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Der Mond der Spinne

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DER MOND DER SPINNE

RICHARD A. KNAAK

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsauftiahme

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhält­lich.

Dieses Buch wurde auf chlorfreiem, umweltfreundlich hergestelltem Papier gedruckt.

In neuer Rechtschreibung.

Amerikanische Originalausgabe: »DIABLO: Moon of the Spider« by Richard A. Knaak, published by Simon and Schuster, Inc., January 2006. Deutsche Übersetzung 2006 von Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. Copyright © 2006 Blizzard Entertainment. All Rights Reserved. »DIABLO: Moon of the Spider«, DIABLO, Blizzard Entertainment are trademarks or registered trademarks of Blizzard Entertainment in the U.S. and/or other countries. All other trademarks are the property of their respective owners. No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written per­mission of the copyright holder(s).

Übersetzung: Ralph Sander Lektorat: Manfred Weinland Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest Chefredaktion: Jo Löffler Umschlaggestaltung: tab visuelle kommunikation, Stuttgart Cover art by Glenn Rane Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Nørhaven Paperback A/S, Viborg, DK Printed in Denmark ISBN: 3-8332-1091-5 1. Auflage, Juni 2006

www.paninicomics.de/videogame

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Für Chris Metzen und Marco Palmieri.

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Eins

Die dichten grauen Wolken hüllten weite Bereiche der Nordseite des Gebirges ein. Ein kalter Wind schnitt sich tief ins Fleisch eines jeden Mannes der Reisegruppe. Nur die hagere Gestalt, die einen dünnen schwarzen Kapuzenmantel trug und die Gesell­schaft anführte, schien davon ausgenommen. In dieser Höhe fanden sich sogar Spuren von Schnee, aber vor allem herrschte hier Frost. Er verlieh dem Tannenwald, durch den sie pirschten, einen todesgleichen Schimmer.

Zwei Schritte hinter dem Führer zog Lord Aldric Jitan seinen dick mit Pelz gefütterten Mantel enger um den Leib. Unter der Kapuze aus schwerem, braunweißem Stoff lugten die zusam­mengekniffenen Augen – eines tiefbraun, das andere eisblau – des rothaarigen Edelmanns hervor und beobachteten wachsam die Landschaft zu beiden Seiten des Weges. Seinen kantigen Kiefer presste er voller Ungeduld zusammen.

»Wie weit noch, Hexenmeister?«, fragte er. Jedes Wort wurde von einer dichten weißen Atemwolke begleitet.

»Nicht mehr sehr weit, Mylord«, erwiderte die in Schwarz ge­kleidete Gestalt ruhig und gelassen. Anders als der Edelmann und die fünf stämmigen, bewaffneten Krieger bewegte er sich auf dem unebenen Pfad in einer Weise voran, als unternehme er eine gemütliche Bergwanderung. Für einen so schmal gebauten und gelehrt klingenden Mann war seine Stimme überraschend tief, tiefer noch als die von Lord Jitan. Er warf einen Blick nach hinten auf den breitschultrigen Aristokraten – einen Mann, der im Wuchs Ähnlichkeit mit seinen Soldaten hatte – und ließ dabei

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etwas von seinem kurzgeschnittenen grauen Haar und dem kan­tigen Gesicht zum Vorschein kommen. Seine Augen waren zu solch schmalen Schlitzen zusammengekniffen, dass der Eindruck entstand, Aldric habe seine Augen im Gegensatz dazu weit aufge­rissen. Die Haut wies einen dunkleren, leicht gelblichen Farbton auf, fast so, als sei der Sprecher an Gelbsucht erkrankt. »Ich möchte sogar behaupten, dass sich bald die ersten Hinweise auf unser Ziel manifestieren werden.«

»Ich fühle gar nichts.« »Eure Fähigkeiten sind nicht so geschult wie meine, Mylord,

doch dem wird ja schon bald abgeholfen werden, nicht wahr?« Aldric schnaubte. »Nichts anderes ist Sinn und Zweck unserer

Exkursion, oder, Hexenmeister?« Der Mann an vorderster Position wandte sich ab, sodass der

Edelmann nur noch die Rückseite der schwarzen Kapuze betrach­ten konnte. »Natürlich, Mylord.«

Wieder verfielen sie in Schweigen. Hinter Aldric mühten sich die fünf Diener mit dem schweren Gepäck ab. Neben Lebensmit­telvorräten und Decken mussten sie auch Spitzhacken, große Hämmer sowie Schaufeln tragen. Zudem lastete jedem der Män­ner ein Schwert am Gewicht am Gürtel. So einsam die Wälder auch scheinen mochten, lauerten dort große Gefahren. Eine be­sondere Bedrohung stellten die Wendigos dar. Diesen riesigen Bestien begegnete man nur selten – und kaum jemand war so töricht, sie zu jagen –, doch wenn es geschah, musste man sie schnell töten. Wendigos ernährten sich von Fleisch, bevorzugt Menschenfleisch. Die Legende besagte, dass sie nicht immer solche Monster gewesen waren, doch das scherte in den Westlichen Königreichen niemanden. Dort zählten nur die blutigen Fakten, und so lautete das Motto: Nur ein toter Wendigo war ein guter Wendigo. 6

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Immerhin konnte Lord Aldric Jitan bestätigen, dass tote Wendi­gos zumindest für einen warmen Mantel, wie er ihn trug, taugten.

Einige Minuten verstrichen, doch der Edelmann vermochte nach wie vor nichts wahrzunehmen. Er forschte in der Ferne vor ihnen, fühlte aber nichts anderes als die weiter anhaltende Ver­lassenheit der Berglandschaft. Für das südwestliche Westmarch war diese Region extrem einsam. Sie hatte so gar nichts von den Ebenen, die von üppig bewachsenem, fruchtbarem Boden und angenehmem Niederschlag geprägt waren. Und die der Grund waren, weshalb alle anderen Regionen der Welt mit Neid auf die Westlichen Königreiche blickten.

Selbst der dichte Tannenwald, durch den sie sich gerade be­wegten, wirkte dagegen steril und geisterhaft. Lord Jitan schnaubte verächtlich. Und dies hier war einmal das Herz des antiken Westmarch gewesen? Der Ort, an dem sich einst die großen und beherrschenden Paläste der Söhne von Rakkis über die aufstrebenden ersten Königreiche des Landes in den Himmel erhoben hatten?

Die schimmelnden Pergamente und die zerbröselnden Stein-platten, mit denen sich Aldric monatelang befasst hatte, wussten von einem viel wärmeren, viel prächtigeren Land zu berichten, von Anwesen, die so groß gewesen waren wie ganze Städte und die von jeweils einer der fünf Linien geführt wurden, die alle den legendären Paladin-Lord zum Ahnen hatten.

Heutzutage kannten nur noch wenige die Herkunft von König Rakkis – dem Gründer und ersten Herrscher über Westmarch –, und von diesen wenigen, zu denen auch Aldric zählte, war den meisten nicht viel mehr als die Tatsache bekannt, dass er aus dem Osten gekommen war, möglicherweise sogar von der anderen Seite des Dschungels von Kehjistan. Als ein Mann, der glaubte,

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ein Nachfahr jenes Lords zu sein, war Aldric von dieser Darstel­lung überzeugt, erklärte sie doch auch die enge Stellung seiner eigenen Augen.

Was mit dem Letzten der Rakkis-Linie geschehen war, ließ sich nur vermuten. Doch nur wenige sannen überhaupt noch über ihn nach, denn das Vermächtnis war in der modernen Zeit fast völlig in Vergessenheit geraten. Lord Jitan nahm an, dass es in ferner Vergangenheit einen Machtkampf zwischen verschie­denen Gruppen gegeben hatte, die alle nach einem bestimmten Objekt strebten, das ihnen Macht verleihen sollte. Es existierten gleich mehrere Hinweise darauf, was ihn überhaupt erst auf den Gedanken gebracht hatte, sich selbst auf die Suche danach zu begeben. Doch bis zu dem Tag, da er eher zufällig jenem Mann begegnet war, der nun vor ihm schritt, hatte jede Spur für den Edelmann in einer Sackgasse geendet.

Sackgassen konnte Aldric nicht gebrauchen. Die Träume wur­den mit jeder Nacht schlimmer, quälten und lockten ihn zugleich. Sie deuteten auf Feinde hin, die seine Schwächen herauszufinden versuchten, schattenhafte Gestalten, die für Aldric erschreckend real geworden waren, obwohl keine von ihnen ihr Gesicht erken­nen ließ und nur Unverständliches sprach. In jeder Nacht waren ihm die flüsternden Phantome ein Stück nähergerückt, um ihn zu überfallen, und mit jeder Nacht war seine Angst gewachsen. Oft erwachte er schweißgebadet, davon überzeugt, dass man seine Schreie überall auf dem Gelände hatte hören können.

Doch diese Träume lieferten ihm gleichzeitig den ersten Hin­weis, der ihn zur Geschichte jener Lords Rakkis geführt und schließlich dazu veranlasst hatte, in diese kalte Bergregion aufzu­steigen. Jedes Mal, wenn Aldric um ein Haar von seinen gesichts­losen, grässlichen Feinden überwältigt worden wäre, war er

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durch irgendeinen Umstand gerettet worden. Zunächst war es nur ein unscheinbares Objekt gewesen, das auf magische Weise in seinen Händen auftauchte. Doch mit jedem weiteren Traum gewann es ein wenig an Kontur, bis es sich zu einer Kugel entwi­ckelte, einer riesigen Perle mit sonderbaren und doch vertrauten Markierungen. Gleichzeitig hatten Dinge Gestalt angenommen, die auf die Verbindung dieser Kugel zu den Rakkis hindeuteten – alte, verrottende Banner mit dem unversehrten Symbol des Hau­ses, feuchte Katakomben, in deren Stein ein knurrender Wolf gemeißelt war ... und vieles mehr.

Die meisten Männer hätten schlicht geglaubt, verrückt zu sein. Doch Lord Aldric Jitan war nicht wie die meisten Männer. Schon lange bevor er auf den Gedanken gekommen war, das Blut der Söhne von Rakkis könne durch seine Adern fließen, hatte Aldric sich als einer von wenigen gesehen. Denn er war mit ma­gischen Fähigkeiten gesegnet – auch wenn diese nur schwach ausgeprägt sein mochten. In seinen Träumen jedoch waren sie stärker geworden, kaum dass er die große Perle berührte. Und das war auch der einzige Grund, warum sein Ich in jenen Träumen bislang hatte überleben können.

Da Lord Jitan nicht nur in seinen Träumen, sondern auch bei wachem Bewusstsein überleben wollte, schien es ihm der sinn­vollste Weg, nach dem zu suchen, worauf sein Unterbewusstsein ihn immer wieder stieß. Niemand konnte ihn von seinem Glau­ben abbringen, das zu finden, was der Teufel aus dem Osten mit einem ebenso bemerkenswerten wie seltsamen Namen belegt hatte ...

»Spinnenmond!« Aldric blieb so abrupt stehen, als wäre er genauso erfroren wie

all die Bäume ringsum. Hoffnungsvoll schaute er nach vorn.

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Doch das sich ihm bietende Bild war unverändert trostlos. »Hexenmeister«, fauchte der Edelmann. »Bei den Lords, was

sollte dieser Ausruf eben? Hier ist weit und breit nichts, was diesen Namen verdiente!«

Sein Führer drehte sich nicht einmal nach ihm um. »Eure Sin­ne sind nicht präzise genug ausgerichtet. Ihr vermögt ganz offen­bar nicht das zu sehen, was uns umgibt. Aber ich kann Euch versichern, unser Ziel liegt unmittelbar vor uns.« Er streckte einen Arm nach hinten und bedeutete Aldric mit der schmächti­gen, gelbstichigen Hand, zu ihm zu kommen. »Hierher, dann werde ich Euch einen Vorgeschmack auf das geben, was Ihr zu kontrollieren begehrt.«

Das ließ sich Lord Jitan nicht zweimal sagen. Von seinen inne­ren Dämonen angetrieben bahnte er sich seinen Weg, bis er ne­ben der schmalen Gestalt stand. Die fünf Diener, die viel schwe­rer bepackt waren als er, gaben sich alle Mühe, mit ihrem Herrn Schritt zu halten.

»Wo? Wo denn, verdammt?« Vor sich sah er nur Berge aus Fels und Eis, dazu den immer gleichen, nicht enden wollenden Wald.

Der andere Mann streckte plötzlich die vergilbte Hand aus, packte Aldric und drückte dessen Handgelenk mit solcher Kraft, dass er zusammenzuckte. »Seht ...«

Und mit einem Mal sah der Aristokrat aus dem Westen, was der Hexenmeister meinte.

Alles war so wie zuvor, doch nun erkannte er Unterschiede, die seinen oberflächlichen Blicken bislang entgangen waren. Die Berge aus Fels und Eis wiesen Konturen auf, die man bemerkte, wenn man nur genau genug hinschaute – Konturen, die die Na­tur nicht selbst geschaffen haben konnte.

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Lord Jitan ließ seinen Blick langsam über die Felswand wan­dern und nahm in sich auf, was diese Umrisse zu bedeuten hat­ten.

»Könnt Ihr es jetzt fühlen?«, wollte sein Begleiter wissen, der den Griff um sein Handgelenk lockerte.

Aldric nickte. Wie hatte ihm das nur entgehen können? Und wieso hatte er es nicht, lange bevor er es sah, zu fühlen ver­mocht?

Die Feste des Letzten von Rakkis’ Söhnen ... Vor ihnen lag etwas, das ein Ignorant lediglich als eine große,

ovale Einbuchtung zwischen zwei Felskämmen wahrgenommen hätte. Aber natürlich waren diese Felskämme viel zu gleichmäßig und stellten – wie Aldrics nunmehr erwachten Sinne erkannten – die Seitenwände des Eingangs zu einem viel größeren Bauwerk dar, das sich etliche Stockwerke hoch über sie erhob. Rakkis’ Sohn hatte das gewaltige Anwesen ganz nach seinen Wünschen und Erfordernissen in den Fels gebaut. Wo immer Gestein im Wege war, war es abgetragen worden. So war eine terrassenförmig angelegte Stadt entstanden, die sich auf jeder Ebene imposant ausdehnte. Es gab kleine Villen und Straßen, die alle gezeichnet waren von jahrhundertelanger Erosion. Weiter oben stand ein Turm, von dem aus der Herrscher auf sein Reich hatte hinabbli­cken können. Aldric kniff die Augen ein wenig zusammen, bis er erkannte, dass das, was ihm zunächst als eine von der Natur ge­schaffene Ausprägung in der Felslandschaft erschienen war, in Wahrheit der aufragende Arm einer großen Statue war, die durchaus Rakkis selbst darstellen mochte.

Der Edelmann grinste, während er die Erkenntnis verarbeitete, auf das Gesuchte gestoßen zu sein. Unter Schnee, Eis und Stein befand sich eine Erhebung, die es mit allem aufnehmen konnte,

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was er je mit eigenen Augen gesehen hatte, erst recht in Westmarch.

Die Krieger hinter ihm raunten sich aufgeregt zu. Sie dachten zweifellos an vergessene Schätze. Aldric nahm sie kaum wahr. Er wusste, dass alles Wertvolle dieser Art längst geraubt worden war. Der Pöbel würde sich mit dem Lohn begnügen müssen, den er so großzügig zahlte.

Doch was seine eigene Schatzsuche anging ... Sein Blick wurde von einer Einbuchtung am Fuß der ausla­

denden Ruinen angezogen. Lord Jitan ging bis zu dieser Stelle und betrachtete die Schichten aus Erde und Eis, die ihn jetzt noch von seinem Ziel fern hielten. Er drehte sich zu seinen Dienern um und herrschte sie an: »Was ist? Legt eure Ausrüstung ab und fangt an zu graben!«

Sie begaben sich sofort an die Arbeit, da sie völlig zu Recht den Zorn ihres Herrn fürchteten. Während das Scheppern der Spitzhacken und Schaufeln die anhaltende Stille störte, begann Aldric sich zu fragen, ob dieser Lärm nicht womöglich die alten Herrscher selbst aus ihrem Schlaf wecken könnte. Sonderbarer­weise war seine Neugier stärker als sein Unbehagen. So wenig war über sie bekannt, doch als einer ihrer mutmaßlich letzten Nachfahren verfocht Aldric die Ansicht, dass ihre Geschichte auch seine war. Wären die Dinge anders gekommen, würde er vielleicht heute in diesem hohen Turm sitzen, als Herr über ganz Westmarch und darüber hinaus.

Als Herr über alles! Dem Aristokraten ging der Gedanke durch den Kopf, dass es

vielleicht seine Vorfahren waren, die aus dem Abgrund des Todes nach ihm gesucht hatten, um ihm diesen Schlüssel zu seiner Zukunft zu geben. Der Schlüssel würde all seine Feinde hinfort­

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fegen. Und dann ... In diesem Moment schrie ein stämmiger, flachsblonder Diener

auf, der eine Spitzhacke in der Hand hielt. Mitsamt seiner Waffe fiel er durch ein plötzlich entstandenes Loch in Eis und Gestein in einen gierigen Schlund, der ihn auf der Stelle verschlang. Die anderen Diener wichen sofort ein paar Schritte zurück, um ihr Leben nicht bei einem ohnehin vergeblichen Rettungsversuch aufs Spiel zu setzen.

Lord Jitan erreichte das Loch im Boden gerade noch rechtzei­tig, um den todbringenden Aufprall zu hören. Er ignorierte das Missgeschick und spähte angestrengt in die Finsternis.

»Licht!«, befahl er. »Ich brauche Licht!« Kaum hatte er ausgesprochen, bemerkte er neben sich ein kno­

chenbleiches Leuchten, das von einem Objekt in der Hand des Hexenmeisters ausging. Die weiten Ärmel seines Mantels ver­deckten den Gegenstand vor Aldrics Blicken, doch für den Edel­mann zählte in diesem Augenblick nur, dass er ausreichend Licht hatte, um sehen zu können, was dieser Schlund im Boden verbarg.

Geborstene Steinstufen führten in einer nach rechts verlau­fenden Spirale zwei Stockwerke weit in die Tiefe. Der zerschmet­terte Leib des glücklosen Dieners lag neben der unteren Stufe, die Spitzhacke war im Lichtschein eben noch auszumachen.

»Sollen wir hinabsteigen, Mylord?«, fragte der verhüllte Zau­berkundige.

Lord Jitans Antwort bestand darin, dass er sofort zur Tat schritt. Die Gestalt neben ihm kicherte kurz und folgte ihm dann.

Die ungewohnte Beleuchtung, für die Aldrics Führer sorgte, tauchte den Raum, in den die Gruppe hinabstieg, in ein unheim­liches Licht. Es schien, als würden sie von wilden, wolfsartigen

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Kreaturen aus den Wänden angesprungen, obwohl es sich bei ihnen um Steinköpfe handelte, die das Wolfsmotiv der alten Lords übernommen hatten. Jeder der Köpfe war dreimal so groß wie der eines erwachsenen Mannes, und das mit Reißzähnen bewehrte Maul war weit aufgerissen, als wolle es nach jedem schnappen, der ihm zu nahe kam. Die glatten Schädel gingen über in kraftvolle Schulterpartien. Unter jedem Kopf ragte zu­dem ein Pfotenpaar aus der Mauer.

Die Detailfülle war so reichhaltig, dass Lord Jitan einzelne Haare an den Tierköpfen erkennen konnte. Ihn überkam der Wunsch, einen der Köpfe zu berühren, um zu erfahren, wie er sich anfühlte. Doch als er einen Schritt in Richtung des Schädels machte, der ihm am nächsten war, verspürte er plötzlich eine unheilvolle Ahnung, und mit einem Stirnrunzeln wich der Edelmann gleich wieder zurück.

Sein Begleiter schritt voran und tauchte weitere Abschnitte der langgestreckten Kammer in blasses Licht. Ein heftiges Einat­men – die erste Abweichung von dem ansonsten so unerschütter­lichen Verhalten des Zauberkundigen – ließ Aldric aufhorchen.

»Was ist ...«, begann er, kam aber nicht weiter, da ihm die Worte fehlten.

