalismus/05...mero) und „Bicho de Palha“ (Cas - cudo) vorgestellt. Die aus brasi-lianischen Werken entnommenen Zi-tate

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Der einfluss Der BrüDer Grimm auf Die

Brasilianische folkloreforschunG

unD kinDer- unD juGenDliteratur

eine untersuchung am Beispiel der märchensammlungen vonmonteiro lobato, sílvio romero und luís da câmara cascudo

lara Brück-Pamplona

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Brück-PamPlona Brüder Grimm in der Brasilianischen kJl

Wenn im Rahmen der brasiliani-schen Kinder- und Jugendliteraturfor-schung Märchen behandelt werden,ist die unmittelbare Assoziation mitdem Werk der Brüder Jacob und Wil-helm Grimm unbestreitbar. Der Bei-trag der beiden deutschen Philologenreicht jedoch weit über die Kinder-und Jugendliteraturforschung hinaus.

In der Tat zeigt sich der Einfluss derGrimmschen Arbeit in Bezug auf dieEntstehung und Entwicklung der er-sten folkloristischen Schulen und diemethodologische Orientierung brasi-lianischer Folkloristen als geradezu es-senziell. Die Ideale der deutschenRomantik, zu deren zentralen Vertre-tern die Brüder Grimm zählen, dientenals Inspiration für die Beschäftigungmit dem Volkstümlichen in Brasilien.In diesem Kontext steht die Diskussionüber das Authentische eines Volkesund die Suche nach einer genuinen

Nationalidentität im Vordergrund,wobei die Diskurse über die orale Lite-ratur als „Spiegel der Volksseele“ einebesondere Rolle einnehmen.

In diesem Sinne befasst sich dervorliegende Beitrag mit den Auswir-kungen des Grimmschen Werks undmethodologischen Diskurses auf diebrasilianische Folkloreforschung undKinder- und Jugendliteratur (KJL).Dabei soll das Hauptaugenmerk aufden Kinder- und Hausmärchen (KHM)und ihrer Präsenz in den Märchen-sammlungen von Monteiro Lobato,Sílvio Romero und Luís da CâmaraCascudo liegen.

Zunächst werden die Begriffe„Folklore“ und „orale Literatur“ er-läutert und die Präsenz des Gedan-kenguts deutscher Romantik in denbrasilianischen Folklorestudien sowiein der KJL dargestellt. Im Anschlusswird ein zusammenfassender Über-

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blick über die Einflüsse der BrüderGrimm auf Monteiro Lobato, SílvioRomero und Câmara Cascudo gege-ben, die zweifelsfrei drei der bedeu-tendsten Vertreter der Volksmärchen-forschung in Brasilien sind. Exempla-risch für diese Einflüsse wird abschlie-ßend eine kurze kontrastive Analyseder Märchen „Aschenputtel“(Grimm), „Maria Borralheira“ (Ro-mero) und „Bicho de Palha“ (Cas-cudo) vorgestellt. Die aus brasi-lianischen Werken entnommenen Zi-tate wurden von mir ins Deutscheübersetzt.

folklore und orale litera-tur

Der Begriff folk-lore, der etwa als „Wis-sen oder Wissenschaft des Volkes“übersetzt werden kann, erscheint zumersten Mal 1846 in den Studien desenglischen Archeologen William JohnThoms als technischer Ausdruck fürdie volkstümlichen Traditionen. LautRenato Almeida in Inteligência do Fol-clore wurden diese verstanden als „an-tigüidades populares… tudo aquiloque, posteriormente, se abrangeria soba denominação de literatura oral”(„populare Altertümlichkeiten… alldas, was später unter der Bezeichnung‚orale Literatur’ umfasst werdensollte“, 17). In den Worten Thomsbezog sich Folklore demnach auf

alle jene volkshaften Erscheinun-gen, die wie Sagen, Märchen,Schwänke, Erzählungen, Volkslie-der, Volksmusik und Tänze, Rät-sel, Witze, usf. als mündlichüberliefertes Brauchtum vorhan-den sind und als gelebte Traditionder Gegenwart (von Mund zuMund) [durch die Generationen]weiter überliefert werden.(CIOFF/UNESCO o. S.)

Trotz der Einbeziehung von Musikund Tanz ist bei Thoms ein begrenztesVerständnis des Folklorebegriffs zubeobachten, das eng mit dem Konzeptder Literatur verbunden ist. Der Be-griff wurde später erweitert und um-fasste dann die Gesamtheit dernicht-schriftlichen Volkstraditionen inihrem „geistigen“ und materiellenAspekt1 . In diesem Sinne wird Folk-lore ab dem 20. Jahrhundert als die Ge-samtheit der mündlich überliefertenvolkstümlichen Traditionen verstan-den – eine Art inoffizielle Kultur, diesich von der institutionalisierten Kul-tur unterscheidet und mit ihr in stän-diger Wechselwirkung steht. Für Luísda Câmara Cascudo bezeichnet Folk-lore „a cultura do popular, tornadanormativa pela tradição“ („die Kulturdes Volkstümlichen, die durch die Tra-dition normativ wird“, 2001, 240).

Im Rahmen der Folkloreforschungist die intensive Beschäftigung mit deroralen Literatur besonders zu betonen.

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Laut Paul Sébillots Definition umfasstsie die folkloristischen Manifestatio-nen, die für diejenigen, die nicht lesen(können), an die Stelle der (schriftli-chen) Literatur treten oder ihre Rolleübernehmen: „La littérature oralecomprend ce qui, pour le peuple quine lit pas, remplace les productions lit-téraires“ (6). Gemeint sind somit vorallem volkstümliche Traditionen lite-rarischen Charakters – wie etwaSagen, Legenden, Mythen und insbe-sondere die (Volks-) Märchen.

