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Der Große Pfad Des Erwachens

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Bei diesem Buch handelt es sich um das Geistestraining in sieben Punkten von Chekawa Yeshe Dorje, kommentiert von Lodrö Thaye, dem ersten Jamgon Kongtrul Rimpoche. Die Übersetzung aus dem Tibetischen von Ken McLeod wurde mit Hilfe von tibetischen Lehrern wie Trungpa Rimpoche bewerkstelligt. Die deutsche Übersetzung aus dem Englischen wiederum wurde von Gendün Rimpoche und seinen Schülern vorgenommen.Das Sieben Punkte Geistestraining, auch Lo Jong genannt, ist ein auf Atisha zurückzuführender Text, der vielen, auch im Westen bekannten, Belehrungen zugrunde liegt. Es ist erstaunlich, wie viel man als interessierter Leser buddhistischer Bücher bereits von Lo Jong gelesen hat ohne direkten Verweis auf diesen Grundtext.Der Text ist ein aus 59 Sinnsprüchen (Slogans) bestehendes Substrat, welche einzeln wichtige Belehrungen und Meditationsübungen und als Ganzes die Essenz des Mahayana Buddhismus beinhalten.Eine Lojong-Übungen, das Tonglen, ist eine fortgeschrittene Meditation, die exemplarisch aufzeigt wie man vorgegebene Muster, die uns zu weiterem Leid und weiterer Verwirrung führen, erkennen und auflösen kann.Dieses Buch ist für alle zu empfehlen, die sich eingehender mit dem Buddhismus beschäftigen und ihn auch praktisch anwenden wollen.

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Page 1: Der Große Pfad Des Erwachens
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Jamgon Kongtrul Rinpoche

Der grosse Pfad des Erwachens

Ein Kommentar zu der Mahayana-Lehre der Sieben Punkte der Geistesübung

Theseus-Verlag

Die »Sieben Punkte der Geistesübung« des Kadampa-Meisters Ghekawa Yeshe Dorje (12. Jh.) ist die Schrift, auf die sich die Kommentatoren aller Schulrichtungen des tibetischen Buddhismus vorwiegend beziehen, wenn sie ihre Schüler altruistisches Verhalten lehren. Der vorliegende Kommentar des grossen Jamgon Kongtrul, der in der unruhigen Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Ost-Tibet lebte, verdeutlicht klar und direkt die Dringlichkeit einer solchen Praxis für die heutige Zeit. Seine Erläuterungen der kurzen Merksätze des Wurzeltextes lassen sich vor allem auf alltägliche Situationen anwenden.

Aus dem Tibetischen von Ken McLeod Übersetzung ins Deutsche: Christiane Sautter

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme 3. Aufl. - Berlin : Theseus Verl., 1996

Einheitssacht.: Theg pa chen po blo sbyon don bdun ma'i khrid

yig blo dman 'jug bder bkod pa byan chub gzun lam <dt. >

ISBN: 3-89620-097-6

Scanned 2003 by David Lehmann

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Für meinen Lehrer Kalu Rinpoche, der mir dieses Buch gab

und mit ihm die Möglichkeit, anderen zu helfen.

Jamgon Kongtrul Rinpoche

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Inhalt Vorwort.....................................................................................................4 Einführung des Übersetzers......................................................................6 Zur deutschen Ausgabe und Übersetzung ..............................................10 Der grosse Pfad des Erwachens..............................................................11

Die Quelle der Überlieferung .............................................................12 Die Unerlässlichkeit der Geistesübung...............................................14 Die eigentlichen Unterweisungen.......................................................16

Erklärung der sieben Punkte der Geistesübung..............................16 Die vorbereitenden Übungen, die das Fundament des Dharma bilden ..........................................................................................16 Die eigentliche Praxis: Das Üben von Bodhicitta ......................18 Die Umwandlung widriger Umstände in den Pfad des Erwachens....................................................................................................24 Die Anwendung der Übung während des ganzen Lebens..........31 Der Massstab für die Umwandlung des Geistes.........................34 Die mit der Geistesübung verbundenen Verpflichtungen ..........35 Richtlinien für die Geistesübung ................................................41 Abschliessende Verse .................................................................48

Zusätzliche Unterweisungen der Übertragungslinie.......................49 Schlussbemerkungen ..........................................................................54

Fussnoten................................................................................................55 Anhang....................................................................................................82

Der Wurzeltext zu den „Sieben Punkten der Geistesübung"..............82 Übersetzt von Ken McLeod............................................................82 Übersetzt vom Nalanda-Übersetzungskomitee ..............................85

Das Gebet, welches die Sehnsucht lindert..........................................88 Das siebenteilige Gebet ......................................................................92

Nachwort ................................................................................................93

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Vorwort Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit die erste Übersetzung dieses Buches in Kalu Rinpoches Zentrum in Vancouver, Kanada, gedruckt wurde. Seit dieser Zeit hat sich der Buddhismus im Westen bemerkenswert verbreitet. Viele Menschen wurden mit den Lehren der Geistesübung bekannt und nahmen die Möglichkeit wahr, sie zu praktizieren. Trotz der vielen Mängel in meiner ersten Übersetzung ist das Werk von Jamgon Kongtrul für viele Schüler des Dharmas zu einem Schwerpunkt des Interesses und der Studien geworden. Andere Arbeiten zu diesem Thema sind ebenfalls erschienen, zum Beispiel in Geshe Rabtens „Mahamudra". 1979 wurde eine französische Übersetzung des englischen Textes vorgeschlagen. Da mir zu diesem Zeitpunkt bewusst war, dass viele Berichtigungen und Verbesserungen nötig waren, nahm ich die Gelegenheit wahr, die Originalübersetzung zu überarbeiten und weitere Fussnoten hinzuzufügen. Diese neue Übersetzung erschien wenig später im buddhistischen Zentrum Kagyü Ling in Frankreich unter dem Titel „L'alchemie de souffrance'". Die Gegebenheiten hinderten mich daran, schon damals ein gutes englisches Manuskript für die Veröffentlichung vorzulegen. Dass diese grundlegend neue Übersetzung jetzt fertig gestellt ist, verdanke ich zum grossen Teil Rick Rova und Sue Forster. Für diese Übersetzung standen viele neue Quellen zur Verfügung, die mir früher nicht zugänglich gewesen waren. Besonders der Vidyadhara Chögyam Trungpa, Rinpoche, lehrte ausführlich über dieses Thema, und seine Kommentare und Erklärungen waren äusserst hilfreich. Einige Änderungen bedürfen der Erläuterung. Der ursprüngliche englische Titel lautete „The Direct Path to Enlightenment" (Der direkte Weg zur Erleuchtung). Trungpa Rinpoche merkte an, dass diese Übersetzung irreführend wirken könnte, da im Tibetischen eher eine Haupt- oder Schnellstrasse gemeint sei, als eine Abkürzung. Ich hoffe, dass der gegenwärtige Titel diesen Gedanken genauer wiedergibt. Weiter wurden die „Sieben Punkte" in der vorigen Ausgabe Atisha zugeschrieben. Tatsächlich ist es möglich, dass der von Chekawa Yeshe Dorje verfasste Text ganz oder teilweise von Atisha selbst stammt. Jedoch deutet zu wenig direkt darauf hin, um diese Zuordnung zu

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rechtfertigen. Stattdessen gibt es einige Hinweise (zum Beispiel den Dialekt, in dem der Text geschrieben ist), die vermuten lassen, dass das Werk hauptsächlich von Chekawa gestaltet wurde. Es ist hingegen unverkennbar, wie wichtig Atisha diese Methode nahm, und welch eine wunderbare Kraft seiner Überlieferung dieser Lehren innewohnt. Ich habe mich bei der Übersetzung bemüht, den Text in flüssiges Englisch zu übertragen und nicht zu eng am Tibetischen zu haften. Grosse Teile am Ende des Buches (Übungen sechs und sieben) sind in einem tibetischen Dialekt geschrieben. Sehr dankbar bin ich Cyrus Stearns, der mit Deshung Rinpoche zusammenarbeitete, dass er mir mit seiner Erfahrung bei diesen Sätzen weiterhalf. Da sie in idiomatischem Tibetisch geschrieben waren, habe ich versucht, sie in idiomatisches Englisch zu übertragen. Trungpas eigene Übersetzung hat mir ebenfalls sehr geholfen und ist zum Vergleich im Anhang wiedergegeben. Zuletzt danke ich Jane Gray, Tom Quinn, Eric Lawton und vielen anderen für ihre Hilfe bei der Herausgabe und Verbesserung des Textes.

Ken McLeod Los Angeles, 1987

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Einführung des Übersetzers Nach der Zeit der Unterdrückung durch König Langdar-ma1 organisierte sich der Buddhismus in Tibet im elften Jahrhundert neu. In jenen Jahren herrschte reges Interesse an den Lehren Buddhas. Zahlreiche Tibeter unternahmen die lange, gefährliche Reise nach Indien, um bei buddhistischen Meistern zu lernen, und die tibetischen Könige und Regenten luden indische Lehrer nach Tibet ein. Unter diesen Lehrern befand sich Atisha2, einer der führenden Meister seiner Zeit. Rinchen Sangpo, bekannt als der „grosse Übersetzer", hatte ihn wiederholt - aus eigenem Antrieb und auch als Repräsentant der Könige Westtibets - eingeladen. 1042 endlich nahm Atisha die Einladung an. Atisha arbeitete in Tibet daran, eine rechte Sichtweise und ein richtiges Verständnis der spirituellen Praxis aufzubauen, indem er eine Synthese dreier Linien des indischen Buddhismus lehrte: der Linie der „Tiefgründigen Philosophie", die auf Buddha Shakyamuni zurückgeht und die von Nagarjuna3, inspiriert durch den Bodhisattva Manjugosha4, gelehrt wurde; der Linie der „Unermesslichen Aktivität", die ebenfalls von Buddha Shakyamuni herrührt und von Asanga5, der Inspiration von Maitreya6 erfuhr, gelehrt wurde; und der Übertragung des „Segens und der Praxis" von Buddha Vajradhara7, die Tilopa8 übermittelte. Bei Atishas Darlegungen spielten Zuflucht9 und Bodhicitta10 eine zentrale Rolle. Sein Beharren auf der Zuflucht als dem Fundament jeder Dharmapraxis brachte ihm den Beinamen „Zufluchtlehrer" ein. Schon früh in seinem Leben hatte Atisha zahlreiche Visionen und Träume, die einhellig die Unabdingbarkeit von Bodhicitta für die Erlangung der Buddhaschaft herausstellten. Es fügte sich, dass er sich auf eine lange Seereise nach Indonesien einschiffte, wo er Serlingpa11 traf, der ihn die Geistesübung nach der Mahayanatradition lehrte. Bei diesem System wird die Art und Weise, Alltagssituationen zu erfahren, so weit umgewandelt, bis man sie wie ein Bodhisattva erlebt. Serlingpa verfasste selbst Texte über diese Methode, und einer seiner Texte ist in das vorliegende Werk mit eingeflossen. Atisha gab die Lehren an seinen engsten Schüler, Dromtön Rinpoche12, den Begründer der Kadampalinie13, weiter. Anfangs wurden sie nicht sehr ausgiebig gelehrt und fanden erst durch den Kadampameister Chekawa Yeshe Dorje (1102-1176)14 grössere Verbreitung. Chekawa selbst hatte sie durch

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einen Zufall kennen gelernt. Während er bei einem Freund zu Besuch war, sah er ein geöffnetes Buch auf dessen Bett und las die Zeilen:

Überlasse die Siege den anderen, nimm die Niederlagen auf dich.

Durch diese ungewöhnlichen Gedanken neugierig geworden, fragte er nach dem Autor und erfuhr, dass die Zeilen, die er gelesen hatte, aus den „Acht Versen der Geistesübung"15 von Langri-tangpa (1054-1123) stammten. Obwohl Langri-tangpa bereits gestorben war, gelang es Chekawa, einen anderen Kadampalehrer namens Sharawa zu finden, der diese Übertragung ebenfalls erhalten hatte. Zwölf Jahre lang studierte und praktizierte Chekawa die Geistesübung und fasste die Lehren in dem Text „Die Sieben Punkte der Geistesübung" zusammen. Später wurden die Lehren weithin verbreitet, und viele Meister fühlten sich inspiriert oder wurden von ihren Schülern dazu gedrängt, etwas zu diesem Thema zu schreiben. Jamgon Kongtrul Lodrö Thaye (1813-1899) war einer dieser Meister. Als einer der führenden Köpfe der religiösen Erneuerung im Osttibet des neunzehnten Jahrhundert nahm er vermutlich die Gelegenheit gerne wahr, über eine so hoch angesehene Lehre zu schreiben, die zu seiner Zeit bereits in alle buddhistischen Schulen Tibets Eingang gefunden hatte. Kongtrul war in die Böntradition16 hineingeboren und in ihr aufgewachsen. Schon in jungen Jahren erwarb er sich eine gründliche Kenntnis dieser Religion, denn sein Vater war ein Bönpriester. Von den politischen Wirren seines Heimatlandes fortgespült, fand Kongtrul noch vor seinem zwanzigsten Lebensjahr den Weg zu dem Kagyüpakloster17 Pepung in Osttibet. Seine überragende Auffassungsgabe erregte die Aufmerksamkeit von Situ Pema Nyinje, dem höchsten Kagyüpalehrer in Pepung. Unter seiner Obhut machte Kongtrul sowohl spirituell als auch intellektuell rasche Fortschritte und wurde schon Mitte zwanzig ein Lehrer, dem man grosse Beachtung zollte. Sein späterer Einfluss auf den Buddhismus war enorm. Der hier übersetzte Text stammt aus den „gDams.-ngag.mdsod", einer von Kongtrul zusammengetragenen Sammlung von Lehren, die die wesentlichen Übungen jeder tibetischbuddhistischen Schule enthalten. Diese Sammlung ist eines der fünf Hauptwerke Kongtruls. Als die „Fünf Schätze" bekannt, enthält es die gesamte tibetische Gelehrsamkeit und

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stellt einen der grössten Beiträge zur religiösen Wiederbelebung Osttibets, der Ri-me-Bewegung, dar. Diese Bewegung wurde im neunzehnten Jahrhundert von einer Anzahl grosser Lehrer ins Leben gerufen: Jamgon Kongtrul, Jamyang Khyentse Wangpo, Dza Patrul Rinpoche, Chok-gyur Lingpa und anderen. Diese Lehrer verfolgten ganz bestimmte Ziele. Die drei wichtigsten waren: seltene Lehren zu bewahren, sektiererischer Voreingenommenheit entgegen zu wirken und der Übung und Anwendung des Dharma im täglichen Leben wieder mehr Geltung zu verschaffen. Seltene und wenig bekannte Lehren sind besonders durch ein Abreissen der Überlieferung gefährdet. Da eine unterbrochene Überlieferungslinie nicht wiederaufgenommen werden kann, war ein Ziel dieser Lehrer die Sammlung seltener und wirksamer Meditationsmethoden, die in Gefahr waren, verloren zu gehen, zu sammeln. Dieses Ziel wurde hauptsächlich durch Kongtruls und Khyentses bedeutende Sammlungen kontemplativer Methoden und der damit verbundenen Ermächtigungen erreicht. Kongtrul und andere wollten zwar dem starren Sektierertum entgegenwirken, hatten selbst dabei aber keinerlei Absicht, eine neue Schule oder Linie zu begründen. Die Ri-me-Idee war ein Übungsweg, der sich jeweils auf diejenige Linie oder Lehre stützte, die der einzelne für sich für angemessen hielt, wobei er gleichzeitig den Wert und die Gültigkeit aller buddhistischen Traditionen anerkannte. Das dritte und vielleicht wichtigste Ziel war die Wiedereinführung des Dharma in die Belange des täglichen Lebens. Diese Lehrer wollten verhindern, dass der Dharma zu einem blossen Auswendiglernen oder Rezitieren, zu einem System vorgegebener Antworten und Übungen, versteinerte - vielmehr sollte er den einzelnen anleiten, in jeder Lebenslage intelligent und voller Mitgefühl zu handeln. Und genau darum geht es bei den „Sieben Punkten der Geistesübung". Für die meisten von uns ist es sehr schwer, unter allen Umständen wirklich intelligent und mitleidsvoll zu handeln. Unsere eigenen Interessen, die Sorge um unsere eigenen Bedürfnisse, beeinflussen und bestimmen, wie wir die Ereignisse um uns wahrnehmen und wie wir darauf antworten. Wenn wir sehr stark an unserem Ego haften, wird es uns schwerfallen, es einfach aufzugeben, und unsere Versuche, mitfühlend und intelligent zu handeln werden unbeholfen sein und Reue oder Schuldgefühle verursachen. Wenn wir jedoch verstehen, dass das

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Ego ein Trugbild ist, dass das Selbst, an dem wir hängen, in Wirklichkeit nicht existiert, und wenn wir uns daran gewöhnen, unsere eigenen Interessen nicht mehr zu verfolgen, dann werden wir unser Ego leichter aufgeben können, etwa so, wie wir einen alten Pullover, der uns ohnehin nicht mehr passt, ohne Bedauern wegwerfen. Ein tieferes Vertrautwerden mit dieser Sichtweise wird sich durch sitzende Meditation nach den in diesem Werk vermittelten Methoden einstellen. Sitzende Meditation ist unerlässlich, sie ist das einzige Mittel, mit dem dieser neue Zugang zur Welt entwickelt werden kann. Wenn jedoch die Handlungen unseres täglichen Lebens unsere Übungen nicht widerspiegeln, dann ist die Meditation unwirksam. In anderen Worten: dies bedeutet nicht nur, dass wir toleranter, weniger arrogant, offener und ansprechbarer werden, sondern dass wir aufrichtig in Frieden mit uns selbst leben, auch in schwierigen Situationen natürlich, glücklich und fröhlich sind, und dass unsere Handlungen weder Bedauern noch ungute Gefühle auslösen. Deshalb besteht ein grösserer Teil dieses Buches aus Richtlinien, wie man mit Situationen des täglichen Lebens umgeht. Beständige Meditation und Aufmerksamkeit im Alltagsleben gehen Hand in Hand: es sind zwei Aspekte einer Übung und nicht zwei Aktivitäten, die nichts miteinander zu tun haben. Wenn zum Beispiel Menschen, die durch diese Methode ihre Übung schon weit entwickelt haben, einem anderen Menschen begegnen, der Sorgen oder Schmerzen hat, werden sie sich sofort spontan vorstellen, dass sie das Leiden dieses Menschen auf sich nehmen. Wenn wir mit beiden Aspekten arbeiten, wird die Gewohnheit, am Ego anzuhaften, von uns fallen und wahre Intelligenz und wahres Mitgefühl - die Realisation von Nicht-Ego und allumfassendem Mitgefühl - werden an seine Stelle treten.

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Zur deutschen Ausgabe und Übersetzung Bei der Herausgabe der deutschen Übersetzung von Jamgon Kongtruls „Der grosse Pfad des Erwachens" wurde versucht, die üblicherweise bei Zweitübersetzungen drohenden Gefahren von Missverständnissen und Fehlinterpretationen zu vermeiden. Deshalb wurde die Übersetzung nochmals von einer Gruppe von Schülern Lama Gendün Rinpoches, die im Meditationshaus „Karma Thong Dröl Ling" eine traditionelle Dreijahresklausur absolvieren und mit den in diesem Buch beschriebenen Übungen vertraut sind, sorgfältig auf mögliche Fehler oder Ungenauigkeiten durchgesehen und überarbeitet. Bei der deutschen Übersetzung wurde - der englischen Vorlage folgend - Wert auf Verständlichkeit und einen flüssigen Stil gelegt. Wenn manche Stellen geringfügig vom englischen Original abzuweichen scheinen, so handelt es sich nicht um Änderungen inhaltlicher Art, sondern um das Bemühen, den Sinn und die Bedeutung möglichst treffend in unsere Sprache zu übertragen. Die Schreibung der tibetischen und Sanskritbegriffe wurde dem englischen Original angeglichen, das im wesentlichen die international gebräuchlichen Regeln einer phonetischen Umschrift verwendet. Ein Zugeständnis an den deutschen Sprachgebrauch bedeutet z. B. die Einführung von Umlauten. Im Text nicht berücksichtigt wurden Angaben zur Aussprache der tibetischen Wörter mit: j (dj oder dsch); ch (tsch) und der Sanskritbegriffe mit: c (tsch), zum Beispiel Bodhicitta, Bodhicaryavatara. So dürfte nunmehr eine wohl weitgehend zuverlässige Übersetzung dieses für die Kagyü-Tradition des Tibetischen Buddhismus - wie für das Verständnis des Tibetischen Buddhismus schlechthin - äusserst wichtigen und grundlegenden Textes vorliegen. Mein Dank gebührt dieser Gruppe und ganz besonders dem grossen Lama Gendün Rinpoche, dessen liebevolles Verständnis und Interesse überhaupt die Voraussetzung für die Inangriffnahme des Buchprojektes war.

Der Herausgeber

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Der grosse Pfad des Erwachens Guru Buddha Bodhisattva Bhyonama18

Voll ungeteilten Vertrauens setze ich die Lotosfüsse des vollkommenen Weisen auf mein Haupt. Er, der als erster das Rad der Liebe in Bewegung setzte, vollkommen ist sein Sieg in den beiden Zielen.19

Vor den edlen Söhnen des Siegreichen verbeuge ich mich, Vor Manjushri, Avalokiteshvara und den anderen20, Die einst das Schiff des mutigen Mitgefühls bestiegen, Und nun die Wesen aus dem Ozean des Leids befreien. Der unübertroffene spirituelle Freund Enthüllt den edlen Pfad von Mitgefühl und Leerheit. Er ist der Führer aller Siegreichen. Zu Füssen meines Meisters verneige ich mich. Hier will ich den einen Pfad erklären, Den der Siegreiche und seine Nachkommen wanderten. Da er leicht zu verstehen ist, ist er nicht verdorben. Da er leicht zu üben ist, kann man freudig beginnen. Da er so tief ist, wird Buddhaschaft erlangt.

In meinem Kommentar zu den „Sieben Punkten der Geistesübung", die besonders herausragende Kernunterweisungen zur Entwicklung von Bodhicitta darstellen, will ich drei Themen besprechen: die Quelle dieser Überlieferung, die Unerlässlichkeit dieser Übung und die eigentlichen Anweisungen.

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Die Quelle der Überlieferung Der grosse, wunderbare Meister Atisha studierte über einen längeren Zeitraum hinweg bei drei Lehrern: Dharmakir-ti21, einem Meister des Bodhicitta, der die mündliche Überlieferung dieser Kernunterweisungen von dem Grossen Weisen und seinen Söhnen erhalten hatte; Guru Dharmarakshita22, der durch Liebe und Mitgefühl die Leerheit realisierte und in einem Akt von Grosszügigkeit sein eigenes Fleisch hingab; und Yogi Maitreya23, der das Leiden anderer wirklich auf sich nehmen konnte. Mit ausserordentlichem Eifer vollendete Atisha seine Studien, und Bodhicitta erfüllte sein Bewusstsein. Er kam als Meister des Dharma nach Tibet. Obwohl er unzählige Lehren kannte, die er hätte weitergeben können, beschränkte er sich auf die Methode, die hier besprochen wird. Von den unzählig vielen Schülern der drei Arten24, die er zur Erleuchtung und in die Freiheit führte, waren diese seine Hauptschüler: Ku-tön Tsön-dru, Ngo Leg-pe Sherab und Drom-tön Gyal-we Jung-ne.25 Drom-tön Rinpoche wurde als Avalokiteshvara, die Verkörperung des erwachten Mitgefühls, angesehen. Zusammen mit seinen drei Schülern, Ausstrahlungen der drei Meister der drei Buddhafamilien26, begründete er drei Lehren: die kanonischen Texte, die Schlüsselunterweisungen und die Kernunterweisungen .27

Diese Lehren wurden von einer ganzen Folge grosser spiritueller Meister übermittelt. Den Gelugpas28 fiel die Tradition zu, die Sechs Kanonischen Texte der Kadampas weiterzugeben; die Schlüsselunterweisungen der vier Edlen Wahrheiten29 überlieferten die Dagpo Kagyü30; und beide Schulen bewahrten die Lehren der Kernunterweisungen über die Sechzehn Essenzen. Die berühmte Kadampatradition hält die Lehre der Sieben Dharmas und Gottheiten: die vier Gottheiten, die den Körper schmücken31, die drei Behältnisse, die die Rede schmücken32, und die drei Disziplinen, die das Bewusstsein zieren33. Obgleich diese wertvolle Tradition unzählige Unterweisungen umfasst, die deutlich in der Sutratradition beheimatet sind, jedoch auch eine gewisse Verbindung zur Tantratradi-tion34 haben, lehren sie alle doch nichts anderes als eindeutig und ausschliesslich denn Weg der Vereinigung vom Mitgefühl und Leerheit. Da die hier vorgestellte Lehre besonders den Aspekt des relativen Boddhicitta hervorhebt, verfasste die Mehrzahl der hervorragenden Träger dieser Überlieferung sehr bedeutsame Unterweisungen zum

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Austausch von selbst und anderen, die auf ihren eigenen Erfahrungen und Erfolgen beruhten. Aus der Vielzahl der überlieferten Kommentare zu dieser Methode stammen die hier erklärten „Sieben Punkte der Geistesübung" aus der Tradition der spirituellen Unterweisungen von Cheka-wa Yeshe Dorje.