Ein Sarkophag, mannshoch und mindestens dreimal so lang wie ein normalgroßer Mensch. Er bestand aus einem Aldric unbekannten Material. Kein Stein, den er je gesehen hatte, nicht einmal der weißeste Marmor, konnte es mit dieser glatten, glänzenden Oberfläche aufnehmen. Als die beiden sich ihm näherten, schimmerte er sogar im fahlen Lichtschein so, als sei er lebendig. Eine Perle. Daran fühlte sich Aldric bei diesem Anblick erin­nert. Der Sarkophag wirkte, als sei er aus einer riesigen, schil­lernden Perle gefertigt worden.

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Ganz gleich, welche Stelle er begutachtete, nirgends war eine Fuge zu sehen, das Objekt wirkte tatsächlich wie aus einem Guss. Das war jedoch nicht das einzig Sonderbare. Aldric Jitan betrachtete die Rundungen und eigenartigen Markierungen, die von innen heraus zu leuchten schienen, je länger er sie ansah.

»Das stammt nicht von den Söhnen von Rakkis«, sagte er lei­se. »Das sollte gar nicht hier sein.«

Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, Mylord, es stammt nicht von den Wolfsherrn. Hattet Ihr das erwartet? Was Ihr seht, ist das Werk eines Vizjerei ... und es sollte sehr wohl hier sein, und zwar exakt hier.«

Der Edelmann wartete auf eine ausführlichere Erklärung, doch diese folgte nicht. Aldric nahm den Sarkophag weiter in Augen­schein. Dabei fiel ihm eine Markierung auf, die oben am Rand des Lichtscheins zu sehen war.

»Hexenmeister ...« Der Mann bewegte sich nach vorn, wodurch das Symbol, das

Aldric genauer sehen wollte, besser vom Licht erfasst wurde. Einer der Diener schnappte nach Luft, als er die Bedeutung des

Symbols erkannte, und wich erschrocken ein paar Schritte nach hinten. Damit blieb er genau vor einem der großen Wolfsköpfe stehen.

Von einem ohrenbetäubenden Brüllen begleitet, bewegte sich die Steinfigur mit weit aufgerissenem Maul nach vorn. Die Kie­fer schlossen sich um den Kopf des vor Schreck erstarrten Man­nes ... und bissen zu.

Der enthauptete Rumpf fiel zu Boden, während der Wolf in seine ursprüngliche Position zurückkehrte und wieder verstei­nerte. Das Maul war nun geschlossen, der Boden darunter von dunkelroten Blutspritzern übersät.

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Die verbliebenen drei Diener zogen sich zur Treppe zurück, doch ein scharfer Blick von Lord Jitan genügte, um sie zu ihm zurückkehren zu lassen. Beruhigt darüber, dass sie ihm doch noch gehorchten, widmete er sich wieder dem Symbol, das auf dem oberen Teil des kunstvoll gefertigten Sarkophags prangte. Trotz der Kräfte, die aus dem Inneren strahlte und die er deutlich fühlen konnte, zögerte Aldric nicht und zeichnete mit einem Finger die leuchtenden, karmesinroten Konturen nach, die seine Gefolgsleute so in Angst versetzt hatten.

Ein großer Kreis ... und darin die stilisierte Darstellung einer achtbeinigen Kreatur. Eine Spinne.

»Das Zeichen des Spinnenmondes«, flüsterte der Edelmann. »Habe ich zu viel versprochen?«, fragte der andere Mann. Lord Jitan suchte nach einem Weg, wie er den Sarkophag öff­

nen konnte, doch seine Finger fanden keinen Spalt und keinen Griff. »Sind wir noch zeitig genug?«

»Ja, das sind wir.« Je länger seine Versuche ohne greifbares Resultat blieben, de­

sto hektischer wurde Aldric. Schließlich schlug er einfach nur mit aller Kraft auf das Spinnenemblem.

Frustriert wirbelte er zu seinen Dienern herum. »Brecht ihn auf! Schnell!«

Sichtlich widerstrebend traten die Männer mit ihren Spitzhak­ken vor.

»Mylord ...«, wollte der Zauberkundige einwerfen, doch Jitan hörte nicht auf ihn.

Stattdessen zeigte er auf die Mitte des Symbols. »Zielt dar­auf!«

Wie ein Mann gingen die drei vor, jeder Hieb traf genau ins Ziel, doch die Oberfläche trug nicht den kleinsten Kratzer davon.

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Stattdessen brach der Kopf einer Spitzhacke ab, flog durch den Raum und prallte scheppernd gegen eine Wand. Als das geschah, befahl Aldric seinen Männern, aufzuhören.

»Hexenmeister?« »Ja, ich verfüge über die Mittel.« Wütend drehte sich Lord Jitan zu ihm um: »Und warum lasst

Ihr dann zu, dass wir kostbare Zeit vergeuden?« Anstatt den Edelmann erst noch darauf aufmerksam zu ma­

chen, dass der ihm gar nicht zugehört hatte, schlug er vor: »Diese drei könnten sich im Moment nützlicher machen, wenn sie Fak­keln entzündeten. Wir werden dieses Licht gleich benötigen.«

Eine Geste genügte, dann machten sich Aldrics Männer an die Arbeit. Sekunden später hielten sie brennende Fackeln hoch.

Der Hexenmeister steckte daraufhin das Objekt weg, mit dem er bis dahin die Grabstätte erhellt hatte. Er schob die Kapuze nach hinten und betrachtete zufrieden den Sarkophag.

»Ich warte«, herrschte Aldric ihn an. »Geduld ist für das Gleichgewicht von größter Bedeutung«,

bekam er zur Antwort. Der Hexenmeister hob eine Hand. Auf der Innenfläche funkelte ein winziger schwarzer Kristall. »Und das gilt auch für die Opfergabe.«

Plötzlich wuchsen winzige Beine aus dem Kristall – acht an der Zahl. Zum Erstaunen aller, ausgenommen der Zauberkundige, sprang der Kristall aus der Hand und landete auf dem Symbol.

Während die Spitzhacken nicht einmal Kratzspuren hinterlas­sen hatten, bohrten sich die acht Gliedmaßen an verschiedenen Stellen rings um den Mittelpunkt des roten Symbols in den Dek­kel. Dann war ein kurzes Zischen zu vernehmen, und der Deckel glitt zur Seite weg.

Lord Aldric Jitan fragte nicht, woher der andere diesen makab­

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ren Schlüssel hatte. Ihm lag nur daran, dass der Weg endlich frei war. Er beugte sich vor und warf einen Blick in den Sarkophag.

Eine lange Gestalt in einem Gewand lag darin, doch etwas stimmte nicht.

»Bringt die Fackeln her!«, befahl Aldric seinen Männern. Im flackernden Lichtschein wurde offenbar, wer da vor ihnen

lag. Auch wenn Aldric nicht damit gerechnet hatte, die Überreste eines der Söhne von Rakkis vorzufinden, ließ die Identität des Beigesetzten ihn doch zusammenzucken.

»Es ist einer von ihnen. Ein Vizjerei!« Vizjerei waren Hexenmeister, deren Herkunft ebenfalls im

Osten lag, doch sie waren von einer weltlicheren Natur als Al­drics Begleiter. Sie besaßen Ehrgeiz, sie hatten Wünsche, und in seinem Leben hatte Lord Jitan einige von ihnen für ihre schändli­chen Dienste entlohnt. Nicht alle waren von so dubiosem Wesen, doch für Aldric war die Unterscheidung zwischen guten und bösen Vizjerei nebensächlich.

Warum aber sollte man sich die Mühe machen, einen aus den eigenen Reihen ausgerechnet an diesem Ort zu bestatten? War­um hatte man dafür überhaupt erst den beschwerlichen Weg bis hierher zurückgelegt?

Haut überzog die Knochen des alten Zauberkundigen, der auch noch einige graue Büschel Bart- und Haupthaar aufwies. Um den ausgemergelten Leib war das turinnash gewickelt, ein orangefarbenes, an den Schultern weit geschnittenes Gewand – sein Stil hatte sich über Jahrhunderte hinweg kaum verändert. Goldene Runen, die wohl die Macht des Trägers verstärken und Schaden von ihm abwenden sollten, überzogen den Stoff. Brustharnisch und Gürtel waren aus Gold und deuteten auf einstigen Ruhm und Reichtum hin, doch für den Edelmann war das nicht von Bedeutung. An einer Seite des Toten lag einer der 18

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Bedeutung. An einer Seite des Toten lag einer der mit Runen versehenen Stäbe, die im Allgemeinen von den Angehörigen des Ordens benutzt wurden.

In den knorrigen, dürren Händen, die auf dem Leib ruhten, befand sich das eigentliche Objekt von Lord Jitans Begierde.

Es war nicht so groß wie in seinen Träumen, doch das änderte nichts daran, dass es atemberaubend aussah. Es hatte die Größe eines Apfels, vielleicht war es auch noch ein wenig größer. Es erinnerte an eine Perle, die in der Farbe des Mondes leuchtete – ein perfekter Vollmond, der den Sarkophag grobschlächtig und matt wirken ließ. Eine ganze Stadt, nein ganz Westmarch hätte man damit wohl kaufen können.

Hätte Aldric beim Anblick des Artefakts an nichts anderes ge­dacht, dann hätte er vielleicht wirklich ganz Westmarch gekauft. Denn dann wäre es für ihn in jeder anderen Hinsicht nutzlos gewesen.

Obwohl die verkrampften Finger des toten Vizjerei darum ge­legt waren, konnte man deutlich die acht schwarzen Streifen sehen, die sich in einem perfekten Muster über die Perle zogen. Sie waren der Grund dafür, dass man das Objekt als den Spin­nenmond bezeichnete – der Grund, weshalb er nach diesem Schatz gesucht hatte.

Lord Jitan wollte bereits danach greifen, doch sein schattenhaf­ter Begleiter verhinderte, dass er überhaupt die Hand heben konnte.

»Einem Toten etwas abzunehmen, ist wohl nichts für einen Mann von Eurem Stand, Mylord«, gab er zu bedenken. Sein Tonfall ließ zugleich erahnen, dass mehr als bloßes Standesden­ken hinter der Bemerkung steckte.

Aldric zog eine Augenbraue hoch, dann schnippte er mit den

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Fingern und sagte zu dem Diener, der gleich neben ihm stand: »Rolf! Hol mir das Ding da heraus!«

Der Mann verzog den Mund, deutete aber eine kurze Verbeu­gung an. Seine Fackel gab er einem der anderen, dann stellte er sich neben den Sarkophag. Mit einem Räuspern streckte er seine Finger aus, um die Beute für seinen Herrn zu beschaffen.

Die Finger strichen leicht über die des Toten in seinem Ge­wand.

Sofort kreischte Rolf auf. Eine feurige Aura erfasste den Leichnam des Vizjerei und den Diener.

Die Verwandlung vollzog sich innerhalb einer einzigen Sekunde. Die Lebensessenz wurde aus Rolfs Leib gesogen, so wie es Lord Jitan mit dem Saft aus einem Stück Orange zu tun pflegte. Die Haut des Dieners verdorrte, die Augen versanken in ihren Höhlen. Seine stämmige Statur schrumpfte zu einem Skelett zusammen. Bis zuletzt versuchte er, sich von dem Toten zu lösen, doch es wollte ihm nicht gelingen.

Während der ausgetrocknete Leichnam zu Boden sank, setzte sich plötzlich der mumifizierte Vizjerei auf.

Seine Haut war immer noch trocken und rissig, doch nun be­fand sich auch ein wenig Fleisch darunter. Das Gesicht des Ghuls bewegte sich, gelbliche Zähne wurden gebleckt, und als die Lider hochklappten, gaben sie nicht den Blick auf ein Augenpaar frei, sondern auf gelbliche Eiterblasen.

Aus der dürren Kehle entstieg ein gutturaler Ton, gleichzeitig spürte Aldric, wie große magische Kräfte geweckt wurden.

Etwas, das von einem blassen Leuchten umgeben war, kam aus der Richtung des Zauberkundigen geflogen, der den Edelmann begleitet hatte. Aldric rechnete damit, dass das Leuchten dort einschlug, wo einst das Herz des Ghuls gesessen hatte, doch im

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letzten Moment beschrieb es eine Kurve und bohrte sich in die verwesende Stirn der Gestalt.

Der kadavergleiche Ghul stieß ein heftiges Keuchen aus ... dann zerfiel sein Körper augenblicklich zu Asche, die in den Sar­kophag sank.

Der grauhaarige Mann neben Aldric trat gelassen an den Sar­kophag und zog das heraus, was er auf den Ghul geworfen hatte: einen Dolch, von dem Lord Jitan wusste, dass er nicht aus Metall bestand. Er war weiß – das Weiß von Elfenbein ... oder von Kno­chen. Obwohl die Fackeln dicht an den Sarkophag gehalten wur­den, war noch immer zu sehen, dass der Dolch von innen heraus schwach leuchtete.

»Der Weg zu Euren Wünschen ist nun frei, Mylord«, verkün­dete der Dolchträger.

Aldric Jitan wollte nicht länger warten. Er wagte es, den Spin­nenmond aus den Überresten dessen zu lösen, was einmal die Finger des Vizjerei gewesen waren. Kein grausamer Zauber traf ihn, kein Ghul versuchte, ihm die Seele aus dem Leib zu saugen.

Er gehörte ihm! Endlich! »Der erste Schritt«, ließ sein Begleiter verlauten. »Nun müs­

sen wir den Rest vorbereiten. Das wisst Ihr doch noch, nicht wahr, My-lord?«

»Das weiß ich noch sehr gut, Karybdus«, murmelte Aldric und sprach dabei zum ersten Mal seit Tagen den Namen des anderen aus. So wie zuvor beim Sarkophag strich er mit den Fingern über das Artefakt, als stünde eine Geliebte vor ihm.

Karybdus begann, seinen Reisemantel abzulegen, während er auf die gewohnt ruhige Art sagte: »Dann müssen wir nun damit beginnen. Die Zeit drängt.«

Während sein Mantel zu Boden glitt, wurde deutlicher er­

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kennbar, wie er gekleidet war. Von drei sonderbaren Bändern abgesehen, die quer über seine Brust verliefen, sowie drei weite­ren, die sich bis hinunter zum Bauch erstreckten, trug er aus­schließlich Schwarz. Eine Schulter bedeckte ein Schutz, der sich wohl bei genauerem Hinsehen als Schädel eines mit Hörnern und Fangzähnen bewehrten Geschöpfs entpuppt hätte, dessen Exis­tenz auf der Ebene der Sterblichen niemals möglich gewesen wäre. Der Schädel war, so wie die Bänder, weiß wie Knochen.

Vieles von dem, in das der Zauberkundige mit den grauen Au­gen gekleidet war, erinnerte mit den Kämmen und Schuppen eher an eine reptilartige Panzerung. Doch sobald Karybdus sich bewegte, schmiegte sich seine Kleidung so geschmeidig an seinen Körper, als sei es reine Seide. Auch verursachte er kein Geräusch, sobald er einen Schritt tat. Seine Lederstiefel reichten bis über die Knie und verschmolzen nahtlos mit dem Rest der Rüstung.

An der Taille trug er jenen Dolch, mit dem er gerade mühelos den untoten Vizjerei außer Gefecht gesetzt hatte. Die Waffe glomm immer noch und pulsierte, als sei sie von eigenem Leben erfüllt. Ihre geschlängelte Klinge lief in einer nadelfeinen Spitze aus.Am Heft befand sich ein Symbol, das keinen Zweifel an Ka­rybdus’ Identität ließ. Es zeigte ein Schlangenwesen, über dem eine Waagschale hing. Zwar hätte manch einer das Wesen recht schnell als Drachen erkannt, doch nur wenige hätten zu sagen gewusst, warum die Waagschale in dieser Weise angeordnet war.

Der Drache war als Trag’Oul bekannt, als Dreh- und Angel­punkt des kosmischen Gleichgewichts. Trag’Oul, der fast wie ein Gott war und über Rathmas Anhänger wachte.

Die Nekromanten.

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Zwei

Das Gasthaus Zum Schwarzen Widder war in einem schmucklo­sen, flachen Steingebäude in einem schäbigeren Viertel der Stadt Westmarch gelegen, in dem man häufig genug dubiosen und anstößigen Gestalten über den Weg lief. So paradox es auch klin­gen mochte, bedeutete dies für das Etablissement aber auch, dass man dort oft den Mächtigen und Reichen begegnete, die diese düstere Umgebung aufsuchten, um fragwürdigen Geschäften nachzugehen ... oder denen einfach nur der Sinn nach ein wenig Nervenkitzel stand.

An diesem Abend waren alle Sorten von Gästen vertreten und hatten sich über Separees oder Tische verteilt, wo sie bei einem Teller mit scharf angebratenem Hammelfleisch und einem Krug Ale, das einem in der Kehle brannte, saßen.

Doch ganz gleich, aus welchem Grund sie sich an diesem nebli­gen Abend für den Schwarzen Widder entschieden hatten – aus­nahmslos jeder von ihnen starrte plötzlich aus einem unerklärli­chen Grund zur Tür, die knarrend geöffnet wurde, gerade als die großen Glocken der Stadt die nächste volle Stunde einläuteten.

Der Mann, der eintrat, war blass, und sein schmales Gesicht passte eher zu einem gewissenhaften Buchhalter denn zu einer geheimnisvollen Gestalt, die einen dunklen Mantel und ein eben­solches Gewand darunter trug. Seine grauen Augen waren mit ihrem markanten Schwung das Auffälligste an ihm. Im Schatten einer Kapuze hingen, ihm ein paar glatte schwarze Strähnen in die Stirn. Der Fremde war von schlanker, drahtiger Statur.

Die hohen Lederstiefel des Neuankömmlings verursachten

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kaum ein Geräusch auf den alten Dielenbrettern, während er zu einem offenen Separee stapfte. Auf seinem wallenden Mantel blitzten im flackernden Schein der Messing-Öllampen, die an der Decke verteilt hingen, winzige silberne Symbole auf, die in den Stoff eingenäht waren. Unter dem Mantel trug der Fremde an seinem Gürtel mehrere kleine und eine größere Tasche. In Letz­terer befand sich ein rundliches Objekt.

Der Mann ließ sich genauso geräuschlos und elegant auf der Sitzbank des Separees nieder, wie er das Lokal durchschritten hatte. Die anderen Gäste im Schwarzen Widder beobachteten ihn noch einen Moment lang, doch da er nichts weiter tat, als einfach dazusitzen, widmeten sich die meisten bald wieder ihren Geträn­ken und Speisen. Einige der über den Gast weniger erfreuten Gesellen gaben zwar vor, das Gleiche zu tun, doch sie ließen ihren Blick immer wieder zu der großen Gürteltasche mit dem mysteriösen Inhalt schweifen.

In einer Ecke direkt gegenüber saß eine junge Frau, deren an­mutige Schönheit einen krassen Gegensatz zu ihrer Umgebung bildete und die den Neuankömmling eindringlich beobachtete. Sie teilte ihren Tisch mit zwei Männern, einer davon ein Riese und zweifellos ihr Leibwächter, der andere etwa im gleichen Alter wie die Frau und ihr so sehr ähnelnd, dass er nur verwandt sein konnte. Er warf dem Fremden einen finsteren Blick zu und war sichtlich von dem, was er sah, angewidert.

Die vollbusige, blonde Kellnerin, die sich nach den Wünschen des finster gekleideten Mannes hätte erkundigen sollen, weigerte sich, hinter der hüfthohen Schanktheke hervorzutreten. Der Gastwirt, ein stämmiger Mann mittleren Alters mit schütterem Haar, nagte an seiner Unterlippe. Dann endlich wischte er sich die Hände ab und ging selbst zu dem Tisch.