In dem Werk Literatura Oral be-hauptet Cascudo, dass das Folkloristi-sche aus dem fortwährendenkollektiven Gedächtnis folgt (vgl. 20).Diese Idee entwickelt auch MonteiroLobato in der Einleitung eines seinerbekanntesten Kinderbücher, Históriasde Tia Nastácia (1937, Geschichten vonTia Nastácia). Lobato bezieht sich aufdie Genese des Werks – einer Mär-chensammlung – und erklärt denFolklorebegriff anhand eines Dialogszwischen den Figuren Pedrinho undEmília. Als der Junge Pedrinho wissenwill, was Folklore bedeutet, schickt erdie lebendige Puppe Emília zur Groß-mutter Dona Benta, die ihr die Bedeu-tung des Wortes erklären soll. Emíliakommt mit folgender Antwort zurück:

Dona Benta disse que folk querdizer gente, povo; e lore quer dizer

sabedoria, ciência. Folclore sãocoisas que o povo sabe por boca,de um contar para o outro, de paisa filhos – os contos, as histórias, asanedotas, as superstições, asbobagens, a sabedoria popular etc.e tal. (3, Hervorhebungen im Ori-ginal)

(Dona Benta hat gesagt, dass folkLeute, Volk bedeutet; und loreheißt Weisheit, Wissenschaft. Folk-lore sind Dinge, die das Volk vondem [Volks-]Mund erfährt, vomSich-Einander-Erzählen, von El-tern zu Kindern – die Märchen,die Geschichten, die Anekdoten,die Aberglauben, das Geschwätz,die Volksweisheit usw. usf.)

Zusammenfassend lässt sich dieTatsache feststellen, dass die Entwick-lung der Folkloreforschung sowohl inDeutschland als auch in Brasilien mitder der Märchenforschung einher-ging. In diesem Zusammenhang in-tensiviert sich ebenso dieKJL-Forschung. Schon frühzeitigdachte Jacob Grimm an eine kindlicheRezeption der Märchen, was sich da-durch belegen lässt, dass er 1808 ei-nige Märchen für sein PatenkindBettine an seinen Magdeburger LehrerFriedrich Carl von Savigny schickte.Kathrin Pöge-Alder erklärt:

Die Grimms ließen durch ihre Be-arbeitung Märchen als Familien-,besonders als Kinder-Literaturentstehen. Märchen haben durch

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sie einen festen Platz im Bereichdes „Hauses“, ganz der Program-matik ihres Titels folgend. (137)

Im Folgenden soll dargestellt wer-den, wie der Beitrag der deutschenRomantik und ihrer Gedanken undbesonders des Grimmschen Werks fürdie Entwicklung der brasilianischenFolkloreforschung zustande gekom-men ist.

Das Gedankengut derdeutschen romantik in

der brasilianischen folklore-forschungIn Deutschland lässt sich der geistigeAntrieb zur intensiven Diskussionüber das „Volk“ bereits im 18. Jahr-hundert beobachten, genährt von derAufklärung und vor allem von deridealisierenden romantischen Vorstel-lung einer heilen Vergangenheit. Diemeisten Denker der deutschen Aufklä-rung positionieren sich gegenüberoraler Literatur jedoch eher kritischund prangern die „abergläubische[n]Geschichten“ (Pöge-Alder 162) als„verwerflichen Weg der Traditionsver-mittlung“ (ebd. 164) an.

Mit Johann Gottfried Herder än-dert sich diese Bewertung und derVolksbegriff wird mit der Menschheitals kollektivem geistigem Mediumidentifiziert, das eine Verbindung zumUrsprung und damit zum Göttlichen,

Schöpferischen besitze. Herderschreibt dem Volk eine Art Seele miteigenständiger Kreativität zu, die erals „Volksgeist“ definiert. Dieser spie-gele sich in der Sprache, der „Stimmedes Volkes“ wider, artikuliert in denmündlich überlieferten Volkstraditio-nen. So behauptet Herder: „Wer inderselben Sprache erzogen ward, wersein Herz in sie schütten, seine Seelein ihr ausdrucken lernte, der gehörtzum Volk dieser Sprache“ (287).Mündliche Überlieferungen fasst Her-der als „Naturpoesie“ auf, die sich imGegensatz zur „Kunstpoesie“ frei vonästhetischen Kontaminationen zeige.

Die Herderschen Ideen, die alsVorbild für die Gruppe der Heidelber-ger Romantik dienen, tragen auch zurHerausbildung der MythologischenSchule bei, die von einem Fortbeste-hen der Reste alter Mythen in den zeit-genössischen mündlichen Erzählung-en, insbesondere der Märchengattung,ausgeht (vgl. Pöge-Alder 66). Auch dieBrüder Grimm vertreten diese Ideeund gehen von einem übergreifenden„urdeutsche[n] Mythus“ (1815, VII)aus, der als konstantes Erbe der indo-europäischen Sprachfamilie verstan-den wird und die Basis der Volks-poesie bildet. Das Volksmärchen bein-halte „ungeachtete Schätze“, die „dieWissenschaft von dem Ursprung[deutscher] Poesie gründen helfen“

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sollten (ebd., VIII). Die mythologi-schen Konzepte und die historischeSzenerie fördern die Etablierung einesromantischen Paradigmas, dem derAnspruch zugrunde liegt, das Au-thentische des eigenen Volkes aufzu-decken und die eigene National-identität zu konstruieren. Die deut-sche Romantik beansprucht somit dieAuferstehung der Vergangenheit unddie Rückkehr zu den Ursprüngen undversucht, in der germanischen Früh-zeit oder im Mittelalter ein Vorbild an-zusiedeln. Dabei gilt die mündlichüberlieferte Volksliteratur „als Grund-lage für die Nationalliteratur, der einewesentliche Rolle im staatlichen Eini-gungsprozess der Nationbildung zu-kommt“ (Pöge-Alder 125). In diesemZusammenhang sollen die mündli-chen Überlieferungen vor dem „Aus-sterben“ gerettet und für die Zukunft(schriftlich) festgehalten werden.