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Die Unerlässlichkeit der Geistesübung Verschwende keinen Gedanken an das flüchtige Glück, das aus einer Geburt in den höheren Bereichen35 der Götter oder Menschen herrühren mag. Es ist wohl möglich, die Erleuchtung der Shravakas oder Pratyekabuddhas36 zu verwirklichen, doch bedeutet dies nicht das höchste Nirvana oder die endgültige Überwindung des Leidens37. Deshalb sollten wir konsequenterweise nur nach dem Zustand vollkommener Buddhaschaft38 streben. Nur die Methoden, die sich auf die folgenden zwei Formen der Meditation stützen, führen zu dieser Verwirklichung: relatives Bodhicitta, wobei sich das Bewusstsein in Liebe und Mitgefühl übt, und absolutes Bodhicitta, wobei der Geist in einem Zustand weilt, wo er in sich selbst ruht und alles Begriffliche abgefallen ist. Nagarjuna sagt:

Wenn die ganze Menschheit und ich selbst unübertreffliches Erwachen verwirklichen will, dann auf der Grundlage von Bodhicitta, das so beständig ist wie der König der Berge39: Mitgefühl, das alles umfasst, und ursprüngliche Weisheit, die nicht auf Dualität beruht.

Überdies ist es ganz gleich, welche Ansammlung von Verdienst und Weisheit wir erreicht haben mögen, die Wurzel für die spirituelle Entwicklung im Mahayana40, für die sechs Vollkommenheiten, das nicht verweilende Nirvana41 und vieles mehr, ist allein das Erwecken von Bodhicitta. Es entsteht auf der Basis von Liebe und Mitgefühl. Selbst wenn vollkommene Buddhaschaft verwirklicht wurde, ist nichts anderes zu tun, als mit unbedingtem Mitgefühl dem Wohle anderer zu dienen. Anfänger werden das wahre, absolute Bodhicitta nicht gleich erfahren, doch relatives Bodhicitta wird gewiss aufkommen, wenn sie sich darin üben. Mit der Entwicklung des relativen Bodhicittas wird das absolute Bodhicitta dann ganz natürlich verwirklicht. Aus diesen und vielen ähnlichen Gründen müssen wir zu Anfang voller Energie über relatives Bodhicitta meditieren, wenn wir irgendein sinnvolles Ergebnis in Bezug auf Bodhicitta erreichen wollen. Die Grundübung für diejenigen, die Anweisungen darüber suchen, fasst Shantideva42 in folgende Worte:

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Wer schnellen Schutz für sich und alle anderen wünscht, soll dieses heilige Geheimnis nutzen, sich selbst gegen die anderen auszutauschen.

Deshalb wird im folgenden allein die Methode, sich selbst gegen andere auszutauschen, erklärt. Alle anderen Methoden, den Geist zu üben, sind lediglich Variationen dieses einen Themas.

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Die eigentlichen Unterweisungen Der dritte Teil ist in zwei Abschnitte unterteilt: die eigentliche Erklärung der Lehren dieser Tradition und zusätzliche Anweisungen aus der Überlieferungslinie.

Erklärung der sieben Punkte der Geistesübung Dies sind die sieben Punkte: 1. Die vorbereitenden Übungen, die das Fundament des Dharma

bilden. 2. Die eigentliche Praxis: das Üben von Bodhicitta 3. Die Umwandlung widriger Umstände in den Pfad des Erwachens 4. Die Anwendung der Übung während des ganzen Lebens 5. Der Massstab für die Umwandlung des Geistes 6. Die mit der Geistesübung verbundenen Verpflichtungen 7. Richtlinien für die Geistesübung

Die vorbereitenden Übungen, die das Fundament des Dharma bilden Der Wurzeltext zum ersten Punkt lautet:

«Übe dich zuerst in den Vorbereitungen.»

Dieser Abschnitt gliedert sich in zwei Teile: die Vorbereitung einer Meditationssitzung und die vorbereitenden Unterweisungen. Vorbereitung einer Meditationssitzung Erstens: Visualisiere zu Beginn jeder Meditation deinen Wurzellama.43 Er sitzt auf einem Lotos-Mond-Thron44 über deinem Kopf. Sein Körper leuchtet, sein Gesichtsausdruck ist glücklich, und er lächelt, während er alle Wesen mit bedingungslosem Mitgefühl anblickt. In ihm sind alle Wurzellamas und die Lamas der Linie anwesend45. Mit äusserstem Respekt und tiefer Hingabe rezitiere, wenn du dies möchtest, das Liniengebet46, besonders aber wiederhole hundert- oder tausendmal das folgende Gebet:

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Ich bitte um deinen Segen, vollendeter Lama, Kostbarer Freund, der du alle Tugend verwirklicht hast. Bitte gib deinen Segen, dass liebende Güte und höchstes Mitgefühl, Bodhicitta, in meinem Seinsstrom entstehen.

Visualisiere dann, dass dein Lama durch die Brahma-Öffnung47 herabsinkt und nun in deinem Herzen in einem Pavillon aus Licht sitzt, der einer geöffneten Muschel gleicht. Diese Übung der tiefen Verehrung und der äussersten Hingabe ist als Guru Yoga48 bekannt; sie bedeutet die Vereinigung mit dem Geist des Lamas. Es ist wichtig, jede Meditation so zu beginnen. Die vorbereitenden Unterweisungen Zweitens: Die vorbereitenden Unterweisungen beziehen sich auf die vier grundlegenden Betrachtungen: die Schwierigkeit, eine freie und wohl ausgestattete menschliche Existenz zu erlangen; Tod und Vergänglichkeit; Handlung als Saat und Frucht sowie die Mängel des Samsara49. Sollten diese Gedanken neu für dich sein, so wirst du vollständige Erklärungen hierzu in den Texten des Stufenweges50 finden. Du musst mit diesen Kontemplationen arbeiten, damit sie zu einem festen Bestandteil deines Denkens werden. Hier folgt für diejenigen, die dies wünschen, eine kurze, präzise Darstellung der Grundgedanken: Um sich die Voraussetzungen für Dharmapraxis zu schaffen, diese kostbare menschliche Existenz, die frei und wohl ausgestattet51 ist und somit alle hervorragenden Möglichkeiten bietet, ist es unerlässlich, hervorragende Tugenden zu üben, denn sie sind die karmische Saat. Da nur eine sehr geringe Anzahl fühlender Wesen wirklich Tugend übt, wird das Ergebnis, eine freie und günstige Existenz, nur selten erlangt. Wenn man bedenkt, wie viele Lebewesen es gibt, zum Beispiel die Tiere, dann wird man erkennen, dass die Wahrscheinlichkeit einer menschlichen Existenz sehr gering ist. Deshalb solltest du mit ganzem Herzen Dharma üben, um diese kostbare Gelegenheit nicht zu vergeuden. Da überdies das Leben unsicher ist, es viele Möglichkeiten zu sterben gibt und man noch nicht einmal sicher sein kann, dass man nicht schon heute stirbt, muss man sofort damit anfangen, Dharma zu üben. Zum

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Zeitpunkt des Todes wird dir nichts folgen, ausser deinen tugendhaften und nichttugendhaften Taten - weder Reichtum noch Nahrung, weder Land noch Besitz, weder der Körper noch die Stellung. Da diese Dinge dann weniger nützen als ein Strohhalm, besteht auch nicht die geringste Notwendigkeit, danach zu streben. Nach dem Tod wird man durch die Macht des Karmas52 gezwungen, in einer der sechs Existenzformen53 Geburt anzunehmen. Welche es auch sein mag, es wird nur Leiden geben, ohne den geringsten Schimmer von Glück. Da sich Glück und Leid unweigerlich aus tugendhaften und nicht tugendhaften Taten entwickeln, sollte man niemals, auch nicht unter Lebensgefahr, etwas Böses tun. Man sollte ausschliesslich und mit grossem Eifer tugendhaft handeln. Übe dich eifrig in dieser Denkweise. Sprich am Ende jeder Meditation das siebenteilige Gebet54, so oft du vermagst. Setze ausserhalb der Meditationsphasen den Inhalt deiner Betrachtungen in die Praxis um. Diese Anweisungen gelten für alle Formen der Vorbereitung und der praktischen Übung.

Die eigentliche Praxis: Das Üben von Bodhicitta Der zweite Punkt erläutert die eigentliche Praxis, die in zwei Abschnitte unterteilt ist: die ergänzende Meditation über absolutes Bodhicitta und die Hauptmeditation über relatives Bodhicitta. Absolutes Bodhicitta Der erste Teil wird ebenfalls in zwei Abschnitte unterteilt: Anweisungen für die Meditationsphase und Anweisungen für die Zeit nach der Meditation. MEDITATION Zum ersten Abschnitt: Nach der Praxis des Guru Yoga, die oben beschrieben wurde, setze dich mit gerade aufgerichtetem Körper hin und zähle beim Ein- und Ausatmen - unzerstreut und ohne zu unterbrechen - einundzwanzig Atemzüge. Tue dies wieder und wieder. Dies wird dich zu einem geeigneten Gefäss für die Meditation machen. Jetzt folgt die eigentliche Übung:

«Betrachte alle Phänomene als Traum.»

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Die vorhandenen Phänomene - die Welt und ihre Bewohner - sind Objekte, die wir mit unseren Sinnen zu ergreifen suchen. Doch diese Erscheinungen sind nur Manifestationen unseres verwirrten Geistes. Letzten Endes existieren sie in gar keiner Weise konkret55, sondern sind wie die Erscheinungen eines Traumes. Denke über diese Zeilen so gründlich nach, dass du eine Gewohnheit entwickelst, die Welt so zu betrachten. Falls du dich dann fragst, ob der Geist als solcher56 wirklich ist, dann:

«Erforsche die Natur des ungeborenen Bewusstseins.»

Wenn du den Geist direkt betrachtest, wirst du keine Farbe, keine Gestalt und keine Form wahrnehmen. Da der Geist keinen Ursprung hat, ist er auch niemals in irgendeiner Weise entstanden. Er ist an keinem bestimmten Ort ausserhalb oder innerhalb des Körpers zu finden. Ausserdem ist der Geist kein Objekt, das irgendwohin ginge oder aufhörte zu existieren. Indem du deinen Geist betrachtest und erforschst, sollte ein genaues, klares Verständnis der Natur dieses Bewusstseins entstehen, das keinen Ursprung, keinen Standort und kein Ende hat. Dann können Gedanken hinsichtlich dieses Heilmittels selbst - gegen die Neigung, sich an Existenz zu klammern -auftauchen. Du magst zum Beispiel denken: „Geist und Körper sind völlig leer"; oder: „In der Leerheit gibt es weder Nutzen noch Schaden". Wenn das geschieht, dann denke:

«Selbst das Heilmittel ist frei - lasse es sich in sich selbst auflösen.»

Wenn du dich mit dem Heilmittel selbst befasst und deine Gedanken über die Abwesenheit einer wahren Existenz betrachtest, so gibt es nichts, worauf dein Geist sich beziehen könnte, und die Gedanken lösen sich ganz von selbst auf. Entspanne dich in diesem Zustand. Diese Zeilen sind Schlüsselunterweisungen dafür, wie das Konzept „Existenz" durch untersuchende Meditation angegangen wird.

«Ruhe in der Natur aller Dinge, der Basis, auf die sich alles gründet.» Diese Anweisung zeigt die konkrete Methode auf, wie der Geist zur Ruhe zu bringen ist. Wenn man alle Aktivitäten der sieben

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Bewusstseinsgruppen57 beiseite lässt, ist immer noch die Natur aller Phänomene vorhanden, der natürliche Zustand, die Basis, auf die sich alle Dinge gründen58. Diese wird durch den Begriff „edle Buddhanatur" aufgezeigt. Lasse los und ruhe ohne den geringsten Gedanken an eine Natur, die als irgend etwas existiert, ohne dich im Geist an etwas zu klammern, in einem Zustand einsgerichteter Klarheit und reiner Einfachheit. Um es zusammenzufassen: Folge, so lange du vermagst, keinem Gedankenstrom, sondern ruhe gleichmütig in einem Zustand, in dem der Geist selbst klar und frei von Ablenkungen ist. Das ist mit Meditation, die den Geist zur Ruhe bringt, gemeint. Beschliesse dann die Übungsperiode wie zuvor mit dem siebenteiligen Gebet. NACH DER MEDITATION Die Anweisung für die Zeit ausserhalb der Meditation lautet:

«In der Zeit ausserhalb der Meditation, sei ein Kind der Illusion.» Lasse nicht zu, dass sich die Erfahrung gleichmütiger Ruhe nach der Meditation auflöst, ganz gleich, welcher Beschäftigung du dann nachgehen magst. Halte unaufhörlich das Wissen in dir wach, dass alle Phänomene - du selbst, die anderen, ob belebt oder unbelebt - dass alles zwar erscheint, zugleich aber nichts als Schein ist59. Sei ein Kind der Illusion60. Relatives Bodhicitta Zweitens: die Meditation über relatives Bodhicitta wird in drei Abschnitten erklärt: Anweisungen über die Vorbereitung, über die konkrete Praxis und über die Praxis nach der eigentlichen Meditation. DIE VORBEREITUNG

Führe zuerst die vorbereitende Übung des Guru Yoga durch, wie sie oben beschrieben ist. Dann meditiere über Liebe und Mitgefühl. Diese beiden bilden die Grundlage des Anneh-mens und Aussendens. Stelle dir zu Anfang vor, dass deine eigene Mutter61 vor dir steht.Denke sorgfältig über sie nach und reflektiere dabei folgendermassen über Mitgefühl:

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Dieser Mensch, meine Mutter, hat von dem Augenblick an, da sie mich in ihrem Leib empfing, mit viel Mühe für mich gesorgt. Weil sie all die Entbehrungen von Krankheit, Kälte, Hunger und vieles andere mehr auf sich nahm, weil sie mich ernährt, gekleidet und den Schmutz von mir gewaschen hat, und weil sie mir zeigte, was gut ist und mich von Bösem abhielt, sind mir die Lehren Buddhas begegnet, und jetzt übe ich den Dharma. Welch unfassbare Güte! Nicht nur in diesem Leben, sondern in unzähligen Leben hat sie genau dasselbe für mich getan. Während sie für mein Wohlergehen sorgte, ist sie selbst im Samsara geblieben und hat viele Leiden erfahren.

Wenn diese Kontemplation dann kein Lippenbekenntnis mehr ist, sondern sich wirkliches Mitgefühl einstellt, dann übe dich darin, dieses Mitgefühl Schritt für Schritt auszuweiten:

Vom Anbeginn der Zeiten ist jedes fühlende Wesen, wie meine jetzige Mutter in diesem Leben, meine Mutter gewesen. Alle haben sie mir geholfen. Meditiere mit diesem Gedanken zunächst über jene, bei denen es dir leicht fällt, Mitgefühl zu empfinden: Freunde, den Ehepartner, Angehörige und Helfer, jene, die besonders benachteiligt sind und grosse Leiden erdulden müssen - die Armen und Mittellosen - und jene, die in diesem Leben zwar glücklich, aber so schlecht sind, dass sie sofort nach ihrem Tod die Höllenbereiche erfahren werden.

Wenn du auch hierbei Mitgefühl entwickelt hast, meditiere über die schwierigeren Objekte: über Feinde, Menschen, die dich verletzt haben, Dämonen und andere Wesen. Meditiere dann über alle fühlenden Wesen, indem du etwa so denkst:

All diese Wesen, meine Eltern, erfahren nicht nur ungewollt viele verschiedene Leiden und Enttäuschungen, in ihnen ist ausserdem noch die mächtige Saat für weiteres Leiden in der Zukunft angelegt. Wie mitleiderregend! Wie kann ich helfen? Das mindeste, was ich tun kann, um ihre Güte zu erwidern, ist, ihnen

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zu helfen, indem ich alles, was ihnen Schmerz zufügt, ausräume und sie glücklich und zufrieden mache.

Übe in dieser Weise, bis das Mitgefühl unerträglich stark wird. MEDITATION Zweitens:

«Übe Annehmen und Aussenden im Wechsel. Verbinde beide mit dem Atem.»

Während du denkst:

All diese Wesen, meine Eltern, auf die ich mein Mitgefühl richte, werden direkt durch Leiden und indirekt durch die Quelle des Leidens verletzt. Deshalb will ich alle Leiden, die meine Mütter noch erleben müssen, und die Quelle des Leidens, alle störenden Gefühle und Handlungen62, auf mich nehmen.

Meditiere, dass all diese Negativität zu dir kommt und nähre zugleich ein Gefühl grosser Freude. Während du denkst:

Ohne Bedauern übergebe ich all meine tugendhaften Handlungen und meine Freude der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, meinen Besitz und meinen Körper allen Wesen, meinen Eltern.

Meditiere, dass jeder einzelne all dies erhält und entwickle grosse Freude, wenn sie es in Empfang nehmen. Um diesen imaginierten Austausch deutlicher zu machen, stelle dir beim Einatmen vor, dass alles Leiden, alle Verdunkelungen und alles Schlechte aller Lebewesen in Form von schwarzem Teer durch deine eigenen Nasenlöcher in dich eindringt und in deinem Herzen absorbiert wird. Denke, dass alle Wesen für immer von Elend und Übel befreit werden. Stelle dir beim Ausatmen vor, dass all dein Glück und deine Tugenden in Form von Mondlicht aus deinen Nasenlöchern ausströmen und von allen Wesen aufgenommen werden. Denke mit grosser Freude,

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dass sie alle auf der Stelle Buddhaschaft erlangen. Wende dieses Verfahren des Annehmens und Aussendens mit Hilfe des Atems in den eigentlichen Meditationssitzungen an, um deinen Geist zu üben. Halte diese Übung auch später immer in deinem Bewusstsein und arbeite beständig damit. Shantideva, der diese Praxis ausführlich beschrieben hat, sagt dazu:

Wenn ich mein Glück nicht vollständig gegen den Schmerz der anderen austausche, wird Buddhaschaft nicht erlangt. Im Samsara gibt es kein Glück.

NACH DER MEDITATION Drittens, um dies nach der Meditation anzuwenden:

«Drei Objekte, drei Gifte, drei Samen der Tugend.» Die drei Gifte treten fortwährend in Verbindung mit drei Objekten auf: Zwanghaftes Verlangen und Anhaften entsteht gegenüber Dingen, die erfreulich oder nützlich erscheinen; Abneigung entsteht gegenüber Dingen, die unerfreulich oder schädlich sind; und Dummheit oder Gleichgültigkeit entstehen gegenüber allen anderen Objekten. Erkenne diese Gifte, sobald sie in Erscheinung treten. Denke zum Beispiel, wenn du bemerkst, dass du an etwas zu haften beginnst:

Möge jegliches Anhaften jedes Lebewesens in meinem Anhaften enthalten sein. Mögen alle Wesen den Samen der Tugend, frei von Anhaften zu sein, in sich tragen. Möge mein Anhaften all ihre störenden Gefühle in sich tragen, und mögen sie, bis sie Buddhaschaft erlangt haben, frei von solchen Gefühlen sein.

Mit Abneigung und anderen Gefühlen wird man in der Übung genauso verfahren. So werden aus den drei Giften drei grenzenlose Saaten der Tugend.

«Verwende Sprüche, um dich bei allen Handlungen zu üben.»

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Wiederhole beständig die folgenden oder andere passende Sprüche und kultiviere eifrig die damit verbundene Haltung. Von Shantideva:

Während ihre Übel in mir reifen, mögen all meine Tugenden in ihnen reifen. Aus der mündlichen Überlieferung der Kadampatradition: Alle Verdienste und jeden Sieg widme ich meinen Gebietern, allen Wesen. Alle Verluste und Niederlagen nehme ich auf mich. Aus den Lehren von Gyal-se Togme63: „Während alles Leiden und alles Übel aller Wesen in mir zur Reife kommen, mögen all mein Glück und meine Tugenden in ihnen reifen."

«Fange beim Austausch mit dir selbst an.»

Um fähig zu werden, die Leiden der anderen zu übernehmen, beginne die Praxis des Austausches mit dir selbst. Gerade jetzt nimm in Gedanken alle Leiden an, die zukünftig für dich heranreifen werden. Nachdem du diese bereinigt hast, nimm die Leiden der anderen auf dich.

Die Umwandlung widriger Umstände in den Pfad des Erwachens Der dritte Punkt beschäftigt sich damit, wie die Praxis im täglichen Leben64 fortzusetzen ist.

«Wenn die Welt und ihre Bewohner von Bösem erfüllt sind, dann verwandle die ungünstigen Bedingungen in den Pfad des Erwachens.»

Wenn deine Welt von Schmerz und Leiden, den Früchten des Bösen, erfüllt ist - wenn Wohlbefinden und Reichtum schwinden, wenn schwierige Menschen Probleme schaffen und manches mehr -, dann musst du die ungünstigen Bedingungen, in denen du dich

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befindest, in den Pfad des Erwachens umwandeln. Es gibt drei Möglichkeiten, diese Umwandlung zu vollziehen: relatives Bodhicitta, absolutes Bodhicitta und besondere Übungen. Relatives Bodhicitta Zur ersten Möglichkeit:

«Gib nur einem die Schuld.»

Ob du physisch krank bist oder dir Sorgen machst, ob du von anderen verletzt, von Feinden bedrängt oder in Disputen angegriffen wirst, kurz, welches Ärgernis, grösserer oder kleinerer Art in deinem Leben auch auftauchen mag, gib nicht anderen die Schuld dafür. Denke nicht, dass dieses oder jenes das Problem verursacht hätte. Überlege vielmehr:

Dieser Geist klammert sich an ein Selbst, wo es kein Selbst gibt. Seit anfangloser Zeit bis jetzt hat er viele untugendhafte Handlungen vollbracht, weil er im Samsara seinen eigenen Launen folgte. Alles Leid, das ich jetzt erfahre, ist das Ergebnis jener Handlungen. Keinem anderen kann die Schuld dafür zugeschrieben werden; allein meine ichbezogene Haltung ist schuld. Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um sie auszulöschen.

Richte gewandt und tatkräftig allen Dharma gegen diese Ich-Bezogenheit. Wie Shantideva in „Eintritt auf den Weg zum Erwachen" (Bodhicaryavatara) schreibt:

Welche Schmerzen gibt es in der Welt, wieviel Angst und wieviel Leid! Wenn all das aus Ich-Bezogenheit entsteht, was wird dieses grosse Ungeheuer mir dann wohl antun?

Und

In Hunderten von Leben im Samsara hast du mir Ärger bereitet. Jetzt sammele ich meinen ganzen Groll

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und werde dich, du selbstsüchtiger Geist, zerstören.