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Als er sich dem Separee näherte, hielt er sich krampfhaft an seiner Schürze fest, spähte unter den buschigen Augenbrauen hervor und betrachtete den jüngsten Gast mit weitaus mehr Re­spekt, als er üblicherweise jemandem entgegenbrachte, ausge­nommen denjenigen von hoher Geburt. »S-seid gegrüßt, Mei­ster. Hyram ist mein Name. Besitzer des Schwarzen Widders. Es ist eine ungewöhnliche Ehre, Euresgleichen hier begrüßen zu dürfen, ungewöhnlich, aber nicht das erste Mal. Ein oder zwei waren es schon ... über die Jahre hinweg.«

Der Mann am Tisch nickte kurz. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass nicht viele hergekommen sind ... nach Westmarch.« Seine Stimme wirkte sanft und bedächtig.

»W-was kann ich Euch bringen?« »Der Eintopf, den ich rieche, wird mir genügen. Ich würde ja

ein Glas Wasser bestellen ... aber ich vermute, hier ist es gesün­der, Ale zu trinken.«

»Aye«, knurrte Hyram. »Dann wäre das alles ... es sei denn, Ihr habt ein Zimmer für

eine Nacht.« Der Gastwirt schluckte. »Nur für eine Nacht?« »Ja.« Da der Neuankömmling Hyrams Zögern bemerkte, griff

er mit einer behandschuhten Hand nach einem der Säckchen an seiner Taille. Als er es auf den Tisch legte, war das satte Klimpern von Münzen zu hören.

Hyrams Vorbehalte schienen fast vollständig weggewischt. »Aye, für eine Nacht kann ich Euch behilflich sein, Meister ...«

»Zayl. Einfach nur Zayl.« Er wandte seine grauen Augen von Hyram ab.

»Ich bringe Euch sofort Euer Mahl und etwas zu trinken, Meister Zayl«, erklärte der Wirt und ging über die nachgescho­

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bene Bemerkung seines Gegenübers hinweg. Für ihn verdiente jeder Gast, der nur Geld mitbrachte, eine solche Ansprache – sogar dieser.

Als er wieder allein war, ließ Zayl heimlich seinen Blick durch den Raum schweifen. Er war noch nie so weit von zu Hause weg gewesen, und trotz seines souveränen Auftritts fühlte er sich unbehaglich. Er hatte es eigentlich nicht vorgehabt, den Dschun­gel von Kehjistan zu verlassen und sich in die Westlichen König­reiche zu begeben. Doch er war von Mächten getrieben und ge­lenkt worden, die stärker waren als sein freier Wille.

Könnte ich nur so sein wie sie, dachte er, und die Probleme einfach ignorieren, die auf uns zukommen.

Seine Reise hatte ihn ins Königreich Westmarch und in die gleichnamige Hauptstadt geführt. Vorsichtiges Befragen der Bevölkerung – vorsichtig, weil jemand seines Standes stets ris­kierte, die Behörden auf sich aufmerksam zu machen – hatte ihm nichts weiter als vage Gerüchte eingebracht. Diese mochten zwar genügen, um sein Interesse wachzuhalten, doch erklärten sie nicht, weshalb ihn der Drang befallen hatte, sich ausgerechnet in diese Region zu begeben.

Ihm fiel die Frau auf der anderen Seite des Schankraums auf, die immer dann in seine Richtung blickte, wenn sie sich unbeo­bachtet glaubte. Ihren Blicken und dem Getuschel mit einem kleineren Mann – den Zayl für ihren Bruder hielt – nach zu ur­teilen, wussten die beide, was er war. Ein Anhänger von Rathma, dem Ziel verschrieben, das Gleichgewicht zu wahren.

Ein Kundschafter in der Welt der Toten. Viele machten einen Bogen um Nekromanten – manches Mal

durchaus aus gutem Grund –, aber diejenigen, die sich wie Zayl den Lehren Rathmas verschrieben, wollten den Menschen nichts

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Böses. Zayl und seinesgleichen kämpften gegen die Finsternis und gegen das Erzböse, da ein Sieg der Höllenkräfte das Gleich­gewicht für immer zerstört hätte. Die Methoden der Rathmaner wurden von den unwissenden Massen zwar nicht oft für gut befunden, doch was zählte, war das Resultat. Eine verheerende Niederlage im Kampf gegen das Chaos konnte allem ein Ende setzen.

Jeder Nekromant wurde geschult, um die Auseinandersetzung auf seine Weise zu führen und seinen Weg so zu wählen, wie es seine Gaben ihm vorschrieben. Für Zayl war es ein Schock gewe­sen, festzustellen, dass er über die Zwillingsmeere nach Westen reisen sollte – doch er war seiner Pflicht nachgekommen. Das Gleichgewicht war von zu elementarer Bedeutung, als dass er sich dem hätte widersetzen können, was von ihm verlangt wurde, um es zu schützen.

Immerhin war der Weltenstein zerstört worden ... Seine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Hyram

mit dem Mahl an den Tisch kam. Der Eintopf – eine grünlich­braune Masse mit altem Gemüse und zähem Fleisch – entpuppte sich als akzeptabel, und das Ale machte sogar einen recht frischen Eindruck. Zayl, der Schlimmeres erwartet hatte, nickte dankend. Davon abgesehen war er fast hungrig genug, selbst den Tisch zu verspeisen, an dem er saß – auch wenn er sich eine solche Schwä­che niemals zugestanden hätte. Rathmaner lernten früh, wie man über lange Zeiträume hinweg fastete, um den Körper von allem Unreinen zu befreien. Doch Zayl hatte das länger als üblich prak­tiziert. Sogar ein bescheidenes Gericht wie dieses würde dazu beitragen, ihn wieder zu Kräften kommen zu lassen.

Der Nekromant entlohnte den Wirt mit ein paar Münzen, dann zog er den linken Handschuh aus, nahm den eisernen Löf­

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fel, der neben dem Teller lag, und begann zu essen. Seine rechte Hand blieb bedeckt, obwohl es in der Gaststube allmählich wär­mer wurde.

Als er nach dem Krug greifen wollte, drang ein ersticktes Ge­räusch aus der großen Gürteltasche. Mit seiner Rechten schlug er einmal schnell auf die Tasche, worauf wieder Ruhe einkehrte.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er, ob irgendjemand An­stoß genommen hatte. Einzig der Frau schien etwas aufgefallen zu sein, doch sie wirkte darüber nicht beunruhigt, sondern sprach noch angeregter mit dem jungen Mann, der aber nur mit den Schultern zuckte und eine kaum zu missdeutende, herablassende Äußerung über Zayl machte.

Der Nekromant konzentrierte sich wieder auf sein Essen und seine Überlegungen. Wenn er es genau betrachtete, konnte er nicht mit Gewissheit sagen, ob der Weltenstein wirklich vernich­tet worden war, wenngleich einiges dafür sprach. Mount Arreat, wo er der Legende nach verborgen gewesen sein sollte, war explo­diert, der gesamte Gipfel weggesprengt worden. Seine Zerstörung hatte man sogar hier im fernen Westmarch wahrgenommen. Wichtiger war aber, dass die Gerüchte, die unter denjenigen mit Weitsicht kursierten, die schreckliche Befürchtung untermauer­ten.

Es hieß, einer aus dem Kreis der Erzbösen – Baal, Gott der Zerstörung – sei dafür verantwortlich. Wenn das stimmte, drohte der Ebene der Sterblichen noch sehr viel Schlimmeres. Der Wel­tenstein hatte seit undenkbaren Zeiten existiert. Geschaffen wor­den war er nach Rathmas Lehre, um die Welt zu beschützen. Nun versuchten die Kräfte des Lichts und der Finsternis, die Menschheit ganz für sich zu beanspruchen, und in ihrem Kampf gegeneinander drohten diese beiden kosmischen Mächte, das zu

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zerstören, was sie so sehr begehrten. Und auf irgendeine Weise hing das alles mit Zayls Gefühl zu­

sammen, er müsse nach Westmarch aufbrechen. Irgendwo in diesem großen Königreich würden bald die Folgen von Baals abscheulicher Tat spürbar werden.

Sein Problem war jedoch, dass er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte sich dazu veranlasst gefühlt, nach Westmarch zu kommen, doch wie sollte es weitergehen?

Wenn du den Weg nicht finden kannst, dann warte, und der Weg wird dich finden. Rathma selbst sollte das einmal gesagt haben, und aus Erfahrung wusste Zayl, wie klug dieser Ratschlag war. Doch aller Ausbildung zum Trotz wurde er nun allmählich ungeduldig. Wenn das Gleichgewicht – und damit auch alles andere – in Gefahr war, dann sollte der Weg ihn bald finden.

Er roch den Mann, der sich zu ihm vor das Separee gestellt hatte, noch bevor er ihn sah. Die Gestalt sah aus, als hätte sie viele Jahre ihres Lebens auf hoher See zugebracht, und die Nar­ben sowie das Fehlen eines Fingers deuteten daraufhin, dass sie sich einen Großteil dieser Zeit als Pirat verdingt hatte. Der See­mann beugte sich so über den Tisch, dass Zayl nichts anderes mehr sehen konnte, und musterte den Rathmaner von oben bis unten.

»Ein Freund von mir meint, dass Ihr ein Nekromant seid ...« »Da hat er Recht«, erwiderte Zayl und hoffte, das Gespräch

auf diese Weise vorzeitig zu beenden. Doch das war leider nicht der Fall. Der Abendländer beugte

sich im Gegenteil noch weiter vor, sodass sein Atem den Zauber-kundigen ins Gesicht traf und ihm den Atem raubte. »Dann ha­ben diese Zeichen auf Eurem Mantel ...« Er bekam den Stoff an der Schulter zu fassen und zog ihn hoch. Die Symbole darauf

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schienen förmlich durcheinander zu wirbeln. »Dann haben die alle mit dem ... Tod zu tun?«

»Sie umfassen verschiedene Aspekte der Sterblichkeit und des­sen, was nach dem Leben folgt.«

»Der Tod.« »Unter anderem.« Der Nekromant wollte nicht mehr

Aufmerksamkeit auf sich ziehen als unbedingt nötig, doch er konnte sich bereits jetzt kaum mehr vorstellen, dass diese Unterhaltung noch ein gutes Ende nehmen könnte. Was genau dieser Mann vorhatte, war ihm allerdings unklar.

»Nimm deine schmierigen Finger aus meinem Auge!«, ertönte plötzlich eine bestens vertraute Stimme.

Irgendwo hinter Zayl waren ein Keuchen und ein leiser Fluch zu hören, gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Dann rief die Stimme: »Verdammt! Ich kann nicht stoppen! Zayl! Zayl, Jün­gelchen!«

Der Mann, der den Nekromanten angesprochen hatte, wollte plötzlich Zayls Kehle fassen, doch der war schneller. Mit dem Ballen seiner linken Hand schlug er gegen den Kiefer seines Ge­gners und schleuderte ihn ein Stück weit von sich. Gleichzeitig murmelte er etwas.

Der narbige Seemann sah sich panisch im Raum um. Er zeigte auf eine leere Ecke und brabbelte: »Bei den Zwillingsmeeren! Was ist das für eine Bestie?« Sein Blick ging nach links. »Noch eine! Dämonen! Hier sind überall Dämonen!«

Schreiend rannte er an seinem Komplizen vorbei, einem stäm­migen, bärtigen Mann, der in einer Hand einen Dolch hielt. Die andere war noch immer halb zur Faust geballt. Zayl sah nach unten und stellte fest, dass der erste Mann ihn geschickt abge­lenkt hatte, womit es seinem Komplizen möglich geworden war,

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die große Gürteltasche unbemerkt vom Gürtel zu schneiden. Natürlich war das der größte Fehler, den die beiden überhaupt

hatten begehen können. Etwas zu spät bemerkte der zweite Dieb, dass sich Zayl erhob.

Er wollte auf ihn losstürmen, doch der Zauberkundige murmelte erneut ein Wort.

Die Klinge verfehlte Zayl, und der Angreifer taumelte an ihm vorbei. Atemlos fuchtelte er mit den Händen vor seinem Gesicht herum, dann rief er: »Meine Augen! Ich kann nichts mehr se­hen! Meine Augen!«

Es war nur ein vorübergehender Effekt, so wie auch der erste Angreifer unter dem Einfluss eines Zaubers nur für eine Weile glaubte, er sei von Dämonen umzingelt. Zayl wollte den Erblin­deten packen, doch da ...

»Passt auf!«, hörte er eine Frauenstimme. Er wich gerade noch rechtzeitig zurück, um der geschwunge­

nen Klinge eines Schwertes zu entgehen, das auf seinen Bauch gezielt hatte. Der drahtige Bursche, der es in der Hand hielt, holte grinsend ein weiteres Mal aus.

Der Nekromant griff an seine Taille und zückte einen kleinen Dolch. Sein Widersacher musste beim Anblick der kleinen Waffe lauthals lachen, handelte es sich dabei doch um eine wenig impo­sante geschlängelte Klinge, die wie aus Elfenbein geschnitzt schien und es mit dem langen Schwert des Gegners unmöglich aufnehmen konnte.

Doch als der Dieb Zayl zu treffen versuchte, war der Dolch im Weg, traf auf die Klinge und wehrte sie erfolgreich ab. Auch zwei weitere Attacken wurden auf diese Weise verhindert.

Dann rückte Zayl vor und schaffte es, die Klinge zunächst in den Arm, dann in die Brust des Mannes zu stoßen. Der Widersa­

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cher des Nekromanten trat den Rückzug an, stolperte dabei aber über die entwendete Gürteltasche, die hinter ihm auf dem Boden lag.

»Pass doch auf, wo du hintrittst!«, beschwerte sich eine Stim­me, die aus exakt dieser Tasche zu kommen schien.

Der Möchtegerndieb stürzte zu Boden, schleuderte Zayl ver­zweifelt sein Schwert entgegen und suchte dann sein Heil in der Flucht. Er bekam seinen noch immer geblendeten Komplizen am Arm zu fassen, worauf beide Hals über Kopf nach draußen stürmten.

Zayl hatte nicht die Absicht, sie zu verfolgen. Stattdessen steckte er seinen Dolch wieder weg und hob die Gürteltasche auf. Ein Fluch wollte daraus entweichen, doch der Nekromant sorgte für Ruhe.

Die meisten anderen Gäste hatten sich davongemacht, als die Auseinandersetzung begann. Diejenigen, die noch geblieben waren, musterten Zayl zurückhaltend, hier und da war auch Abscheu und eine gehörige Portion Respekt zu erkennen. Zayl fand es bemerkenswert, dass die Frau und ihr Leibwächter den Eindruck vermittelten, als seien sie bereit gewesen, in den Kampf einzugreifen. Sie waren von allen Anwesenden die Einzigen, die ihn nicht wie einen Aussätzigen begafften. Der Rathmaner muss­te an den Warnruf denken, den die Frau ausgestoßen hatte, also sah er in ihre Richtung und deutete eine Verbeugung an. Die Frau betrachtete ihn nach wie vor prüfend.

Er wandte sich dem Separee zu, von wo aus sich ihm Hyram nervös näherte. Der Gesichtsausdruck des Mannes war unmiss­verständlich; Zayl war dergleichen schon viel zu oft begegnet.

»Ich werde aufbrechen«, ließ er den Gastwirt wissen, noch be­vor Hyram ihm dies nahe legen konnte. »Ich brauche das Zim­

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mer nicht mehr.« Der Gastwirt machte aus seiner Erleichterung keinen Hehl.

»Es liegt nicht an mir, Meister, sondern an den anderen. Sie ver­stehen nicht ...«

Er ignorierte Hyrams Versuch einer Erklärung und griff nach seinem schwarzen Handschuh. Er zog ihn an und warf dem Gast­wirt ein paar Münzen zu. »Ich denke, das deckt die entstandenen Unkosten.«

Der stämmige Mann betrachtete, was in seiner Hand gelandet war. »Das ist mehr als genug, Meister! Ich kann nicht guten Gewissens ...«

»Macht euch darüber keine Gedanken.« Zayl war alles andere als wohlhabend, doch es handelte sich um das erste Lokal, das er in dieser Stadt aufgesucht hatte, und er wollte sich vor den Leu­ten hier einen Hauch von Respekt bewahren, auch wenn es sich wohl als vergebliche Liebesmüh erweisen würde.

So lautlos, wie er gekommen war, verließ der Nekromant auch wieder den Schwarzen Widder. Zayl hatte keine Ahnung, wo er die kommende Nacht verbringen sollte, zur Not konnte er jedoch unter freiem Himmel schlafen. Das war er von seiner Heimat her, der Wildnis Kehjistans, gewöhnt, auch wenn es hier kühler sein mochte.

Der Nebel war inzwischen dichter geworden. Zayl konzen­trierte sich und versuchte, mehr zu erkennen als das, was seine Augen ihm offenbarten.

»Verdammte Gauner!«, beklagte sich eine Stimme dicht bei ihm.

»Still, Humbart.« »Du bist ja nicht hilflos über den Boden gerollt! Im Gegensatz

zu mir – und das auch noch, ohne einen einzigen Krug geleert zu

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haben ...« Zayl tätschelte die Tasche. »Nein, ich musste mich lediglich

mit einem Schwert herumschlagen, das mich zweiteilen wollte.« »Und ich habe dir auch wie stets gerne beigestanden, Jüngel­

chen! Was würdest du bloß ohne mich machen?« Der bleiche Mann musste flüchtig lächeln, erwiderte aber

nichts darauf. Plötzlich fühlte er, dass sich ihm jemand näherte. »Still jetzt«, befahl er noch einmal.

»Willst du mir ...« Ein weiterer kurzer Schlag des Nekroman­ten auf die Tasche ließ seinen verborgenen Begleiter verstum­men.

Seine besonderen Sinne verrieten Zayl, dass sich jemand hin­ter ihm befand. Eine Hand auf das Heft seines Dolchs gelegt, ging er jedoch weiter, als habe er nichts bemerkt.

Schwere Schritte verrieten ihm, dass sein Verfolger näher kam und sich offenbar nicht darum scherte, dass er gehört wurde. Als Zayl das Gefühl hatte, der Abstand sei nun genügend ge­schrumpft, wirbelte er herum und hielt die Klinge in der Hand.

Der schattenhafte Umriss eines Riesen erhob sich vor ihm. Ir­gendwie kam er ihm bekannt vor, und als er genauer hinsah, erkannte er in ihm den Leibwächter der Frau aus dem Gasthaus.

Das Haar des Hünen war kurzgeschoren, und sein rundliches Gesicht erinnerte den Rathmaner an die Primaten, die im Dschungel auf den Bäumen lebten. Dazu passte sogar die breite Nase mit den großen

Nasenlöchern. Die dunkelhäutige Figur hatte aber nichts Tumbes an sich, vielmehr stand der Mann in der Haltung eines geübten Kämpfers vor ihm, was den Nekromanten an Haupt­mann Kentril Dumon denken ließ, einen Söldner, dem Zayl ein­mal begegnet war und vor dem er größten Respekt hatte.

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Der Leibwächter trug eine dunkelblaue Livree mit karmesinro­ten Säumen an Ärmeln und Hosenbeinen. Ein Emblem – der Kopf eines blauen Falken in einem roten Kreis – war dort, wo sich das Herz befand, auf die Uniform aufgenäht ... eine dieser unglückseligen Traditionen, die einem Feind die perfekte Stelle markierten, wohin er mit seiner Waffe zu zielen hatte. Die Stiefel mit den breiten Stulpen wirkten auf den Rathmaner ein wenig schrill, doch er wäre niemals so töricht gewesen, das einem sol­chen Koloss ins Gesicht zu sagen.

»Ich bin auf Befehl meiner Herrin hier«, polterte der Leib­wächter los und zeigte seine leeren Hände. Sein Akzent verriet, dass er aus der Nähe von Lut Gholein an den westlichen Gesta­den der Zwillingsmeere stammte. Zayl war auf dem Weg in die hierher durch jene Region gereist.