Anders als die Heidelberger Ro-mantik sehen die Grimms die Volks-poesie nicht bloß als Rohstoff undInspirationsquelle für die Kunstpoe-sie. Sie vertreten die „Treue und Wahr-heit“ („Vorrede [1819]“ 21) derErzählungen in der Konzeption ihrerKHM. So soll das philologische Ge-wissen der Brüder Grimm darauf ach-ten, die Spuren des mündlichenErzählens, der verbalen Reproduk-tion, an der literarisierten Version des

Märchens nicht zu tilgen. Jede Bear-beitung der Märchen sehen sie als De-formation und jede forcierte litera-rische Poetisierung des mündlichÜberlieferten wird eindeutig verwor-fen. Hierbei ist jedoch eine kritischeAuseinandersetzung mit dem Grimm-schen Diskurs und ihrer Arbeitsweiseunerlässlich, denn durch die verschie-denen Auflagen der KHM wird die in-tensive Editionsarbeit an den Textenimmer deutlicher. Vor allem WilhelmGrimm verfolgt konsequent das Ziel,die Märchen anzupassen und „durchPädagogisieren, Entsexualisieren undStilisieren der mündlich überliefertenTexte ein ‚Kinder- und Hausbuch’ zuformen“ (Pöge-Alder 164).

In Brasilien tritt die Nationalfrageebenfalls mit der Romantik auf, sodass im 19. Jahrhundert eine bedeu-tende Hinwendung zum „einfachenVolk“ und seinen Traditionen erfolgt.Entscheidend für diese Epoche ist dieFrage nach der historischen Natur derbrasilianischen Nation und somit dieRückbesinnung auf den Ursprung desbrasilianischen Volkes. Während dieStrömung des Indianismo in der er-sten Hälfte des 19. Jahrhunderts dievorbildliche Vergangenheit im einhei-mischen Índio (Indigene) als großemNationalheld auferstehen lässt unddas Bild des authentisch Brasiliani-schen durch die rousseauische Vor-

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stellung eines „guten Wilden“ kon-struiert, nimmt das Interesse für dietraditionellen Überlieferungen ausdem Volksmund in der zweiten Hälftedes Jahrhunderts deutlich zu. So sol-len nicht nur die Indigenen als ge-nuine Brasilianer dargestellt, sondernauch die anderen Ethnien berücksich-tigt werden, wobei die Figur des Mes-tiço (Mestizen) in den Vordergrundtritt. Mit dem Modernismus im 20.Jahrhundert verstärkt sich diese Vor-stellung und intensiviert sich die Folk-loreforschung.

Die Rezeption des romantischenGedankenguts aus Deutschland för-dert in Brasilien die Suche nach einerNationalidentität und damit verbun-den auch die Erforschung der eigenenFolklore. Analog zu den Bemühungenin Deutschland ist das primäre Inter-esse der brasilianischen Forscher dasFesthalten und somit das „Retten“ desvolkstümlichen Kulturguts. Ein tat-sächlicher Anfang der Folklorestudienin Brasilien kann nicht genau be-stimmt werden, als Markstein für denBeginn einer systematischen Folklore-forschung lässt sich jedoch die Veröf-fentlichung der ersten brasilianischenMärchensammlungen nennen. In derTat leitet das Interesse für die Volkser-zählungen die Folklorestudien ein,wobei die Märchenforschung diewichtigste Rolle spielt. Mary MacGre-

gor-Villareal fasst diese Entwicklungzusammen:

An interest in tales and stories ini-tiated Brazilian folklore studies,folk narrative scholarship hasdominated much of folklore re-search in Brazil… Of course the‚beginning’ of folk narrative schol-arship, as is true of any move-ment, is impossible to pinpoint.However, some sort of startingpoint must be selected for practi-cal purposes… Most Brazilianfolklorists recognize the 1870s asthe beginning of folk narrative, ifnot folklore, scholarship in Brazil.The appearance of two importantnarrative collections – ChalesFrederik Hartt’s Amazonian TortoiseMyths (1875) and José VieiraCouto de Magalhães’ O Selvagem[Der Wilde] (1876) – …stimulatedinterest in orally-communicatedtales and laid the foundation forfuture narrative studies. (xviiiund xx)

Ausgehend von der Tätigkeit alsMärchensammler und der Veröffentli-chung der Kinder- und Hausmärchenmachen die Grimms auf den Gedan-ken aufmerksam, dass die volkstümli-chen Erzählungen einer Nation ihreÄquivalente in den Erzählungen an-derer Völker haben (vgl. Brandão 71).In diesem Sinne, mehr als durch einenunmittelbaren Einfluss auf die spon-tane Kultur des brasilianischen

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„homem-folk“ („folk-Menschen“, ebd.37), zeigt sich die besondere Relevanzder Brüder Grimm durch die klareAuswirkung ihrer Arbeit auf die Ent-wicklung der brasilianischen Folklore-forschung, insbesondere in Bezug aufdie Studien zur oralen Literatur mitder Märchenforschung im Vorder-grund. Die Veröffentlichung derGrimmschen Texte in Brasilien trägtzur Förderung der vergleichendenFolklorestudien in besonderem Maßebei, indem sie die „intellektuelle Neu-gierde“ (Brandão 37) der brasiliani-schen Forscher zur neuenWissenschaft weckt und ihnen Hin-weise auf Methoden und Prozessegibt. Adelino Brandão behauptet:

Com efeito, com aquela primeiraamostra do folclore germânico,fixada pelos dois escritores, ...foipossível aos estudiosos comprovara similitude existente entre umsem-número de lendas, contos... etradições populares da Alemanhae os vigentes noutros países, entreoutras gentes, com outras línguas,outros hábitos, outras culturas...Como [n]o Brasil. (72)

(In der Tat, mit jener ersten Kost-probe der germanischen Folklore,die von den beiden Schriftstellernfestgehalten wurde, …war es denForschern möglich, die beste-hende Ähnlichkeit zwischen einerUnzahl von Legenden, Märchen…und Volkstraditionen aus

Deutschland und denen festzu-stellen, die in anderen Länderngelten, unter anderen Leuten, mitanderen Sprachen, anderen Ge-wohnheiten, anderen Kulturen…Wie in Brasilien.)