«Sei jedem dankbar.» Arbeite mit folgender Überlegung im Geist am Annehmen und Aussenden:

Generell gründen sich alle Methoden zur Erlangung von Buddhaschaft auf die fühlenden Wesen. Deshalb sollte derjenige, der Buddhaschaft erlangen will, ihnen genauso dankbar sein wie den Buddhas. Alle Wesen haben schon deshalb meine Dankbarkeit verdient, weil es keines unter ihnen gibt, das nicht schon einmal meine Mutter oder mein Vater gewesen wäre. Besonders diejenigen, die mich verletzen, verdienen meinen Dank, denn sie sind meine Begleiter und Helfer beim Ansammeln von Verdienst und ursprünglicher Weisheit und beim Entfernen der Schleier störender Gefühle und begrifflicher Erkenntnis.

Sei niemals ärgerlich. Zürne nicht einmal einem Hund oder einem Insekt. Bemühe dich, immer und überall nach bestem Vermögen zu helfen. Wenn du selbst nichts tun kannst, dann denke und sage:

Möge dieses Wesen (oder dieser Unruhestifter) rasch seinen Schmerz überwinden und glücklich werden. Möge es Buddhaschaft erlangen.

Erwecke Bodhicitta:

Von jetzt an sollen alle heilsamen Handlungen, die ich vollbringe, seinem Wohlergehen dienen.

Wenn ein Gott oder Dämon65 dir Schwierigkeiten bereitet, dann denke:

Diese Probleme treten jetzt auf, weil ich ihm seit Anbeginn der Zeiten Unrecht zugefügt habe. Als Entschädigung dafür will ich ihm jetzt mein Fleisch und Blut geben.

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Stelle dir vor, dass derjenige, der dir Schwierigkeiten bereitet, vor dir steht und gib ihm im Geiste deinen Körper, indem du sagst:

Hier, geniesse mein Fleisch und Blut und alles, was du sonst noch magst.

Sei völlig überzeugt, dass dieser Störenfried tatsächlich dein Fleisch und Blut geniesst und mit grosser Freude erfüllt ist, und erwecke die beiden Arten von Bodhicitta in deinem Geist. Oder:

Weil es mir an Achtsamkeit und anderen Heilmitteln mangelt, haben sich störende Gefühle entwickelt, ohne dass ich es bemerkt habe. Da dieser Störenfried mich jetzt darauf aufmerksam gemacht hat, ist er sicherlich eine Manifestation meines Lehrers oder ein Buddha. Ich bin ihm sehr dankbar, denn er hält mich an, Bodhicitta zu üben.

Oder wenn sich Krankheiten oder Leiden entwickeln, dann denke mit vollkommener Aufrichtigkeit:

Wäre dies nicht geschehen so, wäre ich durch materialistische Vorhaben abgelenkt worden und hätte in meiner Achtsamkeit für den Weg nachgelassen. Da dieses Ereignis mir den Dharma wieder in Erinnerung gerufen hat, handelt es sich um eine Aktivität meines Lehrers oder der Drei Juwelen, und ich bin sehr dankbar.

Um es zusammenzufassen: wer zu seinem eigenen Nutzen und Wohlergehen denkt und handelt, ist ein weltlicher Mensch; wer zum Nutzen und Wohlergehen der anderen denkt und handelt, ist ein Mensch des Dharma. Langri-tangpa sagte:

Ich eröffne euch eine so tiefe Wahrheit, wie es eine tiefere nicht gibt. Hört mir zu! Alle Fehler sind unsere eigenen. Alle guten Eigenschaften gehören unseren Herren, den fühlenden Wesen. Dies ist, worauf es ankommt: Gib Verdienst und Siege den

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anderen, nimm Verlust und Niederlagen auf dich. Mehr gibt es nicht zu verstehen.

Absolutes Bodhicitta Zweitens:

« Um Verwirrung als die vier Kayas zu erkennen, ist der Schutz der Leerheit unübertroffen.»

Allgemein sind alle Erscheinungen, insbesondere die ungünstigen Bedingungen, nicht anders als die Verzweiflung, die du erlebst, wenn du im Traum verbrannt oder von einer Flut hinweggerissen wirst. Die verworrenen Erscheinungen des Geistes werden mit einer Realität belegt, die sie nicht haben. Es steht unverrückbar fest, dass diese Phänomene, obwohl sie entstehen, auch nicht das kleinste Teilchen wahrer Existenz66 in sich bergen. Wenn du in einem Zustand ruhst, in dem die Erscheinungen zwar entstehen, du aber nicht an ihnen haftest, dann bedeutet der Dharmakaya-Aspekt der Erscheinungen, dass sie ihrer Natur nach leer sind, der Nirmanakaya-Aspekt, dass sie in Klarheit erscheinen, der Sambhogakaya-Aspekt, dass diese Klarheit zusammen mit der Leerheit in Erscheinung tritt, und der Svabhavikakaya-Aspekt, dass diese eine untrennbare Einheit bilden67. Diese Schlüsselunterweisung, die besagt, dass man in Ruhe verweilen soll, ohne an Entstehen, Bestehen oder Vergehen zu haften, weist auf die vier Körper hin. Die Rüstung der Sichtweise, der Schutzkreis der Leerheit und die höchste Unterweisung beenden die Verwirrung. Spezielle Übungen Die dritte Möglichkeit:

«Die vier Anwendungen sind die beste Methode.» Die vier Anwendungen sind: Verdienst ansammeln, schlechte Handlungen bekennen, Göttern und Dämonen Torma68 geben und den Dakinis und Schützern69 Torma opfern. Dies sind die besten Methoden, um auch ungünstige Bedingungen als Weg zu benutzen.

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ANSAMMLUNG VON VERDIENST Zuerst bedenke:

Ich möchte glücklich sein, doch ich erlebe nur Leid und Enttäuschung. Diese Tatsache erinnert mich daran, keine schlechten Handlungen mehr zu verüben, denn sie sind der Same des Leids. Statt dessen will ich Verdienst ansammeln, denn das ist der Same von Glück und Zufriedenheit. Das will ich tun.

Sammle dann, so gut du es vermagst, durch physische, verbale und mentale Handlungen Verdienst, zum Beispiel, indem du deinem Lama und den Drei Juwelen opferst, dem Sangha dienst, den Ortsgeistern Torma opferst, Kerzen stiftest, Tsa Tsa (kleine Heiligenfiguren) aus Ton formst, dich ehrfürchtig verneigst, Heiligtümer umwandelst, Zuflucht nimmst, Bodhicitta erweckst und vor allem das siebenteilige Gebet sprichst und Mandalas70 darbringst. Bete, um Hoffnung und Furcht71 zu beenden:

Wenn es besser für mich ist, krank zu sein, dann bete ich um den Segen der Krankheit. Wenn es besser für mich ist, gesund zu werden, dann bete ich um den Segen der Gesundheit Wenn es besser für mich ist zu sterben, dann bete ich um den Segen des Todes.

SCHLECHTE HANDLUNGEN BEKENNEN Zweitens: Übe mit denselben Überlegungen wie im vorausgegangenen Abschnitt gründlich die vier Kräfte. Reue über begangenes Unrecht ist die Kraft des Verwerfens. Der feste Entschluss, selbst unter Lebensgefahr nicht mehr so zu handeln, ist die Kraft der Abwendung von Fehlern. Zufluchtnahme zu den Drei Juwelen und das Erwecken von Bodhicitta ist die Kraft des Vertrauens. Die Kraft der vollkommenen Anwendung der Heilmittel bedeutet, Gebete zu sagen, die Hoffnung und Furcht ein Ende bereiten, und die sechs Arten der Heilmittel zu praktizieren: Meditation über die Leerheit, das Sprechen von Mantras und Dharanis72, das Herstellen von Bildern und Statuen, das Praktizieren des siebenteiligen Gebetes und die Darbringung von Mandalas, die Rezitation von Sutras und die Rezitation spezieller Reinigungsmantras.

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DARBRINGUNG VON TORMAS AN GÖTTER UND DÄMONEN Drittens: Bringe Plagegeistern Tormas dar und weise sie an, erleuchtete Aktivitäten auszuüben:

Es ist sehr gütig von dir, mir nach all dem, was ich dir in der Vergangenheit angetan habe, nachzustellen, um mir meine Schuld in Erinnerung zu rufen. Ich bitte dich, mich jetzt zu zerstören. Ich bitte dich, alle Leiden, Armut und Widrigkeiten, jeden Ruin, jedes Elend und alle Krankheiten, die andere Wesen erfahren mögen, in mir reifen zu lassen. Befreie alle Wesen vom Leiden.

Wenn du dazu nicht fähig bist, dann gib den Torma und befiehl ihnen:

Wenn ich über Liebe, Mitgefühl und Annehmen und Aussenden meditiere, tue ich alles, was mir möglich ist, um euch sowohl jetzt als auch in Zukunft zu helfen. Also behindert mich nicht in meiner Dharmapraxis.

DARBRINGUNG VON TORMAS AN DAKINIS UND SCHÜTZER Viertens: Bringe den Schützern Tormas dar und weise sie an, aktiv zu werden, um störende Bedingungen zu beruhigen und Umstände zu schaffen, die der Dharmapraxis förderlich sind. Mache vor allem Gebrauch von den oben erwähnten Gebeten, um Hoffnung und Furcht ein Ende zu setzen.

«Wenn du unerwartete Umstände in den Pfad verwandeln willst, dann verbinde alles, was dir begegnet, sogleich mit Meditation.»

Wenn Krankheit, Dämonen, Zwischenfälle oder störende Emotionen unerwartet auftauchen, oder wenn du jemanden siehst, der unter einer unerfreulichen Situation leidet, dann denke: „Ich will einfach Annehmen und Aussenden üben." Denke bei all deinen heilsamen Gedanken und Handlungen:

Mögen alle Wesen ganz von selbst zu einer Dharmaaktivität gelangen, die meine jetzige weit übertrifft.

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Tue dasselbe, wenn du glücklich und zufrieden bist. Wenn du einen schlechten Gedanken hast oder gezwungen bist, an einer schlechten Handlung teilzunehmen, dann denke:

Mögen alle schlechten Gedanken und üblen Taten aller Wesen in dieser meiner einen Tat hier zusammenfliessen.

Um es zusammenzufassen: bewahre bei allem, was du tust - ob du isst, schläfst, gehst oder sitzt -, die Motivation, anderen zu helfen. Wende diese Form der Geistesübung sofort an, wenn du mit einer neuen Situation konfrontiert bist, sei sie gut oder schlecht.

Die Anwendung der Übung während des ganzen Lebens Der vierte Punkt gibt eine Zusammenfassung der Übungen für das ganze Leben. Er gliedert sich in zwei Abschnitte: Was man während des Lebens tun soll und was beim Tod zu tun ist. Was man während des Lebens tun soll Zum ersten Abschnitt: «Die Zusammenfassung der wesentlichsten Unterweisungen: Übe dich

in den fünf Kräften.» Die fünf Kräfte fassen die entscheidenden Punkte der Übung zusammen und beinhalten schon in einem einzigen Satz eine Vielzahl tiefgründiger Schlüsselunterweisungen zur Ausübung des heiligen Dharmas. Die erste ist die Kraft des Antriebs. Diese bedeutet, dem Geist einen starken Impuls zu geben, indem du denkst:

Von diesem Augenblick an bis zur Erleuchtung, wenigstens aber bis ich sterbe, und unter allen Umständen in diesem Jahr und diesem Monat, ganz besonders aber von heute bis morgen, werde ich die zwei Aspekte des Bodhicitta stets in meinem Bewusstsein bewahren.

Die zweite ist die Kraft der Gewöhnung. Was immer du tust, sei es heilsam, unheilsam oder keines von beiden, sei immer achtsam und bewusst und übe dich wieder und wieder darin, die zwei Aspekte des

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Bodhicitta in deinem Geist zu halten. Mit einem Wort: Bodhicitta zu lernen und zu üben soll deine wichtigste heilsame Aktivität sein. Die dritte ist die Kraft heilsamer Saat. Richte deine ganze Kraft - physisch, verbal und mental - auf heilsames Tun. Gib dich nie zufrieden in deinem Bemühen, Bodhicitta zu entwickeln und zu stärken. Die vierte ist die Kraft der Zurückweisung. Wann immer ein selbstsüchtiger Gedanke aufkommt, weise ihn vollkommen zurück, indem du denkst:

Seit anfangsloser Zeit lässt du mich im Samsara umherirren, um unzählige Leiden zu erfahren. Auch alles Leid und alles Schlechte im jetzigen Leben hast du angerichtet. In deiner Gesellschaft gibt es kein Glück, deshalb werde ich jetzt alles versuchen, um dich niederzuwerfen und zu zerstören.

Die fünfte ist die Kraft des Wünschens und Strebens. Bete aufrichtig nach jeder heilsamen Handlung und widme alles Verdienst folgendermassen:

Möge ich selbst alle Wesen zur Buddhaschaft geleiten. Möge ich im besonderen von jetzt an bis zu meiner Erleuchtung niemals die beiden Aspekte des kostbaren Bodhicitta vergessen, selbst nicht im Traum. Mögen die beiden Aspekte des Bodhicitta sich immer stärker entfalten. Welchen hinderlichen Umstände ich auch begegnen mag, mögen sie mir eine Hilfe sein, Bodhicitta zu entwickeln.

Was man beim Tod tun soll Zweitens. Welche Anweisungen gibt es in dieser Tradition für den Augenblick des Todes?

«Die Mahayana- Unterweisungen für den Augenblick des Todes sind die fünf Kräfte. Wichtig ist,

wie du dich verhältst.»

Wenn jemand, der in dieser Lehre geübt ist, von einer tödlichen Krankheit befallen wird, sollte er oder sie die fünf Kräfte üben. Die erste, die Kraft heilsamer Saat, bedeutet, alle Besitztümer ohne eine Spur

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des Anhaftens, Festhaltens oder der Sorge abzugeben. Generell kann man sie seinen Lehrern oder den Drei Juwelen darbringen, oder man kann sie dorthin geben, wo man glaubt, dass sie von grösstem Nutzen sein werden. Die Kraft des Wünschens und Strebens bedeutet, sich ganz auf Erleuchtung auszurichten, indem man, wenn möglich, das siebenteilige Gebet praktiziert. Sollte dies nicht möglich sein, dann bete:

Möge ich durch die Kraft heilsamer Saat, die ich in den drei Zeiten angesammelt habe, das kostbare Bodhicitta niemals vergessen und es im künftigen Dasein weiter üben und stärken. Möge ich den reinen Lamas begegnen, die mir diese Lehre offenbaren. Ich bete, dass diese Hoffnungen sich durch den Segen meiner Lehrer und der Drei Juwelen erfüllen werden.

Die Kraft der Zurückweisung bedeutet, folgendes zu bedenken:

Dieses Haften am Ich hat mich während unzähliger Verkörperungen leiden lassen, und jetzt erfahre ich zudem das Leid des Sterbens. Doch - absolut gesehen - gibt es nichts, das stirbt, da weder das Selbst noch der Geist in Wahrheit existieren. Ich will alles tun, um dich, Ich-Anhaftung, zu zerstören, denn du denkst ununterbrochen: ich bin krank, ich sterbe.

Die Kraft des Antriebs bedeutet, folgendes zu beschliessen:

Niemals werde ich mich von den beiden kostbaren Bodhicittas trennen, weder beim Sterben noch im Zwischenzustand, noch in einem zukünftigen Dasein.

Die Kraft der Gewöhnung bedeutet, dass man die beiden Bodhicittas, die zuvor geübt wurden, im Geist ganz klar gegenwärtig hält. Die Hauptsache ist, das Bewusstsein ganz mit diesen Kräften zu erfüllen, doch auch die begleitenden Handlungen sind wichtig. Physisch sollte man die Sieben-Punkte-Haltung73 einnehmen, oder, falls man dazu nicht fähig ist, auf der rechten Seite liegen, die Wange in der rechten Hand ruhen lassen und mit dem kleinen Finger das rechte Nasenloch verschliessen. Während man durch das linke Nasenloch atmet, beginnt man zunächst damit, über Liebe und Mitgefühl zu meditieren und geht

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dann dazu über, sich im Annehmen und Aussenden zu üben, beides in Verbindung mit dem Aus- und Einströmen des Atems. Dann ruht man ohne geistig an irgendetwas festzuhalten in dem Wissen, dass Geburt und Tod, Samsara und Nirvana usw. nichts weiter sind als Projektionen des Geistes und dass auch der Geist als solcher nicht als „Etwas" existiert. In diesem Zustand atmet man weiter, so gut man es vermag. Es gibt viele hochangesehene Anweisungen über das Sterben, doch keine - so heisst es - sei wunderbarer als diese. Eine Sterbeanweisung z. B., die eine Salbe verwendet, besagt: Trage auf den Scheitelpunkt des Kopfes eine Salbe auf, die aus wildem Honig, Asche von verbrannten, unverdorbenen Seemuscheln und Spänen von einem Eisenmagneten besteht.

Der Massstab für die Umwandlung des Geistes Der fünfte Punkt lehrt die Kriterien zur Beurteilung des durch Geistesübung erzielten Fortschritts.

«Aller Dharma dient nur einem einzigen Ziel.» Da der Zweck allen Dharmas - sowohl des Mahayana wie auch des Hinayana - nur in der Überwindung der Ich-Anhaftung liegt, sollte diese durch deine Dharmapraxis und die Übung des Geistes immer mehr abnehmen. Wenn deine Dharmabemühungen dieser Anhaftung nicht entgegenwirken, dann ist deine Praxis sinnlos. Dies ist das einzige Kriterium, nach dem man beurteilen kann, ob Dharmapraxis wirksam ist oder nicht, und es ist auch der Massstab, an dem ein Mensch, der Dharma praktiziert, gemessen wird.

«Halte dich an den wichtigeren der beiden Zeugen.» Dass andere Leute dich für einen Dharmapraktizierenden halten, kann als ein Zeugnis gelten. Doch können gewöhnliche Leute nicht wissen, was sich hinter deinem Geist verbirgt und finden vielleicht nur Gefallen an deinem äusseren Verhalten, das sich etwas gebessert hat. Ein inneres Zeichen deines Fortschritts ist, dass es nie mehr Schamgefühle oder Verlegenheit wegen deiner geistigen Verfassung gibt. Also kümmere dich nicht darum, wie andere dich sehen, sondern halte dich, grundsätzlich an das Zeugnis des Geistes selbst.

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«Gehe stets von einer freudigen Geistesverfassung aus.»

Wenn du frei von Furcht und Verzweiflung bist, ganz gleich, welche widrigen Umstände oder welches Leid dir begegnen, wenn du Schwierigkeiten als Hilfmittel der Geistesübung ansiehst und dich stets von einem freudigen Geisteszustand tragen lässt, dann hast du einen beachtlichen Grad der Vervollkommnung im Geistestraining erreicht. Wenn widrige Umstände auftauchen, dann meditiere freudig darüber und übe dich zudem darin, Kummer und Leiden anderer voller Freude auf dich zu nehmen. «Meisterschaft zeigt sich darin, dass du selbst dann praktizieren kannst,

wenn du abgelenkt wirst.» Ein geübter Reiter fällt auch dann nicht vom Pferd, wenn er abgelenkt wird. Genauso zeigt sich deine Geübtheit darin, dass du plötzlich auftauchende Widrigkeiten als Hilfe für die Geistesübung verwenden kannst, ohne deine Aufmerksamkeit direkt darauf lenken zu müssen. Die beiden Bodhicittas erscheinen klar und mühelos, ganz gleich, auf wen oder was du triffst: Feinde, Freunde, Störenfriede, Glück oder Leid. Diese Zeilen beschreiben die Zeichen, an denen du erkennen kannst, ob deine Bodhicitta-Übungen wirksam waren und ob sich Realisation entwickelt hat. Sie bedeuten nicht, dass du nicht weiterüben solltest. Bis Buddhaschaft erlangt ist, musst du Bodhicitta immer weiter stärken.

Die mit der Geistesübung verbundenen Verpflichtungen Der sechste Punkt behandelt die mit der Geistesübung verbundenen Verpflichtungen.

«Beachte stets die drei Grundsätze.» Der erste dieser drei Grundsätze lautet, Versprechen, die du im Zusammenhang mit der Geistesübung abgelegt hast, in keinem Falle, auch nicht durch kleinste Fehler und Übertretungen, zu beeinträchtigen, geschweige denn sie zu brechen. Dies gilt auch für untergeordnete Regeln der drei Arten von Gelübden der individuellen Befreiung, der Bodhisattva- und Vajrayana-Ordination74.

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Der zweite Grundsatz verbietet ungehöriges Benehmen. Das bedeutet, dass man sich skandalöser Handlungen75 enthält, die man in der Hoffnung ausführt, andere davon zu überzeugen, dass man selbst frei von Ich-Verhaftung sei. Darunter fällt zum Beispiel das Zerstören von Schreinen, das Verletzen von Naturgeistern in Bäumen oder anderen Pflanzen, das Vergiften von Strömen und Flüssen, das Verbrüdern mit Leprösen und Bettlern und andere Handlungen. Führe statt dessen einfach einen reinen, vollkommenen Lebenswandel und praktiziere dementsprechend. Der dritte Grundsatz ist, Einseitigkeit zu vermeiden.Vielleicht zeigst du Geduld, wenn Menschen dir Schwierigkeit bereiten, doch wirst du ungeduldig, wenn du von Göttern oder Dämonen gestört wirst, oder umgekehrt. Oder du kannst zwar mit diesen Situationen umgehen, wirst aber ungeduldig, wenn dich solche Leiden wie Krankheit oder Unwohlsein befallen. Vielleicht übst du sogar in allen schwierigen Situationen Geduld, vergisst aber deine Dharmapraxis immer dann, wenn du glücklich und zufrieden bist. Der Sinn dieser dritten grundsätzlichen Verpflichtung liegt einfach darin, jegliche einseitige Ausrichtung bei der Geistesübung zu vermeiden. Dies ist zu üben.

«Ändere deine Einstellung, doch bleibe natürlich.» Wenn du deine frühere Haltung, dich nur um dein eigenes Wohlergehen, nicht aber um das der anderen zu kümmern, verändern willst, dann erachte nur das Wohlergehen der anderen als wichtig. Deine Übung soll nicht grosses Aufsehen erregen, sondern vor allem Ergebnisse zeitigen; deshalb ist es unnötig, über deine Fortschritte zu reden. Bleibe so natürlich wie möglich und verhalte dich dementsprechend gegenüber deinen Freunden und Brüdern und Schwestern im Dharma. Arbeite daran, deine Erfahrungen reifen zu lassen, ohne andere auf deine Anstrengungen aufmerksam zu machen.

«Sprich nicht über Schwächen.» Lasse dich nicht aus über unangenehme Themen, etwa die Fehler anderer in weltlichen Angelegenheiten (zum Beispiel körperliche oder geistige Mängel) oder ihre Fehler in spiritueller Hinsicht (z. B. verletzte Gelübde). Sprich fröhlich und freundlich über angenehme Dinge.

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«Denke nicht über die Angelegenheiten anderer Leute nach.»

Denke nicht über die Angelegenheiten anderer Leute nach: ganz allgemein nicht über die Fehler irgendeines Lebewesens, doch besonders nicht über die Fehler desjenigen, der mit der Dharmapraxis begonnen hat. Denke statt dessen:

Ich sehe diese Fehler, weil ich selbst eine unreine Sichtweise habe. Jener Mensch hat solche Fehler nicht. Ich bin genau wie jene Leute, die selbst in Buddha, dem Erleuchteten, Fehler fanden.

Ändere die fehlerhafte Haltung deines eigenen Geistes. «Arbeite zuerst an den Gefühlen, die dich am stärksten stören.» Schau dich an und stelle fest, welche störenden Gefühle am stärksten sind. Konzentriere all deine Dharmapraxis zuerst auf sie, um die Störung zu beseitigen.