»Wäre ein Priester von Zakarum da nicht besser geeignet als ich?«

Der Riese grinste, und sogar in Nebel und Dunkelheit konnte Zayl seine weißen Zähne aufblitzen sehen – sehr viele weiße Zähne. »Die Zakarum würden die Absicht meiner Herrin kaum gutheißen.«

Dass sie einen Nekromanten zu sich bat, brachte dies sogar zwangsläufig mit sich, doch Zayl war nicht bereit, allzu schnell auf ihre Bitte einzugehen. »Und was wünscht sie von einem wie mir?«

»Sie muss mit ihrem Gemahl sprechen. Es ist eine Angelegen­heit von höchster Dringlichkeit.«

Wenn die Frau ausgerechnet Zayls Hilfe benötigte, dann lag es daran, dass ihr Mann tot war. Zweifellos ging es um eine Erb­schaft. Manche Menschen setzten Rathmaner mit jenen Scharla­tanen gleich, die auf Jahrmärkten und am Wegesrand die Zu­

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kunft weissagten oder Seancen abhielten. Er wollte sich abwenden, doch der Leibwächter gab so schnell

nicht auf. Er packte Zayl am Arm, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie gefährlich das war.

»Sie kann sich an niemanden sonst wenden. Sie sagte, irgendetwas habe sie in das Gasthaus geführt, und als sie Euch sah, da war sie sich sicher, dass Ihr der Grund dafür wart.«

Der Nekromant zögerte. Letzteres war wahrscheinlich eine Lüge, aber die Behauptung, sie habe sich zu diesem Ort hingezo­gen gefühlt, ließ Zayl an Rathmas Worte denken. Wurde ihm nun der Weg offenbart, den er die ganze Zeit gesucht hatte?

Er setzte sich mit Vor- und Nachteilen auseinander und kam zu dem Schluss, dass die Nachteile überwogen. Doch als er den Mund aufmachte, um abzulehnen, sagte er gegen seinen Willen: »Gut, ich werde mich mit ihr treffen.«

»Danke.« Der Tonfall des Leibwächters ließ eine gewaltige Er­leichterung erkennen, was Zayl bei einem Leibwächter dieses Kalibers überraschte. Die meisten anderen hätten einfach die Antwort akzeptiert, doch dieser Mann musste seiner Herrin ge­genüber äußerst loyal sein.

Der Riese führte den Nekromanten durch die in dichtem Ne­bel liegenden Straßen. Zayl blieb auf der Hut, immerhin konnte es sich entgegen allem Anschein um eine Falle der Diebe oder sogar der Zakarum handeln.

Sollte es eine sein, war sie höchst aufwändig gestaltet. Ein paar Blocks vom Schwarzen Widder entfernt wartete auf Zayl und seinen nach wie vor namenlosen Begleiter eine elegante Kutsche, die von vier starken, weißen Pferden gezogen wurde. Ein mür­risch dreinblickender Kutscher in der gleichen Livree wie der Leibwächter nickte dem Hünen zu. Zayl bemerkte, dass das

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Hauswappen keineswegs verdeckt war, was im Widerspruch zur üblichen Praxis stand, der sich Aristokraten bei solchen Unter­nehmungen bedienten. Die Edelfrau stand entweder offen zu dem, was sie tat, oder aber sie war ausgesprochen naiv.

Der Leibwächter ging voran und hielt die Tür der Kutsche auf. Gleichzeitig beugte sich drinnen jemand ein Stück weit nach vorn.

Einen Moment lang zögerte Zayl. Dann sah er eine Frau, de­ren Haut eine Nuance dunkler war als seine eigene. Ihre Lippen waren von einem satten Rot, das er als natürlich und unge­schminkt erkannte. Ihr Haar fiel ihr bis über die Schultern und endete knapp oberhalb ihres Busens. Für Zayl gab es keinen Zweifel, dass eine Frau mit einem solchen Körper und diesem Gesicht viele Männer anzog. Doch genauso klar war für ihn, dass sie ihre Vorzüge nicht einsetzte, um Vorteile daraus zu schlagen – erst recht nicht bei einem üblen Nekromanten.

Die Edelfrau betrachtete Zayl aufmerksam, dann sah sie zu ih­rem Diener. »Danke, Polth ...«

Der Riese verbeugte sich. »Herrin ...« Sie streckte dem Rathmaner eine schmale Hand entgegen.

»Bitte steigt ein.« »Ich würde zuerst gern Euren Namen erfahren, Mylady. Eu­

ren echten Namen.« Bevor sie antworten konnte, ertönte aus der Kutsche eine

ärgerliche Männerstimme: »Bei den Sternen, Salene! Ich sagte dir doch, das geht zu weit. Sag ihm nichts, und dann lass uns aus dieser stinkenden Gosse verschwinden! Ich kenne gute Lokale, um sich zu betrinken ...«

Zayl erinnerte sich an den Mann aus dem Schwarzen Widder, den er für ihren Bruder gehalten hatte. Was ihre Persönlichkei­

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ten anging, waren sich die beiden offenbar gar nicht ähnlich. Immerhin hatte der Mann bereits den Vornamen seiner Begleite­rin verraten, als er darauf bestand, nichts zu verraten.

»Sei still, Sardak«, erwiderte sie leise und lächelte dabei Zayl an, als sei ihr klar, wie der über ihren unwirschen Begleiter dach­te. »Was er wissen will, ist nur angemessen, wenn er mir helfen soll.«

»Du kannst seiner Art nicht über den Weg trauen! Die Kirche von Zakarum sagt, dass er Gräber entweiht. Er ist ein Ghul, ein ...«

Der Blick, den Salene dem Mann zuwarf, der in der Dunkel­heit nicht zu sehen war, ließ ihn verstummen. Als sie dann wie­der zu Zayl schaute, war ihr anzumerken, wie sehr ihr der Wortwechsel Leid tat. »Mein Bruder ist um mich besorgt, Rathmaner. So wie ich um ihn besorgt bin, Meister ...?«

Sie musste um diesen ungestümen Sardak um einiges mehr besorgt sein, als dieser um sie, doch Zayl sprach seinen Gedanken nicht aus. Stattdessen nickte er und kam näher. »Nur Zayl, My­lady. Einfach nur Zayl.«

»Nichts weiter?« »In meinem Berufsstand verzichten wir meist auf jeden

zusätzlichen Namen, da wir Diener des Gleichgewichts sind, an kein Haus und keinen Clan gebunden.«

»Nun denn, ›nur Zayl‹. Ich bin Lady Salene Nesardo, und wenn das als Vorstellung genügt, wäre es mir recht, wenn wir uns jetzt auf den Weg machen könnten. Was ich mit Euch be­sprechen möchte, sollte nicht hier erfolgen.«

Sie zog sich in die Kutsche zurück. An ihrer Einladung, neben ihr Platz zu nehmen, hatte sie keinen Zweifel gelassen. Zayl runzelte die Stirn. Es gab nur wenige Frauen, die so etwas von

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sich aus angeboten hätten, selbst wenn es darum ging, den Geist eines reichen Gemahls zu beschwören. Er hatte erwartet, neben dem charmanten Sardak Platz nehmen zu müssen.

Aus der Gürteltasche kam ein gedämpftes Schnauben, das Polth aufhorchen ließ. Doch da das Geräusch nicht noch einmal erklang, entspannte er sich wieder. Er hielt nach wie vor die Tür auf und fragte schließlich. »Meister Zayl?«

Der nickte dem Leibwächter kurz zu, dann stieg er lautlos wie ein Schatten ein. Salene schien ein wenig nach Luft zu ringen, als sie seine Eleganz und Gewandtheit bemerkte. Vom gegenüberlie­genden Platz kam nur ein gemurmelter Fluch.

Zayl, dessen Nachtsicht besser war als die der meisten Men­schen, sah den verbissenen Gesichtsausdruck ihres Bruders. Trotz dieser feindseligen Haltung fand Zayl, dass der Mann keine ernsthafte Bedrohung für ihn darstellte. Sardaks einzige bemer­kenswerte Waffe war der Alkohol, und den setzte er gegen sich selbst ein.

Die wenigen Sekunden, in denen die Aufmerksamkeit des Ne­kromanten dem Bruder gegolten hatte, genügten Lady Nesardo, um sich zu sammeln. Sie deutete auf die große Gürteltasche. »Diese Kutsche ist recht eng. Polth kann das in der Gepäckkiste verstauen, wenn es Euch lieber ist. Dann könnt Ihr bequemer sitzen.«

Rasch legte er eine Hand auf die Tasche und entgegnete: »Das bleibt bei mir.«

Seine Handbewegung konnte ihr nicht entgangen sein, doch sie sagte nichts dazu. »Ja, ich habe gesehen, wie die Diebe ihre Lektion bekommen haben.«

Weiter sagte Lady Nesardo nichts zu der Tasche, sie ließ nicht einmal Neugier erkennen, was sich wohl darin befinden mochte –

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obwohl sie im Gasthaus die Stimme gehört haben musste, die daraus ertönt war. Wenn Zayl es für richtig hielt, ihrer Bitte nachzukommen, würde sie die Wahrheit noch früh genug erfah­ren.

Sardak schwieg während der ganzen Fahrt beharrlich und starrte den Nekromanten an, als seien dem inzwischen Reißzäh­ne und Hörner gewachsen. Zayl hatte erwartet, seine Gastgeberin würde ihm ihr Anliegen schildern, doch wenn sie sprach, wollte sie nur banale Dinge von ihm wissen: wie sich die Reise über die Zwillingsmeere gestaltet hatte, wie es in Lut Gholein so war – Salene fragte ihn nicht, warum er überhaupt so weit gereist war. Die Edelfrau gab sich alle Mühe, ihn mit dem Respekt zu behan­deln, der an sich nur jemandem ihres Standes vorbehalten war. Als jemand, auf den normalerweise herabgeblickt wurde und dem man mit Ablehnung, Misstrauen oder auch Angst begegnete – alles Verhaltensmuster, die ihr Bruder in diesem Moment erfüll­te –, empfand Zayl ihr Benehmen erfrischend angenehm.

Dann wurde er völlig unerwartet von einer schwarzen Woge überspült, die seine Sinne drangsalierte.

Das Innere der Kutsche verschwand vor seinen Augen, wäh­rend der Nekromant in einem endlosen schwarzen Wirbel gefan­gen war. Knochige Finger zerrten an seinem Fleisch, er hörte das Heulen verlorener Seelen. Die Finger ließen nicht locker und weckten die Erinnerung an eine andere schreckliche Zeit, die den Rathmaner dazu veranlasste, die rechte Hand mit aller Kraft zu verkrampfen.

Plötzlich war Zayl in einer klebrigen Flüssigkeit gefangen, die er nicht sehen konnte. Sie war einfach überall, und die kleinste Bewegung genügte, um ihn noch weiter damit zu umschließen. Das Heulen wurde eindringlicher, er hörte Schlachtenlärm und

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Todesschreie. Magische Kräfte entfalteten ihre Wirkung. Und dann ... dann näherte sich noch etwas anderes. Es griff

von jenseits des Todes nach ihm, und obwohl dieser Ort so weit von ihm entfernt war, konnte Zayl dennoch das unbeschreiblich Böse fühlen, das von ihm ausging ...

Im gleichen Augenblick drängte sich eine andere Präsenz in seinen gemarterten Verstand. Wer oder was es war, konnte Zayl nicht sagen. Er begriff nur, dass es versuchte, ihn von dem weg­zuzerren, was ihn attackiert hatte. Er umklammerte die Ret­tungsleine, die ihm zugeworfen worden war, und schließlich gelang es ihm, seinen Geist zu sammeln.

Der Nekromant löste sich aus der klebrigen Falle, in der er festgehalten worden war. Die Hände, die nach ihm griffen und die klagenden Stimmen schwanden allmählich, und mit ihnen legte sich auch der Schmerz. Die düstere Präsenz, deren Plan vereitelt worden war, zog sich an den fürchterlichen Ort zurück, von wo sie gekommen war.

Die Welt der Sterblichen nahm vor ihm wieder Konturen an. Das Erste, was er sah, war Lady Salene Nesardos in Schatten

getauchtes Gesicht. Ihre Miene strahlte große Besorgnis aus. Ihre kühle Hand hatte sie an seine Schläfe gelegt.

Ihm wurde klar, dass sie die Rettungsleine nach ihm ausge­worfen hatte. Die Edelfrau verfügte über eigene magische Fähig­keiten.

»Sein Blick wird wieder klar«, murmelte sie und streckte die andere Hand ihrem Bruder hin. »Gib mir deine Flasche.«

»Salene ...« »Die Flasche!« Im nächsten Moment hielt sie ein silbernes Trinkgefäß an

Zayls Lippen. Die Lebensweise eines Rathmaners verbot keinen

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Alkohol, doch die Flüssigkeit, die durch seine Kehle lief, brannte wie Feuer.

Der Nekromant musste heftig husten, dabei hörte er Sardak kichern.

»Mit den Toten wird er fertig, aber nicht mit einem Schlück­chen Alkohol ...«

Salene warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wenn man be­denkt, was du alles in dich hineinschüttest, kannst du dankbar dafür sein, dass es nicht schon dein Geist ist, den er für mich anrufen soll!«

»Mein Geist jedenfalls wäre davon begeistert!« Zayl ignorierte das Geplänkel der beiden, das eindeutig ein

Dauerzustand war und nichts mit der brutalen Attacke auf ihn zu tun hatte. Er setzte sich wieder auf und sorgte dafür, dass ihm nicht anzusehen war, was ihm durch den Kopf ging. Nach außen hin wirkte er wieder ruhig und gefasst, doch in seinem Innern spürte der Nekromant noch die Folgen des Angriffs, der völlig überraschend erfolgt war, als seine Aufmerksamkeit etwas nach­ließ.

Doch wo lag der Ursprung dieser Attacke? Bei seiner Ankunft in Westmarch hatte er nichts dergleichen gespürt, nicht einmal im Schwarzen Widder. Wie konnte eine so starke Macht auf so eng begrenztem Raum auftreten?

»Fühlt Ihr Euch besser?«, fragte Salene. »Mir geht es gut.« »Was war mit Euch passiert?« Anstatt ihr zu antworten, sah Zayl sie lange an und meinte

dann: »Es geht um mehr als darum, mit dem Geist eines gelieb­ten Menschen zu reden, nicht wahr?«

Die Kutsche blieb jäh stehen, und Lady Nesardo sah rasch aus

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dem Fenster. »Wir sind da«, erklärte die Edelfrau, ohne auf Zayls Frage ein­

zugehen. »O trautes Heim«, fügte Sardak spöttisch an. Polth öffnete seiner Herrin die Tür, dann hielt er ihr einen

Arm hin, damit sie sich festhalten konnte. Sardak, der sich für seinen berauschten Zustand erstaunlich elegant bewegte, folgte ihr, ohne den Nekromanten auch nur eines Blickes zu würdigen.

Draußen sagte Salene zu Polth: »Hilf unserem Freund, Polth. Für ihn war die Fahrt nicht so angenehm.«

Der Leibwächter hielt ihm ohne zu zögern die Hand hin. »Meister Zayl?«

»Danke, aber ich habe mich wieder erholt.« Er achtete darauf, dass ihm nicht die Gürteltasche abhanden kam und stieg aus der Kutsche. Während er seine Kräfte gesammelt hatte, waren sie nicht nur bis an das Tor gefahren, das zu ihrem Ziel führte, son­dern hatten dieses Tor bereits hinter sich gelassen. Ein weitläufi­ger, gepflegter Rasen wurde von einer hohen Mauer aus Ziegel­steinen umgeben, auf die man Metalldornen gepflanzt hatte. Zayl sah, dass die Kutsche einen gewundenen und gepflasterten Weg hinaufgefahren war, der vom Tor bis zur Pforte des Hauses führ­te.

»Willkommen in unserem bescheidenen Heim«, grinste Sale­nes Bruder und zeigte auf das Bauwerk.

Zayl sah nach oben ... und noch weiter hinauf ... Selbst inmit­ten so vieler hoher Gebäude mit vorspringenden Türmen und Wasserspeiern auf den Festungsmauern stellte das Haus Nesardo eine Ausnahme dar. Es reichte höher in den Himmel als alle Nachbarbauten, und dort, wo die Türme in gekachelten, verwit­terten Spitzen ausliefen, geschah das in einem fahlen Glanz, der

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dem Mondschein bei Nacht glich. Zayl hielt sie zuerst für später ergänzte Anbauten. Doch ein flüchtiger Blick auf das Gebäude insgesamt machte diesen Gedanken hinfällig. Es gab keine Brü­che zwischen den verschiedenen Abschnitten. Dieses Haus war von Anfang an so geplant gewesen.

Zayls Blick wanderte weiter vom Dach zu den glatten Mauern des Turms, die in einen typischeren, rechtwinkligen Baustil übergingen. Der Turm war fast doppelt so breit wie der nächst­größere Wohnsitz. Das Dach des mittleren Abschnitts stieg so steil an, dass es Salenes Residenz etwas vom Eindruck einer Ka­thedrale verlieh, was im völligen Gegensatz zur Turmspitze stand.

Auf jeder Etage zählte er acht Fenster, jedes in der Form eines Achtecks. Acht geriffelte Säulen säumten den Eingang, der aus einer massiven Doppeltür bestand. Um diese Tür zu erreichen, musste ein Besucher erst acht weitläufige Marmorstufen zurück­legen, von denen jede Einzelne Platz genug für ein paar Dutzend Personen bot.

Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Zayl mit Interesse auf die Besessenheit reagiert, jeden Aspekt auf der gleichen Zahl basie­ren zu lassen, wusste er doch, dass Rathmas Lehren auch den Einfluss von Zahlen auf das Gleichgewicht berücksichtigten. Bestimmte Zahlen konnten mühelos das Zünglein an der Waage nach der einen oder anderen Richtung ausschlagen lassen, wenn sie von jemandem manipuliert wurden, der sich darauf verstand.

Doch im Moment kümmerte sich Zayl nicht um solche Dinge, da ihm etwas anderes viel größere Sorgen bereitete.

Für ihn war sofort klar, dass das Gebäude vor ihm nicht nur das Zuhause der Familie Nesardo war, sondern auch die Quelle dessen, was ihn in der Kutsche fast das Leben gekostet hätte.

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Drei

Während er Salene Nesardo und ihrem Bruder ins Haus folgte, ließ er sich nichts von seiner Entdeckung anmerken. Einmal mehr musste er an die Worte Rathmas denken. Wie wahr sie doch anmuteten .... aber was bedeutete das alles? Wie hing es mit der Vernichtung des Weltensteins zusammen?

Die Gänge im Haus Nesardo reichten weit hinauf, und sie wa­ren erfüllt von zahllosen Schatten, verursacht von den Öllampen, die zu beiden Seiten an den Wänden hingen. Allein die Anzahl dieser Lampen zeigte, dass es weit mehr Diener geben musste als die wenigen, die er bislang gesehen hatte. Dennoch zeigte sich keiner von ihnen, und außer der Gruppe, in der er sich bewegte, schien auch niemand sonst Geräusche zu verursachen. Wenn er sich konzentrierte, konnte er aber die Präsenz mehrerer Personen in der Umgebung wahrnehmen, die sich alle so behutsam beweg­ten, dass der Nekromant vermuten musste, der Grund für ihr Verhalten zu sein.

Während sie weiter durch die langen, verlassenen Korridore gingen, wurde Zayl bewusst, dass alles hier viel größer als not­wendig errichtet worden war. Wieder kam es ihm so vor, als würde er sich eher durch einen Tempel als ein Wohngebäude bewegen. Der Nekromant musste nicht einmal auf seine besonderen Sinne zurückgreifen, er verstand auch so, dass Salenes Residenz wesentlich älter als erwartet war. Nach allem zu urteilen, was er bislang von Westmarch gesehen hatte, musste fast jedes andere Gebäude in der Hauptstadt jüngeren Datums sein.»Das Haus Nesardo ist eines der ältesten in ganz Westmarch«,

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informierte ihn seine Gastgeberin ohne Vorrede. Hatte sie seine Gedanken gelesen? Seinen kurzen argwöhnischen Blick überging sie einfach und fuhr fort: »Das ursprüngliche Bauwerk soll ein Teil der Festung gewesen sein, die vom großen Lord Rakkis er­richtet worden war.«

Diesen Namen kannte Zayl, doch was er aus Erzählungen über den Mann wusste, passte nicht zu dem, was er hier spürte. Ganz gleich, was die gegenwärtigen Bewohner glaubten, es gab hier etwas noch viel Älteres, mindestens so alt wie jede Ruine im Dschungel von Kehjistan.