Unter den beiden Brüdern ist Wil-helm Grimm, wie allgemein bekannt,der Hauptverantwortliche für die Edi-tionsarbeit in den Texten der gesam-melten Märchen. Dadurch macht ersein pädagogisches Anliegen deutlichund gibt den Märchen einen neuenCharakter, der sich als kennzeichnendfür die Kinderliteratur zeigt. In Brasi-lien finden bereits im 19. Jahrhundertdie ersten bedeutsamen Bemühungenum das kindliche Lesepublikum stattund die Verlage nutzen die Blüte derFolklorestudien, um in Kinderbücherzu investieren.

In diesem Kontext treten viele bra-silianische Forscher und Schriftstellerin die Fußstapfen der Brüder Grimm.Besondere Hervorhebung verdient andieser Stelle Alberto Figueiredo Pi-mentel, der u.a. die Werke Contos daCarochinha (1894), Histórias da Avo-zinha, História da Baratinha (beide von1897) veröffentlicht, die bis heute ste-tig neu aufgelegt werden und unterdem kindlichen Lesepublikum großenErfolg haben. In diesen Werken konn-ten bereits viele der GrimmschenTexte veröffentlicht werden.

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Der Einfluss der Brüder Grimmund ihres methodologischen Diskur-ses soll im Folgenden am Beispiel derausgewählten Schriftsteller/Folklori-sten – Monteiro Lobato, Sílvio Romeround Luís da Câmara Cascudo – kurzvorgestellt werden.

monteiro lobato Die Relevanz von Monteiro Lo-

bato im Rahmen der Diskussion überdie Grimmschen Einflüsse in Brasilienlässt sich zunächst durch die Tatsachefeststellen, dass seine Contos de Grimm(1932) die am weitesten verbreitetebrasilianische Übersetzung der Kinder-und Hausmärchen darstellen. Dochnicht nur durch die wichtige überset-zerische Tätigkeit fällt Lobato in die-sem Kontext auf, sondern auch da-durch, dass er die von den Grimmsveröffentlichten Märchen als Inspira-tionsquelle für viele seiner Kinderge-schichten nutzt.

Nicht zuletzt ist der Einfluss derGrimmschen Methoden bei Lobatopräsent, was sich auch in seiner Fik-tion zeigt. In der Einleitung der bereitsgenannten Histórias de Tia Nastácia,nachdem er den Folklorebegriff mitder Puppe Emília diskutiert hat, er-klärt der Junge Pedrinho sein Anlie-gen und sagt nachdenklich:

Uma idéia que eu tive. Tia Nastá-cia é o povo. Tudo que o povo sabe

e vai contando de um para outro,ela deve saber. Estou com o planode espremer tia Nastácia para tiraro leite do folclore que há nela. (3-4)

(Eine Idee, die ich hatte. Tia Nastá-cia ist das Volk. Alles, was dasVolk weiß und sich gegenseitig er-zählt, muss sie wissen. Ich habeden Plan, Tia Nastácia auszuquet-schen, um die Milch der Folkloreaus ihr zu bekommen.)

Die Idee des Jungen, die alte Haus-dienerin nach den Geschichten zu fra-gen, die sie kennt, repräsentiert somitden Ursprung des Buchs selbst. Diedarin gesammelten Märchen werdenin diesem Sinne als „Geschichten vonTia Nastácia“ inszeniert. Nach demDialog zwischen Pedrinho und Emíliaschließt Lobato folglich auch die Ein-leitung mit folgendem Satz: „Foi assimque nasceram as Histórias de Tia Nastá-cia“ („So wurden die Geschichten vonTia Nastácia geboren“, 4).

Der Einfluss des Grimmschen Ge-dankenguts lässt sich hier klar feststel-len. Indem sie die von der analpha-beten Hausdienerin erzählten Ge-schichten persönlich sammeln, tretendie kindlichen Figuren Lobatos selberin die methodologischen Fußstapfender Brüder Grimm als Märchensamm-ler (vgl. Brandão 27). Des Weiterenlässt sich eine Parallele zwischen der

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alten Hausdienerin Lobatos und Doro-thea Viehmann ziehen, die denGrimms viele Märchen und Märchen-varianten überlieferte. Die „Märchen-frau“ aus Niederzwehren wurdedaraufhin von den Grimms zur „ächthessischen“ (1815, V-VII) Erzählerinstilisiert und ab der zweiten Auflageder Märchen von 1819 sogar durch einvon Ludwig Emil Grimm gezeichnetesPorträt ins Bild gesetzt.