«Gib alle Hoffnung auf Resultate auf.» Lasse die Hoffnung fallen, durch die Meditationen der Geistesübung Götter und Dämonen zu bezwingen oder als guter Mensch dazustehen, wenn du einem anderen zu helfen versuchst, der dich verletzt hat. Diese Haltung ist scheinheilig. Hoffe nicht auf etwas, das deine persönlichen Wünsche zufriedenstellt: dein Verlangen nach Ruhm, Respekt, Glück und Zufriedenheit in diesem Leben; nach Glück im Reich der Menschen oder Götter in zukünftigen Leben; oder nach der Verwirklichung von Nirvana für dich selbst.

«Nimm keine vergiftete Nahrung zu dir.» Da alle heilsamen Gedanken und Handlungen, die auf Anhaften an eine konkrete Realität oder auf Selbstliebe beruhen, wie vergiftete Nahrung sind, gib sie auf. Lerne, nicht anzuhaften, sondern wisse um die illusionsgleiche Natur der Erscheinungen.

«Sei nicht nachtragend.»

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Ein Mensch, der seine Angelegenheiten mit grosser Beständigkeit verfolgt, kann niemanden vergessen, der die ihm einmal Verdruss bereitet hat, ganz gleich, wo er ist und wieviel Zeit seitdem vergangen ist. Wenn jemand dich bekümmert oder ärgerlich macht, kannst vielleicht auch du deinen Groll nicht loslassen. Höre damit auf. Sei hilfsbereit jenen gegenüber, die dir Schwierigkeiten bereitet haben, und handle dementsprechend.

«Gib scharfe Worte nicht zurück.» Du sollst ganz allgemein keine Freude daran haben, andere herabzusetzen. Reagiere besonders dann, wenn ein anderer Mensch etwas Schlechtes über dich sagt, nicht so, dass du anderen etwas Böses über ihn erzählst. Bemühe dich immer, die guten Eigenschaften des anderen zu loben, und klage ihn nicht an, selbst wenn du dich verletzt fühlst.

«Sei nicht hinterhältig.» Hat dir irgend jemand Schwierigkeiten bereitet, dann besteht die Tendenz, dies im Gedächtnis zu fixieren und selbst über lange Jahre hin nicht zu vergessen. Wenn sich dann die Möglichkeit ergibt, diesen Menschen in einen Hinterhalt zu locken, um ihm die Verletzung heimzuzahlen, wird Rache geübt. Gib diese Haltung auf und sei so hilfsbereit wie möglich, wenn du es mit schwierigen Situationen zu tun hast. Belästigen dich Dämonen, dann halte nicht an dem Problem fest, sondern arbeite ausschliesslich an Liebe und Mitgefühl.

«Verletze niemanden.» Sprich nicht so, dass andere dadurch verletzt werden. Es ist nicht gut, sich über die Fehler eines anderen auszulassen und ihn damit blosszustellen. Sprich auch keine Mantras, welche die Lebenskraft nichtmenschlicher Wesen schwächen könnten.

«Belade ein Pony nicht mit der Last eines Pferdes.»

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Wenn du einem anderen eine unangenehme Aufgabe aufbürdest, für die eigentlich du verantwortlich bist, oder wenn du durch einen Trick einem anderen ein Problem auflädst, das dich betrifft, dann ist das so, als ob du ein Pony mit der Last eines Pferdes belädst76. Tue das nicht.

« Versuche nicht zu gewinnen.» Bei einem Pferderennen geht es darum, der Schnellste zu sein. Auch Dharmaübende hoffen oft mehr Beachtung zu finden oder höher angesehen zu werden als die anderen, und sie tüfteln Pläne aus, um an Besitz zu kommen. Gib das auf. Sorge dich nicht darum, ob du Geltung oder Anerkennung gewinnen wirst oder nicht.

«Falle nicht zurück in magische Praktiken.» Wenn du einen Rückschlag für den Moment hinnimmst, dabei aber Hintergedanken an spätere Vorteile für dich selbst hegst, oder wenn du Geistesübung in der Erwartung praktizierst, Krankheiten oder geistige Verwirrung heilen zu können und ungünstige Situationen abzuwehren, dann praktizierst du falsch. Du bist wie einer, der magische Praktiken gebraucht. Handle nicht so. Gleich ob Glück oder Kummer dir zufallen mögen, meditiere ohne Arroganz, Zögern, Furcht oder Hoffnung. Gyalse Togme sagte:

Geistesübung, die mit einer solchen Einstellung praktiziert wird, ist als Methode zu betrachten, die Dämonen und Verwirrung unterstützt. Wenn du so übst, ist da kein Unterschied zum Bösen. Dharmapraxis muss abschweifenden Gedanken und störenden Emotionen entgegenwirken.

Nimm dieses Beispiel zu Hilfe, um über irrige Dharmapraxis nachzudenken. Falsche Sichtweisen beruhen entweder auf Ewigkeitsglauben oder Nihilismus; irrige Meditation greift nach irgendwelchen erhabenen Zuständen; falsches Verhalten ist nicht im Einklang mit den drei Arten von Gelübden. Falscher Dharma umfasst alles, was der Ethik oder der Sichtweise, die massgebend vom heiligen Dharma gelehrt werden, zuwiderläuft, ganz gleich, von wem er kommt, von dir oder von einem anderen, vom Allerbesten oder vom

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Allergeringsten. Er wird dich in Samsara und die niederen Bereiche treiben. Es ist so, als würdest du eine verkehrte Medizin einnehmen oder eine unangemessene Strafe verhängen. Es gibt Leute, die bestimmte Texte, die geschrieben oder als „Schätze" offenbart77 wurden, „irrigen Dharma" nennen, ohne auch nur die Worte oder Gedanken eines einzigen Kapitels auf ihre Wahrhaftigkeit oder Fehlerhaftigkeit geprüft zu haben. Es scheint, dass sie so reden, weil sie an ihren eigenen Systemen hängen, vielleicht aber auch bloss so, wegen persönlicher Differenzen. Es heisst, dass nur ein Buddha fähig sei, den Wert eines Individuums zu ermessen. Selbst wenn du also einen Menschen nicht magst, der eine rechte Sichtweise oder Ethik vertritt, so ist durch deine Ablehnung doch sein Dharma nicht falsch. Es ist zum Beispiel ganz gleich, ob ein Händler Gold oder Tand verkauft. Das macht ihn nicht zu einem besseren oder schlechteren Händler. Der Buddha hat immer wieder gemahnt:

„Verlasse dich nicht auf Menschen. Verlasse dich auf den Dharma." Diesen Exkurs habe ich mir erlaubt, weil es so wichtig ist, diesen Punkt zu verstehen.

«Mache einen Gott nicht zu einem Dämon.»

Wenn während der Geistesübung deine Persönlichkeit ganz steif wird vor lauter Stolz und Arroganz, dann ist das so, als hättest du einen Gott zu einem Dämon gemacht; Dharma ist dann nicht mehr Dharma. Je mehr du über die Geistesübung und den Dharma meditierst, um so flexibler solltest du werden. Sei allen der geringste Diener.

«Mache nicht Schmerz anderer zur Grundlage eigenen Glücks.»

Denke nicht: „Wenn dieser Gönner oder jener Mensch erkrankte und stürbe, brächte mir das eine Menge Nahrungsmittel und Geld ein"78, oder „Wenn dieser Mönchsgefährte oder diese Dharmafreunde sterben würden, bekäme ich ihre Bildwerke und Texte" oder „Wenn meine Gefährten sterben würden, könnte ich allein all ihren Verdienst einheimsen" oder „Wäre es nicht herrlich, wenn all meine Feinde sterben würden!"

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Kurz gesagt: enthalte dich aller Hoffnung, dass anderen Leid widerfahren möge, damit dein eigenes Glück und Wohlergehen sich vermehren.

Richtlinien für die Geistesübung Der siebte Punkt gibt Richtlinien für die Geistesübung.

«Es gibt nur eine Art, aktiv zu meditieren.» Setze deine Praxis im Alltag fort, indem du dich auf das eine konzentrierst: trage stets die Absicht im Geist, anderen zu helfen, gleich was du tust, sei es beim Essen, Ankleiden, Schlafen, Gehen oder Sitzen.

«Alles Falsche wird durch eines berichtigt.» Falsche Ansichten werden durch richtiges Analysieren korrigiert. Wenn sich im Laufe deiner Meditation und Geistes-übung hinderliche Situationen entwickeln, Menschen dich kritisieren und beleidigen, Dämonen, Teufel, Feinde und Streitigkeiten dir das Leben schwer machen, deine störenden Emotionen immer stärker werden oder du kein Bedürfnis nach Meditation hast, dann denke:

Es gibt im ganzen Universum viele Lebewesen, die alle dieselben Probleme haben wie ich; mein Mitgefühlgilt ihnen allen;

und:

Mögen alle unerwünschten Umstände und Leiden aller Wesen zusätzlich in dieser meiner ungewollten Lage versammelt sein,

und benutze als einziges Heilmittel den Austausch deiner selbst gegen die anderen.

«Zu Anfang und am Ende sind zwei Dinge zu tun.» Am Anfang: entwickle gleich nach dem morgendlichen Erwachen den starken Impuls:

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„Heute will ich die beiden Bodhicittas in mir bewahren." Halte tagsüber die beiden Bodhicittas durch beständige Achtsamkeit aufrecht. Überprüfe am Ende, wenn du abends schlafen gehst, die Gedanken und Handlungen des Tages. Solltest du gegen die Bodhicitta-Einstellung verstossen haben, dann zähle auf, wie oft es geschehen ist, gestehe es dir ein und nimm dir ernsthaft vor, dass das in Zukunft nicht mehr vorkommen soll. Wenn es keine Übertretungen gegeben hat, dann freue dich und bete, dass du und alle Wesen in der Zukunft dazu fähig sein mögen, noch wirkungsvoller Bodhicitta zu üben. Übe regelmässig diese beiden Aktivitäten. Verfahre ebenso bei allen Verletzungen oder Übertretungen der Gelübde oder Ordinationsregeln.

«Was von den beiden auch eintreten mag, sei geduldig.» Solltest du bettelarm werden und stark leiden, dann bedenke dein früheres Karma. Nimm alles Leiden und das Böse der anderen ohne Groll oder Bedrücktheit auf dich und arbeite hart daran, schlechte Handlungen und Verdunkelungen des Geistes zu reinigen. Solltest du hingegen sehr glücklich sein und es dir gut gehen, so dass du in Reichtum schwelgst und von vielen Dienstboten umgeben bist, dann falle nicht in Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit. Benutze den Reichtum für verdienstvolle Unternehmungen, nutze deine Macht konstruktiv und bete, dass alle Wesen dieselben Annehmlichkeiten und dasselbe Glück erfahren mögen. Kurz gesagt, was dir auch zustossen mag, Glück oder Leid, sei geduldig.

«Beachte diese beiden, selbst wenn dein Leben auf dem Spiel steht.» Alles gegenwärtige und künftige Glück erwächst aus der sorgfältigen Beachtung zweier Grundsätze: der allgemeinen Gebote des Dharmas, wie sie in den drei Arten von Gelübden enthalten sind, und der besonderen Regeln der Geistesübung samt den damit verbundenen Verpflichtungen. Halte dich an diese beiden, selbst wenn dein Leben auf dem Spiel steht. Bei allem, was du tust, lasse dich nicht von der Sorge um das eigene Wohlergehen leiten, sondern von der Absicht, den anderen zu helfen.

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«Übe die drei schwierigen Dinge.» Zuerst ist es schwierig, störende Gefühle zu erkennen. Dann ist es schwierig, sie zu überwinden, und schliesslich ist es schwierig, sie endgültig auszurotten. Übe deshalb diese drei Punkte. Erkenne zuerst die störenden Emotionen sogleich bei ihrem Entstehen als das, was sie sind. Dann halte sie auf, indem du geeignete Massnahmen ergreifst und komme schliesslich zu der festen Entscheidung, dass solche Art Störungen nie mehr aufkommen sollen.

«Gewinne die drei wesentlichen Hilfsquellen.» Die wesentlichen Hilfsquellen für die Arbeit mit dem Dharma sind ein guter Lehrer, eine Praxis, deren Sinn man versteht und die man auch richtig durchführen kann, sowie günstige materielle Voraussetzungen, wie Nahrung, Kleidung usw. Wenn dir diese drei zur Verfügung stehen, dann freue dich darüber und bete dafür, dass auch andere solche Bedingungen finden. Sollten sie nicht vorhanden sein, so meditiere über Mitgefühl zu allen anderen Wesen und nimm allen Mangel an diesen wesentlichen Hilfsmitteln auf dich, den andere erleiden. Bete dafür, dass du und alle anderen künftig daran teilhaben mögen.

«Lasse drei Dinge nicht schwächer werden.» Lerne, dass drei Dinge nicht abnehmen dürfen: Vertrauen und Ehrfurcht für deinen Lama dürfen nicht schwächer werden, denn alle guten Qualitäten des Mahayana-Dharma hängen von ihm ab. Die Freude an den Meditationen der Geistesübung darf nicht schwächer werden, denn die Geistesübung ist das Herzstück des Mahayana. Gewissenhaftes Einhalten der drei Arten von Gelübden darf ebenfalls nicht schwächer werden.

«Verbinde die drei untrennbar.» Lasse die drei Instanzen - Körper, Rede und Geist - immer untrennbar von verdienstvollen Handlungen sein und halte dich von Bösem fern. «Übe dich gleichermassen in allen Erfahrungsbereichen. Wichtig sind gründlich geübte Fähigkeiten.»

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Geistesübung sollte alle Bereiche gleichermassen umfassen, Gutes und Böses, alles, was an Erfahrungsobjekten auftauchen mag: andere Lebewesen, die vier Elemente oder nichtmenschliche Wesen. Lippenbekenntnisse sind unnütz. Wichtig sind gründlich geübte Fähigkeiten.

«Meditiere beständig über besondere Objekte.» Meditiere, indem du vor allem den Objekten besonders viel Liebe und Mitgefühl entgegenbringst, die dir Schwierigkeiten bei der Geistesübung bereiten: aggressive Feinde, ärgerliche Hindernisse, insbesondere Menschen, die sich dir gegenüber unverständlich verhalten und deine Hilfe mit Ungemach erwidern, Leute, die sich mit dir messen wollen, gedankenlose Freunde, Menschen, die schwierig sind, obwohl sie keine schlechten Gefühle hegen, oder diejenigen, mit denen du einfach nicht auskommst. Vermeide im besonderen alles, was den Menschen Ärger bereitet, mit denen du eng verbunden bist - zum Beispiel deinem Lama oder deinen Eltern.

«Sei unabhängig von äusseren Bedingungen.» Achte weder auf fördernde noch auf hinderliche Umstände, gute oder schwache Gesundheit, Reichtum oder Armut, guten oder schlechten Ruf, Ärger oder Frieden. Wenn sich eine angenehme Situation ergibt, dann nutze sie sogleich zur Geistesübung. Wenn dir unangenehme Umstände widerfahren, dann übe dich in den beiden Bodhicittas. Mit einem Wort: kümmere dich weder um deine Situation noch um andere Dinge. Gib die Geistesübung niemals auf.

«Übe dich JETZT in den wichtigen Dingen.» Seit anfangsloser Zeit hast du in unzähligen Formen ein Dasein nach dem anderen geführt, ohne je etwas Sinnvolles zu schaffen. Ähnlich günstige Bedingungen wie in diesem Leben werden sich in Zukunft nicht wiederholen. Jetzt, da du eine menschliche Existenz erhalten hast und dem reinen Dharma begegnet bist, solltest du die entscheidenden Punkte praktizieren, um etwas zu verwirklichen, was dauerhaften Nutzen bringt: Ziele für zukünftige Leben sind wichtiger als solche für dieses

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Leben; für die Zukunft ist Befreiung wichtiger als Samsara; das Wohlergehen anderer ist wichtiger als dein eigenes. Wägt man Dharma üben gegen Dharma lehren ab, so ist üben wichtiger. Bodhicitta zu üben ist wichtiger als andere Praxis. Weiterhin ist intensive Meditation nach den Anweisungen deines Lamas wichtiger als analytische Meditation, die auf Texten fusst. Auf deiner Matte zu sitzen und zu üben ist wichtiger als andere Aktivitäten.

«Mache keine Fehler.» Vermeide die sechs Fehler. Wenn man bereitwillig die Mühen auf sich nimmt, die mit der Bekämpfung von Feinden, dem Schutz von Freunden sowie der Arbeit um des Geldes willen verbunden sind, dabei aber nicht in der Lage ist, ebenso geduldig die Schwierigkeiten der Dharmapraxis zu ertragen, dann übt man sich in fehlerhafter Geduld. Wenn man Reichtum, Glück und Zufriedenheit in diesem Leben will und keine Neigung verspürt, den Dharma gründlich zu üben, dann ist die Neigung fehlerhaft. Wenn man sich am Gefühl des Reichtums und des Besitzes erfreut und nicht daran, den Dharma zu hören, darüber zu reflektieren und zu meditieren, dann ist die Freude fehlerhaft. Wenn man mit einem Menschen Mitgefühl hat, der Entbehrungen auf sich nimmt, um den Dharma zu praktizieren, und nicht für diejenigen, die Böses tun, dann ist das Mitgefühl fehlerhaft. Wenn du dich eines Menschen annimmst, nur um seine Stellung im Leben zu verbessern, nicht aber um ihn dem Dharma zuzuführen, dann ist die Fürsorge fehlerhaft. Wenn du dich über das Unglück anderer und das Leiden deiner Feinde freust und nicht über Tugend und Freude im Samsara oder Nirvana, dann ist die Freude fehlerhaft. Vermeide diese sechs Fehler völlig.

«Sei nicht wankelmütig.» Ein Mensch, der ab und an praktiziert und es dann wieder lässt, hat noch kein klares Verständnis vom Dharma gefunden. Sei nicht voller Pläne, sondern praktiziere mit ganzem Herzen die Geistesübung.

«Übe mit ganzer Kraft.»

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Erlaube dir keine Ablenkung. Übe deinen Geist und sei diesem Ziel völlig hingegeben.

«Erlange Freiheit durch Prüfen und Erforschen.» Um dich von störenden Gefühlen und Ich-Bezogenheit zu befreien, musst du deine Erfahrungen ständig prüfen und erforschen und dir deines jeweiligen Geisteszustandes genau bewusst sein. Um dies zu üben, wende deine Aufmerksamkeit einem Gegenstand zu, der Emotionen hervorruft. Prüfe aufmerksam, ob störende Gefühle aufkommen oder nicht. Sobald du ihrer gewahr wirst, mache sie zum Gegenstand deiner Meditation und wende energisch Gegenmittel an. Dann achte genau auf Ich-Anhaftung, um festzustellen, wie es damit steht. Scheint es so, als sei nichts dergleichen vorhanden, dann prüfe genau, was passiert, wenn du deine Aufmerksamkeit auf etwas Anziehendes oder Abstossendes richtest. Wenn du jetzt Ich-Anhaftung findest, so wende augenblicklich das Gegenmittel an, dich gegen die anderen auszutauschen.

«Mache kein Aufheben.» Mache kein grosses Aufheben, wenn du freundlich zu anderen bist, denn mit deiner Dharmapraxis arbeitest du ja darauf hin, andere wichtiger als dich selbst zu nehmen. Da all die Zeit und Mühe, die du für gute Ausbildung, das Erlernen rechten Verhaltens und das Ausüben des Dharmas auf dich genommen hast, dir selbst zugute kommen, gibt es keinen Grund, sich anderen gegenüber deswegen zu brüsten. Prahle nicht damit. In den Ratschlägen von Ra-treng79 steht geschrieben: „Erwarte nicht viel von den Menschen; bete zu deinem Yidam80."

«Verfange dich nicht in Reizbarkeit.» Sei nicht eifersüchtig. Wenn andere dich in der Öffentlichkeit herabsetzen oder dir Ärger bereiten, dann reagiere nicht darauf und lasse deinen Geist und deine Gefühle nicht dadurch stören. Potawa81 sagt: Solange wir uns zwar Dharmapraktizierende nennen, aber den Dharma nicht zu einem Heilmittel gegen Ich-Anhaftung gemacht haben, sind wir empfindlicher als eine frisch verheilte Wunde und leichter zu reizen, als

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Tsang-tsen82. Das ist kein wirkungsamer Dharma. Wahrer Dharma, wenn er richtig ausgeübt wird, muss als Heilmittel gegen Ich-Bezogenheit wirken.

«Sei nicht launisch.» Belaste deine Gefährten nicht dadurch, dass du auf jede Kleinigkeit mit Gefallen oder Missfallen reagierst.

«Erwarte keinen Dank.» Erwarte nicht, dass andere ihre Dankbarkeit für deine Dharmapraxis, deine Hilfsbereitschaft und deine tugendhaften Handlungen in Worten ausdrücken. Befreie dich von allem Hoffen auf Ruhm oder Ansehen. All diese Unterweisungen sind Hilfsmittel, welche die Geistesübung stärken und davor bewahren werden, nachzulassen. Zusammenfassend sagt Gyal-se Rinpoche83: Während all unserer Leben sollten wir die beiden Bodhicittas unaufhörlich üben - sowohl während der Meditation als auch durch die Übungen ausserhalb der Meditation, und Zuversicht und vollkommene Beständigkeit darin erlangen. Scheue keine Anstrengung, um diesen Anweisungen zu folgen.

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Abschliessende Verse «Diese Unterweisungen sind die Essenz eines Elixiers, welches die fünf Arten von Degeneration in den Weg

des Erwachens verwandelt. Sie sind eine Überlieferung des edlen Serlingpa.»

Da die fünf Arten des Verfalls - der Zeiten, der Lebewesen, des Lebens, der Emotionen und der Sichtweisen - beständig zunehmen, sind glückliche Umstände, die dem Dharma förderlich sind, selten, während störende, abträgliche Situationen sich vermehren. Die Heilmittel anderer Lehren mögen wenig wirkungsvoll sein, doch für denjenigen, der seinen Geist übt, nimmt heilsame Aktivität in dem Masse zu, wie sich abträgliche Situationen vermehren, so wie das Feuer um so stärker brennt, je mehr Holz man aufschichtet, denn diese Lehre hat ein besonderes Kennzeichen, das die anderen nicht haben: sie verwandelt alle störenden Gefühle und unzuträglichen Umstände in den Weg des Erwachens. Diese Unterweisungen sind wie die Quintessenz eines Elixiers, welches den Strom der Erfahrungen bereichert und einem jeden hilft, ganz gleich, welche Fähigkeiten er oder sie haben mag. Diese tiefen Lehren sind die Überlieferung des Meisters Serlingpa, des gütigsten der drei Hauptlehrer des Meisters Atisha.

«Das Erwachen der karmischen Energie früherer Übungswege erweckte ein starkes Sehnen in mir. Deshalb liess ich Leid und Tadel ausser acht und

suchte Anweisung, mein Haften am Ich zu vernichten. Nun ist, selbst wenn ich sterbe, kein Bedauern in mir.»

Als die karmische Energie früherer Existenzen des grossen spirituellen Lehrers Chekawa erwachte, zog es ihn nur noch zu dieser Lehre. Unter grossen Entbehrungen suchte er und erhielt die Wurzel allen Dharmas, die Schlüsselunterweisungen gegen Ich-Bezogenheit, durch die grosse Vater-Sohn-Linie Atishas. Nachdem er sich darin geübt hatte, schätzte er andere höher als sich selbst, und nie mehr kümmerte er sich um eigene Wünsche. Weil er den Zweck des Dharmas erfüllt und daraus Zuversicht gewonnen hatte, hatte er nichts zu bedauern.

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Zusätzliche Unterweisungen der Übertragungslinie Der zweite Teil besteht aus einer Auswahl zusätzlicher Unterweisungen der Überlieferungslinie. Diese tiefe Lehre der Geistesübung ist besonders dann hilfreich, wenn du auf dich selbst gestellt bist. Die Geistesübung als solche hat die Kraft, alles Glück und alles Leid in Praxis zu verwandeln. Hinzu kommt, dass der tiefgründige Dharma schlechtes Karma aufrührt und dein Geist dann ebenfalls unruhig wird: wenn du aktiv bist, willst du still sitzen; wenn du still sitzt, zieht es dich wieder zu Aktivität. Wenn diese Art von Problemen auftaucht, dann meditiere folgendermassen:

Wenn ich in dieser Verfassung bin, dann ist meine Sitzmatte bei weitem der beste Ort für mich. Dieser gegenwärtige Geisteszustand ist gut. Diese Schwierigkeiten jetzt zu ertragen, wird mich davor bewahren, später in die Höllen zu fallen. Wie wunderbar! Niemals werde ich gekocht oder verbrannt werden. Wie wunderbar!