»Hier haben wir es am bequemsten«, fügte Salene Sekunden später an und deutete auf einen Salon, der so groß war, dass dort mehr Rathmaner hätten Platz finden können, als Zayl in seinem ganzen Leben begegnet waren.

Ein großer Kamin, den man so behauen hatte, dass er an das Maul eines riesigen Wolfs erinnerte, begrüßte sie mit einer Wand aus wärmenden Flammen. Das Feuer schien eben erst entzündet worden zu sein, doch auch hier war nirgends ein Die­ner zu sehen.

»Die haben Euch kommen gehört«, merkte Sardak vergnügt an und verriet damit, dass er ebenfalls in der Lage zu sein schien, dann und wann Zayls Gedanken zu lesen. »Sie haben sich schon darauf gefreut, Euch nicht kennen zu lernen.«

»Ich bitte für meinen Bruder um Verzeihung«, fiel ihm Lady Ne-sardo ins Wort und lächelte den Nekromanten warmherzig an. »Er ist nur um mein Wohl besorgt.«

»Warum auch nicht? Dieser Bastard glaubt, dass er sich durch Täuschung das aneignen kann, was dir gehört. Und er besitzt genug Einfluss, um den Magistrat zu einem Erlass zu bewegen, der solche Lügen für rechtmäßig erklärt!«

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Sie wurde ernst. »Ja, das ist durchaus möglich.« Zayl entschied, es sei an der Zeit, die Zügel in die Hand zu

nehmen. Ihn plagten schon jetzt eine Unzahl von Fragen, die das Haus betrafen, und er wusste, er würde nie eine Antwort erhal­ten, wenn er immer nur reagierte, anstatt zu agieren. Immerhin predigte Rathma einerseits, dass es Zeiten gab, während denen man warten musste, dass aber Zögern auch der erste Schritt in die Niederlage war.

»Ihr wünscht meinen Beistand«, begann der Nekromant und lenkte die Blicke des Geschwisterpaars auf sich. »Durch das, was ich bin und was ich gehört habe, kann ich zu einigen sehr präzi­sen Annahmen gelangen. Aber bevor ich Euch meinen Einsatz verspreche, muss ich die ganze Wahrheit erfahren ... und ich werde wissen, wenn es nicht die ganze Wahrheit ist.«

Letzteres war nicht ganz zutreffend, doch der Ruf, der seiner Art vorauseilte, ließ viele glauben, Nekromanten würden über solche Fähigkeiten verfügen. Oft half es ihnen.

»Ja ... wir schieben es unnötig lange hinaus.« Die Edelfrau deutete auf drei bequem aussehende Ledersessel nahe dem Ka­min. Sardak ließ sich prompt in den fallen, der am nächsten stand, und griff nach einer Rauchglaskaraffe, die auf einem Gold­tablett auf einem kleinen, quadratischen Eichentisch stand. Obwohl drei passende Kelche auf dem Tablett standen, wollte der Bruder die Karaffe an die Lippen setzen.

»Sardak! Benimm dich gefälligst!« Mit einem missbilligenden Laut stellte er die Karaffe zurück.

»Entschuldige, Schwester.« Salene nickte zufrieden, dann ging sie zu ihrem Sessel, den

Polth wie ein stummer Schatten heranschob. »Danke, Polth«, sagte sie. »Du kannst jetzt gehen.«

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»Herrin?« »Ich habe vollstes Vertrauen in Meister Zayls Integrität,

Polth. Du kannst gehen.« Der Leibwächter verbeugte sich in ihre Richtung, dann zu Sar­

dak und schließlich sogar zu dem Nekromanten. Als Zayl den Blick hob, entdeckte er in den Augen des Dieners eine Warnung, für den Fall, dass seiner Arbeitgeberin etwas geschehen sollte.

Nachdem Polth die Tür hinter sich zugezogen hatte, deutete Salene auf den dritten Sessel. »Nehmt bitte Platz, Meister Zayl.«

»Danke, aber ich stehe lieber ... und sagt bitte nur Zayl.« »Möchtet Ihr wenigstens etwas trinken?« Er schüttelte den Kopf. »Mein Interesse ist einzig, Eure Ge­

schichte zu erfahren, Lady Nesardo.« »Ich werde sie Euch erzählen. Aber wenn Ihr weiterhin darauf

besteht, ›nur Zayl‹ genannt zu werden, werdet Ihr mich von nun an mit ›Salene‹ anreden, nicht mit Lady Nesardo.«

»Und mich«, verkündete Sardak mit überzogener Geste und spöttischem Grinsen, »werdet Ihr gar nicht ansprechen, Nekro­mant.«

Zayl ignorierte ihn und sah seiner Gastgeberin in die Augen, deren intensives Grün ihn an die üppige Pflanzenwelt des Dschungels erinnerte. Sie strahlten Kraft aus, und sie waren leicht schräg gestellt, als könnte sie einen Teil ihrer Vergangenheit bis zu Vorfahren zurückverfolgen, die von seinen eigenen nicht allzu weit entfernt waren. »Wo wart Ihr stehen geblieben, Mylady?«

Ihr Bruder kicherte, woraufhin sie die Lippen schürzte, Sardak aber diesmal nicht zurechtwies. »Dies ist das Haus Nesardo. Ein altes Haus, wie ich bereits sagte. Leider ist es ein aussterbendes Haus, Zayl. Vor Euch seht Ihr die letzten Überlebenden der Blutlinie.«

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Sardak hob seinen Kelch. »Auf ein längst fälliges Ende einer schlimmen Sache!«

Zayl runzelte die Stirn, da ihm plötzlich etwas in den Sinn kam. »Ihr seid Lady Nesardo, aber Euer Gemahl war ...«

»Sein Name war Riordan. Mein dritter Cousin, weitläufig verwandt, der aber den gleichen Nachnamen trug. Eine notwen­dige Verbindung, die von unseren Eltern arrangiert wurde. Wir waren uns nie begegnet, aber auf diese Weise wurde das verblie­bene Vermögen der Nesardos zusammengeführt, um es gegen­seitig zu stärken.« Salene schüttelte den Kopf. »Von unserer persönlichen Verbindung konnte man das leider nicht sagen. Wir respektierten einander, es war sogar Zuneigung im Spiel. Es hätte gereicht, wenn ein Kind die Folge davon gewesen wäre.«

Sie war kaum alt genug gewesen, als sie heirateten. Riordan war körperlich ein Bulle von einem Mann, von der Seele her aber sanftmütig. Er suchte in jedem Menschen nach dem Guten, und manchmal suchte er zu lange. Nicht selten wurde er deshalb übers Ohr gehauen, wenn auch nie auf drastische Weise.

»Wir waren dreieinviertel Jahre verheiratet, als er von einer Krankheit befallen wurde. Niemand konnte etwas unternehmen, um ihr Voranschreiten aufzuhalten. Man hätte ihn ebenso gut mit einem Schwert erschlagen können. Zwei Tage später war er tot.« Mit seinem Tod fiel das Vermögen der Nesardos an die junge Witwe, die sich im Umgang mit ihm als viel geschickter erwies als ihr gutmütiger Gemahl. In den drei Jahren, die dann folgten, baute sie wieder auf, was verloren gegangen war, bis sie endlich das Gefühl hatte, durchatmen zu können.

Und dann betrat Lord Aldric Jitan die Bühne. »Mein Mann kannte ihn, er hatte mit ihm Geschäfte gemacht,

aber nach Riordans Tod hörte ich nichts mehr von Lord Jitan ...

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bis er vor einem Monat plötzlich hier vor der Tür stand. In sei­nen Händen hielt er etwas, das angeblich bewies, dass alles, was zum Nesardo-Vermögen gehört, nun seines ist.«

Das Dokument schien echt zu sein, eine Überschreibung des Anwesens gegen ein Darlehen, das Riordan bei Lord Jitan für eine Unternehmung aufgenommen hatte, die dem Edelmann zufolge für Nesardo nicht erfolgreich verlaufen war. Salene hatte Unterschrift und Siegel ihres Gemahls erkannt, doch das Ausmaß dessen, was er dem anderen versprochen haben sollte, machte sie fassungslos. Sie konnte nicht glauben, dass Riordan so naiv ge­wesen sein sollte.

Auf ihre Frage hin, warum er drei Jahre lang gewartet hatte, ehe er ihr diese schlechte Nachricht überbrachte, erklärte Lord Jitan, er habe der Witwe Zeit geben wollen, damit sie um ihren Mann trauern konnte. Doch Salene hatte gespürt, dass mehr dahintersteckte. Bedauerlicherweise war es ihr nicht möglich, ihn so gut zu beurteilen, so in ihm zu lesen, wie sie es bei anderen Menschen konnte.

An diesem Punkt der Geschichte nahm Lady Nesardo den Kelch an, den der Bruder ihr reichte. Ihre Miene war angespann­ter als zu Beginn ihrer Schilderung, aber Zayl stellte darin keine Arglist fest.

»Seit wann wisst Ihr von Eurer Gabe?«, fragte er, als Salene den Kelch vom Mund nahm.

Diesmal versuchte sie nicht, dem Thema auszuweichen. Ihr Blick begegnete seinem, dann antwortete sie: »Sie zeigte sich erstmals, als ich erwachsen wurde. Ich habe sie seitdem die mei­ste Zeit unterdrückt. Für eine Frau von meinem Stand gilt das nicht als eine schickliche Eigenschaft.«

»Das heißt, sie ist nicht ausgebildet.«

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Sie nickte. »Ja, auch wenn ich einige Aspekte besser begreife als andere.«

Der Nekromant dachte daran, wie sie ihm zu Hilfe gekommen war. »In der Kutsche ... da habt Ihr gespürt, was mit mir geschah. Ihr wusstet, ich werde angegriffen ... von etwas, das mit diesem Haus zu tun hat.«

»Ja. Ich habe noch nie erlebt, dass es auf irgendjemanden so reagiert hat, sonst wäre ich gar nicht erst das Risiko eingegangen, Euch herzubringen. Ich hätte fast von Euch gefordert, dass Ihr wieder geht ... um Euretwillen.«

»Was ich da längst strikt abgelehnt hätte. Ich lasse solche Rät­sel nicht gern ungelöst.« Er dachte über etwas nach. »Ihr habt hier gelebt, bevor Euer Gemahl herkam. Riordan Nesardo war hier der Neue, nicht Ihr.«

»Ich wurde hier geboren.« Zayl sah zu Sardak. »Und Ihr?« »Ich bin ebenfalls hier geboren ... aber ich habe nicht lange

hier gelebt. Ihr müsst wissen, meine Mutter war ein Dienstmäd­chen.«

»Sardak ist eigentlich mein Halbbruder, Meister Zayl.« Sie warf Sardak einen liebevollen Blick zu. »Er kam zwei Jahre nach mir zur Welt. Unser Vater schickte ihn und seine Mutter auf ein Anwesen auf dem Land, wo er auch aufwuchs. Nach dem Tod meiner Mutter holte Vater Sardak hierher zurück ...«

»Besitzt Ihr auch die Gabe, Meister Sardak?« »Ich bin sehr gut beim Kartenspiel, wenn das zählt«, gab der

Bruder amüsiert zurück und nahm einen großen Schluck aus seinem Kelch.

»Er verfügt nur im Ansatz darüber, mehr nicht. Bei mir ist sie sehr viel ausgeprägter.« Sie sah in die grauen Augen des

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Rathmaners. »Auch wenn ich sie nie zum persönlichen Vorteil eingesetzt habe ...«

»Umso bedauerlicher«, warf Sardak ein. Sie ging darüber hinweg und fuhr fort: »... war ich immer in

der Lage gewesen, die Absichten derjenigen zu ergründen, die um meine Gunst buhlten ... bis zur Begegnung mit Lord Jitan.«

»Und bei ihm?« »Völlige Leere. Rein gar nichts.« Was für Zayl ein ausreichender Hinweis darauf war, dass auch

dieser andere Edelmann die Gabe besaß. »Der Magistrat wird sich hinter seine Behauptungen stellen, sagtet Ihr?«

Salene stellte den Kelch weg. »Er ist ein Mann, ich bin eine Frau. Dies hier ist Westmarch.«

»Was versprecht Ihr Euch von einem Gespräch mit Eurem Gemahl? Der Magistrat wird seine Aussage sicher nicht anerken­nen.«

Sardak lachte leise. »Der Rathmaner hat Sinn für Humor, auch wenn ihm das selbst gar nicht bewusst ist.«

»Ich habe keine anderen Ansprüche. Meine Hoffnung ist, dass Riordan mir etwas sagt, was ich verwenden kann. Das ist alles.«

Der Nekromant legte wieder die Stirn in Falten. »Ihr hattet im Schwarzen Widder auf mich gewartet. Speziell auf mich?«

»Nicht speziell auf Euch«, murmelte sie und sah zu Boden. »Ich wartete auf irgendetwas. Ich wusste nicht, was es war, doch ich war mir sicher, es dort zu finden. Fünf beängstigende Abende lang harrte ich dort aus.«

Wenn du den Weg nicht finden kannst, dann warte, und der Weg wird dich finden. Rathmas Worte schienen nicht nur für seine Anhänger zu gelten, sondern auch für andere.

Ja, hinter der Sache steckte eindeutig mehr als nur der Kampf

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um wertvollen Besitz, doch was es war, das wusste Zayl noch immer nicht. Ihm blieb nur eine Vorgehensweise, die vielleicht eine zufriedenstellende Erklärung liefern würde.

»Ihr müsst nichts weiter sagen. Ich werde tun, was ich kann, um den Schatten Eures Gemahls zu beschwören. Allerdings kann ich Euch nicht versprechen, dass das Resultat so ausfällt, wie Ihr es Euch erhofft.«

»Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet.« Sie war eine pragmatische Person, was der Nekromant sehr

schätzte. Er dachte über alle Faktoren nach, die ins Spiel kamen, dann fügte er an: »Mit dem Mondaufgang morgen Abend kön­nen wir beginnen.«

»Morgen?« Sardak schien darüber nicht begeistert zu sein, was Zayl aber nicht überraschte. »Warum können wir das nicht heute Abend hinter uns bringen?«

»Weil es morgen Abend sein muss«, erwiderte der Rathmaner nur und starrte dem Edelmann in die Augen, woraufhin der sich in seinem Sessel nach hinten sinken ließ.

Salene Nesardo stand auf. »Dann seid Ihr bis dahin unser Gast, Meister Zayl.« Als er etwas einwenden wollte, fuhr sie lächelnd fort: »Ich bestehe darauf. Und ich werde Euch so lange nicht mit ›nur Zayl‹ anreden, wie Ihr mich nicht ›Salene‹ nennt.«

»Wie Ihr wünscht ... Mylady.« Ihr Lächeln wich einer ernsten Miene, da sie diese Antwort

von ihm offenbar nicht erwartet hatte. »Ich zeige Euch Euer Quartier für die Nacht. Sardak, schlaf bitte nicht vor dem bren­nenden Kamin ein.«

»Keine Angst, liebe Schwester. Gebranntes Kind scheut das Feuer.«

»Wenn Ihr mir folgen würdet, Meister Zayl?« Würdevoll

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durchquerte sie den Raum und öffnete die Tür. Der Nekromant folgte ihr schweigend, während er seine Umgebung wachsam beobachtete.

Im Korridor nahm Salene eine der Öllampen von der Wand. Erst da fiel Zayl auf, dass jede Einzelne von ihnen aus der Halterung genommen werden konnte. Zudem erlaubte ein run­der Griff, der an der Rückseite verborgen war, dass die Edelfrau die Lampe mühelos tragen konnte.

»Danke, dass Ihr das für mich tut«, flüsterte sie. Im Schein der Lampe funkelten ihre Augen.

»Ich kann Euch nichts versprechen«, gab Zayl zurück, der sich mit einem Mal ein wenig unbehaglich fühlte.

»Das ist schon sehr viel mehr als das, was ich bis gerade eben noch hatte«, erwiderte sie, wandte sich ab und ging vor ihm her. »Schon viel, viel mehr ...«

Luxus war nichts, wonach ein Rathmaner strebte, daher empfand Zayl sein Quartier auch nicht als komfortabel. Das Daunenbett, die hohen Deckenbalken, der edle, bestickte Teppich, der die lan­ge Reise von Lut Gholein bis hierher hatte zurücklegen müssen ... all diese Dinge bewirkten bei ihm, dass er sich nach der Wild­nis seiner Heimat sehnte.

Aber sie weckten auch düstere Erinnerungen. Als ihm das letzte Mal ein solcher Luxus geboten wurde, hatte

er sich im fernen Osten in einem Königreich namens Ureh auf­gehalten. Er, Kentril Dumon, der Vizjerei-Hexenmeister Quov Tsin und die Gefährten des Hauptmanns waren allesamt Gäste von Juris Khan, dem Herrscher über dieses Reich gewesen. Das Beste, was das Königreich zu bieten hatte, war den Fremden offe­riert worden.

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Dabei gab es allerdings ein Problem: Ureh entpuppte sich als ein Königreich der Verdammten, ein Ort, der ins Reich der Hölle verbannt worden war, dessen Bewohner aber als seelentrinkende Ungeheuer auf die Ebene der Sterblichen zurückgekehrt waren. Von ihnen allen hatten schließlich nur er und Hauptmann Du­mon überlebt.

Zayl ballte die rechte Hand zur Faust. Sie hatten mit Mühe und Not überlebt.

»Der Stille nach zu urteilen dürften wir jetzt allein sein!«, ertönte eine Stimme aus seiner Gürteltasche. »Und wenn nicht, soll es mir verdammt noch mal auch egal sein, Jüngelchen. Ich will hier raus!«

»Nur Geduld, Humbart.« Der Nekromant löste die Schnur von seinem Gürtel und legte die Tasche auf den Tisch neben dem Bett, dann öffnete er sie und holte den Inhalt heraus.

Die leeren Augenhöhlen des Schädels schienen ihn tadelnd an­zustarren.

»Wird auch Zeit!«, sagte die raue Stimme, die irgendwie aus dem Inneren des fleischlosen Schädels kam. Unterkiefer sowie einige Zähne des Oberkiefers fehlten, hier und da waren Risse im Knochen zu sehen – alles Folgen des Schicksals, das den eigentli­chen Träger dieses Schädels ereilt hatte. »Na, ist das nicht ein schöner Ort?«

Humbart Wessel war einst wie Hauptmann Dumon und des­sen Leute ein Schatzjäger gewesen. Er gehörte zu einer Gruppe, die schon früher versucht hatte, das verschollene Ureh zu finden. Humbart war bei einem Sturz zu Tode gekommen, als er einige Jahre später versucht hatte, die Stadt auf eigene Faust zu finden. Als junger Mann hatte Zayl voller Eifer alles gelesen, was es über Ureh zu erfahren gab, und als er auf den Schädel gestoßen war,

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hatte er ihn wiederbelebt, um Antworten zu erhalten. Seitdem hatte er aus unerklärlichen Gründen nie die Zeit gefunden, um den Geist des Söldners in die Unterwelt zurückzuschicken. Aller­dings schien Humbart es damit auch nicht besonders eilig zu haben.

Sie waren viel gemeinsam gereist, und auch wenn der Schädel eine bodenständige Einstellung hatte und aus seiner Meinung keinen Hehl machte, war es Humbart doch mehr als einmal zu verdanken gewesen, dass Zayl nicht sein Leben hatte lassen müs­sen. Das galt insbesondere für die Zeit in Ureh.

Der Rathmaner platzierte den Schädel so auf dem Tisch, dass er den Raum gut überblicken konnte. Obwohl er keine Augen hatte, konnte Humbart sehen. Er konnte auch hören, riechen und natürlich sprechen. Manchmal beklagte sich der Geist, er hätte all das dafür hergegeben, um stattdessen essen und sich den Ver­gnügungen der Sterblichen hingeben zu können. Doch meistens schien es, dass er mit seinem Los so zufrieden war, wie es sich für ihn gestaltete.

»So ein wunderschöner Ort«, betonte der Schädel. »Ich mag die Vorhänge. Nun sag schon, ist die Dame des Hauses auch so elegant wie dieses Zimmer? Und ist sie so hübsch, wie sich ihre Stimme anhört?«

»Das ist für uns wohl kaum von Bedeutung.« Irgendwie gelang dem Schädel ein verächtliches Schnauben.

