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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996): Dokumentation und Information 63 Dokumentation und Information ,,Der rnenschliche Korper in der Geschichte" Bericht uber das 14. Stuttgarter Forbildungsseminar vorn 4. bis 6. Mai 1995 Nunmehr zum vierzehnten Ma1 hatte das Institut fur Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung zu einem medizin- historischen Fortbildungsseminar nach Stuttgart eingeladen, um sich dort in die- sem Jahr dem Thema ,,Der menschliche Korper in der Geschichte" zu widmen. Hierzu wurden vom 4.-6. Mai 1995 aus- gewahlte Beitriige von den Seminarteilneh- mern priisentiert, die das weite Spektrum der moglichen inhaltlichen und methodi- schen Ansatze widerspiegelten. Einleitend erschlofl Norbert Paul (Dus- seldorf). mit dem Versuch einer schemati- schen Ubersicht ein ,,Terrain historiogra- phischer Zugange zum Korper des Men- schen". Es wurden korpergeschichtlich relevante Begriffspaare wie Konstruktion - Rekonstruktion, Idealtypus - Reali- tat, sowie Objektivierung - Subjektivitat erlautert, die zu einer Diskussion anreg- ten, in deren Verlauf Schwierigkeiten der Wahrnehmung und Definition des Kor- pers als eines historischem Wandel unter- worfenem Phanomens beleuchtet werden konnten. Im Rahmen dieser ersten Sek- tion zur ,,Theorie" folgte der Beitrag von Christian Bonah (Straflburg), der den Zu- sammenhang zu der von Marc Bloch be- griindeten Annales-Schule herstellte. Fur deren mentalitatsgeschichtlichen Ansatz ist der Korper nicht als biologische Ein- heit von Interesse, sondern erlangt seine Bedeutung als Gegenstand subjektiven Er- lebens und als Beobachtungsort gesell- schaftlicher Veriinderungen. Die Sektion ,,Wahrnehmung" eroffnete Susanne Claudine Pils (Wien) mit ihren Ausfuhrungen zu den Tagzetteln der Jo- hanna Theresia Harrach als Fragmente einer Korrespondenz mit deren Ehemann Ferdinand Bonaventura Harrach aus dem 0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-69451 Weinheim 1996 17. Jahrhundert. Dieses umfangreiche Quel- lenmaterial stellt einerseits ein authenti- sches Zeugnis individueller Perzeption des weiblichen Korpers aus der Sicht der Briefschreiberin dar und erlaubt anderer- seits allgemeine Aussagen uber die damals herrschenden Auffassungen von Krank- heit und Korper in einer bestimmten Ge- sellschaftsschicht. Die Auswirkungen, die sich aus dem das folgende Jahrhundert prii enden Geist der Aufklarung fur das Ver a altnis der Menschen zu ihrem Korper ergaben, stellFe Carmen Gotz (Dusseldorf) anhand der Auflerungen des Dusseldorfer Philosophen und Schriftstellers Friedrich Heinrich Jacobi vor. Dieser litt chronisch an Hypochondrie, deren Symptomatik in ihrer Auspriigung vielfaltige Wechselbezie- hungen zu dem Zeitgeist aufweist. Inwie- fern fur die Wahrnehmung korperlicher Veriinderungen und die Beurteilung ihres pathologischen Charakters bei Patienten durch die Medizin Aspekte des Ge- schlechtsunterschiedes und des davon be- einfluflten Machtverhaltnisses determinie- rend sein konnen, wurde von Ralf Broer (Heidelberg) in seinem Referat uber den der Menopause und einer fiktiven Andro- pause zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu- gemessenen Krankheitswert herausgear- beitet. Schliefllich stellte Flurin Condrau (Munchen) die Methode der sexualwissen- schaftlichen Erhebung von Kinsey, der in den vierziger Jahren quantitative Daten uber das Sexualverhalten amerikanischer Burger zusammentrug, derjenigen von Hite aus den achtziger Jahren gegenuber, deren Ergebnisse auch qualitative Aussa- gen enthalten, und erlauterte die Relevanz dieser Untersuchungen als sozialge- schichtliche Quellen fur die Korperge- schichte. 0170-6233/96/0103-0063 $10.00+.25/0

„Der menschliche Körper in der Geschichte” Bericht über das 14. Stuttgarter Fortbildungsseminar vom 4. bis 6. Mai 1995