Nicht zuletzt muss ebenso hervor-gehoben werden, dass viele der Ge-schichten von Tia Nastácia ihreParallelen in den Kinder- und Hausmär-chen haben. So findet beispielsweisedie Geschichte von „Hänsel und Gre-tel“ (KHM-152) ihr Äquivalent in „Joãoe Maria“ (64-71), während „O BichoManjaléu“ (5-13) die gleichen Motiveaufweist, die sich in „Die Kristallku-gel“ (KHM-197) feststellen lassen. DasMärchen „O Bicho Manjaléu“ er-scheint nicht nur in den Histórias de TiaNastácia an erster Stelle, sondern auchin der Märchensammlung Contos Po-pulares do Brasil (1885, Volksmärchen ausBrasilien) von Sílvio Romero.

sílvio romero Sílvio Romero verstärkt das Be-

mühen um die Sammeltätigkeit in Bra-silien und bezieht sich im einleitendenText des Werks Contos Populares doBrasil u.a. auf die „deutsche Samm-

lung der Brüder Grimm“ (20). Von denGrimms und der Heidelberger Ro-mantik greift Romero die Vorstellungvon Volkspoesie im Gegensatz zurKunstpoesie auf, doch sein Ansatz un-terstreicht die Besonderheiten, die sichbei der Herausbildung des brasiliani-schen „Volkes“ ergeben hatten. In die-sem Sinne berücksichtigt Romero dasZusammentreffen verschiedener Eth-nien in der brasilianischen (Kolonial-)Geschichte und klassifiziert die Mär-chen nach einem geographischen bzw.anthropologischen Schema: Die Unter-teilung des Werks erfolgt in Märchen„europäischen“, „indigenen“ und„afrikanischen und mestizischen Ur-sprungs“ (9-12).

Neben „O Bicho Manjaléu“ findensich auch zahlreiche Gemeinsamkeitenzwischen anderen von Romero in Bra-silien gesammelten Märchen und denKHM. So lässt sich beispielsweise dieGeschichte des „João Gurumete“ (123-127) in Verbindung mit „Das tapfereSchneiderlein“ (KHM-20) bringen.Analog zum deutschen Märchen er-zählt die brasilianische Variante voneinem Schuster, der für seine Tapfer-keit berühmt wird, nachdem er „sie-bene auf einem Streich“ („Das tapfereSchneiderlein“ 128) getötet hat – wobeidie Opfer des Helden in beiden Va-rianten der Geschichte lediglich Flie-gen sind. Gemeinsamkeiten zwischen

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„A Sapa Casada“ (139-141) von Ro-mero und „Die drei Federn“ (KHM-63) von den Grimms lassen sich vorallem im Motiv des „Sieges desSchwächsten, Bescheidensten undscheinbar Dümmsten von drei Brü-dern [erkennen], der sich am Schlussjedoch als der Begabteste und Glück-lichste erweist“ (Brandão 103). In an-deren Beispielen lassen sich explizitereÄquivalenzen feststellen, wie im Fallevon „Schneewittchen“ (KHM-53) und„A Mulher e a Filha Bonita“ (Romero213-216), sowie bei „Aschenputtel“(KHM-21) und „Maria Borralheira“(ebd. 105-111), auf die abschließendein näherer Blick geworfen werdensoll.

luís da câmara cascudoBevor wir zur kontrastiven Ana-

lyse der ausgewählten Märchenschreiten, möchte ich auch auf denEinfluss der Brüder Grimm auf dasWerk von Luís da Câmara Cascudoaufmerksam machen, wobei die Mär-chensammlung Contos Tradicionais doBrasil (1946, Traditionelle Märchen ausBrasilien) hier im Vordergrund steht.

In seiner Tätigkeit als Märchen-sammler verfolgt Cascudo demGrimmschen Anliegen der „Treue undWahrheit“ und vertritt somit den An-spruch, die Erzählungen direkt ausdem Volksmund zu sammeln und re-

gistrieren: „Os irmãos Grimm fizeramsua coleção admirável ouvindo as ve-lhas, as ‚tias‘ da tradição oral…“ („DieBrüder Grimm haben ihre bewun-dernswerte Sammlung zusammenge-stellt, indem sie den Alten zuhörten,den ‚Tanten‘ der oralen Tradition“,2004, 19).

Cascudo nimmt in seiner Samm-lung umfassend Bezug auf dieGrimmschen Märchen und die 6-bän-digen Anmerkungen zu den Kinder- undHausmärchen der Brüder Grimm (1913)von Johannes Bolte und Georg Po-lívka. Darüber hinaus schließt Cas-cudo jedes seiner Märchen in denContos Tradicionais do Brasil mit einemKommentar, das nicht nur Parallelva-rianten anderer Kulturen indentifi-ziert, sondern auch zahlreicheInformationen und Hinweise auf dieDialektik zwischen den Märchen undihren entsprechenden historischenund kulturellen Kontexten gibt (vgl.Volobuef 6).

Cascudos Arbeit im Rahmen derFolklorestudien sticht nicht zuletzt da-durch besonders hervor, dass er dieethnographische Orientierung in denHintergrund treten lässt und die Fragenach den Motiven priorisiert. Aufdiese Weise versucht Cascudo, seineMärchen zu systematisieren, undnimmt als Basis für seine Klassifizie-rung das Verzeichnis der Märchentypen

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(1910) von Antti Aarne und The Typesof the Folk-tale (1928) von Antti Aarneund Stith Thompson. Von großem Be-lang ist an dieser Stelle die Tatsache,dass die Grimmschen KHM dieGrundlage für die Aarne-Thompson-Typologien bildeten.

In Cascudos Anthologie findensich ebenfalls diverse Märchenvarian-ten wieder, die bereits Teil der Grimm-schen Sammlung waren. Während„Der treue Johannes“ (KHM-6) seinÄquivalent in „O Fiel Dom José“ (26-30) hat, lebt der „Doktor Allwissend“(KHM-98) in „Adivinha, Adivinhão!“(226-227) wieder auf, und „Die dreiSpinnerinnen“ (KHM-14) verwandelnsich in „As Três Velhas“ (162-164), dasauch unter dem Titel „A Devota dasAlmas“ bekannt ist3 .