»So kann nur ein Rathmaner reden! Wie hast du eigentlich so viele Jahrhunderte überleben können, wenn dir jedwedes roman­tische Gespür abgeht?«

Wie so oft in der Vergangenheit beachtete Zayl auch diese spitze Bemerkung nicht. Stattdessen ging er zu dem ausladenden Teppich und setzte sich im Schneidersitz darauf, schob die Kapu­

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ze nach hinten und starrte die Wand an. »Zayl, Jüngelchen. Da steht ein bequemes Bett! Jetzt benutz es

schon! Wie oft bekommen wir schon eine solche Gelegenheit, die ...«

»Hör auf, Humbart. Du weißt, das ist nicht meine Art.« Der Schädel murmelte etwas, dann wurde er still. Rathmaner

schliefen grundsätzlich nicht viel. Sie versetzten sich in eine Art Trance, die es ihnen erlaubte, dem Körper Ruhe zu geben, damit er sich erholen konnte, während ihre Sinne weiterarbeiteten und ihre Fähigkeiten erforschten und ausbauten. Es war notwendig, da Nekromanten sich stets verbessern mussten, um das Gleich­gewicht schützen zu können.

Zayl starrte auf einen Punkt an der Wand, den er längst nicht mehr wahrnahm. Fast im gleichen Moment trat der Raum in den Hintergrund und wurde durch einen grauen Dunst ersetzt.

Seine Absicht war es, mehr über das Haus Nesardo herauszu­finden, insbesondere mit Blick auf die früheste Geschichte. Die böse Macht, die ihn in der Kutsche beinahe niedergerungen hät­te, war zum Teil untrennbar mit diesem Haus verbunden ... doch aus welchem Grund?

Nach und nach senkte Zayl die schützenden Schilde, die er um sich herum errichtet hatte. Jeder Schritt wurde mit großer Vor­sicht vollzogen, da Übereifer nur in eine Katastrophe geführt hätte.

Doch anstelle der bösartigen Kraft, gegen die er zuvor ange­kämpft hatte, stieß der Nekromant auf etwas anderes – eine schwache, aber eindeutig vorhandene Präsenz. Sie durchdrang Wände, Decken und Gebälk des Hauses Nesardo. Er drang immer tiefer vor und stieß auf verschiedene Ebenen dieser Präsenz. Sie war einfach überall, sie existierte so, wie es das Gebäude selbst

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auch tat. Es war ein Teil davon, wie jeder Nagel und jedes Stein­chen zu diesem Haus gehörten. Ein Keuchen kam über seine Lippen, als er endlich erkannte, worum es sich handelte.

Ein Seelenkollektiv! Ihre Zahl war Legion. Zayl war noch nie an einem einzigen

Ort so vielen Seelen plötzlich begegnet, nicht einmal auf den ältesten Friedhöfen und in den Grabkammern des Ostens. Noch erstaunlicher daran war jedoch, dass diese Seelen in einem halb­bewussten Zustand existierten, dass sie von ihrem Tod nichts wussten, sie aber auch nicht die Welt der Sterblichen wahrnah­men. Er fühlte, wie sie ihr Leben immer wieder durchlebten, wie Schauspieler, die ein Stück auf der Bühne spielen und niemals damit aufhören können. Sie waren nicht miteinander vereint, doch sie existierten so eng nebeneinander, dass sie, wie der Ne­kromant erkannte, aufeinander reagierten.

Fasziniert konzentrierte sich Zayl auf ein paar von ihnen. Eine Frau in einem ausladenden Ballkleid, das mit funkelnden Juwelen besetzt war, unterhielt sich angeregt mit der leeren Luft vor ihr. Neben ihr holte ein grimmig dreinblickender Schwertkämpfer im mittleren Alter mit seiner Klinge aus, um einen verzweifelten Kampf gegen drei oder vier Widersacher zu führen. Zwei Kleinkinder – Zwillinge – spielten zusammen. Ihre Gesichter waren mit Pocken übersät, was erklärte, warum sie in so jungen Jahren die Ebene der Sterblichen verlassen hatten.

Sonderbarerweise waren die zwei auch die ersten, die Zayl schließlich wahrnahmen. Auch wenn er keine echte Gestalt hatte, erschien er ihnen so wie im wahren Leben. Die Kinder hörten auf zu spielen und sahen den Nekromanten ernst an.

Spiel mit, sagte das eine Kind, ohne den Mund zu öffnen, und hielt ihm einen Ball hin.

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Ich kenne das Spiel nicht, erwiderte er. Seine Lippen bewegten sich dabei.

Dieses Eingeständnis genügte, dass die beiden das Interesse an ihm verloren. Sie spielten weiter, indem sie sich den Ball zuwar­fen und dann aus einer Gruppe von Figuren eine auswählten. Im nächsten Moment verschwanden die Zwillinge in den Hinter­grund. Sie waren noch zu sehen, aber nicht mehr so markant wie noch gerade eben.

Während er weitere dieser Schatten beobachtete, wurde Zayl auf eine Gemeinsamkeit aufmerksam. Alle von ihnen hatten Augenpaare, die dem von Salene Nesardo ähnelten, wenn sie nicht gar identisch waren.

Entstammten diese Seelen den unzähligen Generationen, die hier in ihrem Haus gelebt hatten? In diesem Fall war die Blutlinie der Nesardos wirklich einmal deutlich fruchtbarer gewesen.

Fasziniert zog er weiter und vertiefte sich in eine Darstellung nach der anderen. Geliebte, Lügner, Gelehrte, Narren, Kämpfer und Feiglinge. Die Kranken, die Nutzlosen, die, die leicht zu beeindrucken waren. Die versammelten Seelen der Nesardo deck­ten das ganze Spektrum menschlicher Schwächen und Triumphe ab.

Dann plötzlich wurde ihm bewusst, dass Riordan Nesardo sich irgendwo unter ihnen aufhalten musste.

Der Nekromant konzentrierte sich und wiederholte stumm den Namen des Mannes, weil so die Chancen stiegen, dass der Schatten zu ihm hingezogen wurde. Vielleicht würde Zayl nicht nur die Antworten bekommen, die Salene benötigte, sondern auch ein paar Dinge klären können, die ihn selbst interessierten.

Riordan ... Riordan, Gemahl von Salen e... komm zu mir, Ri­ordan ...

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Von allen anwesenden Seelen war die von Riordan als Letzte dazugestoßen, und daher sollte sie auch am leichtesten zu rufen sein. Der Sog, den die Ebene der Sterblichen ausübte, war im Augenblick des Todes am stärksten, danach wurde er mit jedem verstreichenden Jahr schwächer. Einen jahrhundertealten Schat­ten zu beschwören erforderte erheblich mehr Anstrengung, als jemanden zu sich zu rufen, der erst vor ein paar Wochen verstor­ben war. Wenn Zayl allerdings überlegte, was er hier bislang erlebt hatte, mussten diese Regeln nicht auch zwangsläufig für die Schatten des Hauses Nesardo gelten. Viele von denen, die der Rathmaner bislang zu Gesicht bekommen hatte, waren seit Hun­derten von Jahren tot und dennoch so präsent, wie es eigentlich nur der unlängst verstorbene Lord hätte sein sollen.

Aber wo war Riordan? Zayl konnte dessen Seele noch immer nicht ausfindig machen. Gerade er hätte auf die Anstrengungen des Nekromanten reagieren müssen, stattdessen aber nahmen einige der anderen Geister von dem Fremden Notiz, der sich zwischen ihnen aufhielt. Die Frau in dem extravaganten Kleid hielt inne und betrachtete ihn, ihre Unterlippe bebte. Der Schwertkämpfer taumelte, schüttelte den Kopf und hielt sich verschiedene blutende Wunden. Sein Blick fiel auf Zayl, in sei­nen Augen eine Mischung aus Verleugnung und Zorn. Ein Lie­bespaar – die Gesichter der Liebenden zeigten deutliche Anzei­chen für Vergiftung – klammerte sich angsterfüllt aneinander.

Und dann machten die Toten eine grässliche Verwandlung durch.

Ihre Haut zog sich zusammen und trocknete aus, großflächige Stücke fielen von ihren Leibern. Edle Stoffe verfärbten sich schwarz und zerfielen in Fetzen. Entsetzte Augen sanken in fleischlose Schädel zurück ...

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Zayl war zu weit vorgedrungen, sodass die Schatten mit einem Mal ihren Tod zu begreifen begannen. Sie erkannten, dass sie nichts weiter mehr waren als eine Fassade, dass ihr wahres Selbst in einer Gruft oder einem Grab verrottete ... oder dass ihnen noch Schlimmeres widerfahren war.

Der Nekromant zog sich sofort zurück, dabei fühlte er, wie all die Empfindungen – Verzweiflung, Angst und Zorn –, die bei seinem Anblick aufgekommen waren, gleich wieder nachließen. So wie von Zayl erhofft, verloren die Toten durch seinen Rück­zug sofort das Interesse an ihm und widmeten sich wieder dem, was sie unablässig taten.

Während das im Dunst liegende Reich allmählich hinter ihm zurückfiel, sah sich Zayl ein letztes Mal um, weil er seine Ver­mutung bestätigt wissen wollte. Flüchtig nahm er die Frau im Abendkleid wahr. Sie war wieder der Mittelpunkt eines unsicht­baren Balls, sie strahlte in ihrem Kostüm, und offensichtlich unterhielten sich einige Verehrer mit ihr. Der kadaverartige Leichnam, den sie gerade eben noch dargestellt hatte, war nicht mehr, und es gab auch keinen Hinweis darauf, dass sie sich an Zayls Anwesenheit erinnern konnte.

Erleichtert kehrte Zayl in seinen Körper zurück. Beinahe hätte er etwas in Unruhe versetzt, was eng mit den Geheimnissen des Hauses Nesardo verbunden war. Das hätte für das Gleichgewicht verheerende Folgen haben können. Es gab einen bestimmten Grand, warum diejenigen, die dieser Blutlinie entstammten, nach ihrem Tod herkamen, und Zayl war entschlossen, ihn in Erfah­rung zu bringen. Der Rathmaner war in zunehmendem Maß davon überzeugt, dass sein Zusammentreffen mit Salene keines­wegs einem Zufall zu verdanken war und dass es ihr um mehr ging als darum, mit dem Geist ihres Mannes Kontakt aufzuneh­

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men. Die Frage war auch: Wo war Riordan Nesardo wirklich? Wa­

rum hatte er nicht auf den Ruf reagiert, dem sich nur wenige tote Seelen widersetzen konnten?

Zayl war von den unendlichen Möglichkeiten fasziniert, die sich ihm boten, und war so sehr davon gefesselt, eine Lösung zu finden, dass er kaum darauf achtete, wie er in seine sterbliche Hülle zurückkehrte – eine Handlung, die so reflexartig ablief wie das Atmen.

Aufmerksam wurde er erst, als er feststellte, dass er nicht zu­rückkehren konnte!

Irgendetwas war vor ihm in seinen Körper gefahren, und es war eindeutig entschlossen, diese Hülle nicht wieder aufzugeben. Zayl fand keinen Anhaltspunkt, um die Herkunft dieses Etwas zu identifizieren. Es war keine der Seelen, die er entdeckt hatte, dessen war er sich absolut sicher. So sonderbar es auch anmutete, fühlte er doch etwas Vertrautes. Aber was genau das zu bedeuten hatte, darauf kam der Nekromant nicht.

Doch das Einzige, was für Zayl im Moment zählte, war die Rückkehr in seinen Körper.

Wer immer den übernommen hatte, verfügte nicht über die natürlichen Wurzeln, die Zayl mit ihm verbanden. Ein Rathma­ner wusste, wie er auch in kritischen Situationen wie dieser die Bindungen zu seinem Körper verstärken konnte. Um den Tod so zu kennen, wie ein Nekromant es vermochte, musste er auch das Leben verstehen, daher wusste Zayl sehr wohl, wie eine Seele mit ihrem Leib verbunden blieb.

Er konzentrierte sich mit aller Macht auf diese Bande, um in seinen Körper zurückzukehren, unabhängig davon, ob der Ein­dringling sich vertreiben ließ oder nicht.

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Etwas, das ihm wie eine massive Mauer vorkam, versperrte ihm einen Moment lang den Weg, doch es konnte sich nicht der Kraft widersetzen, die den Rathmaner mit seiner sterblichen Hülle verflocht. Zayl drängte weiter voran und bahnte sich zwar langsam, aber stetig den Weg zurück.

Während er Stück für Stück wieder Besitz von seinem Körper ergriff, nahm er seine Umgebung wahr. Als Erstes fiel ihm auf, dass Humbart schrie. Die Stimme des Schädels schallte lautstark durch den Raum, und zweifellos konnte man sie auch in einem weiten Bereich um das Quartier herum vernehmen.

»Wirf es weg, verdammt, Jüngelchen! Was ist denn in dich ge­fahren? Wirf es weg, habe ich gesagt!«

Zayl spürte, dass seine sterbliche Hülle von Konzentration er­füllt war. Ihm wurde klar, dass er aufrecht stand und die Arme vor sich ausgestreckt hatte. In seiner linken Hand hielt er seinen Dolch, dessen Spitze auf seine Brust gerichtet war.

Das Einzige, was ihn bislang davor bewahrt hatte, von seiner eigenen Klinge durchbohrt zu werden, war seine Rechte, die das linke Handgelenk fest umschlossen hielt. Beide Arme kämpften mit solcher Macht gegeneinander, dass der Nekromant am gan­zen Leib zitterte.

»Hör doch auf mich, Zayl, Jüngelchen!«, rief der Schädel. »Wach auf, das bist nicht du!«

An der Tür wurde angeklopft. Zayl vernahm Salenes Stimme, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte.

Der Nekromant richtete seine ganze Konzentration auf die linke Hand, damit sie endlich den Dolch losließ. Zunächst wider­setzte sie sich noch, doch schließlich öffnete sich der erste Finger, dann ein zweiter ...

Ohne Vorwarnung erlangte Zayl die Kontrolle über seine auf­

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begehrende Hand zurück. Die restlichen Finger öffneten sich, der Dolch fiel auf den Teppich. Gleichzeitig war auch der heimtücki­sche Eindringling aus seinem Körper verschwunden.

Keuchend sank Zayl auf ein Knie nieder, das linke Handgelenk immer noch von der anderen Hand umschlossen.

»Zayl! Du bist wieder bei dir! Welch ein Glück!« Zwar konnte er nicht antworten, doch der Nekromant war

nicht untätig. Vielmehr suchte sein Geist die unmittelbare Um­gebung ab, bemühte sich, den unsichtbaren Gegner aufzuspüren. Doch aller Gründlichkeit zum Trotz konnte Zayl nur eines fest­stellen, was zuvor nicht der Fall gewesen war.

Salene Nesardo stand dicht neben ihm. Zayl wusste, er hatte die Tür verriegelt, um in seiner Trance

nicht gestört zu werden, zudem den Eingang mit drei unauffälli­gen Zaubern belegt, damit niemand ohne seine Erlaubnis eintre­ten konnte.

Doch genau das hatte die Edelfrau getan, was viel über ihre Kräfte aussagte.

»Zayl!«, rief sie atemlos und fasste ihn an den Schultern. »Was ist hier geschehen?«

Offenbar hatte sie das Ringen nicht beobachtet, und allem An­schein nach wusste sie nur, dass Unruhe entstanden war und der Nekromant aus irgendeinem Grund eine Verletzung aufwies.

Der Rathmaner entschied, ihr nicht die ganze Wahrheit zu sa­gen, zumindest nicht im Moment. »Es war mein eigener Fehler. Ich versuchte, mich mit den Kräften zu beschäftigen, von denen dieses Gebäude durchtränkt ist. Ich habe mich dabei verausgabt. Es war dumm von mir.«

»Verausgabt?«, meldete sich Humbart zu Wort. »Das war wohl ...«

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»Ruhig, Humbart.« »Aber ich wollte nur ...«, protestierte der Schädel. »Humbart!« Salene schnappte erschrocken nach Luft. »Wer hat das gerade

gesagt?« Sie sah sich um und entdeckte den Schädel. »Das kam von ihm!«

Zayl ignorierte Humbart und die Frau, stattdessen hob er den Dolch mit der rechten Hand auf. Nachdenklich betrachtete er ihn.

Was immer in seinen Körper eingedrungen war, hatte seinen Tod gewünscht, und es hatte seinen Dolch als Mordwaffe ausge­wählt – den Dolch, der einen unverzichtbaren Teil eines Rathma­ner ausmachte. Zufall? Möglicherweise ja, doch etwas an diesem Zwischenfall weckte bei Zayl den Verdacht, dass das Ding viel über den Nekromanten wusste ... zu viel nach seinem Ge­schmack. Die Anhänger von Rathma hielten ihre Eigenarten und Methoden vor Außenstehenden geheim.

Worauf war er hier nur gestoßen?

Karybdus betrachtete seinen Dolch, dessen schwaches Leuchten ihm eine besonders ätherische Aura verlieh. Er legte die Stirn in Falten. Enttäuscht war er nicht, aber auch nicht zufrieden.

Er saß auf dem steinernen Fußboden in einem Raum, in dem völlige Dunkelheit herrschte, wenn man von dem Licht absah, das die Klinge ausstrahlte. Mantel und Gewand waren so auf dem Boden ausgebreitet, dass es aussah, als sei Karybdus mit dem Stein verschmolzen.

In der Dunkelheit bewegte sich etwas Großes. »Nur ruhig, meine Liebe«, murmelte er in Richtung des

Schattens. »Es war zu erwarten gewesen ... und es wird wieder­gutgemacht werden.«

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Er schob den knochenfahlen Dolch in seinen Gürtel und erhob sich, ohne sich dabei mit den Händen abzustützen. Seine Stimme vermittelte ein Gefühl von Distanziertheit. »Das Gleichgewicht wird wiederhergestellt werden. Um jeden Preis.«

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Vier

Salene bestand darauf, dass Zayl sich wenigstens einen Tag lang ausruhte, ehe er mit der Beschwörung begann, doch der Nekro­mant benötigte keine Ruhe. Vielmehr war er noch mehr als zu­vor darauf erpicht, den Geist von Riordan Nesardo zu beschwö­ren. Zweimal war er nun von mysteriösen Kräften angegriffen worden, doch je ausgiebiger er meditierte, um herauszufinden, wer danach gestrebt haben mochte, dass er sich selbst tötete, desto mehr bekam er den Eindruck, dass die zweite Attacke in keinem direkten Zusammenhang zur ersten stand. Vielleicht gab es einen Faktor, der sie miteinander verband, doch der jüngste hatte mehr von einem Sterblichen.

Steckte dieser Lord Jitan dahinter? Wenn ja, so hatte er sich mehr als die meisten anderen mit den Anhängern Rathmas be­fasst. Der Nekromant war sehr daran interessiert, diesen Edel­mann kennen zu lernen.

Am nächsten Tag blieb der Himmel dunkel, was Zayl als Omen wertete, auch wenn er das gegenüber seiner Gastgeberin nicht erwähnte. Er begann mit den geistigen Vorbereitungen, während er sich vor Augen hielt, dass diese Beschwörung sicher nicht so wie die anderen ablaufen würde. Es würde nötig sein, Schutzzauber und andere Abwehrmaßnahmen zu ergreifen.

Sardak verschlief fast den ganzen Tag, Salene dagegen sah schon früh nach dem Nekromanten, um zu erfahren, ob sie ihm in irgendeiner Weise behilflich sein konnte. Zayl fand, dass sie sich entschieden anders gab als die Frauen – und auch die Män­ner – ihres Standes, denen er bislang begegnet war. Es hatte je­

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doch nicht nur mit ihrer Gabe zu tun, denn solchen Kräften war der Rathmaner auch schon bei anderen Gelegenheiten begegnet, wenn er Umgang mit Edelleuten hatte. Nein, Salene Nesardo besaß einfach mehr Persönlichkeit, Willenskraft und Mut als viele andere.