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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 19 (1996): Dokumentation und Information 63

Dokumentation und Information

,,Der rnenschliche Korper in der Geschichte"

Bericht uber das 14. Stuttgarter Forbildungsseminar vorn 4. bis 6. Mai 1995

Nunmehr zum vierzehnten Ma1 hatte das Institut fur Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung zu einem medizin- historischen Fortbildungsseminar nach Stuttgart eingeladen, um sich dort in die- sem Jahr dem Thema ,,Der menschliche Korper in der Geschichte" zu widmen. Hierzu wurden vom 4.-6. Mai 1995 aus- gewahlte Beitriige von den Seminarteilneh- mern priisentiert, die das weite Spektrum der moglichen inhaltlichen und methodi- schen Ansatze widerspiegelten.

Einleitend erschlofl Norbert Paul (Dus- seldorf). mit dem Versuch einer schemati- schen Ubersicht ein ,,Terrain historiogra- phischer Zugange zum Korper des Men- schen". Es wurden korpergeschichtlich relevante Begriffspaare wie Konstruktion - Rekonstruktion, Idealtypus - Reali- tat, sowie Objektivierung - Subjektivitat erlautert, die zu einer Diskussion anreg- ten, in deren Verlauf Schwierigkeiten der Wahrnehmung und Definition des Kor- pers als eines historischem Wandel unter- worfenem Phanomens beleuchtet werden konnten. Im Rahmen dieser ersten Sek- tion zur ,,Theorie" folgte der Beitrag von Christian Bonah (Straflburg), der den Zu- sammenhang zu der von Marc Bloch be- griindeten Annales-Schule herstellte. Fur deren mentalitatsgeschichtlichen Ansatz ist der Korper nicht als biologische Ein- heit von Interesse, sondern erlangt seine Bedeutung als Gegenstand subjektiven Er- lebens und als Beobachtungsort gesell- schaftlicher Veriinderungen.

Die Sektion ,,Wahrnehmung" eroffnete Susanne Claudine Pils (Wien) mit ihren Ausfuhrungen zu den Tagzetteln der Jo- hanna Theresia Harrach als Fragmente einer Korrespondenz mit deren Ehemann Ferdinand Bonaventura Harrach aus dem

0 VCH Verlagsgesellschaft mbH, D-69451 Weinheim 1996

17. Jahrhundert. Dieses umfangreiche Quel- lenmaterial stellt einerseits ein authenti- sches Zeugnis individueller Perzeption des weiblichen Korpers aus der Sicht der Briefschreiberin dar und erlaubt anderer- seits allgemeine Aussagen uber die damals herrschenden Auffassungen von Krank- heit und Korper in einer bestimmten Ge- sellschaftsschicht. Die Auswirkungen, die sich aus dem das folgende Jahrhundert prii enden Geist der Aufklarung fur das Ver a altnis der Menschen zu ihrem Korper ergaben, stellFe Carmen Gotz (Dusseldorf) anhand der Auflerungen des Dusseldorfer Philosophen und Schriftstellers Friedrich Heinrich Jacobi vor. Dieser litt chronisch an Hypochondrie, deren Symptomatik in ihrer Auspriigung vielfaltige Wechselbezie- hungen zu dem Zeitgeist aufweist. Inwie- fern fur die Wahrnehmung korperlicher Veriinderungen und die Beurteilung ihres pathologischen Charakters bei Patienten durch die Medizin Aspekte des Ge- schlechtsunterschiedes und des davon be- einfluflten Machtverhaltnisses determinie- rend sein konnen, wurde von Ralf Broer (Heidelberg) in seinem Referat uber den der Menopause und einer fiktiven Andro- pause zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu- gemessenen Krankheitswert herausgear- beitet. Schliefllich stellte Flurin Condrau (Munchen) die Methode der sexualwissen- schaftlichen Erhebung von Kinsey, der in den vierziger Jahren quantitative Daten uber das Sexualverhalten amerikanischer Burger zusammentrug, derjenigen von Hite aus den achtziger Jahren gegenuber, deren Ergebnisse auch qualitative Aussa- gen enthalten, und erlauterte die Relevanz dieser Untersuchungen als sozialge- schichtliche Quellen fur die Korperge- schichte.