Die märchen „aschenput-tel“, „maria Borralheira“

und „Bicho de Palha“Im Folgenden soll eine kurze verglei-chende Analyse der Märchen „Aschen-puttel“ (KHM-21), „Maria Borralheira“(Romero 105-111) und „Bicho dePalha“ (Cascudo 46-49) vorgestelltwerden, anhand derer regionale Be-sonderheiten der brasilianischen Va-rianten aufgezeigt werden sollen.

Die drei ausgewählten Märchenkreisen um ein universelles Motiv undhaben denselben Leitfaden, den Bruno

Bettelheim in seinem Kinder brauchenMärchen erläutert:

„Aschenputtel“ (bzw. „Cinde-rella“, wie das Märchen im engli-schen Sprachraum heißt) istzweifellos das bestbekannte Mär-chen und vielleicht auch das be-liebteste. Es handelt sich um einsehr altes Motiv... Bekanntlichhandelt das Märchen vomAschenputtel von den Leiden undHoffnungen im Zusammenhangmit der Geschwisterrivalität unddavon, wie die gedemütigte Hel-din schließlich doch noch überihre Geschwister, die sie mißhan-deln, triumphiert. (275)

In der deutschen Version steht amAnfang die Frau eines reichen Man-nes, die erkrankt und, den Tod nahespürend, die einzige Tochter an ihrSterbebett ruft und ihr sagt: „LiebesKind, bleib fromm und gut, so wirddir der liebe Gott immer beistehen,und ich will vom Himmel auf dichherabblicken, und will um dich sein“(„Aschenputtel“ 137). Während diedeutsche Erzählung daraufhin von derbeschützenden Präsenz des Mutter-geistes geprägt ist, ist der Vater desMädchens in beiden brasilianischenVersionen bereits am Anfang verwit-wet. In allen drei Märchen verläuft dieHaupthandlung in ihren wesentli-chen, allgemein bekannten Zügen al-lerdings einheitlich. Der Vater des

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Mädchens heiratet eine andere Frau,die zwei Töchter in die Ehe bringt. Esentsteht eine Rivalität zwischen dendrei Schwestern und die Heldin wirdvon nun an von der Stiefmutter undihren Töchtern misshandelt und gede-mütigt. Das happy end ist ebenfalls be-kannt: Die Protagonistin erscheintverwandelt auf dem dreitägigen Festdes Königs/Prinzen, tanzt mit ihmund er verliebt sich in sie, ohne ihretatsächliche Identität erfahren zu kön-nen. Am dritten Ballabend verliert dieHeldin in ihrer Flucht einen Schuh,der zum Erkennungsinstrument in derSuche des Königs/Prinzen nach seinerGeliebten wird. Dank des Schuhskann der König/Prinz die Heldin iden-tifizieren. Die Stiefmutter und ihreTöchter werden bestraft.

An dieser Stelle sollen jedoch we-niger die Gemeinsamkeiten zwischenden drei Märchen interessieren, son-dern vielmehr eigentümliche Ele-mente in den brasilianischenVersionen hervorgehoben werden.

Im Grimmschen Text wird Aschen-puttel von einem „weiße[n] Vöglein“(138) geholfen, das sich auf einemBaum auf dem Grab der Mutter nie-derlässt, wenn Aschenputtel darunterweint und betet. In der Variante vonSílvio Romero steht der HauptfigurMaria Borralheira ein anderes Tier bei– eine magische und sprechende Kuh,

die ihr ihre Mutter vererbt hat und diedie misstrauische Stiefmutter schlach-ten lässt.

Den Anweisungen der Kuh fol-gend wäscht Maria Borralheira die In-nereien des Tieres im Fluss und findetdarin einen Zauberstab, der ihr ihreWünsche erfüllen soll. Die Version vonRomero zeichnet sich durch dieSchlagfertigkeit der Heldin aus, mitderen Hilfe sie die Stiefschwesternüberlistet und somit für ihre Bestra-fung sorgt. Im Besitz des Zauberstabsläuft Maria weiter und trifft auf einen„velhinho todo chagado e morto defome e sujo“ („ein völlig verwundetesund halbverhungertes und ver-schmutztes altes Männlein“, 107), demsie hilft und der sich als „Nosso Se-nhor“ („Unser Herr“, ebd.) erweist.Anschließend kommt Maria zu einem„casinha muito suja e desarrumada, ecom cachorros, gatos e galinhas muitomagros e mortos de fome“ („kleinen,dreckigen und unaufgeräumten Häus-chen mit sehr dünnen und halbver-hungerten Hunden, Katzen undHühnern“, ebd.). Dort füttert sie dieTiere und räumt das Haus auf, so dasssie von den drei stotternden Feen,denen das Häuschen gehörte, dreiGaben als Belohnung bekommt: einengoldenen Stern auf die Stirn, goldeneSchühchen an die Füße und die Bega-bung, bei jedem ausgesprochenen

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Wort Goldfunken aus ihrem Mund zusprühen.

Als die neidischen Schwestern siefragen, wie sie solche Begabungen er-langte, verdreht die schlagfertigeMaria die Anweisungen der Kuh:

É muito fácil; [vão] lavar o fato deuma vaca no rio; ...quando encon-trarem um velhinho muito ferido,metam-lhe o pau, e dêem muito;mais adiante, quando encontra-rem uma [casinha, emporcalhem-na e] desarrumem tudo, dêem nosbichos todos, e... deixem estar, quequando vocês saírem, hão de vircom chapins e estrelas de ouro.(108-109)

(Es ist sehr leicht; geht und waschtdie Innereien einer Kuh im Fluss;…wenn ihr ein sehr verwundetesaltes Männlein findet, so verprü-gelt ihn und verdrescht ihn regel-recht; weiter dann, wenn ihr einHäuschen findet, so macht es rich-tig dreckig und macht alles unor-dentlich, verhaut alle Tiere und…wartet nur ab, denn, wenn ihr her-auskommt, mögt ihr mit goldenenSchühchen und goldenen Sternenkommen.)