Und:

Ausserdem sollte ich freundlich über Angst und Schrecken denken und ein gesundes Gefühl für Scham entwickeln, minderwertige Nahrung annehmen und Entbehrungen ertragen, ärmliche Kleidung tragen und eine niedrige Stellung akzeptieren, an den Heilmitteln arbeiten und Glück und Leid ausser acht lassen.

Gemäss den Lehren aus den „Schritten des erwachenden Kriegers" 84, sollte Selbstkritik am richtigen Punkt ansetzen: Wenn du krank bist, ist die Krankheit selbst die Pflegerin. Wenn du dich aufregst und denkst, dass deine Ärzte, Pflegerinnen, Verwandte und all die anderen sich mehr anstrengen sollten, um dich zu heilen, dann denke:

Kein anderer ist schuld an dieser Krankheit; schuld ist nur meine Ich-Bezogenheit.

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Wenn Medizin und Pflege schliesslich doch helfen, dann wäre es eine falsche Haltung zu fragen, warum die wirksame Behandlung nicht gleich angewendet wurde. Denke lieber:

Niemand entgeht dieser Art von Leid. Selbstsucht, nun hast du erreicht, was du wolltest! Also, sei zufrieden!

Lerne auch, die Krankheiten und Störungen, unter denen andere leiden, auf dich zu nehmen. Hier sind einige Lehren des edlen Serlingpa85:

Beruhige alle Gedanken. Alle Gegenmittel sind Waffen, die geführt sein wollen. Bündle alle Pläne zu einem einzigen. Alle Wege haben nur ein Ziel. Diese vier Lehren sind erleuchtende Heilmittel. Du wirst sie brauchen, um die Ungezähmten zu bezwingen. In diesen entarteten Zeiten sind sie nötig, um mit bösen Gefährten und falschen Lehren fertigzuwerden.

Sobald Gedanken auftauchen, zwinge sie nieder, durch Geistesübung oder durch Leerheit. Heilmittel sind nicht einfach Meditationen, die angewendet werden, wenn es einem gerade passt. Sobald störende Gefühle auftauchen, stürze dich auf sie, kreise sie ein, vereinzelne und zermalme sie86. Mache nicht viele Pläne für jetzt oder später. Konzentriere dich nur auf das, was deinem Geist hilft und bemühe dich, so gut du kannst, um die Vernichtung deiner Ich-Bezogenheit. Da das Freisein von Ich-Bezogenheit Buddhaschaft bedeutet, genügt dieses einzige Ziel. Man muss nicht die Stufen des Pfades aufzählen. Diese vier Lehren fassen alle Heilmittel zusammen, die Erleuchtung betreffen.

Widrige Umstände sind spirituelle Freunde. Teufel und Dämonen sind Ausstrahlungen der Buddhas. Krankheit ist der Besen, der das Böse und die Verdunklungen hinwegfegt. Leiden ist der Tanz all dessen, was ist. Diese vier Lehren sind für die wirklich störenden Gefühle. Du wirst sie brauchen, um die Ungezähmten zu bezwingen. In diesen entarteten Zeiten sind sie nötig, um mit bösen Gefährten und falschen Lehren fertigzuwerden.

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Gehe widrigen Umständen nicht aus dem Weg, denn sie erfüllen die Funktion des spirituellen Freundes. Wenn du hinderliche Situationen nutzt, kannst du die Ansammlungen vermehren, Verwirrung beseitigen, dir den Dharma in Erinnerung rufen und Nutzen aus deinen Erkenntnissen ziehen. Auch besteht kein Grund, sich vor Visionen oder Halluzinationen zu ängstigen, die von Göttern oder Teufeln hervorgerufen werden, oder vor dem Ungemach, welches Dämonen verursachen. Da sie dir helfen, dein Vertrauen und deine Tugenden zu vermehren, sind sie Ausstrahlungen deines Lamas oder der Buddhas. Da böses Karma aus vergangenen Leben aufgerührt wird, wenn du den heiligen Dharma richtig übst, wirst du immer wieder an verschiedenen körperlichen Krankheiten leiden. Wenn dies geschieht, dann arbeite daran, während der Krankheit fröhlich zu sein, denn - wie in den Sutras hervorgehoben wird - wirkt selbst der leichteste Kopfschmerz, von ernsten Krankheiten ganz zu schweigen, wie ein Besen, der allen Schmutz hinwegfegt. Die Krankheiten klären alle Schlechtigkeiten und Verwirrung, die sich seit anfangloser Zeit angesammelt haben. Wenn Leid über dich kommt, dann schau es direkt an, und du wirst seine Leerheit erkennen. Wie sehr du auch leiden magst, Leid ist nur der Tanz dessen, was ist. deshalb sei nicht bedrückt. Es ist gut, dass all diese Dinge geschehen, denn sie können dir helfen, den Dharma in die Praxis umzusetzen. Der Schlüssel ist, diese vier Lehren bei wirklich störenden Gefühlen nicht zu vermeiden. Setze sie in die Praxis um.

Für Glück gibt es ein starkes Joch. Im Leiden liegt ein starker Auftrieb. Das Ungewollte ist der erste Wunsch. Die schlimmsten Omen werden freudig angenommen. Diese vier Lehren rücken andere Heilmittel zurecht. Du brauchst sie, um die Ungezähmten zu bezwingen. In diesen entarteten Zeiten sind sie nötig, um mit bösen Gefährten und falschen Lehren fertigzuwerden.

Wenn du an Körper und Geist glücklich und zufrieden bist, wird der Wunsch nach Nichtdharma-Aktivitäten aufkommen. Schau dir dieses Gefühl des Glücks genau an und du wirst bemerken, dass darin nichts Substantielles ist. Nutze die Situation für die Praxis, indem du diese blosse Erscheinung des Glücks an alle Wesen weitergibst. Diesem

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Trugbild des Glücks nicht zu erliegen, sondern in einem natürlichen Zustand zu ruhen, ist das Joch für Glück. Wenn Leiden kommen, dann verzweifle nicht. Schau dir das Leid an als das, was es wirklich ist, und es wird sich in Leerheit auflösen. Zusätzlich zu der Erscheinung des eigenen Leidens nimm alles Leid und Unglück aller Wesen auf dich und ruhe in einem natürlichen Zustand. Diese Übung ist der starke Auftrieb aus dem Leid heraus. Wenn dir all das widerfährt, was du nicht willst und nicht wünschst, so bedeutet dies tatsächlich eine grosse Hilfe in deinem Bestreben, deine Ich-Bezogenheit aufzulösen. Somit ist es genau das, was du dir als erstes wünschst, dein Hauptziel. Lass deinen Geist freudig ruhen, indem du denkst:

Dies ist, was du wolltest, Ich-Bezogenheit. Möge es dich vollkommen zerstören!

Wenn schlechte Omen oder Halluzinationen erscheinen, dann denkst du angestrengt darüber nach, was geschieht und wie du dich verhalten solltest. Bedenke in solchen Zeiten:

Das musste geschehen. Es ist gut, dass es jetzt hochgekommen ist. Mögen alle schlechten Omen auf meine Selbstsucht niedergehen.

und lass deinen Geist ruhen, ohne Selbst-Nachsicht oder Vorbehalte. Diese vier Heilmittel können Situationen zurechtrücken, mit denen andere Gegenmittel nicht fertig werden.

Das Ego ist die Wurzel aller Fehler. Mit dieser Lehre rottet man es aus. Die Quelle aller guten Eigenschaften sind die anderen. Mit dieser Lehre lernt man, sie vollkommen anzunehmen. Diese beiden Lehren fassen alle Heilmittel zusammen. Du brauchst sie, um die Ungezähmten zu bezwingen. In diesen entarteten Zeiten sind sie nötig, um mit bösen Gefährten und falschen Lehren fertigzuwerden.

Kurz gesagt, da die Grundlage der Geistesübung in diesen beiden Gedanken - die Sorge um eigenes Glück vollkommen aufzugeben und sich vollständig auf das Wohl der anderen auszurichten - enthalten ist,

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fassen diese beiden Unterweisungen den gesamten Weg zusammen. Deshalb mache sie zur Basis deiner Praxis.

Berichtige den Irrtum und schaue tief und genau. Entspanne dich völlig und ruhe gelassen. Woran man nicht festhält, das fällt von selbst ab.

Wenn du Gedanken oder Gefühlen nachfolgst - mögen sie grob oder subtil sein - und dein Geist wandert nach aussen, dann entsteht daraus Irrtum, deine Anstrengung geht fehl und du unterscheidest dich nicht von gewöhnlichen Leuten. Wende dich nach innen und betrachte deinen Geist. Du wirst entdecken, dass es nichts zu sehen gibt. Entspanne dich vollkommen, ohne etwas greifen zu wollen, und verweile in dem Zustand der Leerheit. Ganz gleich, wie viele Gedanken und Gefühle auftauchen mögen - wenn sie nicht festgehalten werden, vergehen sie von selbst und zeigen sich als Ansammlung ursprünglicher Weisheit.

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Schlussbemerkungen In dieser Tradition der Sieben Punkte sind die wesentlichen Praxisanweisungen aller Kommentartraditionen enthalten, welche die Lehren der mündlichen Überlieferungslinie Atishas zur Geistesübung weitergaben. Ich selbst habe, aus der kaum übersehbaren Zahl der Quellen, die hier vorliegende Interpretation aus den geschriebenen Kommentaren des sehr edlen Gyal-se Rinpoche Togme und des edlen und verehrten Kunga Nyingpo87 erhalten. All die Lehren dieser verehrten Meister habe ich gesammelt und zu einem einzigen Elixier verdichtet, welches ich so abfasste, dass es auch von Anfängern leicht verstanden werden kann. So wurde dieses umfassende und klare Werk nur in der edlen Absicht zusammengestellt, anderen zu helfen.

Die Verdichtung des Pfades von Sutra und Tantra, diese kostbarste Essenz des heiligen Dharmas, tiefgründig und doch leicht zu üben, geht wunderbar aus diesen Unterweisungen hervor. Nur selten vernimmt man eine so tiefe Lehre, und hört man sie dennoch, fällt ihre Anwendung schwer. Entsprechend zu handeln bringt reiches Verdienst, doch geschieht dies so selten, wie man Gold auf der Strasse findet. Zu vieles Reden ermüdet, doch schrieb ich diesen Text aus dem reinen Wunsch, anderen zu helfen. Mögen durch dieses Verdienst alle Wesen die beiden Bodhicittas verwirklichen.

Wegen des langen Drängens meines Schülers Karma Tu-tob, der in den fünf Wissenschaften sehr bewandert ist, und aufgrund der Bitte, die Tulku Karma Tabge Namröl jüngst an mich herantrug, der sich aufrichtig und mit Entschlossenheit eng an Bodhicitta hält, und wegen Lama Karma Nge-dön und anderer, die sich durch ihr Festhalten an der Praxis würdig erwiesen, und wegen der ständigen Anfragen derer, die ihre Praxis zu klären wünschen, habe ich, Lodrö Thaye, ein Untertan der gütigen Meister Karmapa und Situpa, diese Arbeit im Klausur-Zentrum „Ort des Klaren Lichts, grosser Seligkeit und völliger Güte" des Klosters Palpung zusammengestellt. Mögen unzählige Wesen davon Nutzen tragen.

Möge Tugend sich vermehren.

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Fussnoten1 Langdarma (803-842). Der Buddhismus wurde in Tibet im siebten

Jahrhundert durch König Song-tsen-gampo eingeführt. Unter seiner Regierung bekam die tibetische Sprache durch Tumi Sambhota ein Alphabet, und es begann die Übertragung von Texten aus dem Sanskrit ins Tibetische. Unter dem nächsten König Tri-song Detsen wurden indische Meister wie Shantarakshita, Padmasambhava und Vimalakirti eingeladen, die Regeln des mönchischen Lebens wurden eingeführt, Klöster gebaut und in grossem Rahmen Texte übersetzt. Auch unter den nächsten beiden Königen blühte der Buddhismus, doch als Langdarma 836 den Thron bestieg, begann er rücksichtslos, den Buddhismus zu unterdrücken. Er liess Klöster schliessen, Mönche ermorden, Bibliotheken verbrennen und zerstörte Schreine und andere religiöse Gegenstände. Obwohl seine Regentschaft sechs Jahre später durch seine Ermordung endete, liess sie vom Buddhismus in Tibet nahezu nichts mehr übrig. Seit Langdarmas Regierung gibt es die Unterteilung in die neue und die alte Übersetzerschule: die alte Schule fuhr mit der Tradition des Buddhismus fort, die ursprünglich in Tibet eingeführt worden war und die Verfolgungen überdauert hatte; die neue Schule bestand aus den Traditionen, die nach Langdarmas Regierung nach Tibet gebracht wurden. Rinchen Sangpo wird im allgemeinen als der erste Übersetzer der neuen Generation betrachtet.

2 Atisha (982-1054). Seit seinem achten Lebensjahr erfreute sich Atisha einer engen Verbindung zur Grünen Tara, der weiblichen Gottheit, welche die Aktivitäten des erwachten Mitgefühls verkörpert. In seinen frühen Zwanzigern war er ein fähiger Meister der esoterischen Lehren des Buddhismus und ein profunder Gelehrter, dessen Fähigkeit in der Kunst des Debattierens beim Wettstreit mit den Repräsentanten anderer indischer Religionen hoch geschätzt wurden. Nicht nur Tara in seinen Visionen, auch seine eigenen Kollegen baten ihn dringend, Mönch zu werden, um anderen noch wirksamer helfen zu können. Als er schliesslich dieser Bitte nachgekommen war, wurde er

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wegen der Reinheit, mit der er die mönchischen Regeln befolgte, berühmt. Er war einer der führenden Lehrer an der grössten und einflussreichsten Mönchsuniversität des buddhistischen Indiens, Vikra-mashila. In Anerkennung seiner Meisterschaft und seiner Errungenschaften wurde er auch „Halter des Sitzes von Bodhgaya" (dem Ort, an dem Buddha Shakyamuni die höchste Erleuchtung erlangt hatte) genannt. Atishas spirituelle Entwicklung ist eng mit den zahlreichen Visionen verbunden, die er von der Grünen Tara hatte. Sie drängte ihn dazu, nach den Lehren des Bodhicitta zu suchen. Zusätzlich hatte Atisha noch andere Visionen, die die Wichtigkeit dieses Themas betonten. Einmal geschah es in Bodhgaya, dass zwei der Statuen, die den Haupttempel schmückten, zu sprechen begannen. Eine fragte: „Welche Lehre ist die wichtigste, um Buddhaschaft zu erlangen?" Die andere erwiderte: „Bodhicitta ist die wichtigste Lehre." Einige Zeit danach reiste Atisha dann nach Indonesien, um bei Dharmakirti zu lernen, dessen Verständnis des Bodhicitta und der Möglichkeiten, es zu entwickeln, weithin anerkannt waren. Später in seinem Leben beging Atisha einen ernsten Fehler. Er liess es zu, dass ein fortgeschrittener Schüler der esoterischen Lehren wegen scheinbar unangemessenen Verhaltens aus dem Kloster ausgestossen wurde. Als Atisha Tara wegen dieser Sache befragte, riet sie ihm, den Dharma in Tibet zu lehren, um so das Karma dieser Handlung auszugleichen. Deshalb nahm Atisha trotz einigen Widerstrebens schliesslich die Einladung Rinchen Sangpos an. Atisha verbrachte die letzten zwölf Jahre seines Lebens in Tibet, lehrte aus seinem reichhaltigen Wissen der buddhistischen Philosophie und Praxis, half Übersetzern wie Rinchen Sangpo bei ihrer Arbeit, Sanskrittexte gewissenhaft ins Tibetische zu übertragen und führte die Schüler bei ihren spirituellen Übungen.

3 Nagarjuna: ein indischer Meister, der im ersten Jahrhundert n. Chr. lebte. Nagarjuna war einer der grössten Dialektiker der Welt, und seine Arbeiten waren entscheidend für die Entwicklung des „Mittleren Weges" (Madhyamika) zwischen den dualistischen Extremen von Ursprung und Ende, Nihilismus und Ewigkeitsdenken, Kommen und Gehen, Monismus und

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Pluralismus. Er war Lehrer an der berühmten Mönchsuniversität Nalanda, und seine Ausführungen über die Leerheit und andere Themen der buddhistischen Philosophie werden noch heute als Richtlinien für das intellektuelle Verständnis und die Praxis der Kontemplation herangezogen. Der Name Nagarjuna bedeutet „Er, der Macht über die Nagas hat", wobei Naga eine Art Schlange ist. Dieser Beiname bezieht sich darauf, dass er die Lehren Buddhas über die Vollkommene Weisheit (Prajnaparamita) vom Naga-König, der sie bewachte, zurückerhielt. Nagarjunas Kommentare über diese tiefe Lehre begründete die Tradition der „Tiefgründigen Philosophie", die das intellektuelle Verständnis der Leerheit als Basis für die Kontemplation einführte.

4 Manjugosha oder Manjushri: der Boddhisattva (siehe Nr. 10) der erwachten Intelligenz. Er wird gewöhnlich mit dem flammenden Schwert des Mitgefühls darstellt, welches das Anhaften an die Dualität durchtrennt, und mit einem Band des Werkes „Die vollkommene Weisheit" (Prajnaparamita), dessen Lehren er vollständig verinnerlicht hat.

5 Asanga: ein indischer Meister aus dem dritten Jahrhundert, der Begründer der Tradition der „Unermesslichen Aktivität". Diese Tradition betont die Vorrangstellung der Erfahrung und das Verständnis der falschen Dualität von subjektiver und objektiver Existenz. Asanga ist besonders für seine Beziehung zu dem Bodhisattva Maitreya (siehe Nr. 6) bekannt. Nachdem er zwölf Jahre lang meditiert und gebetet hatte, um Maitreya zu begegnen, gab Asanga schliesslich auf und verliess seine Höhle. Er kam an einem alten Hund vorbei, der über und über mit durch Maden infizierten Wunden bedeckt war. Der Anblick erregte so grosses Mitleid in ihm, dass er die Leiden des Hundes zu erleichtern suchte, indem er die Maden entfernen wollte, nicht mit dem Finger - er hätte sie ja töten können -, sondern mit der Zunge. Als er seine Zunge ausstreckte und die Augen vor dem abstossenden Anblick schloss, verschwand der Hund und Asanga bemerkte, dass er den Boden leckte. Er öffnete die Augen, und Maitreya stand vor ihm. Er erklärte ihm, dass nur Asangas geistige Verdunklungen das

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Treffen bisher verhindert hätten. Diese mitleidvolle Handlung habe die letzten Schleier beseitigt, und deshalb könne Asanga ihn jetzt sehen. Maitreya nahm Asanga mit in die Tushita-Gefilde und lehrte ihn dort die Mahayana-Lehren, die unter dem Titel „Die fünf Lehren Maitreyas" bekannt sind.

6 Maitreya: der Buddha der Zukunft. Bevor Buddha Shakyamuni aus den Tushita-Gefilden auf der Erde erschien, ernannte er Maitreya zu seinem Statthalter. Der Name Maitreya bedeutet „Einer, der liebevolle Güte besitzt". Meist wird er auf einem Thronsessel sitzend und den Dharma lehrend dargestellt.

7 Vajradhara, der Halter des Vajra: Ausdruck des vollen Erwachtseins in der tantrischen Tradition (siehe Nr. 34) des Buddhismus. Der Vajra ist die Waffe Indras, des indischen Gegenstücks zum griechischen Gott Zeus. Er ist aus unzerstörbarem Material gefertigt und kann jedes andere Objekt zerstören, ohne selbst beschädigt zu werden. Deshalb ist er ein Symbol für das jedem Lebewesen innewohnende spirituelle Potential, welches, unberührt von den relativen Wirklichkeiten wechselnder Existenzen, völlig unverletzbar bleibt und die Macht hat, alle Illusionen zu zerstören, die Leid und Elend schaffen. Vajradhara ist derjenige, der die volle Macht der Spiritualität ausübt, das Erwachen zur Buddhaschaft. Ikonographisch wird Vajradhara in blauer Farbe dargestellt (Blau repräsentiert den Himmelsraum, die unveränderliche Natur der absoluten Wahrheit). Er hält einen Vajra und eine Glocke, die Methode und Weisheit symbolisieren.

8 Tilopa (988-1069): indischer Meister, der seine Inspirationen direkt von Buddha Vajradhara empfing. In der Linie des „Segens und der Praxis" wird grosse Betonung auf die Rolle des spirituellen Lehrers (siehe Nr.43) gelegt: die Inspiration und den Segen, die er überträgt, und die Praxis, die der Schüler dann ausübt.

9 Zuflucht. Da man im Buddhismus die gewöhnliche Existenz mit Leiden, Angst, Elend und Schmerz beladen sieht, ist das auslösende spirituelle Bedürfnis mit dem Begriff „Zufluchtnahme" umrissen. Zuflucht bedeutet, all das aufzugeben, was nach

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normalen Kriterien bedeutungsvoll ist. In diesem Zustand des In-Frage-Stellens erhält man die Möglichkeit geistig zu erwachen und bezieht aus der Tatsache Inspiration, dass Buddha Shakyamuni Erleuchtung erlangte. „Zuflucht nehmen" bedeutet, sein Leben auf die Verwirklichung der Erleuchtung auszurichten - Zuflucht zum Buddha zu nehmen. Zusätzlich nimmt man Zuflucht zum Dharma, d. h. den Lehren und Erfahrungen des Erwachens, und zum Sangha, den Lehrern und den anderen Übenden, die Führung und Inspiration auf diesem Weg geben. Diese drei - Buddha, Dharma und Sangha - sind als die „Drei Juwelen" bekannt. Vom Standpunkt des Buddhismus aus kann man Leid und Frustration nur dann ein Ende bereiten, wenn man zum wahren Verständnis seiner selbst und der Welt erwacht, doch der Pfad, der zu diesem inneren Verständnis führt, erfordert die erfahrene Führung eines Menschen, der den Weg kennt.

10 Bodhicitta. Dieses Wort drückt das Kernstück des Mahayana-Buddhismus aus. Traditionell bezeichnet es sowohl das Ziel, Buddhaschaft zu erlangen (siehe Nr. 38), um anderen Wesen zu helfen, als auch das Ausüben der Disziplin, durch die dieses Erwachen bewirkt werden kann. Letztendlich bezeichnet es direkte Erkenntnis der Natur der Realität. Kurz gesagt: Boddhicitta ist die Absicht, allen Lebewesen bedingungslos beizustehen, sich von ihrem Leiden zu befreien. Das bedeutet, dass wir sowohl in unseren Beziehungen zu anderen Menschen als auch in unserem Verständnis vom Wesen der Welt, jeden persönlichen Anspruch vollkommen aufgeben. Am Anfang steht die Entwicklung von Liebe und Mitgefühl für andere, und dies reift schliesslich zu der alles umfassenden Entscheidung, soviel wie nur möglich zu helfen. Wer dieses Grundziel des Mitgefühls mit direktem, vorstellungsfreiem Wissen um die Natur unserer Erfahrungen verbindet, wird zum Bodhisattva. Im Tibetischen kann dieser Begriff mit „Erwachender Krieger" übersetzt werden: erwachender, weil der Prozess der Reinigung und des Wachstums, der letztendlich in der Buddhaschaft gipfelt, in Gang gesetzt wurde; Krieger, wegen der mutigen Einstellung, die alle Hindernisse und Schwierigkeiten überwindet, denen man auf diesem Weg begegnet.