0170-6233/96/0103-0063 $10.00+.25/0

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Unter dem Stichwort ,,Herrschaft" fake die dritte Sektion Beitdge zusam- men, die einen staatlichen oder obrigkeit- lichen Zugriff auf den Korper behandel- ten. Ein plausibles Beispiel hierfiir lieferte Karin Stukenbrock (Kiel), die die Funk- tion der Androhung medizinischer Sek- tionen als strafverscharfende MaBnahmen im 18. Jahrhundert nachwies und damit den Korper als Machtinstrument defi- nierte, dessen potentielle postmortale Uti- lisation durch die Anatomie zugleich eine Disziplinierung ermoglichte, um bei- spielsweise Vagabundismus einzuschdn- ken. Die Verstaatlichung der reprodukti- ven Funktion des weiblichen Korpers zur Umsetzung politisch-ideologischer Ziele im Dritten Reich thematisierte Astrid Ley (Erlangen) am Beispiel eugenischer Mai3- nahmen. Diese sollten einerseits dazu die- nen, die eheliche Fruchtbarkeit zu stei- gern, und andererseits durch den Einsatz der Sterilisation bestimmte Personen von der Fortpflanzung auszuschlieflen. Deren medizinische Indikation, die von Diagno- sen wie Alkoholismus oder angeborenem Schwachsinn abgeleitet wurde, verdeut- licht die staatliche Einflufinahme auf den individuellen Korper in der Absicht, damit soziale Probleme zu losen. Ergan- zend dazu teilte Winfried SC/3 (Miinchen) die Eingriffe nationalsozialistischer Ge- sundheitspolitik in Korper beziehungs- weise Korperlichkeit in direkte und indi- rekte ein. Fur erstere standen die Zwangs- sterilisationen, wahrend letztere in der ex- zessiven Normierung und Musterung des menschlichen Korpers ihren Ausdruck fanden, deren Ergebnisse sich dann in der sozialen Positionierung der Individuen niederschlugen.

Gudrun Hopf(Wien) wies in ihrem Bei- trag auf soziale Aspekte unterschiedlicher Arten von Behinderung im vergangenen und Anfang dieses Jahrhunderts hin. Sie hob deren Bedeutung nicht nur fur das subjektive Erleben der Behinderung und die gesellschaftliche Reaktion auf den Be- hinderten hervor, sondern postuliert auch deren Einflufl auf die Genese und Ent- wicklung der Behinderung.

In einer weiteren Sektion beschaftigten sich vier Referate mit unterschiedlichen ,,Konzepten" des menschlichen Korpers. Diese Sequenz wurde von Cornelius Borck (London) eroffent, der die Anwendung der politische Konstellationen bezeich- nenden Begriffe Isonomia und Monarchia auf die korperlichen Zustande Gesundheit und Krankheit bei dern naturphilosophi- schen Arzt Alkmaion von Kroton als Bei- spiel fur Korpermetaphorik erlauterte. Im AnschluB zeigte Ugo d'Oruzio (Liibeck) anhand der Entwicklung der Hirnanato- mie, die aus der Tradition der Physio- gnomie-Lehre Lavaters heraus iiber Galls Phrenologie schliei3lich zu den modernen Forschungsansatzen bei Magendie und Broca gelangte, auf welchen Vorstellungen von der Relation Korper - Organ die je- weilige Lehre beruhte. Wahrend die frii- hen Vertreter noch die Wesensmerkmale bekannter Personlichkeiten in dem Scha- del als Ganzem reprasentiert fanden, waren spater nur noch einzelne Teile des Gehirns, deren Funktion an anonymen Patienten untersucht werden konnte, Ge- genstand der Forschung.

Einen thematischen und zeitlichen Mechsel markierte das Referat von Michael Hau (Maim) iiber die Entstehung und Fi- xierung von Geschlechtsnormen und idea- lisierter Korpedsthetik zwischen 1890 und 1914, die er anhand der entsprechen- den Beitdge von Schulmedizin und Le- bensreformbewegung verdeutlichte. In Analogie zur geisti en Bildung burger-

Arbeiterschicht die Korperbildung propa- giert.