Die beiden Stiefschwestern folgenMarias Anleitung und bekommenstatt der erhofften Belohnungen Pfer-dehufe an Stelle der Füße und einenPferdeschwanz auf die Stirn. Zudemkommt ihnen von nun an bei jedemausgesprochenen Wort Pferdemist

(„porqueira de cavalo“4, 109) aus demMund.

In dem Märchen, das Romero imBundesstaat Sergipe sammelte, wer-den die Aspekte des ländlichen Le-bens besonders augenfällig, wobeihier eine Analogie zum Alltag deralten Herrenhäuser und Zuckerrohr-plantagen gezogen werden kann, wasvor allem durch die Elemente der Kuhund des Flusses verdeutlicht wird –zum einem war das Vieh u.a. für denMechanismus der Zuckermühlen not-wendig und zum anderen gab es keineZuckerrohrplantage im brasiliani-schen Nordosten, die nicht über natür-liches, fließendes Wasser verfügte. FürBrandão weist die Präsenz solcher ty-pischen Elemente auf die soziale undgeographische Situation hin, in der diebrasilianische Version elaboriertwurde (vgl. 95-96).

In den Contos Tradicionais do Brasilvon Cascudo heißt die Protagonistindes Märchens „Bicho de Palha“ eben-falls Maria und wird gemäß demAschenputtel-Motiv auch von derStiefmutter misshandelt. Immer wennsie im Fluss die Wäsche waschenmuss, trifft sie eine barmherzige alteFrau, die ihren Klagen zuhört und sietröstet. Als Maria sich zu fliehen ent-scheidet und dies der Alten erzählt, er-hält sie von ihr Unterstützung undeinen Zauberstab, der ihre Wünsche

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erfüllen soll. Der religiöse Aspekt er-scheint ebenso in dieser Geschichte,wenn auch nur im letzten Satz, der dieheilige Identität der alten Frau verrät:„[A] varinha de condão, cumprida avontade da velha, que era Nossa Se-nhora, desapareceu“ („nachdem sichder Wille der Alten erfüllte, die UnsereLiebe Frau war, verschwand der Zau-berstab“, 49).

Als Maria flieht, folgt sie dem Ratder alten Frau, sich einen Strohum-hang als Verkleidung zu flechten –„uma grande capa de palha entran-çada com um capuz onde havia passa-gem para olhar“ („einen großenUmhang aus geflochtenem Stroh miteiner Kapuze, in der Löcher zumDurchschauen waren“, 46). Wegen derkomischen Verkleidung bekommt siespäter den Spitznamen „Bicho dePalha“, der als „Strohtier“ übersetztwerden kann.

Eines Tages kommt Maria in eine„cidade importante“ („wichtigeStadt“, ebd.), wo sie im PrinzenschlossArbeit findet und sich in den Prinzenverliebt. Während ein Nachbarschlossein dreitägiges Fest ausrichtet, tanztder Prinz mit der verwandelten Mariabzw. Bicho de Palha und verliebt sichin die Unbekannte. Während er anjedem Ballabend versucht, ihreAdresse herauszufinden, gibt sie inihren Antworten Hinweise auf ihre

Identität, indem sie Adressen erfindet,die mit vorangegangenen Anforderun-gen des Prinzen zusammenhängen. Soverlangt der Prinz vor dem ersten Ball-abend nach einer Schüssel mit Wasser,worauf Maria ihm auf dem Fest sagt,sie wohne in der „Rua das Bacias“(„Straße der Schüsseln“, 47). Am zwei-ten Tag möchte der Prinz vor dem Ballein Handtuch haben, so dass Maria die„Rua das Toalhas“ („Straße der Hand-tücher“, 48) als neue Adresse nennt.Nachdem der Prinz am dritten Tagnach einem Kamm verlangt, sagtMaria schließlich, sie sei in die „Ruados Pentes“ („Straße der Kämme“,ebd.) gezogen, bevor sie anschließendflüchten muss und dabei ihren Schuhverliert. Nach drei erfolglosen Versu-chen, die Geliebte in den angegebenenbzw. erfundenen Adressen zu finden,greift der Prinz nach dem verlorenenSchuh als Identifikationsmerkmal undmacht sich damit erneut auf die Suche.Das happy end ist dann bereits bekannt,wobei der Fokus hier hauptsächlichauf die Liebe der Heldin und des Prin-zen fällt, ohne größere Bestrafung derMissbrauchenden.

Die von Cascudo gesammelte Er-zählung weist nicht nur auf Gemein-samkeiten mit „Aschenputtel“ hin,sondern auch mit dem Märchen „Al-lerleirauh“ (KHM-65), in dem dasMotiv der scheußlichen Verkleidung

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eine ebenso wichtige Rolle spielt. DieKonvergenzen beider Märchen warenbereits von den Brüdern Grimm inihren Anmerkungen festgestellt wor-den (vgl. „Anmerkungen zu den ein-zelnen Märchen“ 115). In diesemKontext wird auch die Analogie zwi-schen „Bicho de Palha“ und dem Mär-chen „Die Prinzessin Mäusehaut“(KHM-71) klar, das die Grimms ge-rade wegen der Ähnlichkeit mit denbeiden anderen Erzählungen von derdritten Auflage der KHM (18375) ent-fernt hatten (vgl. Volobuef 3).