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11 Serlingpa. Dieser buddhistische Meister, der in Indonesien lebte, gehörte zur Übertragungslinie einer besonderen Methode zur Entwicklung von Bodhicitta, die als Geistesübung bekannt wurde. Er war der einzige von Atishas einhundertundfünfzig spirituellen Lehrern, der ihn darin unterwies.

12 Drotn-tön Rinpoche (1005-1064): Der spirituelle Erbe von Atisha. Er erhielt alle Lehren Atishas und gründete später die buddhistische Kadampaschule. Obwohl er ein Laie war, gründete er im Jahre 1056 das Kloster Ra-treng.

13 Kadampa: eine der ersten neuen Übersetzerschulen. Diese Tradition betonte die strikte Einhaltung der mönchischen Regeln, Sachkenntnis in Logik und Gelehrsamkeit und Eifer bei der Übung der grundlegenden Tugenden als der Basis für eine spirituelle Entwicklung. Sie gab nicht nur solchen Meistern wie Gampopa (dem spirituellen Erbe Milarepas und Halter der Linie der Kagyupatradition), Kunga Gyaltsen (einem der Begründer der Sakyaschule) und Tsongka-pa (dem Begründer der Gaden- oder Gelugpatradition) die erste spirituelle Ausbildung, sondern führte auch den Lam-rim, den Stufenweg, als Hilfsmittel für Studien und Praxis ein. Dieser Weg führt den Schüler durch eine Reihe von thematischen Schritten, die bei dem Interesse an der eigenen Befreiung beginnen und bis zum vollkommen selbstlosen Bedürfnis führen, den anderen zu helfen. Dieser Weg wurde später von allen Schulen Tibets angewendet.

14 Chekawa Yeshe Dorje. Dieser Kadampameister wurde mit einundzwanzig Jahren Mönch und lernte die hundert Bücher der Lehren des Buddha auswendig. Chekawa formulierte die Lehren Atishas in dem Text „Die Sieben Punkte der Geistesübung".

15 Eine Übersetzung mit Kommentar zu diesen Versen können in dem Buch „Logik der Liebe" von Seiner Heiligkeit, dem 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso, nachgelesen werden. (Kindness, Clarity and Insight, Snow Lion 1984)

16 Bön. Bön wird allgemein für die vorbuddhistische Religion Tibets gehalten, doch wurde sie selbst sehr stark von dem sich verbreitenden Buddhismus beeinflusst. Heute ist sie dem

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tibetischen Buddhismus in vielen Bereichen gleich, hat jedoch eine eigene Gestalt und eine eigene Ikonographie.

17 Kagyüpa. Bedeutet wörtlich „die Überlieferung der Lehren" und bezieht sich auf die Kagyüpaschule, die in Tibet durch Marpa, den Übersetzer, seinen Schüler Milarepa und dessen Schüler Gampopa (siehe Nr. 30) begründet wurde.

18 Traditionelle Formel, die am Anfang vieler Texte steht. Der Sanskritsatz bedeutet: „Ehrerbietung allen Gurus, Buddhas und Bodhisattvas."

19 Die beiden Ziele: das Ziel für den Praktizierenden selbst besteht darin, durch Erkenntnis der Leerheit (s. Nr. 55-58) - absolutes Bodhicitta - frei von Leid und Verwirrung zu werden. Das zweite Ziel ist, anderen dabei zu helfen, sich zu befreien, und das wird durch Mitgefühl - oder relatives Bodhicitta - erreicht.

20 Kongtrul weist hier auf eine Gruppe von sieben Bodhisattvas hin, deren Namen Manjushri, Avalokiteshvara, Vajrapani, Kshiti-garbha, Vishkambi, Akashagarbha und Samantabhadra sind.

21 Dharmakirti: der religiöse Name Serlingpas (s. Nr. 11).

22 Dharmarakshita. Ursprünglich ein Anhänger der Shravaka-lehre der individuellen Befreiung (s. Nr. 24 und 36), wurde Dharmarakshita von Mitgefühl überwältigt, als einer seiner Freunde sehr krank wurde. Der behandelnde Arzt sagte, dass nur das Fleisch eines lebendigen Menschen die Krankheit heilen könne und dass deshalb nichts zu machen sei, denn solches sei unmöglich zu beschaffen. Dharmarakshita bot sein eigenes Fleisch an und schnitt ein Stück aus seinem Oberschenkel. Da er die unmittelbare Erfahrung der Leerheit jedoch noch nicht realisiert hatte, litt er sehr heftig, doch sein Mitgefühl blieb fest, und er bedauerte seine Handlung nicht. Der kranke Freund ass das Fleisch und fühlte sich gleich besser. Als Dharmarakshita das vernahm, sagte er, dass er sich darüber freue und dass er selbst jetzt in Frieden sterben könne. Wegen der Schmerzen konnte er jedoch keine Ruhe finden, und der Morgen graute schon, als er endlich einschlief. Er träumte von einer weissen Gestalt, die zu ihm sagte: „Wenn du Erleuchtung willst, dann musst du so schwierige Handlungen vollbringen wie diese hier - sehr gut!" Die

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Gestalt nahm dann etwas Speichel aus ihrem Mund und rieb ihn auf die Wunde, und diese verschwand, ohne eine Narbe zu hinterlassen. Als Dharmarakshita erwachte, war sein Oberschenkel vollkommen geheilt, genauso, wie er es geträumt hatte. Danach realisierte er die Erfahrung der Leerheit und folgte von nun an dem Mahayana-Pfad.

23 Yogi Maitreya. Einmal, als dieser indische Meister Belehrungen gab, warf ein Zuschauer einen Stein nach einem Hund, um ihn zu vertreiben. Maitreya schrie auf vor Schmerz und fiel von seinem Sitz. Da der Hund keine Zeichen einer Verletzung aufwies, dachte jeder, dass Maitreya ein Beispiel hatte geben wollen. Doch als er den Menschen eine Verletzung auf seinem Rücken zeigte, die sich genau an der Stelle befand, an der der Hund getroffen worden war, erkannten sie, dass er den Schmerz des Hundes wirklich auf sich genommen hatte.

24 Die drei Arten Schüler: die Unterscheidung geschieht anhand der Grundeinstellung. Die ersten sind durch den Wunsch motiviert, eine bessere Daseinsform für sich zu erlangen; die zweiten durch den Wunsch, sich von den Leiden einer auf Ego begründeten Existenz zu befreien; die dritten durch den Wunsch, alle Wesen vom Leiden zu befreien.

25 Die Namen lauten in der vollständigen tibetischen Transskription: Khu.ston.brtson.'grus.gyung.drung, rNgog.legs.pa'i.shes.rab, und Brom.ston.rgyal.wa'i.'byung.gnas.

26 Obwohl Buddhaschaft (oder vollkommenes Erwachen) undifferenziert ist, so wird doch die Art und Weise, wie der erleuchtete Zustand in seinem Aktivitätsaspekt zum Ausdruck kommt, von Mensch zu Mensch verschieden sein. Die drei Familien stehen für drei Ebenen, wie sich Erleuchtung ausdrücken kann: Körper, Rede und Geist. Buddha Shakyamuni und der Bodhisattva Manjushri verkörpern die körperliche Manifestation des Erwachens, Buddha Amithaba und Avalokiteshavara die der Rede und Akshobja und Vajrapani die des Geistes. Die drei Buddhas sind die Oberhäupter der Familien, die drei Bodhisattvas die Meister. Die drei Schüler Drom-töns, die als Ausstrahlungen

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dieser drei Bodhisattvas angesehen wurden, heissen Potawa, Chen-ngawa und Puchungwa.

27 Die Sechs kanonischen Texte (gzhung.drug) der Kadampas sind: skyes.rabs, ched.du.brjod.pa'i.tshoms, byang.chub.spyod.'jug, bslab.pa.kun.las.bstus.pa, byang.chub.sem.pa'i.sa und nyan.thos.pa-'i.'sa. Diese Texte enthalten Beschreibungen der früheren Leben des Buddha Shakyamuni, grundsätzliche Lehren über Vergänglichkeit, Leiden und Nicht-Ego, die Entwicklung von Bodhicitta, allgemeine Verhaltensregeln und die Beschreibung der Ebenen spiritueller Entwicklung für Shravakas und Bodhisattvas. Die Schlüsselunterweisungen über die Vier Edlen Wahrheiten (bden.bzhi'i.gdams.ngag) sind Meditationsmethoden, die sich auf die Sutras gründen (s. Nr. 34). Sie beinhalten Themen wie die kostbare menschliche Existenz, Tod und Vergänglichkeit, Handlung als Saat und Frucht, das Wesen des Daseinskreislaufs, liebende Güte, Mitgefühl, Bodhicitta, Geistesübung und die sechs Vollkommenheiten. Die Kernunterweisungen (thig.le.bcu.drug.gi.man.ngag) gründen sich auf die Tantras (s. Nr. 34) und befassen sich mit Methoden, die Art und Weise umzuwandeln, wie man die Welt erfährt.

28 Gelugpa (dge.lugs.pa): eine der vier Hauptschulen der tibetischen Tradition. Sie betont die klösterliche Disziplin und eine gründliche Fundierung in Logik und spirituellem Wissen als Grundlage für die Meditationspraxis. Der Orden begann 1409 mit der Gründung des Klosters Gaden durch den grossen Gelehrten und spirituellen Meister Je Tsongkapa (1357-1419). Tsongkapas Leben ist eine inspirierende Geschichte nicht nachlassender Entschlossenheit und Ausdauer, die tiefsten Lehren des Buddhismus zu durchdringen, und einer gründlichen, umfassenden Gelehrsamkeit, die noch heute als massgeblich betrachtet wird.

29 Die Vier Edlen Wahrheiten: ursprüngliche Bezeichnung der Lehren von Buddha Shakyamuni. Die erste ist die Wahrheit des Leidens: Leid ist ein Bestandteil unserer Erfahrungen, dem wir nicht entkommen können. Die zweite Wahrheit betrifft die Ursache: störende Emotionen, die das Bewusstsein vernebeln und verwirren, sind die Quelle von Leid und Frustration. Die dritte Wahrheit ist die Wahrheit von der Beendigung des Leidens: die

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Ursachen des Leidens können ausgeschaltet werden. Die vierte Wahrheit ist die Wahrheit des Weges: der Edle Achtgliedrige Pfad zeigt auf, wie man leben muss, um die Quelle des Leidens auszuschalten.

30 Dagpo Kagyü: Sammelbezeichnung einer Gruppe von Überlieferungslinien, die auf Gampopa, Dagpo Larje, zurückgehen. Gam-popa (1079-1153) studierte zuerst Medizin und wurde Arzt. Als seine Frau nach wenigen Ehejahren bei einer Epidemie starb, verlor er jegliches Interesse an den hergebrachten Lebensformen. Er wurde Mönch und studierte in der Kadampa-Tradition bei mehreren herausragenden Meistern, besonders bei Jayulwa und einigen Schülern von Drom-tön Rinpoche. Doch erst als er bei Milarepa, dem berühmten Dichterasketen der Kagyüpa lernte, begann er, den Dharma unmittelbar zu verstehen. Gampopa verband den Stufenweg der Kadampas mit den Mahamudralehren der Kagyüpas und bewirkte, dass diese beiden Lehrströmungen zusammenflössen. Vier Schüler Gampopas begründeten eigene Überlieferungen der Mahamudralehren: Karma Kagyü, Tsalpa Kagyü, Baram Kagyü und Phagmo Kagyü. Später entstanden aus den Phagmo Kagyü acht weitere Überlieferungslinien. Alle zusammen bilden die Dagpo Kagyü.

31 Die vier Gottheiten sind Buddha Shakyamuni, Avalokiteshvara, die grüne Tara und Acala.

32 Die Drei Behältnisse oder Körbe (tripitaka) sind drei grössere Schriftensammlungen: der Vinaya oder die mönchischen Regeln; die Sutras, welche unter anderem die Vier Edlen Wahrheiten erklären; und die Abhidharmalehren, die den einzelnen Menschen beschreiben und die Erfahrungswelt, in der er oder sie lebt.

33 Die drei Disziplinen sind Moral und Ethik, meditative Stabilität, Intelligenz und Weisheit.

34 Die Lehren des Mahayana oder grossen Fahrzeugs (s. Nr. 40) sind in zwei Gruppen unterteilt, die Sutras und die Tantras. Die Praxistradition, die sich auf die Sutras gründet, kultiviert Qualitäten, die zu der Erfahrung des geistigen Erwachens führen, wie liebende Güte, Mitgefühl und Bodhicitta, direkte Erkenntnis

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der Leerheit, die sechs Paramitas oder Vollkommenheiten (Freigebigkeit, ethisches Verhalten, Geduld, Eifer, meditative Konzentration, tiefe Einsicht) und die vier Arten, andere Wesen anzuziehen (bereitstellen, was gebraucht wird; angenehm reden; sich angenehm verhalten und bedeutsame Handlungen ausführen). In der Tantratradition besteht die Praxis darin, sich mit dem angestrebten Ergebnis, der Erleuchtung, zu identifizieren. Der personifizierte Ausdruck der Erleuchtung wird Yidam genannt. Wenn man sein Bewusstsein mit dem Yidam identifiziert, dann erfährt man die Welt und sich selbst als Ausdruck der Erleuchtung.

35 Es gibt drei Ebenen, auf denen man in der samsarischen Existenz so etwas wie Glück erleben kann: die menschliche Ebene, die Ebene der Asuras oder Nichtgötter und die Ebene der Götter (siehe Nr. 49 und 53).

36 Shravakas und Pratyekabuddhas. Diese beiden Arten spiritueller Verwirklichung resultieren aus einer Praxis, die aus Eigeninteresse unternommen wurde. Die Shravakas hören den Dharma und praktizieren ihn, weil sie selbst Freiheit von Leid und Frustration erreichen wollen. Sie üben auf der Basis strenger Entsagung, befolgen die mönchischen Regeln und gelangen durch die Meditation zu der Einsicht, dass die Vorstellungen eines individuellen Selbstes nicht der Wirklichkeit entspricht. Durch dieses Verständnis überwinden sie alle störenden Emotionen und befreien sich so vom Samsara. Pratyekabuddhas sind ähnlich, doch ihre Realisation führt tiefer, weil sie die Erkenntnis einschliesst, dass Subjekt und Objekt keine unabhängigen Wesenheiten sind. Shravakas wie Pratyekabuddhas bleiben kurz vor Erreichen der wahren Buddhaschaft stehen (s. Nr. 38), denn sie haben nur einen Zustand der Ruhe vor der Welt des Leidens erreicht. Im Laufe der Zeit werden sie jedoch auf die Inspiration des vollkommenen Erwachens zum Wohle anderer antworten und sich auf den Mahayanapfad begeben.

37 Nirvana, die Überwindung alles Leids, bedeutet immer Freiheit von der samsarischen Existenz. Jedoch wird der Begriff manchmal auch auf die Verwirklichung der Shravakas und

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Pratyekabuddhas angewendet, die nicht vollkommen erwacht sind (s. Nr. 38 und 41).

38 Buddhaschaft oder vollkommenes Erwachen wird als das vollständige Entfernen der beiden Schleier oder Verwirrungen bezeichnet: die Verwirrung durch störende Emotionen und die Verwirrung durch begriffliches Wissen. Zum Vergleich: die Shravakas und Pratyekabuddhas haben nur die Verwirrung durch störende Emotionen ausgeschaltet, doch die Ursache dieser Emotionen und die zweite Verwirrung bleiben bestehen. In der Mahayanatradition wird Buddhaschaft als das Ende des Prozesses des Erwachens betrachtet, der durch die Anhäufung von Verdienst und ursprünglicher Weisheit erreicht wird. Verdienst bezieht sich auf einen Sinn für Gesundheit und Heilsamkeit unserer Handlungen, unserer Rede und unserer Gedanken. Durch eine mitfühlende Einstellung anderen gegenüber entwickeln wir Wärme, Offenheit und Hilfsbereitschaft. In diesem Umfeld kann sich das Verständnis der Natur unseres Seins und der Natur der Welt entwickeln. Diese Art Verständnis ist nicht begrifflich, sondern unmittelbar und direkt. Es beinhaltet das Hervortreten von ursprünglicher Weisheit. Wenn diese Art von Verständnis entwickelt ist, findet Erwachen statt, das frei ist von der Begrenzung begrifflichen Wissens, das jenseits jeder Beschreibung steht und doch alles umfasst. Dieser Zustand wird Dharmakaya des Buddha genannt. Aus diesem Verstehen heraus und durch die Kraft des angehäuften Verdienstes erwächst die Begegnung mit dem Reichtum und der Fülle der Erleuchtung - Sambhogakaya des Buddha. Die sichtbare Manifestation der Erleuchtung in der Welt zeigt sich als der Nirmanakaya des Buddha (siehe Nr. 67).

39 Der König der Berge bezieht sich auf den Berg Meru, gemäss traditioneller buddhistischer Kosmologie das Zentrum der Welt. Der Berg Meru wird gewöhnlich mit dem Berg Kailash, einem gewaltigen Berg in Westtibet, gleichgesetzt.

40 Mahayana: das grosse Fahrzeug. Obwohl spirituelles Verständnis anfänglich aus Sorge um das eigene Wohlergehen gesucht wird, ist es möglich, dass sich das Herz in dem Masse wandelt, wie die Früchte der Praxis heranreifen und dadurch die Motivation

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entsteht, höchste Erleuchtung zu erlangen, um anderen zu helfen. Das ist Bodhicitta (s. Nr. 10) Bodhicitta als antreibende Kraft charakterisiert den Mahayana, der als das grosse Fahrzeug bekannt ist, weil er alle Wesen in die Freiheit führt. Er steht im Gegensatz zum Hinayana, dem kleinen Fahrzeug, der sich auf die Idee gründet, Freiheit nur für sich selbst zu erlangen. Jedoch sollte man den Hinayana, auf den sich die Mahayanaliteratur bezieht, nicht mit den buddhistischen Schulen des Südens in Thailand, Burma und Sri Lanka gleichsetzen.

41 Nicht verweilendes Nirvana: ein Synonym für vollkommenes Erwachen oder Buddhaschaft. Weil er die Leerheit realisiert hat, weilt ein Buddha nicht in samsarischen Existenzen, und wegen seines Mitgefühls und seiner Fürsorge für die anderen verweilt er nicht in dem Frieden der Verwirklichung eines Shravakas oder Pratyekabuddhas.

42 Shantideva (685-763): Dieser indische Meister war ein Anhänger der Tiefgründigen Philosophie (s. Nr. 3) und wurde besonders als Autor von „Entering the Way of Awakening" (Eintritt auf den Weg zum Erwachen, Bodhicaryavatara) bekannt. Dieser Text ist eine lange Versdichtung über Bodhicitta, was es ist und wie es entwickelt werden kann. Ehe er diesen Text verfasste, hielten die anderen Mönche Shantideva für einen faulen, etwas stumpfsinnigen Menschen, der nur ass und schlief. Die Mönche wollten ihren Spass und baten Shantideva, bei einem jährlich stattfindenden Fest, das von einem Gönner des Klosters gestiftet war, einen Diskurs über den Dharma zu halten. Shantideva willigte ein, und als er seinen Platz einnahm, fragte er das Publikum, ob es etwas Vertrautes hören wolle oder eine eigene Erläuterung. Unter Gelächter riefen die Mönche nach der eigenen Erläuterung, und seine Antwort war „Eintritt auf den Weg zum Erwachen". Als er mit dem neunten, dem Kapitel über absolutes Bodhicitta ansetzte, begann er unversehens, sich von seinem Platz zu erheben - den Rest des Diskurses hielt er von hoch oben aus den Wolken.

43 Wurzellama. In der Vajrayana- oder tantrischen Tradition des Buddhismus wird äusserster Wert auf die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler gelegt. Der Vajrayanameister ist Ursprung und

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Wurzel der Inspiration für die spirituelle Praxis und Quelle der Lehren und Übungen dieser Praxis. Insbesondere ist derjenige Lehrer ein Wurzellama, der die Fähigkeit überträgt, Vajrayanameditationen durchzuführen, indem er durch Ermächtigung die Erfahrungen des Schülers zur Reife bringt, damit die Übungen für ihn oder sie fruchtbar werden. Der Lama übermittelt ebenfalls die Schriften und Erklärungen, die mit der jeweiligen Übung verbunden sind. So bereitet er eine gesunde Basis für die Meditation und erteilt jene Übungsanleitungen, die dem Schüler ein Fortschreiten auf seinem Weg zur Erleuchtung ermöglichen.

44 Lotos-Mond-Thron: eine offene Lotosblüte, auf der die flache Scheibe des Vollmondes ruht. Der Lotos ist der Ausdruck unbefleckter Reinheit, die inmitten des Sumpfes von Samsara erscheint. Der Mond symbolisiert die erquickende Ruhe des Mitgefühls nach der brennenden Hitze des Leidens, ein Bild, das von den heissen Tagen und kühlen Nächten der nordindischen Ebene stammt.

45 Wurzellamas und Linienlamas (s. Nr. 43). Linienlamas sind die Lehrer, welche die Überlieferung der Lehre in ununterbrochener Linie von der Quelle (Buddha Shakyamuni oder Vajradhara) bis zum heutigen Tag weitergegeben haben. Die Übertragungslinie ist wichtig, denn der Ursprung der Lehre und ihre Wirksamkeit werden durch die Lehrer der Linie sichergestellt, die sie selbst angewandt und verwirklicht haben. Darauf gründen sich das Vertrauen und die Inspiration, die den Schülern dabei helfen werden, die Lehren wirksam anzuwenden.

46 Das Liniengebet, das Jamgon Kongtrul zu diesem Text schrieb, befindet sich im Anhang. Es ist von Kalu Rinpoche um die Halter der Linie seit Jamgon Kongtrul ergänzt worden.

47 Die Brahma-Öffnung: die höchste Stelle des Kopfes, etwa acht Finger breit über dem Haaransatz, wo die Schädelknochen zusammentreffen.

48 Guruyoga (sanskrit). „Yoga" bedeutet in diesem Zusammenhang Vereinigung, „Guru" steht für Lehrer. Der ganze Begriff bedeutet die Vereinigung mit dem Geist des Lamas.

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49 Samsara: der Kreislauf der Existenzen, so genannt, weil die Daseinsformen, die sich auf Ego gründen, zu immer neuen Existenzen führen. Mangel an Bewusstheit über die eigene Natur führt zur Entwicklung des Egos. Die Grundenergien des Geistes werden so verkehrt und zur Quelle von Verwirrung und emotionalem Durcheinander. Handlungen, die auf dieser Verwirrung gründen, führen zu weiterer Entfremdung und Leid, wobei die Egostruktur gestärkt wird. Die Antithese zu Samsara ist Nirvana, das Ende dieses Mangels an Bewusstheit, was gleichbedeutend ist mit Freiheit von diesem endlosen, sinnlosen Kreislauf.

50 Die Texte des Stufenweges: siehe Nr. 13. Ein solcher Text ist zum Beispiel „The Juwel Ornament of Liberation" von Gampopa, übersetzt von H. V. Guenther (Boston: Shambala Publications, 1986).

51 Frei und wohl ausgestattet. „Frei" bezieht sich auf die Freiheit von den acht Existenzformen, in denen eine spirituelle Praxis so gut wie unmöglich ist: als Höllenwesen, Preta (hungriger Geist, Anm. d. Übers.) oder als Tier, denn in jeder dieser Existenzformen schliesst die Begrenztheit durch Verwirrung und Schmerz die spirituellen Belange aus; als Gott, der ständig durch sinnliche Freuden abgelenkt wird; in einem Zeitalter, in dem kein Buddha erschienen ist oder in einer primitiven, unzivilisierten Gesellschaft; als Mensch mit geistigen oder körperlichen Unzulänglichkeiten oder als jemand, der die Gültigkeit des Dharmas nicht akzeptiert. „Wohl ausgestattet" bezieht sich auf die Umstände, die nötig sind, um zu praktizieren. Fünf Bedingungen muss man selber erfüllen: ein Mensch sein, in einem Gebiet geboren werden, in dem man Zugang zum Dharma bekommen kann, aller Sinne mächtig sein, nicht von der Flut des eigenen schlechten Karmas davongespült werden und Vertrauen in den Dharma haben. Fünf Bedingungen kommen von aussen: ein Buddha muss erschienen sein, er muss den Dharma gelehrt haben, der Dharma muss erhalten geblieben sein, es muss viele Nachfolger des Dharmas geben, und Menschen müssen vorhanden sein, die die Dharmapraxis unterstützen und aufrechterhalten.