Humbart Wessel war ein perfektes Beispiel für ihr ungewöhn­liches Wesen. Salenes erster Schreck ging nicht in Abscheu über, sondern in eine Form von Faszination. Als sie am Morgen in Zayls Quartier kam, begrüßte sie den Schädel, als sei der einfach ein weiterer Gast in ihrem Haus – eine Tatsache, die dem Geist über alle Maßen schmeichelte. Humbart hätte sie mit einer Ge­schichte nach der anderen über die Abenteuer erquickt, die er und Zayl erlebt hatten – und bei denen Humbart auf eine nicht nachvollziehbare Weise im Mittelpunkt stand, gerade so, als könne er sich frei bewegen –, doch ein Blick des Nekromanten brachte ihn zum Schweigen. Er hielt sich auch an das Verspre­chen, das er Zayl gegeben hatte, nachdem die Edelfrau nach dem nächtlichen Angriff gegangen war, nämlich ihr nicht zu verraten, was wirklich geschehen war.

Unter normalen Umständen hätte Zayl nur eine kurze Vorbe­reitungszeit benötigt. Doch nach allem, was ihm bislang wider­fahren war, und aufgrund der Tatsache, dass Salenes Gemahl bei seinem Besuch in der Unterwelt nicht auf seine Rufe reagiert hatte, wollte der Rathmaner sicherstellen, dass er die Situation vollständig im Griff behielt.

»In der Stunde nach Mitternacht«, ließ er schließlich Salene und ihren eben erst erwachten Bruder wissen. »Vor der Ruhe­stätte des Toten.«

»Das wäre dann in der Gruft unter dem Haus.« Zayl hatte bereits vermutet, dass es im Haus Nesardo eine sol­

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che Gruft gab, die wahrscheinlich der Nexus war, zu dem sich die von ihm entdeckten Seelen hingezogen fühlten. »Gut, dann ...«

Irgendwo außerhalb des Gebäudes wurde eine große Glocke geschlagen, dann ein zweites und ein drittes Mal. Das Läuten hatte etwas so Endgültiges an sich, dass der Nekromant sofort aufmerksam wurde.

»Die Glocke«, murmelte Salene und kniff die Augen traurig ein wenig zusammen. Sie sah zu ihrem Bruder, der ausnahms­weise nüchtern war. »König Cornelius ist tot.«

»Lange genug hat es ja gedauert«, erwiderte Sardak. »Wenn ich sterbe, möchte ich, dass es schnell geht. Ich will nicht wo­chenlang so dahinsiechen.«

Zayl erinnerte sich an Gesprächsfetzen, die er mitbekommen hatte, als er das Schiff verließ, auf dem er nach Westmarch ge­kommen war. Er wusste, der König des Landes war seit langem krank, er kannte aber nicht die Schwere des Leidens. Ein neuerli­ches Gefühl, sich beeilen zu müssen, überkam den Nekromanten. Dieser Tod war für seinen Geschmack zu zeitnah mit anderen Ereignissen verknüpft.

»Hat der König einen Erben?«, wollte er wissen. »Ursprünglich hatte er drei Söhne, einer starb in der Jugend.«

Lady Nesardo schürzte die Lippen. »Sein verbliebener Erbe glei­chen Namens starb vor einigen Monaten an den Folgen eines Spinnenbisses, den er sich auf dem Land zuzog. Nun wird Justin­ian sein Erbe antreten, der Vierte mit diesem Namen.«

»Justinian der Großäugige, wie ihn manche von uns nennen«, fügte Sardak an, der gar nicht zufrieden dreinblickte. »Er ist so naiv, wie man es sich nur vorstellen kann, und er ist so alt wie ich!«»Er hatte keine Ahnung, dass er jemals König werden würde, Sardak. Jeder erwartete Cornelius den Jüngeren auf dem Thron.«

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»Was Westmarch im Moment auch nicht helfen wird, Schwe­ster.«

Ein weiser alter Herrscher durch Krankheit verstorben, ein vielversprechender Erbe kommt bei einem Unfall ums Leben. Und nun ein unerfahrener Nachfolger, der noch längst nicht bereit ist ...

»Eine Spinne?«, fragte Zayl plötzlich leise. »Eine giftige Spin­ne? Sind die hier häufig anzutreffen?«

»Nein, eigentlich sind sie sogar höchst selten, aber ...« Weiter kam Salene nicht, da sie von einer weißhaarigen Die­

nerin unterbrochen wurde, die händeringend hereingestürmt kam und sich bemühte, den Nekromanten nicht anzusehen: »Herrin, General Torion ist hier!«

»General Torion?« Die Edelfrau sah sie perplex an. »Vielleicht will er dich nach Ensteig entführen, liebe Schwe­

ster. Soll ich deine Sachen packen?« »Hör auf, Sardak! Fiona, sag dem guten General, dass ich jetzt

keine Zeit habe, um ...« »Aber sicher habt Ihr die, wenigstens heute«, vernahm sie eine

sonore Stimme hinter der Dienerin. Fiona stieß einen erschreckten Schrei aus und eilte davon. An

ihre Stelle trat das Musterbeispiel eines herausgeputzten Solda­ten. General Torion hatte wallendes braunes Haar, das er über die Schultern nach hinten gebürstet trug. Sein gepflegter Bart wies einen grauen Schimmer auf. Sein adlerähnliches Gesicht ließ unter dem linken seiner strahlend blauen Augen eine kleine Nar­be erkennen. Der Mann war einen Kopf größer als Zayl, seine Schultern waren um gut ein Drittel breiter. Zwar war er kein Riese wie Polth, doch die katzengleiche Eleganz, mit der sich der Offizier bewegte, ließ Zayl vermuten, dass der Leibwächter in

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einer direkten Konfrontation den Kürzeren gezogen hätte. Der Besucher trug eine rote Uniform mit einem goldenen

Brustschild, in der linken Armbeuge hielt er einen mit Feder­schmuck besetzten, offenen Helm. Hohe Stiefel und ein Schwert mit abgerundetem Schutz, das in einer Scheide steckte, komplet­tierten sein Erscheinungsbild.

»Torion!«, rief Salene aus, die sich rasch wieder gefasst hatte. »Womit haben wir diese Ehre verdient?«

Der Kommandant hatte zuerst gelächelt, als er hereingekom­men war, doch nun verfinsterte sich seinen Miene. »Ihr habt die Glocken gehört. Der alte Mann ist letzte Nacht verstorben, aber wir haben die ganze Zeit mit den Vorbereitungen zu tun gehabt. Justinian wird von Beginn an den Rückhalt der Mehrheit des Adels benötigen, und alle sind der Ansicht, dass Euer Wort zu seinen Gunsten viel dazu beitragen wird. Wir wollen keine Wiederholung des Cartolus-Aufstands.«

»Was war da geschehen?«, fragte Zayl. Zum ersten Mal nahm Torion – der so wie der Nekromant

keinen weiteren Namen zu führen schien – die in Schwarz ge­kleidete Gestalt wahr. Prompt wollte der General sein Schwert ziehen. »Bei der Kirche! Was hat dieser Hund hier zu suchen? Salene, hat er die Kontrolle über Euren Verstand übernommen?«

Sardak ging sofort aus dem Weg, damit der Mann freie Bahn hatte, sollte er auf Zayl losstürmen wollen. Salene dagegen stellte sich daraufhin genau zwischen den General und sein anvisiertes Ziel. »Torion! Ihr vergesst Euch, General!«

Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Er ließ das Schwert los und verzog das Gesicht, als hätte er eine Ohrfeige bekommen. Der Rathmaner verstand, warum er so reagierte.

Torion war in Salene verliebt.

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»Salene«, begann der Soldat. »Wisst Ihr, was das für ein Ding ist? Wisst Ihr, welche Schandtaten es auf Friedhöfen und in Grä­bern begeht? Es ...«

»Torion!«, fuhr sie ihn an. Er verstummte, warf dem Nekromanten aber weiter Blicke zu,

denen der schon längst zum Opfer gefallen wäre, hätten sie zu töten vermocht.

Die Gastgeberin des Rathmaners deutete auf ihn. »Dies ist Zayl. Er ist auf meinen ausdrücklichen Wunsch hier, und ich denke, Ihr kennt den Grund.«

»Dieser Ärger mit Lord Jitan? Salene, wenn Ihr mir nur die Ehre erweisen würdet, um die ich Euch mehr als einmal bat ...«

»Vierzehn Mal, wenn ich mich nicht verzählt habe«, warf Sar­dak ein.

Einen Moment lang richtete sich die Verärgerung des Gene­rals auf den Bruder statt auf Zayl. »Wie ich sagte«, fuhr er dann fort. »Wenn Ihr mir diese Ehre erweisen würdet, hättet ihr mit der lästigen Angelegenheit keinen Ärger mehr ...«

»Torion, Nesardo ist meine Familie, mein Vermächtnis.« Mehr sagte sie nicht, da sie offenbar ihre Einstellung zu diesem Thema oft genug erklärt hatte.

Den Blick noch immer auf den Nekromanten gerichtet, zischte Torion ihm plötzlich zu: »Wenn ihr irgendetwas zustößt und ich dich dafür verantwortlich machen kann, Hund, dann wird dich das den Kopf kosten.«

Zayl nickte nur stumm. Bevor die Begegnung wieder einen Hang zur Gewalt anneh­

men konnte, sagte die Edelfrau rasch: »Übermittelt dem Rat mein Wort, Justinian zu unterstützen. Ich glaube, er ist gut für Westmarch. Aber ihm fehlt es an Selbstvertrauen, Torion, und

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ich glaube, da könntet Ihr ihm unter die Arme greifen.« »Es ist gut, dass Ihr das sagt.« Er hielt seinen Helm etwas ver­

krampfter, sein Gesicht verriet, dass er auf eine andere Art um sie besorgt war. »Salene, kommt zu mir, wenn Ihr Hilfe braucht ... und seid wachsam in Gegenwart dieses Grabräubers.«

»Torion ...« Er rief sich selbst zur Ordnung, schlug die Hacken zusammen

und verbeugte sich gleichzeitig vor ihr. Sardak nickte er höflich zu, während er Zayl beim Hinausgehen gänzlich ignorierte.

»Dieser Mann hat eine Vorliebe für dramatische Auftritte«, meinte Salenes Bruder mit heimlicher Freude in der Stimme. »Ich möchte schwören, er hatte es exakt so geplant, dass er gleich nach den Glockenschlägen hier auftaucht. Es würde mich interes­sieren, ob er zuvor noch eine Zeit lang draußen gewartet hatte, bis der richtige Moment gekommen war.«

»Torion ist ein guter Mann, Sardak.« »Ich bezweifle, dass unser Freund hier das auch so sieht. Ich

war überzeugt davon, er würde Euch das Herz aus dem Leib schneiden, Meister Zayl. Sagt, hättet Ihr es anschließend wieder einsetzen können? Ich bin nur neugierig ...«

»Sardak!« Er imitierte die Verbeugung des Offiziers. »Ich glaube, ich ma­

che schon zu lange von deiner Gastfreundschaft Gebrauch. Wenn du mich brauchst, Schwesterherz, dann weißt du ja, wo du mich findest.«

Salene schien darüber nicht erfreut. »Ja, im Hangman’s Noose. Bei diesem Pöbel. Sei vor dem Zeitpunkt zurück, an dem Zayl uns braucht. Falls du nicht mit in die Gruft kommst, möchte ich dich zumindest in der Nähe wissen.«

»Habe ich dich jemals enttäuscht?«

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Sie verzog keine Miene, als sie erwiderte: »Ich werde darauf nicht antworten.«

Kichernd kam Sardak näher und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Mit einer spöttischen Verbeugung zu Zayl ließ er sie dann allein.

»Es tut mir Leid, wie die beiden sich benommen haben«, meinte Salene kopfschüttelnd. »Wenn Ihr lieber den heutigen Abend absagen und Westmarch verlassen wollt, kann ich das nur zu gut verstehen.«

»Ich bleibe.« Ihre Miene hellte sich auf. »Danke ...« »Es geht nicht allein um Eure Bitte«, sagte er ihr geradeher­

aus. »Es gibt Dinge, die mich persönlich neugierig gemacht ha­ben.«

»Natürlich. Ich hätte daran denken sollen, dass diejenigen Eu­res Standes so weit im Westen normalerweise nicht anzutreffen sind, es sei denn, es handelt sich um eine wichtige Angelegen­heit.«

»Das ist wohl wahr.« Zayl wünschte sich, es wäre nicht so. Es wäre gut gewesen, hätte er sich mit einem weiteren Diener Rathmas zu beraten vermocht, der in solchen Dingen erfahren war, damit Zayl selbst die Gewissheit hätte erlangen können, nichts übersehen zu haben.

Doch es war zu spät, um sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Die Stunde des Handelns war nicht mehr fern, und er hatte noch einiges zu erledigen.

»Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, Zayl?« Die Antwort darauf fiel ihm nicht leicht, weil er hasste, wor­

um er sie würde bitten müssen. Es war die erste Sache, die sie veranlassen konnte zu bedauern, die Dienste eines Nekromanten

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zu beanspruchen. Doch es führte kein Weg daran vorbei. »Wenn ich so forsch sein darf ... ich brauche von Euch ein we­

nig Blut, Mylady.« »Mein Blut?« Für einen winzigen Moment spiegelten ihre

Augen das wider, was er befürchtet hatte. Doch dann riss sich Salene zusammen. »Selbstverständlich.« Sie hielt ihm ihre Hand hin und drehte sie so, dass die Innenfläche nach oben wies. »Nehmt so viel wie Ihr braucht.«

»Nur ein oder zwei Tropfen«, stellte der Rathmaner klar, beeindruckt von ihrer Bereitschaft, ihm sogar in diesem Punkt zu vertrauen. »Ihr seid mit Riordan verwandt, wenn auch nur sehr weitläufig. Euer Blut wird mir helfen, ihn zu rufen. Ich hätte vielleicht Euren Bruder fragen sollen ...«

»Es ist besser, dass Ihr das nicht getan habt. Ich bin bereit da­zu, Meister Zayl. Nehmt mein Blut.«

»Ihr müsst dabei nicht stehen. Mir wäre es sogar lieber, wenn Ihr Euch setzt, Mylady. Bitte.« Um ihr klarzumachen, wie wich­tig es ihm war, dass sie sich entspannte, führte er sie zum nächsten Sessel.

»Ihr seid ein Gentleman«, erwiderte sie lächelnd und nahm Platz. »Danke.«

Ein ungewohntes Gefühl regte sich in Zayl, der sich rasch in die vor ihm liegende Aufgabe vertiefte. Er nahm den Dolch vom Gürtel und holte aus einer kleinen Tasche gleich daneben ein winziges Fläschchen aus Rauchglas. Dann zog er den linken Handschuh aus und murmelte etwas, während er vor seiner Gastgeberin ein Muster beschrieb.

Fasziniert beobachtete Salene ihn. Sie sagte nichts, sie regte sich nicht. Als Zayl ihre Handfläche mit der Spitze des Dolchs berührte, hielt sie gebannt den Atem an, sodass ihre Hand ruhi­

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ger war und er seine Aufgabe noch besser erledigen konnte. Zayl stach leicht in ihr Fleisch. Blut sammelte sich an der getroffenen Stelle, doch das hielt

nur einen Moment lang an. Dann widersetzte sich das Blut den Naturgesetzen und lief an der Klinge, die eine rote Farbe an­nahm, nach oben.

Als Zayl sah, dass es genug war, nahm er den Dolch hoch und verschloss mit einer weiteren Geste die Wunde.

»Ihr habt sie geheilt«, flüsterte sie, berührte die Stelle, konnte aber den Einstich nicht mehr fühlen. »Ich hätte nicht gedacht ...«

»Wir sind Diener des Gleichgewichts. Wenn wir den Tod und seine Folgen kennen sollen, dann müssen wir auch mit dem Le­ben und seinen Heilungsprozessen vertraut sein. Es gibt aller­dings Grenzen.«

Während er sprach, hielt er die Klinge über das kleine Fläsch­chen, murmelte wieder etwas und setzte damit das Blut frei. In Form mehrerer Tropfen sammelte es sich in dem Behältnis. Zayl sah zufrieden zu. Als er fertig war, wirkte die Klinge makellos.

Er legte sein Werkzeug zur Seite und verschloss das Fläsch­chen. Als er zu Salene hochsah, stockte er plötzlich. Ihr voll­kommenes Gesicht, das von ihrem dichten roten Haar einge­rahmt war, überraschte ihn.

»Warum macht Ihr das?«, fragte die Edelfrau. Zuerst dachte er, sie meine seinen starren Blick. Doch ihre Au­

gen waren nicht auf ihn, sondern auf seine rechte Hand gerichtet. »Warum legt Ihr nie den rechten Handschuh ab?«, wollte Sa­

lene wissen. »Immer nur den linken, aber nie beide.« Sie war eine gute ... eine zu gute Beobachterin. »Eine Formsa­

che unter denen meines Standes«, log er, zog den anderen Hand­schuh wieder an und steckte das Fläschchen in die Gürteltasche.

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»Wenn Ihr mich nun entschuldigt, Mylady, aber ich werde für den Rest des Tages ungestört arbeiten müssen.«

Salene nickte, doch ihre Augen waren weiter auf seine Rechte gerichtet. Der Nekromant drehte sich so, dass sie sie nicht mehr sehen konnte. Schließlich verbeugte er sich höflich und ließ Sa­lene allein.

Doch ganz so allein war sie nicht, denn Polth stand vor dem Raum und beäugte Zayl aufmerksam. Er war eindeutig die ganze Zeit in der Nähe gewesen, dennoch hatte der Nekromant ihn nicht bemerkt.

»Sie vertraut Euch, Meister Zayl. Ihr sollt wissen, dass es viel bedeutet, wenn sie so etwas tut.«

»Ich werde mein Möglichstes tun, Polth, aber ich verspreche nichts.«

»Außer, dass Ihr ihr keinen Schaden zufügen werdet«, warnte Polth ihn recht unverhohlen.

Zayl nickte kurz, dann wollte er an dem Leibwächter vorbei­gehen, doch der blockierte ihm plötzlich mit einem Arm den Weg.

»Eine weitere Sache, Rathmaner. Es wäre gut, wenn Ihr im Haus bleiben würdet. Freunde von mir sagen, dass die Zakarum nach schwarzgekleideten Fremden fragen, die wie Grabräuber aussehen. Sie bringen Worte wie ›Ketzer‹ ins Spiel, und in Ver­bindung damit reden sie auch von Feuer.«

Der Inhalt dieser Warnung war für Zayl keine Überraschung, schließlich griff die Kirche zu jedem Vorwand, wenn er ihr er­laubte, Rathmaner zu jagen. Dennoch war er für diesen Hinweis dankbar. Der Leibwächter hätte dieses Wissen genauso gut für sich behalten können, um Zayl nach getaner Arbeit in die Hände der Inquisitoren fallen zu lassen.

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»Ich werde es nicht vergessen, Polth.« »Heute Abend werde ich ebenfalls anwesend sein«, fügte der

Riese an. »Zur Sicherheit.« »Selbstverständlich.« Dann ließ Polth ihn passieren, doch als Zayl zu seinem Quar­

tier zurückkehrte, spürte er, wie der Blick des Mannes ihm folgte, obwohl er längst außer Sichtweite war.

»Wo wart Ihr?«, herrschte Aldric den anderen an. »Ich komme mit diesem Ding hier nicht weiter!«

Lord Jitan fuchtelte mit dem Spinnenmond herum, als handele es sich um ein beliebiges Amulett, das er irgendwo auf einem Markt erstanden hatte. Trotz allem Wundersamen, das er darin wahrnahm, hätte es sich auch um einen bemalten Stein handeln können. Ganz gleich, was er versuchte, es führte zu nichts. Nicht ein Jota Macht hatte der Edelmann dem Artefakt entlocken kön­nen.