Zwischen den drei Märchen lassensich weitere wichtige Vergleichs-aspekte beobachten. Eine tiefere kon-trastive Analyse der drei Texte würdeden Rahmen dieses Artikels sprengen,sollte jedoch als Ausblick für weitere

Untersuchungen fungieren.

schlusswort

Im 19. Jahrhundert war das romanti-sche Paradigma der Suche nach einerNationalidentität sowohl in Deutsch-land als auch in Brasilien stark ausge-prägt. In diesem Zusammenhangstand die Beschäftigung mit volkstüm-lichen Traditionen, die mündlich über-liefert werden, im Vordergrund,wobei die Erforschung der nationalenFolklore als (inoffizielle) Volkskultur

mit besonderem Blick auf die Mär-chenforschung das zentrale Interes-sensfeld darstellte.

Als wichtige Vertreter der deut-schen Romantik spielten die BrüderGrimm eine wesentliche Rolle in derVerbreitung dieser Ideale. Vor allemdas Sammeln und Veröffentlichen derHausmärchen inspirierte die Folklore-forscher in vielen anderen Ländern,wie hier am Beispiel Brasiliens sicht-bar werden konnte. Die SammlungKinder- und Hausmärchen dient bisheute als Maßstab in der Volksmär-chenforschung.

In fact, the Grimms’ work was soinfluential that their collection,Kinder- und Hausmärchen… be-came the model by which otherscholars conducted their studies.Parallels to the tales recorded bythe Grimms were sought, and thetexts in the collection were used toannotate other compilations. Thus,one proof of the “traditonality” ofa narrative is its being an analogueof a Grimm tale. (MacGregor-Vil-lareal 92)

Die Grimmschen Märchentexteselbst wurden ins brasilianische Por-tugiesisch übersetzt und waren unterdem brasilianischen Lesepublikumweit verbreitet. Doch reicht der Ein-fluss der deutschen Brüder auf dieEntstehung, Entwicklung und Syste-matisierung der Folkloreforschung in

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Brasilien weit darüber hinaus. Insbe-sondere der methodologische Diskursder Brüder Grimm und ihr Anspruch,die mündlich überlieferten Erzählun-gen aus dem Volksmund zu sammelnund „wahrheitsgetreu“ festzuhalten,fanden unter den brasilianischen Folk-loristen großen Anklang.

Durch den hier vorgestellten Über-blick über die Präsenz der BrüderGrimm in der brasilianischen Folklo-reforschung und KJL lassen sich dieAuswirkungen ihrer Arbeit auf dasWerk von (Volks-)Märchenforschernund -sammlern in Brasilien feststellen,die hier durch Monteiro Lobato, SílvioRomero und Luís da Câmara Cascudovertreten waren. In den Arbeiten die-ser und anderer brasilianischenSchriftsteller und Folkloristen, die imRahmen dieses Beitrags nicht vorge-stellt werden konnten, lassen sichKonvergenzen mit dem GrimmschenWerk erfassen, wie die kontrastiveAnalyse der Märchen „Aschenputtel“,„Maria Borralheira“ und „Bicho dePalha“ verdeutlicht.

Die Aspekte, die hier dargestelltwurden, unterstreichen nicht nur denStellenwert des Grimmschen Beitragszur Kinder- und Jugendliteratur(wis-senschaft), sondern offenbaren vorallem ihre Relevanz für den Entfal-tungsprozess der folkloristischen Stu-dien in Brasilien.

Lara Brück-Pamplona(*1980) studierteSprach- und Litera-turwissenschaften inihrer Heimatstadt Riode Janeiro (Brasilien)und lebt seit 2003 inDeutschland, wo sie als Lehrbeauftragtean der Universität Bonn arbeitet. Sie pro-moviert an der Universität zu Köln undist dort seit 2005 am Portugiesisch-Brasi-lianischen Institut und am Zentrum Por-tugiesischsprachige Welt tätig. Als Kolle-giatin der a.r.t.e.s. Forschungsschule un-tersucht sie die literarischen Diskurse überorale Literatur und nationale Identität inDeutschland und Brasilien.

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Anmerkungen

1So sollten beispielweise bei Volkstänzen nicht nur die ideelle oder gar rituelle Bedeu-tung, sondern auch die Musik, die Schritte, die Trachten usw. berücksichtigt werden,oder man sollte bei der Betrachtung und Untersuchung von Kunsthandwerk nicht nurdanach fragen, was und für welchen Zweck etwas dargestellt wird, sondern auch auswelchem Material es besteht und welche Rolle dies für die folkloristische Interpretationspielt.2 Die Referenzen des Typs KHM-Nr. verweisen nicht auf Seitenangaben, sondern ent-sprechen der Originalnummerierung der Brüder Grimm für die jeweiligen Märchender Sammlung.3 Eine Übersicht über die Analogien zwischen den Märchen der Brüder Grimm unddenen von Cascudo findet sich bei Brandão (vgl. 121-127).4 Hervorhebung im Original.5 Unter der Nummer 71 erschien ab dieser Auflage das Märchen „Sechse kommendurch die ganze Welt“.

LiterAturverzeichnis

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CIOFF/UNESCO – Internationaler Rat für Organisationen von Folklorefestivals und Volkskunst. Fachausdrücke zur Volkskultur und den Ausdrucksformen des im-materiellen Kulturerbes. Online verfügbar unter www.cioff.ch/doc_de/PCI_Ter-minologie_D.pdf (letzter Zugriff am 15.05.2010). O.O., o. J..

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Lobato, Monteiro. Histórias de Tia Nastácia. 11. Auflage. São Paulo: Editora Brasiliense,1964.

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Pöge-Alder, Kathrin. Märchenforschung: Theorien, Methoden, Interpretationen. Tübingen: Gunter Narr, 2007.

Romero, Sílvio. Contos Populares do Brasil. 2. Auflage. São Paulo: Landy, 2002.Sébillot, Paul. Le Folklore: Littérature orale et Ethnographie traditionnelle. Paris: Octave Doin

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