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52 Karma bedeutet „Taten". Und in der buddhistischen Lehre ist jede Tat (physisch, verbal oder mental) ein Same, aus dem sich bestimmte Denk- und Erfahrungsmuster entwickeln. Deshalb bestimmen die eigenen Taten, wie man die Welt sieht und erfährt. Traditionellerweise sagt man: Wenn du wissen willst, was du getan hast, schaue auf deinen Körper. Wenn du wissen willst, was du sein wirst, schaue auf deine Taten.

53 Sechs Existenzformen: eine traditionelle Beschreibung der Möglichkeiten, Samsara zu erfahren. Folgende sechs Daseinsformen werden beschrieben:

1. Höllenwesen, deren Existenz von ausgeprägtem Leid bestimmt wird. In einer gewaltsamen, extremen Umgebung spiegeln sich die Aggressionen, die diese Art von Erfahrung verursachen.

2. Pretas oder Geister, deren Existenz von Gier, besonders nach Nahrung oder Wasser, bestimmt wird. In ihrer öden, leblosen Umgebung spiegelt sich die Gier, die dieser Art von Erfahrung zugrunde liegt.

3. Tiere, deren Existenz durch Angst vor Raubtieren und das Gefühl, ihrer Umwelt hilflos ausgeliefert zu sein, geprägt wird. Dummheit und Gefühllosigkeit schaffen diese Existenzform.

4. Menschen, die Geburt, Krankheit, Alter und Tod erfahren und ebenfalls Sorgen und unaufhörliche Geschäftigkeit. Die Grundhaltung, die diesen Zustand hervorbringt, ist das fortwährende Bemühen, die gegebenen Umstände zu erhalten oder zu verbessern.

5. Asuras oder Halbgötter, deren Existenz durch fruchtlose, schmerzliche Rivalitäten mit den mächtigeren Göttern geprägt ist - eine Spiegelung der grundsätzlichen Eifersucht, die diese Existenzform schafft.

6. Götter, deren relativ glückselige Existenz in himmlischen Paradiesen durch den Einblick, den sie in ihre nächste Existenzform erhalten, in Angst und Schrecken

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umschlägt. Stolz und Arroganz bringen diese Existenzform hervor. Die sechs Existenzformen werden zweifach unterteilt: die höheren Ebenen der Götter, Asuras und Menschen und die niedrigeren Ebenen der Tiere, Pretas und Höllenwesen.

54 Das siebenteilige Gebet: ein traditioneller Rahmen für Mahayanapraxis. Ehrerbietung zu erweisen wirkt gegen Stolz; Opfergaben darzubringen wirkt gegen Gier; schlechte Handlungen zu erkennen und zuzugeben wirkt gegen Aggressionen; Freude über das Gute, das andere tun, wirkt gegen Eifersucht; das Erbitten spiritueller Lehren wirkt gegen Dummheit; die Buddhas und Lehrer zu bitten, in der Welt zu bleiben, wirkt gegen die Annahme der Dauerhaftigkeit; alles Verdienst dem Wohle anderer zu widmen führt zur Verwirklichung des vollkommenen Erwachens. Ein Beispiel dieser Übungsform findet sich im Anhang.

55 Konkrete Existenz. Die meisten Menschen betrachten die Objekte ihrer Wahrnehmung als konkrete, unabhängige Wesenheiten. Es ist relativ einfach, die Unrichtigkeit dieser Art der Wahrnehmung durch logische Analyse aufzuzeigen. Doch selbst wenn die Tatsache intellektuelle Anerkennung findet, dass die Objekte der Wahrnehmung keine eigenständigen Wesenheiten sind, ihr Erscheinen von anderen Faktoren abhängig ist und dass sie vergänglich sind, hat man dennoch das Gefühl, dass z. B. der Stuhl in der Ecke ein festes, reales Objekt ist, das unabhängig von einem selbst und anderen Faktoren existiert. In dieser ersten Unterweisung wird man ermutigt, diesem Gefühl entgegenzuwirken und statt dessen ein Gefühl für die phantomgleiche Natur des Erlebens zu entwickeln, in der die Objekte der Wahrnehmung, denen keinerlei wirkliche Existenz innewohnt, gleich den Bildern eines Traumes einfach erscheinen.

56 Der Geist als solcher. Die Anwendung der vorausgegangenen Anweisung führt zwangsläufig zu der Einsicht, dass Phänomene Erscheinungen sind, die im Geiste entstehen. Die jetzt naheliegende Frage lautet: „Was ist die Natur des Geistes?" „Geist" bedeutet im buddhistischen Denken nicht die Vorstellung von einem „Selbst" oder einer alles durchdringenden metaphysischen Wesenheit, sondern bezieht sich nur auf das „Wissen", auf „bewusstsein". - In der nächsten Unterweisung wird

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diese Funktion selbst, das „Wissen", sorgfältiger Untersuchung unterzogen, um zu ergründen, ob diese denn wirklich existiert oder nicht. - In der dann folgenden Unterweisung wird die Aufmerksamkeit schliesslich auf die Meditation selbst gelenkt. Auf diese Art und Weise gelangt man zur Erkenntnis des Geistes als solchem, ein Begriff für die wahre Natur des Geistes, die zugleich leer, leuchtend und unendlich ist.

57 Sieben Bewusstseinsgruppen. Gemäss buddhistischer Philosophie setzt sich der Geist aus acht Arten des Bewusstseins zusammen. Die ersten fünf Arten sind jene, die mit den fünf Sinnen verbunden sind: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten. Die sechste Art ist das Bewusstsein der Gedanken und der mentalen Aktivität. Die siebte ist das Bewusstsein des Selbst, das Ich-Gefühl. Es wird als Bewusstsein des Gefühlsgeistes bezeichnet, da die Ich-Empfindung emotional gefärbt ist und unmittelbar zur Entwicklung störender Gefühlszustände führt. Das achte wird das Bewusstsein als die „Basis von allem" genannt, alayavijhana. Es ist eine Bewusstseinsart, die dem Ego in der Art vorausgeht, dass sie wohl die Anlage zu Samsara in sich trägt, eine Ich-Empfindung jedoch nicht ausdrücklich vorhanden ist. Solange man noch in gewohnter Weise am Ego festhält, entstehen die übrigen sieben Bewusstseinsformen aus dem alayavijnana.

58 Die Basis von allein, alaya. Dieser Begriff wird normalerweise auf die achte Bewusstseinsform (s. Nr. 57) bezogen, doch hier bezieht er sich auf den Geist als solchen, wenn er weder durch Verwirrung, noch durch Gestaltungen des Samsara getrübt wird. Wenn der Prozess des Samsara angehalten wird und dessen Tendenzen keine weitere Verstärkung erfahren, dann verlöscht das „Bewusstsein als die Basis von allem" (alayavijnana), und der Geist als solcher, „die Basis von allem" (alaya), wird erkannt. In anderen Ausgaben der „Sieben Punkte der Geistesübung" steht an dieser Stelle: Ruhe in der Essenz des Weges, der Basis von allem. Die vorausgegangenen Unterweisungen umrissen ein Analysemuster, das dabei hilft, die Natur des Geistes zu verstehen. Um diese Erkenntnis bis zu dem Punkt zu kultivieren, dass die störenden und verwirrenden Einflüsse der egobezogenen

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Gewohnheiten sich legen und der Geist selbst in seiner leuchtend-klaren und dennoch leeren Gegenwart erkannt wird, muss man die Fähigkeit entwickeln und fördern, den Geist in einem klaren, einsgerichteten Zustand ruhen zu lassen, der frei von Urteilsdenken ist. Wenn dieser Zustand tatsächlich erfahren wird, ist er die Basis von allem, alaya. Besteht jedoch irgendwo ein Mangel an Bewusstheit, so entwickeln sich all die anderen Bewusstseinsformen und mit ihnen auf Ego begründetes Dasein. Doch auch dieses Dasein enthält das Potential zur Buddhaschaft. Buddhanatur wird mühelos wie die Sonne erstrahlen, wenn sich die Wolken der Verwirrung dereinst aufgelöst haben werden. Die folgenden vier Unterweisungen beinhalten die gesamte Philosophie der Lehren, die Maitreya Asanga gab. So heisst es in Maitreyas Lehren: Auf die Erfahrung, dass nichts ist ausser Geist, Folgt die Erkenntnis, dass auch der Geist als solcher nicht ist. Weise sehen, dass diese beiden Einsichten ebenfalls nicht „Dinge" sind. Auch an diesem Wissen nicht haftend, ruhen sie in der Ganzheit des Seins. Diese vier Zeilen korrespondieren mit den vier Unterweisungen für die Meditation, die in diesem Text gegeben werden. Kongtrul gibt in seinen philosophischen Schriften einen kurzen Kommentar zu diesen Zeilen: „Seit Urbeginn der Zeiten manifestiert sich der Geist, aufgrund der Schleier, die durch mangelnde Bewusstheit auftreten, in vielfältigen Erscheinungsfomen, die, wenn man sie einfach so hinnimmt, den verwirrenden Bildern des Traumes gleichen. Werden diese Erscheinungen aber genau untersucht, dann existieren sie nicht länger als irgend etwas, sondern sind einfach was sie sind: leer. Alle Erscheinungen sind also nur Schöpfungen des Geistes. Folglich besteht die Seinsform der Erscheinungen auf der Ebene der relativen Wirklichkeit darin, dass den Dingen, die scheinbar äusserlich entstehen, keine eigene Natur innewohnt, sie gleichen dem Spiegelbild des Mondes im Wasser. Auch der Geist, der anhaftet, ist weder aussen noch innen angesiedelt und existiert nicht substantiell - mit Farbe oder Gestalt. Aus dem Fortbestehen der Ego-Verhaftung, die ein „Selbst" annimmt, wo wirklich nichts ist, entstehen die acht

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Bewusstseinsformen, die - wie die Blumen des Himmels - von Anbeginn leer sind. Doch das, was einfach ist, die ursprüngliche Bewusstheit oder Weisheit, die frei ist von Festlegungen oder Anhaften, ist in allen Wesen, von den Buddhas bis zu den fühlenden Wesen; sie ist das Potential für Buddhaschaft, ist ihrer Natur nach vollkommen klar und leuchtend und wurde niemals durch die geringste Unreinheit befleckt. Das ist die Seinsform der absoluten Wirklichkeit. Wenn diese beiden Seinsformen richtig erkannt werden, soll man in diesem Zustand der Erkenntnis verweilen. Das ist der Sinn der „Fünf Lehren Maitreyas".

59 Folgender Gedanke steht dahinter: die Welt ist zwar erfahrbar, doch wenn man diese Erfahrung analysiert, um zu ergründen, was sie wirklich ist, wird man nichts finden, was tatsächlich existiert. (Siehe Kongtruls Kommentar in Nr. 58.)

60 Die Übersetzung „Kind der Illusion" stammt von Trungpa Rinpoche. Andere Lehrer übersetzen diese Zeile mit „sei ein Magier". Ein Magier weiss, dass die Erscheinungen, die er durch Beschwörungen oder Zaubersprüche erschafft, Illusionen sind. In der gleichen Weise soll man erkennen, dass die Erfahrungen, die im Leben auftreten, nur Erscheinungen des Geistes sind, ohne substantielle Existenz.

61 Der Prozess der Entwicklung von Bodhicitta besteht aus einer Reihe von Kontemplationen, die sich je nach Tradition in Reihenfolge oder Gegenstand ändern kann. Jedoch wird die Fürsorge und Hilfe, die man von den Eltern erhalten hat, gewöhnlich als Basis gewählt, um die Erfahrung aufrichtiger Wärme und Wertschätzung herbeizuführen. Die Güte der eigenen Mutter und das Ausmass, in dem sie sich während der Schwangerschaft, der Geburt und der Kindheit um ihr Kind sorgt, gerät bei manchen Menschen durch spätere Ereignisse zu Hause und in der Familie so in Vergessenheit, dass die Kontemplation über die eigenen Eltern als einem Beispiel für Güte anfänglich sehr schwierig oder gar unmöglich sein kann. In diesen Fällen wird es besser sein, die Folge der Kontemplationen mit einem nahen Freund, einem Lehrer oder anderen Menschen zu beginnen, deren Hilfe und Güte geschätzt wird. Andererseits,

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wenn man sich vorstellt, man habe niemals eine Mutter gehabt, so wird dieser Gedanke die tatsächliche Beziehung sicherlich in einem anderen Licht erscheinen lassen. Da jedoch die Entwicklung einer Basis, die in der Erfahrung einer Art von Wärme gegenüber allen fühlenden Wesen besteht, für die erfolgreiche Praxis des Annehmens und Aussendens unbedingt nötig ist, sollte man sich unablässig bemühen, alle Aspekte dieser Kontemplation zu erforschen, um jene Methode zu finden, die man selbst am besten anwenden kann.

62 Quelle des Leidens: emotionale Geisteszustände und die Handlungen, die daraus entstehen. Im tibetischen Wort für Gefühl schwingt die Bedeutung von Durcheinander und Dumpfheit mit, was beinhaltet, dass Emotionen den Geist vernebeln und verwirren. Deshalb sind Handlungen, die aus solchen Gefühlen entstehen, gewöhnlich der Situation unangemessen und schaffen weitere Probleme. Aus dem geistigen Muster, das dieser Art des Denkens und Handelns zugrunde liegt, entsteht das Potential für erneute Verwirrung und noch mehr Durcheinander, welche die Quelle weiteren Leides bilden.

63 Gyal-se Togme (1295-1369): ein Kadampalehrer, der für seine Bodhicittapraxis berühmt war. Er war wahrscheinlich der erste, der einen Kommentar über die „Sieben Punkte der Geistesübung" schrieb. Alle späteren Werke beziehen sich auf ihn.

64 Die Praxis im täglichen Leben fortsetzen. Die tibetische Ausdrucksweise bedeutet wörtlich „(die Praxis) auf den (spirituellen) Weg tragen", mit anderen Worten, die Praxis wirksam zu machen. Die Kriterien für die Effektivität der buddhistischen Praxis richten sich nicht einfach danach, wie gut man meditieren oder wie gut man den Geist konzentrieren kann, sondern danach, wie gründlich das Verständnis, das man durch die Meditation entwickelt hat, das eigene Leben und die Beziehungen zu anderen durchdringt, wie präsent es in den Aktivitäten des täglichen Lebens ist und in welchem Ausmass es sich im Verhalten zeigt.

65 Gott oder Dämon. Wenn man zur Erkenntnis der wahren Natur der Welt erwacht, wird man natürlicherweise, ganz von selbst, immer

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sensibler und aufnahmebereiter für die vielfältigen Einflüsse, welche die eigene Persönlichkeit und Umgebung formen und bestimmen. Diese Einflüsse mögen als nichtgreifbare Präsenz oder unbestimmtes Gefühl im Zusammenhang mit einer bestimmten Örtlichkeit erfahren werden, als Störung des physischen und psychischen Wohlergehens oder als Bilder und Muster, denen man im Traum, auf der Schwelle zum Schlaf oder im konkreten Leben begegnet. Diese Erfahrungen können himmlischer Natur (wohltuend und erfreulich) sein oder dämonisch (schrecklich und furchterregend). Im Rahmen der Geistesübung geht man mit solch einer Situation so um, dass sie angenommen wird, wie sie ist, ganz gleich wie positiv oder negativ sie erscheinen mag. Sie wird benutzt, um die Wachheit anzuregen und verschafft die Möglichkeit, Mitgefühl auszudrücken.

66 Der Leser wird auf die frühere Diskussion über absolutes Bodhicitta hingewiesen. Der Standpunkt hier ist, dass wir uns nur mit unserer Erfahrung von der Welt auseinanderzusetzen haben, dass die Welt eine Welt der Erfahrungen ist und keine externe Wesenheit, die unabhängig von uns existiert. Deshalb: Wie wir wahrnehmen bestimmt, was wir erfahren. Wir neigen dazu, die Welt als real, unabhängig usw. wahrzunehmen, doch diese Sichtweise kann dem Licht der Analyse nicht standhalten. Wir kommen zu dem Schluss, dass all unsere Erfahrungen nur dies sind: ein Erleben, das in Erscheinung tritt - manchmal fest und stabil, wie unsere Wahrnehmung von der Welt, manchmal flüchtig und nicht greifbar, wie unsere Gedanken und Ideen.

67 Die vier Kayas. Buddhaschaft wird anhand der vier Kayas (wörtlich „Körper") bzw. vier Prinzipien oder Aspekte des Seins beschrieben. Der erste ist der Dharmakaya, der Wahrheitskörper oder „Sein als Wahrheit". Er ist wie der Raum - ohne Anfang und Ende, vollkommene Einfachheit, jenseits aller logischen Festlegungen und frei von jeglicher Begrenztheit oder Verdunkelung. Der zweite ist der Sambhogakaya oder „Sein als Fülle der Qualitäten". Sein Wirkungsfeld sind die reinen Gefilde spontaner Freude (Glückseligkeit). Er erscheint in zahlreichen Formen als der Ausdruck von Mitgefühl und erweckt hochentwickelte Bodhisattvas zu transzendenter Bewusstheit. Der

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dritte ist der Nirmanakaya oder „Sein als Ausdruck". Sein Wirkungsbereich ist die Erlebniswelt der fühlenden Wesen und bringt Erwachen auf viele verschiedene Weisen zum Ausdruck, welche die Wesen dazu anregen, Freiheit von ichbezogener Existenz zu suchen. Der vierte ist der Svabhavikakaya oder „Sein an sich". Er ist nicht so sehr ein vierter Körper, als der Ausdruck der Untrennbarkeit der vorausgegangenen drei. Obwohl die vier Seinsaspekte nur dann vollkommen realisiert werden können, wenn alle Bewusstseinseinschränkungen und -Verdunkelungen beseitigt worden sind, so sind sie dennoch in jeglicher Erfahrung bereits enthalten. In seinem Kommentar macht Kongtrul jene Aspekte der Erfahrung deutlich, die den vier Kayas entsprechen.

68 Torma: eine Art Opfergabe oder Geschenk, deren Bedeutung so erklärt wird, dass sie Macht und Fähigkeit besitzen. Macht bedeutet hier die Kraft, die tödlichen Auswirkungen des Egos zu überwinden, und Fähigkeit das Vermögen, die vier Zwangsvorstellungen umzuwandeln (Zwangsvorstellungen im Hinblick auf Gefühle, Sterblichkeit, Vergnügungen und physische Existenz). Wenn man Göttern und Dämonen Torma opfert, erkennt man damit diese Kräfte und Einflüsse innerhalb der eigenen Erfahrung an und einigt sich mit ihnen. Opfert man Dakinis und Schützern Torma (s. Nr. 69), dann nährt man die Gegenwart erwachter Aktivität im eigenen Erfahrungsbereich. Eine typische Opferzeremonie schliesst die Segnung eines physischen Tormas (gewöhnlich ein Kuchen oder ein Gebäck, das gemäss dem besonderen Zweck der Zeremonie geformt und verziert wird) mit ein, um den Reichtum und die Möglichkeiten der Erfahrung und deren Darbringung zu würdigen. Solche Handlungen wirken auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig, wie der folgende Auszug aus einer Sammlung von Gebeten der Karma Kagyü Tradition verdeutlicht: In der Schale, die das Universum der Weltsysteme bildet, ruht der Torma der vier Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Wind). Ich opfere sie den vier Wächterkönigen und den Scharen zornvoller und schrecklicher Gottheiten. Segnet mich durch Ausführung dessen, was euch aufgetragen ist. In der Schale, geformt aus meiner eigenen Haut Ruht der Torma meines Fleisches, meines Blutes und meiner Gebeine. Ich opfere

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ihn der unermesslichen Schar der Schützer des Dharmas. Segnet mich mit einem Leben, hell strahlend wie Sonne und Mond. In der Schale der vielfältigen Erscheinungen, die in meinem Geist Gestalt annehmen, ruht der Torma klaren Gewahrseins und reiner Achtsamkeit. Ich opfere ihn dem allerfüllenden Dharmakaya und bitte um den Segen der fünf ursprünglichen Weisheiten.

69 Dakinis und Schützer: Verkörperungen erleuchteter Aktivität. Die ersteren sind weiblichen Geschlechtes und verkörpern Mitgefühl und Leerheit, insbesondere aber das Spiel des Geistes in der Sphäre vollkommener Einfachheit. Deshalb bedeutet der Name Dakini „Sie, die im Himmelsraum wandert". Ein Schützer ist für gewöhnlich der zornvolle Aspekt eines Bodhisattvas, der es auf sich genommen hat, den Praktizierenden zu helfen, indem er störende Kräfte durch die vier Handlungsformen ausräumt - durch Besänftigen, Bereichern, Magnetisieren und Zerstören.

70 Mandala. In diesem Zusammenhang bezieht sich Mandala auf die Praxis, seinem Lama, den Buddhas usw. das ganze Universum mit all seinen Reichtümern und seiner Schönheit darzubringen. Hierbei werden Reiskörner auf einer Kupfer- oder Silberscheibe zu einem Muster angeordnet, das der traditionellen buddhistischen Kosmologie entstammt.

71 Hoffnung kann als der Versuch des Egos betrachtet werden, die eigenen Prioritäten durchzusetzen, während es mit Angst reagiert, wenn sein Überleben bedroht ist. Diese beiden Muster erscheinen solange, bis die Ego-Bezogenheit vollkommen aufgelöst ist.

72 Mantras und Dharanis: Rezitationsformeln, die mit bestimmten Buddhas, Bodhisattvas und anderen Wesenheiten in Verbindung gebracht werden. Ein Dharani ist grundsätzlich ein kurzes, prägnantes Gebet, das die Entwicklung von Bodhicitta fördert und davor schützt, es zu vergessen. Mantras bewahren den Geist vor nicht dharmabezogenen Einstellungen.

73 Die Sieben-Punkte-Haltung. Die Beine sind in der Vajraposition gekreuzt; die rechte Hand ruht in der linken, wobei die Daumen sich in Höhe des Nabels berühren; das Rückgrat ist gerade; Lippen und Zähne sind geschlossen, doch nicht verkrampft, und die Zunge liegt am Gaumen; die Arme sind gebeugt und werden etwas

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vom Körper abgehalten; das Kinn ist in Richtung der Kehle angezogen; und die Augen ruhen ohne Anstrengung auf einem Punkt, ungefähr acht Finger breit vor der Nase.

74 Gelübde, Ordination. Die drei Arten der Gelübde bzw. der Ordination beziehen sich auf die drei Möglichkeiten, zu praktizieren: Hinayana, Mahayana und Vajrayana. Im Hinayana wird die Betonung auf Beschränkung, Aggressionslosigkeit und ein einfaches, aufrichtiges Leben gelegt, das keinen anderen verletzt und niemandem schadet. Die Gelübde der individuellen Befreiung betreffen hauptsächlich physisches und verbales Verhalten. Hierbei gibt es viele verschiedene Ordinationstypen, von der voll ordinierten Nonne und dem voll ordinierten Mönch bis hin zum Laien, der vielleicht nur ein einziges Gelübde befolgt. Die Essenz der Ordination jedoch findet man in den vier Gelübden: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen und sich nicht in unangemessenen sexuellen Beziehungen engagieren. Im Mahayana liegt die Betonung auf Mitgefühl und Bodhicitta. Das korrespondierende Gelübde, das Bodhisattva-Gelübde, konzentriert sich auf die Beziehung zu anderen, d. h. das eigene Hinzielen auf Buddhaschaft, um allen Wesen zu helfen. Dieses Gelübde ist eher eine Gewissensentscheidung, denn sie wird schon durch den blossen Gedanken verletzt, einem bestimmten Wesen nie mehr helfen zu wollen, oder durch ein Gefühl der Verzweiflung oder Aussichtslosigkeit hinsichtlich des Wunsches, anderen durch Erlangen der Buddhaschaft zu helfen. Auf der Vajrayana-Ebene identifiziert man sich unmittelbar mit dem erwachten Bewusstsein. Diese Praxis erfordert eine reine Sichtweise von der Welt und die Verpflichtung, diese Sichtweise auch zu erhalten.