Unterschiedliche Implikationen des Korpers fur die Vorstellung von Homose- xualitat in der Medizin der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts stellte Philipp Port- wich (Kiel) dar. Die systematisierenden Versuche, die aus der friihen wissenschaft- lichen Auseinandersetzung mit dem Pha- nomen Homosexualitat resultierten, waren geleitet von seinem Verhaltnis zu einem korperlich definierten, einheit- lichen Geschlechtscharakter, als dessen partielle Verkehrung es gelten muate.

licher Gesellschaftsk f assen wurde fur die

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Dokumentation und Information 65

In einem Rekurs auf die Sektion ,,Theo- rie" fragte Lieke van der Scheer (Nijmegen) in ihrem abschlieflenden Referat nach dem menschlichen Korper in dem Werk von Donna Haraway. Diese Autorin er- setzt die konventionellen Vorstellungen von einem naturlichen Korper durch eine neue Konzeption, in der sich der mensch- liche Organismus vielfach und untrennbar mit technologischer Apparatur verbindet, und insofern als ,,Cyborg", einem Neolo- gismus aus den Bestandteilen ,,Kyberne- tik" und ,,Organismus", auch eine neue Identitat erhalt.

Die Abschlufldiskussion, in die Chri- stopf Gradmann (Heidelberg) einfuhrte, thematisierte neben der Notwendigkeit methodologischer Vielfalt in der Korper- geschichte auch deren Gegenstand in sei- nem Spannungsfeld zwischen subjektiver Korperlichkeit, biologischem Korper und der Vielzahl politischer, philosphischer und sozialer Einfliisse. Auflerdem wurde die sinnvolle gegenseitige Beeinflussung

und Erganzung von Medizin- und Korper- geschichte hervorgehoben.

Am Ende der dreitagigen Veranstaltung bestand bei allen Teilnehmern Konsens dariiber, dafl das Stuttgarter Seminar 1995 in jeder Hinsicht seinem Anspruch ge- recht geworden ist, einerseits in effektiver Arbeitsatmosphare der Fortbildung zu dienen, andererseits aber auch ein kom- munikatives Forum fur junge Medizin- historiker und -historikerinnen zu eroff- nen. Zu diesem Gelingen hatte sowohl die Vorbereitungsgruppe, bestehend aus Chri- stoph Gradmann (Heidelberg), Syvelyn Hahner-Rombach (Stuttgart), Norbert Paul (Dusseldorf), Thomas Schlich (Stutt- gart) und Ingrid von Stumm (Munchen), durch ihre vorausgegangene Organisations- arbeit, eine stringente Programmplanung und strukturierte Diskussionsleitungen beigetragen, wie auch der gastliche Rah- men, den die Robert Bosch Stiftung bot.

Christian Bonah/Philipp Portwich

Anschriften der Verfasser: Dr. Christian Bonah, Centre EuropCen d'histoire de la mCdecine, FacultC de mCde- cine, 4 rue Kirschleger, F-67085 Strasbourg Cedex; Dr. Philipp Portwich, Institut fur Geschichte der Medizin und Pharmazie der Universitat, Brunswiker S t d e 2, D-24105 Kiel.

Health, Disease and Society: New Historical Perspectives

Bericht uber die erste Konferenz des ,,International Network for the History of Public Health", 6. bis 10. Juni 1995 in Annecy.

In 18 Vortrii en und in einer Podiumsdis-

renz des 1993 im Rahmen der ,,European Association for the History of Medicine and Health" gegriindeten ,,International Network for the History of Public Health" (INHPH) mit unterschiedlichen Aspekten von Gesundheit und Krankheit im Span- nungsfeld von Staat und Gesellschaft. Als wichtigstes methodisches Problem kristal- lisierte sich die Frage nach den Kriterien zur Objektivierung von Erfolg oder auch Miflerfolg offentlicher Gesundheitspolitik heraus. In thematischer Hinsicht kreisten viele der Vortriige und Diskussionen um

kussion besc 8, aftigte sich die erste Konfe- das Problem staatlicher Interventionen im Gesundheitswesen. Inwieweit, so lautete die in der historischen Entwicklung zu be- antwortende Frage, darf das Selbstbestim- mungsrecht des einzelnen zugunsten des Wohls der All emeinheit eingeschriinkt

von knapp einhundert Wissenschaftlern aus Europa, Nord- und Sudamerika sowie Australien war es schliefllich auch, die Kommunikation zwischen den Praktikern des offentlichen Gesundheitswesens und dessen Historikern zu intensivieren.

In der ersten, von Dorothy Porter, Lon- don, organisierten Sektion ging es um

werden. Eines c f er Ziele dieser Konferenz

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