75 Die Handlungen, die Kongtrul hier aufführt, werden in der tibetischen Gesellschaft als skandalös angesehen. Zum Beispiel würde das Schlagen eines Baumes eine völlige Missachtung der Ortsgottheiten bedeuten, die in Hainen und Wäldern leben. Wenn man Gewässer verunreinigt, indem man hineinuriniert, zeigt man eine ähnliche Missachtung für die Nagas. In westlichen Gesellschaften würde diese Art von Exhibitionismus sich in Form

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von äusserst unkonventioneller Kleidung oder einem eklatanten Mangel an Benehmen oder persönlicher Hygiene äussern.

76 Der tibetische Text bezieht sich auf den Dzo und den Ochsen. Der Dzo ist eine Kreuzung zwischen Yak und Kuh und kann viel schwerere Lasten tragen als ein Ochse.

77 Offenbarte Lehren oder Schatz-Lehren. Im Laufe der buddhistischen Geschichte wurden von bestimmten Lehrern neue Formulierungen der Lehren des Buddha und verschiedene Übungsmethoden offenbart. In Tibet werden derart offenbarte Arbeiten „Schätze" (Terma) genannt, die zum Wohle zukünftiger Generationen von Guru Padmasambhava verborgen worden waren.

78 Mönche konnten beträchtliche Gaben und Geschenke erwarten, wenn sie Zeremonien durchführten, um Kranke zu heilen, oder Beerdigungszeremonien abhielten.

79 Ra-treng (Rwa.sgreng): Kloster, das 1056 von Dromtön Rinpoche gegründet wurde.

80 Das Wort „Yidam" bedeutet „das, woran der Geist gebunden ist". Gewöhnlich ist „Yidam" ein Vajrayana-Begriff für einen Ausdruck des erleuchteten Bewusstseins, der in der Meditation verwendet wird (s. Nr. 34). Hier bezieht sich der Ratschlag jedoch darauf, das Mitgefühl und Verständnis „anzurufen", die sich durch Geistesübung entwickeln.

81 Potawa: ein Schüler Drom-tön Rinpoches und Halter der Kadampa-Linie.

82 Tsang-tsen ist der Name einer Schutzgottheit, die mit der Nyingma-Tradition in Zusammenhang gebracht wird. Er hat den Ruf, äusserst empfindlich und leicht erzürnbar zu sein.

83 Gyal-se Rinpoche: Gyal-se Togme. Siehe Nr. 63.

84 „Die Schritte des erwachenden Kriegers" (The Stages of the Awakening Warrior): eine Serie kurzer Texte über die Geistesübung. Sie ist in den hundert Lehren über die Geistesübung (Blo.sbyong.-brgya.rtsa), einer Sammlung von

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dKon.mchog.rgyal.mtsan, die in Dharamsala, Indien, herausgegeben wurde, enthalten.

85 Diese Lehren erhielt Atisha von Serlingpa, ehe er nach Tibet ging.

86 Trotz der metapherreichen Sprache enthält diese Methode keine Empfehlung, Emotionen zu unterdrücken. Die richtige Anwendung der Techniken führt nicht zu den gefährlichen Resultaten einer Unterdrückung der Emotionen. Um diese Lehren richtig auszuführen, ist Anleitung durch einen erfahrenen Lehrer jedoch unerlässlich.

87 Kunga Nyingpo. Besser als Taranatha bekannt, lebte dieser grosse Gelehrte und Weise Ende des sechzehnten Jahrhunderts und war der letzte Halter der Jonangpa-Tradition.

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Anhang

Der Wurzeltext zu den „Sieben Punkten der Geistesübung"

Übersetzt von Ken McLeod Die vorbereitenden Übungen, die das Fundament des Dharma bilden Übe dich zuerst in den Vorbereitungen. Die eigentliche Praxis: Das Üben von Bodhicitta ABSOLUTES BODHICITTA Betrachte alle Phänomene als Traum. Erforsche die Natur des ungeborenen Bewusstseins. Selbst das Heilmittel ist frei - lasse es sich in sich selbst auflösen. Ruhe in der Natur aller Dinge, der Basis, auf die sich alles gründet. In der Zeit nach der Meditation, sei ein Kind der Illusion. RELATIVES BODHICITTA Übe Annehmen und Aussenden im Wechsel. Verbinde beide mit dem Atem. Drei Objekte, drei Gifte, drei Saaten der Tugend. Verwende Sprüche, um dich bei allen Handlungen zu üben. Fange beim Austausch mit dir selbst an. Die Umwandlung widriger Umstände in den Pfad des Erwachens Wenn die Welt und ihre Bewohner von Bösem erfüllt sind, dann verwandle die ungünstigen Bedingungen in den Pfad des Erwachens. RELATIVES BODH1CITTA Gib nur einem die Schuld. Sei jedem dankbar. ABSOLUTES BODHIC1TTA Um Verwirrung als die vier Kayas zu erkennen, ist der Schutz der Leerheit unübertroffen.

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SPEZIELLE ÜBUNGEN Die vier Anwendungen sind die beste Methode. Wenn du unerwartete Umstände in den Pfad verwandeln willst, dann verbinde alles, was dir begegnet, sogleich mit Meditation. Die Anwendung der Übung während des ganzen Lebens WAS MAN WÄHREND DES LEBENS TUN SOLL Die Zusammenfassung der wesentlichen Unterweisungen: Übe dich in den fünf Kräften. WAS MAN BEIM TOD TUN SOLL Die Mahayana-Unterweisungen für den Augenblick des Todes sind die fünf Kräfte. Wichtig ist, wie du dich verhältst. Der Massstab für die Umwandlung des Geistes Aller Dharma dient nur einem Ziel. Halte dich an den wichtigeren der beiden Zeugen. Gehe stets von einer freudigen Geistesverfassung aus. Meisterschaft zeigt sich darin, dass du selbst dann praktizieren kannst, wenn du abgelenkt wirst. Die mit der Geistesübung verbundenen Verpflichtungen Beachte stets die drei Grundsätze. Ändere deine Einstellung, doch bleibe natürlich. Sprich nicht über Schwächen. Denke nicht über die Angelegenheiten anderer Leute nach. Arbeite an den Gefühlen zuerst, die dich am stärksten stören. Gib alle Hoffnung auf Resultate auf. Nimm keine vergiftete Nahrung zu dir. Sei nicht nachtragend. Gib scharfe Worte nicht zurück. Sei nicht hinterhältig. Verletze niemanden. Belade ein Pony nicht mit der Last eines Pferdes. Versuche nicht zu gewinnen. Falle nicht zurück in magische Praktiken. Mache einen Gott nicht zu einem Dämon. Mache nicht den Schmerz anderer zur Grundlage eigenen Glücks.

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Richtlinien für die Geistesübung Es gibt nur eine Art, aktiv zu meditieren. Alles Falsche wird durch eines berichtigt. Zu Anfang und am Ende sind zwei Dinge zu tun. Was von den beiden auch eintreten mag, sei geduldig. Beachte diese beiden, selbst wenn dein Leben auf dem Spiel steht. Übe die drei schwierigen Dinge. Gewinne die drei wesentlichen Hilfsquellen. Lasse drei Dinge nicht schwächer werden. Verbinde die drei untrennbar. Übe dich gleichermassen in allen Erfahrungsbereichen. Wichtig sind grundsätzlich geübte Fähigkeiten. Meditiere beständig über besondere Objekte. Sei unabhängig von äusseren Bedingungen. Übe dich JETZT in den wichtigen Dingen. Mache keine Fehler. Sei nicht wankelmütig. Übe mit ganzer Kraft. Erlange Freiheit durch Prüfen und Erforschen. Mache kein Aufheben. Verfange dich nicht in Reizbarkeit. Sei nicht launisch. Erwarte keinen Dank. Abschliessende Verse Diese Unterweisungen sind die Essenz eines Elixiers, welches die fünf Arten von Degeneration in den Weg des Erwachens verwandelt. Sie sind eine Überlieferung des edlen Serlingpa. Das Erwachen der karmischen Energie früherer Übungswege erweckte ein starkes Sehnen in mir. Deshalb liess ich Leid und Tadel ausser acht und suchte nach Anweisung, mein Haften am Ich zu vernichten. Nun ist, selbst wenn ich sterbe, kein Bedauern in mir.

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Übersetzt vom Nalanda-Übersetzungskomitee unter der Leitung des ehrwürdigen Vidyadhara Chögyam Trungpa. Eins: Die Vorbereitungen, die eine Basis für die Dharmapraxis bilden.

Ich verneige mich vor dem Grossen Mitfühlenden. Zuerst übe dich in den Vorbereitungen.

Zwei: Die eigentliche Praxis, das Üben von Bodhicitta

ABSOLUTES BODHICITTA Betrachte alle Dharmas als Träume. Erforsche die Natur des ungeborenen Bewusstseins. Lasse selbst die Gegenmittel sich selbst befreien. Ruhe in der Natur des alaya, der Essenz. In der Phase nach der Meditation soll man ein Kind der Illusion werden. RELATIVES BODHICITTA Übe Aussenden und Annehmen im Wechsel. Diese beiden sollten den Atem reiten. Drei Objekte, drei Gifte und drei Samen der Tugend. Übe dich in allen Aktivitäten mit Schlagworten Beginne das Aussenden und Annehmen bei dir selbst.

Drei: Verwandlung widriger Umstände in den Weg zur Erleuchtung

Wenn die Welt voller Schlechtigkeit ist, dann verwandle alles Missgeschick in den Bodhi-Weg. Nimm alle Schuld auf dich. Bedenke die grosse Güte eines jeden Wesens. Wenn man Verwirrung als die vier Kayas betrachtet, dann ist dies der unübertreffliche Schutz der Shunyata. Die vier Übungen sind die besten Methoden. Wenn du unerwartete Umstände in den Pfad verwandeln willst, dann verbinde alles, was dir plötzlich begegnen mag, mit Meditation.

Vier: Die Anwendung der Übung während des ganzen Lebens

Die fünf Kräfte sind das Herz der essentiellen

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Unterweisung. Übe sie. Die Mahayana-Unterweisungen für die Übertragung des Bewusstseins im Augenblick des Todes sind die fünf Kräfte: wichtig ist, wie du dich verhältst.

Fünf: Die Bewertung der Geistesübung

Aller Dharma stimmt in einem Punkt überein. Halte dich an den wichtigeren der beiden Zeugen. Bediene dich stets eines freudigen Geistes. Wenn du praktizieren kannst, selbst wenn du abgelenkt wirst, dann bist du gut geübt.

Sechs: Die mit der Geistesübung verbundenen Verpflichtungen

Halte dich stets an die drei Grundsätze. Wenn du deine Einstellung geändert hast, dann bleibe dabei. Sprich nicht über Gebrechen. Denke nicht über andere nach. Arbeite an den grössten Verdunklungen zuerst. Gib jede Hoffnung auf Belohnung auf. Vermeide giftige Nahrung. Sei nicht so berechenbar. Rede nicht schlecht über andere. Sei nicht hinterhältig. Treibe nichts auf die Spitze. Belade eine Kuh nicht mit der Last eines Ochsen. Versuche nicht, der Schnellste zu sein. Geh keine krummen Wege. Mache Götter nicht zu Dämonen. Suche im Schmerz der anderen nicht dein eigenes Glück.

Sieben: Richtlinien für die Geistesübung

Alle Tätigkeiten sollten mit einer Absicht ausgeführt werden. Korrigiere alles Unrecht mit einer Absicht. Zwei Handlungen: eine zu Beginn, die andere zum Schluss. Was von den beiden auch geschehen mag, sei geduldig. Halte dich an diese beiden, selbst unter Lebensgefahr. Übe die drei Schwierigkeiten. Nimm die drei hauptsächlichen Ursachen an. Gib acht, dass die drei niemals abnehmen. Du solltest die drei Unzertrennlichen bewahren. Übe dich ohne Einschränkung in allen Bereichen. Es ist entscheidend, dies umfassend und sehr genau auf jeden einzelnen auszudehnen. Meditiere stets über die Dinge, die Unwillen hervorrufen. Lasse dich nicht durch äussere Umstände beinflussen. Übe die Hauptsache in

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dieser entscheidend wichtigen Zeit. Vermeide falsches Verständnis. Sei nicht unentschlossen. Übe mit ganzem Herzen. Befreie dich selbst durch Prüfen und Analysieren. Ergehe dich nicht in Selbstmitleid. Sei nicht eifersüchtig. Sei nicht leichtfertig. Erwarte keinen Beifall. Wenn die fünf dunklen Zeitalter anbrechen, Ist dies das Mittel, sie in den Bodhi-Pfad zu verwandeln. Dies ist die Essenz des Nektars der mündlichen Überlieferung, die durch die Tradition des Weisen von Suvarnadvipa weitergegeben wurde. Da ich das Karma früherer Übungswege erweckte und durch starke Hingabe angetrieben wurde, missachtete ich Leid und Tadel und erhielt mündliche Anweisung zur Zähmung der Ich-Verhaftung. Nun habe ich selbst beim Tod nichts zu bereuen.

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Das Gebet, welches die Sehnsucht lindert

Anrufung der Übertragungslinie der Geistesübenden

Dieses Gebet wurde von Lodrö Thaye (Jamgon Kongtrul) verfasst, um es seinem Kommentar über die Geistesübung anzufügen. Ergänzungen zur Linie wurden von Kalu Rinpoche vorgenommen. Alle Linien, die die Geistesübung weitergeben, führen ihren gemeinsamen Ursprung auf Buddha Shakyamuni, die indischen Meister einschliesslich Atisha und die frühen Kadam-pa-Lehrer zurück. Im elften und zwölften Jahrhundert bildeten sich verschiedene Überlieferungslinien heraus. Kongtrul folgte der Kadampalinie bis Togme Sangpo, der den ersten Kommentar zu Chekawas Sieben Punkten schrieb. Zu jener Zeit gab es viele verschiedene Systeme der Geistesübung. Shakya Chog-den, ein Lehrer der Sakya-Tradition, erhielt von Shön-nu Lodrö etwa sechzig verschiedene Lehren. Mit Kunga Chogdrub floss diese Überlieferungslinie in die Jonangpa-Schule ein und wurde nach der Zeit Taranathas ein Teil der Shangpa-Überlie-ferungslinie. Die Shangpa-Überlieferungslinie wurde wiederum von Lehrern vieler verschiedener Schulen weitergetragen: Tse-wang Norbu, einem Nyingma-Meister; Trin-le Shingta, einem Drugpa-Kagyü-Meister; Situ Tenpa Nyinje von der Karma-Kagyü-Tradition und anderen. Jamgon Kongtrul Lodrö Thaye erhielt diese Lehren von Shenpen Öser, einem Halter der Shangpa-Linie, obwohl er sie zweifellos auch von anderen Lehrern erhalten hatte. Nach Kongtrul besteht die von Kalu Rinpoche vervollständigte Linie aus den Linienhaltern der Karma Kagyü- und Shangpa-Traditionen in Osttibet.

Herrlicher, Kostbarer Wurzellama, Vom Lotus-und-Mondsitz über meinem Kopf Wende deine liebevolle Güte mir zu. Gewähre die Vollkommenheiten des erleuchteten Körpers, der Rede und des Geistes. Ich bete zu Shakyamuni und seinem Statthalter Maitreya, Zum edlen Asanga, dem gelehrten Vasubandhu und

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seinen beiden Schülern, zu Gunamitra und Simhabhadra. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl - Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben.*

(* Anm. des engl. Übersetzers: In seinen Schriften erklärt Kongtrul „loslassen" mit dem Loslassen der Ich-Anhaftung und „vertreiben" mit dem Vertreiben störender Emotionen.)

Ich bete zu Gang-pel und dem grösseren und geringeren Kusali, zu Dharmakirti und zum Edlen Atisha, Zu Drom-tön, Potawa und Sharawa und zu dem kontemplativen Chekawa. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl – Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Ich bete zu Chilbupa und Guru Öser, zu Lha-ding, Jang-chub Bum und Kün-gyaltsen, Zu Yönten-pal und dem grossen Pandit Dewa-pal und zu Shön-nu, der die vier Lehren verkündete. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl – Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Ich bete zum Bodhisattva Sönam Dragpa, zu Tog-me Sangpo, Yönten Lodrö und Shön-nu Lodrö, Zu dem grossen Pandit Shakya Chogden und zu Künga Chogdrub und Jetsün Drölchog. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl - Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Ich bete zu Lung-rig Gyatso und dem allwissenden Taranatha, Zu den beiden Regenten Rinchen Gyatso und Yeshe Gyatso, zu dem kontemplativen Yönten Gön, zu Gönpo

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Paljor, Gönpo Dragpa und zu Gönpo Namgyal. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl - Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Ich bete zu Tsewang Norbu und Trin-le Shingta, Zu Situ Tenpa Nyinje und dem Siddha Lodrö, Zu Karma Lhatong, Shenpen Öser und Lodrö Thaye. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl - Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Ich bete zu Khakyab Dorje und Shiwa Nyingpo, zu Padma Wangchug und Khyentse Öser, Zu Norbu Döndrub, dessen Erfahrung und Verständnis vollkommen waren, Und zu allen Wurzel- und Linienlamas. Gebt euren Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl - Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Du, der das Mitgefühl des Buddha und seiner Söhne in sich vereint, Du unvergleichlicher Herr des Dharmas - so unendlich bedeutsam für alle, die mit dir verbunden sind, Mein Wurzellama, du verkörperst den Lebensatem dieser Linie. Aus der Tiefe meines Herzens bete ich zu dir. Gib deinen Segen, dass liebende Güte und Mitgefühl - Bodhicitta - sich vollkommen in mir entfalten Und auch die Fähigkeit, loszulassen und zu vertreiben. Abscheu und Entsagung bilden das Fundament. Die beiden Aspekte des makellos reinen Bodhicittas sind das Geheimnis, das davor bewahrt, vom Mahayana-Pfad abzuweichen. Gib deinen Segen, dass Bodhicitta aufkommen kann, sich festigt und in Stärke wächst.

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Wenn die Verwirrung der acht weltlichen Belange* überwunden, und Ich-Anhaftung vollkommen durchtrennt worden ist, wenn echte Hinwendung zu anderen sich vollzogen hat, wird alles, was geschieht, als Hilfe für den Pfad des Erwachens erfahren. Gib deinen Segen, dass die Übung des Geistes zur Vollendung gelange. Möge ich - durch die unmittelbare Erkenntnis, dass absolute Wirklichkeit weder Ursprung, noch Ende noch Dauer hat, Dass sie leer ist, und doch alles aus ihr erscheint, wie ein Zauber aus dem Zusammentreffen in gegenseitiger Abhängigkeit entsteht -, Wirklich sehen und ganz natürlich für das Wohlergehen zahlloser Wesen arbeiten, Solange wie Samsara besteht.

(* Anm. des engl. Übers.: die acht weltlichen Belange: Gewinn und Verlust, Glück und Leid, Ruhm und Schande, Lob und Tadel.)

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Das siebenteilige Gebet Mit vollkommenem Vertrauen verneige ich mich vor den Siegreichen und ihren Söhnen, die in den zehn Richtungen und den drei Zeiten weilen. Ich opfere Blumen, Weihrauch und Licht, Duft, Nahrung, Musik und vieles andere mehr, sowohl materiell wie auch in meiner Vorstellung, und bitte die edle Versammlung, all dies anzunehmen. Ich bekenne alles Schlechte, das ich unter dem Einfluss der Geistesgifte seit anfangsloser Zeit bis jetzt begangen: die fünf, die augenblicklich reifen, die zehn untugendhaften Taten und vieles andere mehr. Grosse Freude erfüllt mich angesichts all der Verdienste, die aus den Tugenden der Shravakas und Pratyekabuddhas, der Bodhisattvas und aller anderen Wesen,_ im Laufe der drei Zeiten erwachsen. Ich bete dafür, dass das Rad des Dharma – die Lehren der beiden Fahrzeuge - gedreht werde entsprechend den unterschiedlichen Wünschen und Begabungen der zahllosen Wesen. Ich bitte die Buddhas, nicht ins Nirvana einzugehen, sondern mit grossem Mitgefühl und solange, bis Samsara vollkommen geleert ist, sich aller Wesen anzunehmen, die in diesem Ozean des Leids ertrinken. Möge alles, was ich an Verdiensten, angesammelt habe, ein Same für die Erleuchtung aller Wesen sein. Möge ich unverzüglich ein vorzüglicher Wegführer für sie werden.

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Nachwort Ken McLeods einführenden Worten wäre noch hinzuzufügen, dass die „Sieben Punkte der Geistesübung" auch auf dem europäischen Kontinent tiefes Interesse gefunden haben und heute schon von vielen Menschen praktiziert werden. Fragen, die zur Praxis gestellt werden, richten sich häufig auf die zentrale Übung, den „Austausch von sich selbst gegen die anderen", was mit Hilfe des „Annehmens und Aussendens" geschieht, einer zur Förderung von Bodhicitta besonders wirksamen Meditationsmethode. - Ob diese Meditation denn wirklich etwas gegen die unendlich vielen Leiden in der Welt ausrichten könne, fragen die einen; die anderen wollen wissen, ob das Leid und Unglück aller Wesen als Folge der Übung wirklich über sie hereinbrechen werde. Diese und ähnliche Fragen pflegt Lama Gendün Rinpoche etwa wie folgt zu beantworten:

„Gemeint ist nicht ein Austausch im materiellen Sinn. Bodhicitta bedeutet hier, kurz gefasst, dass man Verluste und Niederlagen auf sich nehmen und Glück und Erfolge den anderen überlassen sollte. Nichts ist wichtiger, als dies zu üben. Unsere Geistesverfassung ist jedoch genau umgekehrt: Seit jeher sind wir es gewohnt, all das an uns zu reissen, was gut, schön und begehrenswert erscheint, während Verluste, Schuld und Niederlagen den anderen zugeschoben oder auf sie projiziert werden. Diese unsere hauptsächliche Tendenz gilt es umzukehren. Wir müssen unseren Geist schulen und die Richtung ändern: alles Gute den anderen geben, alles Unangenehme auf uns selbst nehmen. Das ist mit dem ,Austausch von sich selbst gegen die anderen' gemeint; der tiefe Sinn dieses Weges ist die Umwandlung unserer gewohnten Haltung, uns selbst wichtiger zu nehmen als die anderen. Wenn man den Geist entsprechend übt, dann wird man natürlicherweise zu einem Punkt gelangen, wo ,ich' und ,die anderen' gleich sind - denn alles geschieht im Geist."

So sagt Lama Gendün Rinpoche.

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Um mit der in diesem Buch dargelegten Praxis zu beginnen, wäre es sicherlich hilfreich, sich um die Führung und eventuell zusätzliche Unterweisungen seitens eines qualifizierten Lehrers zu bemühen. Weiterhin ist es möglich, die mündliche Übertragung des tibetischen Originaltextes durch einen Lama der Tradition zu erhalten. Hinweise hierzu können im KAMALASHILA-Institut für Buddhistische Studien, Schloss Wachendorf, D-5353 Mechernich, erfragt werden, oder in einem anderen buddhistischen Zentrum. Zu dem sehr aktuellen Wert dieser Praxis in unserer Zeit mag es interessieren, dass der amerikanische Übersetzer in den USA die spirituelle Leitung einer kürzlich ins Leben gerufenen buddhistischen Hilfsorganisation für Schwerkranke und Sterbende übernommen hat, die sowohl praktische Hilfe wie auch Anleitung für die Meditation anbietet. Seinem Übungsprogramm für die Kranken und ihre Pfleger legt McLeod genau dieses Buch zugrunde.

Der Herausgeber