»Ich musste mich um gewisse Dinge kümmern, Mylord«, er­widerte Karybdus finster. »Außerdem ist es noch nicht die fragli­che Nacht. Ihr müsst Euch in Geduld üben.«

»Aber Ihr habt mir versprochen, ich würde noch vor der Nacht auf die Kräfte zugreifen können, die in diesem Ding stecken. Bislang ist das nicht geschehen!«

»Ihr seid in den Künsten nicht bewandert, Lord Jitan, daher versucht Ihr, mit der Brechstange in Euren Besitz zu bringen, was Euch mit einem kleinen Kniff längst gehören könnte ...«

»Erspart mir Eure poetischen Worte, Hexenmeister! Zeigt es mir!«

Karybdus sah sich im Raum um. Sechs bewaffnete Krieger hielten Wache in der einstigen Bibliothek des Hauses Jitan. Holz­

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regale, die an drei hohen Wänden bis an die Decke reichten, zeugten davon, welch umfangreiche Sammlung an Büchern und Pergamenten diese Kammer einst beherbergt hatte. Jetzt waren sie leer und verstaubt. Als Folge seiner Besessenheit hatte der Aristokrat sämtliche Schriftstücke, die nicht seinem Streben dienten, weggeworfen, wodurch etliche wertvolle Werke unwie­derbringlich vernichtet worden waren. Karybdus musste seine Verärgerung über Aldrics schändliche Tat verborgen halten, denn seine eigenen Ziele würde er nur erreichen können, wenn er seinem Gastgeber zu dem verhalf, was dieser haben wollte.

Trotz seiner imposanten Statur wirkte Lord Jitan zwergenhaft, als er an dem riesigen Eichentisch saß, der einen großen Teil des Raumes für sich beanspruchte. Die vier Beine des polierten, rechteckigen Möbelstücks waren wie die eines Drachen ge­schnitzt und endeten in krallenbewehrten Klauen, die sich um Kugeln schlossen. Pergamente lagen auf dem Tisch verstreut und zeugten von Aldrics vergeudeten Zaubern.

Karybdus wusste, sein Gastgeber würde scheitern, doch er hat­te ihn nicht vorgewarnt. Alles musste so laufen, wie der Rathma­ner es geplant hatte. Jeder seiner Versuche, das Gleichgewicht neu auszubalancieren, würde sonst fehlschlagen und die Welt noch weiter in eine Katastrophe steuern.

Doch nun war es Zeit, Lord Aldric Jitan einen Vorgeschmack auf das zu gewähren, wonach er strebte. Karybdus betrachtete die sechs Männer, die in Habtachtstellung dastanden. Seine Sinne drangen tief ein und analysierten ihre Psyche. Ja, sie würden sich bestens eignen, weil sie die erforderliche Wildheit besaßen. Die musste lediglich geweckt werden.

»Es ist ganz einfach, Mylord.« Karybdus bedeutete einem Wachmann, die Tür zu schließen, dann näherte er sich dem E­

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delmann. »Legt das Artefakt quer in Eure Hand.« Der Nekro­mant kam um den Tisch herum und blieb hinter Aldric stehen. Er beugte sich vor, damit er Lord Jitan ins Ohr flüstern konnte: »Diese Männer hier haben Euch gut gedient. Durch den Spin­nenmond können sie Euch noch weit besser dienen ...«

Der Edelmann hörte sich an, wie Karybdus ihm erklärte, was zu tun sei. Im ersten Moment war Aldric erschrocken, doch sein Gesichtsausdruck wandelte sich rasch und verriet die Vorfreude.

Kaum hatte der Rathmaner ausgesprochen, wich er zurück. Aldric sah zu seinen Gefolgsleuten und brachte sie mit einem einzigen Blick dazu, sich um den Tisch zu scharen. Sie dienten Lord Jitan bereits lange genug, um stumm zu gehorchen. Keiner von ihnen wusste etwas darüber, was sich in den Ruinen abge­spielt hatte.

Aldric konzentrierte sich auf das Spinnenmuster, wobei seine Gedanken jedes der Beine streichelten und den Leib umrissen. Während er starr daraufblickte, schien sich die Form aus eigenem Antrieb zu bewegen. Die Beine wurden gemächlich gestreckt, als erwache die Spinne im Inneren zum Leben. Zwei rote Augen blitzten plötzlich auf und sahen den Edelmann an, der zu grinsen begann.

Ohne Vorwarnung verließ die Spinne ihre Position, hinterließ aber eine schattenhafte Form als Kopie ihrer selbst. Kaum hatte sich die erste von der Stelle bewegt, folgte auch schon die zweite. Sie hinterließ ebenfalls ein Duplikat, das sich dann auch zu bewe­gen begann.

Aldric begann langsam zu begreifen, dass nur er und Karybdus sahen, wie diese erstaunliche Magie funktionierte. Fast hätte er etwas gesagt, aber der Nekromant war plötzlich wieder dicht an seinem Ohr.

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»Ihr dürft den Segen von Astrogha erteilen, Mylord.« Die Spinnen saßen nun auf der Kugel und auf Lord Jitans

Händen. So seltsam es für ihn auch war, verursachten ihre Be­rührungen keinen Ekel bei ihm. Er betrachtete die schattenhaften Tiere, dann konzentrierte er sich.

Jede der Spinnen sprang durch die Luft auf einen der Gefolgs­leute zu.

Erst im allerletzten Moment schienen die Männer die Kreatu­ren zu bemerken. Doch da war es bereits zu spät, um noch etwas anderes zu tun als aufzuschreien, während die Tiere noch im Flug größer wurden und jedes von ihnen auf einem Kopf landete.

Von krächzenden Zischlauten begleitet bohrten die Spinnen mit den blutroten Augen ihre Beine in den Schädel ihres jeweili­gen Opfers.

Die sechs Wachleute taumelten zurück, einige versuchten, sich von dem Grauen zu befreien, das sie heimgesucht hatte, während andere einfach nur die Flucht antreten wollten. Doch keiner von ihnen kam weiter als ein paar Schritte, dann sanken sie alle auf Hände und Knie nieder.

Ein animalisches Heulen kam jedem der Männer über die Lip­pen, während sie eine Verwandlung durchzumachen begannen. Jeder von ihnen drückte den Rücken durch, der mit einem Mal dicker wurde, die Beine wurden drahtig, die Füße bildeten sich fast völlig zurück. Die Arme wurden länger und dünner, aus den Händen wurden gespreizte Klauen, mit denen sie greifen konn­ten und die in spitzen Nägeln endeten, die bestens dafür geeignet waren, sich in Fleisch zu bohren. In ihrer Raserei rissen sie sich Kleidung und Rüstung vom Leib und schleuderten sie durch den Raum, wobei Lord Jitan und Karybdus aber nicht davon getroffen worden, da der Nekromant jedes Teil dezent ablenkte.

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Dann platzten aus jedem der Leiber die zwei unteren Rippen hervor. Die mutierten Männer heulten erneut auf, als Blut und Ichor auf den Boden spritzten. Die Wunden verheilten aber schnell wieder, und aus den zuckenden Rippen, die nun bereits mit Fleisch überzogen waren, wuchsen kleine, missgeformte Klauen, die sich zum Gehen und Klettern gleichermaßen eigne­ten. Die neuen Gliedmaßen wuchsen weiter, bis sie so lang waren wie die anderen und die Krallen schließlich mit einem harten Geräusch auf den Fußboden auftrafen.

Gleichzeitig wurden Gesicht und Leib eines jeden Wachmanns mit einem borstigen schwarzen Fell überzogen. Die Gesichtszüge veränderten sich, bis sie eine neue Form angenommen hatten. Ohren und Nasen schrumpften, und während Aldric Jitan faszi­niert zusah, teilten sich die Augen der Männer immer und im­mer wieder und formierten sich zu Facettenaugen. Obwohl jedes dieser Augen ein halbwegs menschliches Aussehen behielt, wa­ren das Weiße und die Pupillen nun blutrot, und ihr Blick verriet keine Spur mehr von Mitgefühl oder Verstand.

Die sechs verwandelten Soldaten zischten gleichzeitig, dabei bleckten sie ihre scharfen, gelblichen Zähne, von denen Gift tropfte.

Auf jedem Kopf saß immer noch die Spinne, die die Verwand­lung ausgelöst hatte. Die roten Augen dieser Tiere waren weiter auf Aldric gerichtet. Die sechs Kreaturen, die Aldrics Männer gewesen waren, verstummten, dann wandten sie sich dem lächelnden Edelmann zu und knieten nieder.

Aus ihnen waren Spinnen geworden, riesige Spinnen ... aber sie hatten immer noch etwas von einem Menschen. Menschen, Spinnen ... und dazu etwas Urtümliches, das der Edelmann nicht erfassen konnte, obwohl es ihn auch nicht wirklich interessierte.

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»Unglaublich ...« »Sie sind zu Kindern von Astrogha geworden, die einst zu

Tausenden existierten«, erklärte der Nekromant, als referiere er eine Geschichtsstunde. »Sterbliche, die mit seiner Gunst gesegnet sind, seinem Ebenbild ...«

Astroghas Kinder bewegten sich auf ihren vier Hinterbeinen auf und ab, während sie mit den vier übrigen Gliedmaßen nervös zappelten, als warteten sie darauf, Aldrics Wünsche zu erfüllen.

»Eure Feinde sind dem Untergang geweiht, Mylord«, raunte Karybdus ihm zu. »Die Kinder dienen dem Herrn über die Kugel, ohne seine Befehle anzuzweifeln. Schon über so viel von der Macht des Mondes zu gebieten, noch bevor die Annäherung erfolgte, ist ein deutliches Zeichen für Euren Anspruch auf das damit verbundene Vermächtnis. Alles, was Ihr Euch erträumt, alles, was Ihr für Euch beanspruchen wollt, wird Euer sein.«

»Alles«, wiederholte Aldric und betrachtete die Kreaturen, die ihm gedient hatten – und die ihm auch weiter gehorchen würden.

»Denkt dabei daran«, fuhr Karybdus fort, »dass eine Aufgabe vor Euch liegt. Einer Eurer Feinde hat sich zu erkennen gegeben, und er kann im Zentrum all Eurer Hoffnungen und Wünsche zuschlagen ...«

Aldric sprang auf und verzog wutentbrannt den Mund. »Was soll das heißen?«

Das Gesicht des Rathmaners blieb unbewegt. »Er befindet sich im Haus Nesardo ... bei Lady Salene.«

Sofort sah Lord Jitan mit hasserfülltem Blick zu den Ungeheu­ern, die eben noch seine Männer gewesen waren.

Karybdus nickte. »Genau das hatte ich auch gerade gedacht, Mylord ...«

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FÜNF

Als der Abend nahte, zog ein heftiges Unwetter über die Stadt und sein Zentrum hielt sich über dem Haus Nesardo wie eine Pflanze, die Wurzeln schlagen wollte. Das Unwetter tobte Stunde um Stunde, und nichts deutete darauf hin, dass es nachlassen würde.

Es scheint ständig Unwetter zu geben, dachte Zayl, als das Haus von einem weiteren Donnerschlag erschüttert wurde. Re­gen ist nicht schlechter als Sonne oder Mond. Es ist bloß so, dass diejenigen, die im Verborgenen wirken, ihr böses Tun gern da­hinter verstecken.

Er nahm sich diese Überlegung zu Herzen, als er sich auf seine eigenen Zauber vorbereitete. Zayl hatte die Blutprobe von Sale-ne, dazu die Werkzeuge, die er brauchte, um das Muster zu zeichnen. Sie hatte ihrerseits versprochen, drei Dinge mitzubrin­gen, die für Riordan einen hohen persönlichen Stellenwert ge­habt hatten.

Nun mussten sie nur noch in die Gruft hinabsteigen. Mit Humbart in der Gürteltasche kehrte der Rathmaner in den

Hauptkorridor des Erdgeschosses zurück. Salene erwartete ihn dort bereits. Polth, der in einer Hand eine brennende Lampe hielt, stand beschützend hinter ihr. Lady Nesardo trug etwas Passendes für eine Reise in den Untergrund, Reitkleidung, beste­hend aus einer grünen Hose und dazu Lederstiefel. Außerdem hatte sie eine Baumwollbluse von ähnlicher Farbe angezogen, darüber eine schwarze, zugeknöpfte Lederweste. Ein passender Gürtel mit einem kleinen Dolch, der in einer Scheide steckte, ergänzte das Ensemble. 84

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Die Edelfrau lächelte den großen, schlanken Mann unsicher an, als er sich ihr näherte.

»Ich habe die erwähnten Gegenstände mitgebracht.« Sie hielt einen kleinen Beutel, in dem etwas scheppernd aneinander schlug. Sie hatte also mindestens zwei Objekte aus Metall eingesteckt.

»Wenn Ihr dann vorgehen würdet ...« Salene nahm eine Lampe aus einer der Wandhalterungen,

dann setzte sie sich an die Spitze. Polth hielt sich dicht hinter ihr. Dass ihr Leibwächter eine solche Position einnahm, war ein deut­liches Zeichen dafür, dass er Zayl für den einzigen ungewissen Faktor in der Gruft der Nesardos hielt.

Der Nekromant fand nichts ungewöhnlich daran, dass die Fa­milie unter dem Haus eine Gruft errichtet hatte. Eine solche Praxis war weder in Lut Gholein noch in der übrigen östlichen Welt etwas Unbekanntes. Vor allem die Reichen und Mächtigen schienen ihre Toten um sich haben zu wollen, als sei deren sterb­liche Hülle mehr wert als die des ärmsten Bettlers auf der Straße.

Und doch steckte hinter der Gruft im Haus Nesardo mehr, und der Nekromant wollte es unbedingt zu sehen bekommen. Wäh­rend Salene ihn durchs Haus führte, nahm er abermals die ver­sammelten Seelen unter ihm im Boden wahr, und er fühlte auch die nicht identifizierbaren Energien, die sich um sie zu legen schien oder die vielleicht sogar der Grund für ihren Besuch wa­ren.Die drei begaben sich einige Stufen weit nach unten, bis sie das Erdgeschoss hinter sich gelassen hatten. Sie gingen vorbei an leeren, verstaubten Kammern, deren brutale Geschichte Zayl anhand der eindringlichen emotionalen Eindrücke wahrnehmen konnte, die sich immer noch dort hielten.

Plötzlich zögerte Salene und wandte sich dem Nekromanten zu. »Meine Familie ist nicht frei von dunklen Taten, Meister

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Zayl.« Er nickte, eine darüber hinausgehende Reaktion war nicht nö­

tig. Da sie die Gabe besaß, hatte Salene vermutlich ihr Leben lang die Ausstrahlungen dieser Kammern bemerkt, weshalb sie wohl annahm, es sei ihm beim Vorbeigehen nicht anders ergangen.

Am Ende des Korridors folgte eine weitere Treppe. Der Rathmaner versteifte sich ein wenig, da er merkte, dass sie bald ihr Ziel erreicht haben würden.

Augenblicke später standen sie vor einer schweren Eisentür. Salene hielt die Lampe näher, bis in der Mitte der Tür ein achtek­kiges Sternensymbol beleuchtet wurde. Polth stellte sich zu sei­ner Herrin, und nachdem er Zayl seine Lampe gereicht hatte, zog er an dem runden Griff.

Ein Quietschen, das durch Mark und Bein ging, erklang, als der Leibwächter die Tür aufzog. Im gleichen Augenblick kam Zayl ein Schwall flüsternder Stimmen entgegen, die weder zu ihm noch zu einem anderen lebenden Wesen sprachen. Es waren die Stimmen der Toten, die er schon zuvor wahrgenommen hat­te. Die Stimmen der Nesardos, die unaufhörlich ihre Vergangen­heit durchlebten ...

Als Polth die Lampe wieder an sich nahm, fiel Zayl auf, dass Salene ihn aufmerksam beobachtete. »Manchmal«, murmelte sie, »kommt es mir so vor, als würde ich hier unten die Stimmen meiner Ahnen hören ...«

Sie wandte sich ab und trat ein, dicht gefolgt von Polth und erst dann von Zayl.

Beim Blick in die Gruft musste der Nekromant einräumen, dass ihm sein erster Besuch bei den Toten nichts weiter als einen flüchtigen Eindruck von ihrer letzten Ruhestätte vermittelt hatte.

Zwar verhinderten die Schatten, dass er das ganze Ausmaß er­

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kennen konnte, doch die Gruft war so weitläufig, dass sie nicht nur den Bereich unter dem Haus, sondern wohl annähernd das ganze Grundstück beanspruchte. Die Decke war so hoch wie in vielen Kathedralen, die er gesehen hatte. Er und seine Begleiter standen am Kopf einer weiteren Treppe, die hinunterführte in die eigentliche Gruft, deren Boden aus makellos verfugten Steinplat­ten bestand. Zu beiden Seiten waren in Kammern, die mindes­tens zehn Stockwerke hoch reichten, die sterblichen Überreste von Salenes Blutlinie beigesetzt. Glänzende, weiße Grabsteine bedeckten alle Flächen, Namen und Daten des jeweils Verstorbe­nen waren eingemeißelt. Die Kammern setzten sich fort, bis sie außerhalb des Lichtscheins von der Dunkelheit geschluckt wur­den. In der unmittelbaren Umgebung war nicht ein einziger Platz noch frei.

»Wir werden noch ein Stück weit gehen müssen«, flüsterte Salene und stieg die Treppe hinunter. »Riordans Grab befindet sich in etwa auf halber Höhe.«

»Gibt es noch weitere Ebenen?« »Drei. Auf einer sind die Leichname der treuen Diener beige­

setzt. Die unterste gehört nicht meiner Familie, sondern es han­delt sich hierbei um eine ältere Gruft. Die ersten Nesardos haben auf ihr gebaut.«

Der Rathmaner runzelte die Stirn. »Wo müsste man ...« Sie schüttelte prompt den Kopf. »Man kann nicht dorthin

gelangen. Der Zugang wurde vor Jahrhunderten bei einem Beben verschüttet. Ich weiß das so genau, weil Riordan stets von unse­rer Familiengeschichte fasziniert war. Bei seinen Nachforschun­gen stieß er auf diese Information.«

Dringender als zuvor wollte Zayl mit dem Schatten von Lord Nesardo reden. Es gab einiges, was dieser Riordan vielleicht wür­

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de beantworten können und was nichts mit dem zu tun hatte, was seine Witwe wissen wollte.

Eine Schicht aus grauem Staub bedeckte den Boden, ein paar Fußspuren zogen sich durch die Gruft. Ein Paar passte nach Form und Größe zu Salene. So tief unter der Erde blieb der Staub nicht aus, doch er legte sich nur langsam über alles. Nach der Anzahl Spuren und ihres Verlaufs zu urteilen, musste sie vor einigen Jahren bei Riordans Beisetzung entstanden sein. Er sah zu seiner Gastgeberin und bemerkte, dass sie ihren alten Spuren exakt folgte. Möglicherweise durchlebte sie diesen tragischen Augen­blick ein weiteres Mal.

Sie mochten zwar tief unter der Erdoberfläche und inmitten von Toten sein, dennoch war die Gruft keineswegs frei von Le­ben. Aaskäfer, manche so groß wie Zayls Handteller, eilten in alle Richtungen davon, sobald der Lichtschein sie erfasste. Tau­sendfüßler zogen sich in Ritzen im Stein zurück. Am meisten erstaunten ihn jedoch die Spinnennetze, die weite Bereiche der Gruft wie ein Schleier überzogen. Einige von ihnen hatten die Größe, um einen erwachsenen Mann einzuhüllen, und in ihnen hingen die in einen Kokon gewickelten, verschrumpelten Leiber derjenigen, die den Spinnen zum Opfer gefallen waren. Bei den meisten handelte es sich um andere Insekten, doch ein paar von ihnen waren Ratten, zweifellos kränkliche Exemplare, die von den kleineren Spinnen überwältigt werden konnten.

»Als Riordan starb, habe ich die ganze Gruft mit einer Heer­schar von Arbeitern von sämtlichem Ungeziefer befreien lassen«, sagte Salene, als sie voller Abscheu die Netze betrachtete. »Ich kann nicht glauben, dass es jetzt schon wieder so übel aussieht. Wo kommen sie bloß alle her?«

Zayl erwiderte nichts, da er viel zu sehr von den immer stär­

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ker werdenden psychischen Ausstrahlungen gefesselt war. Jeder Tote existierte in seinem Grab in einem traumähnlichen Zustand weiter, die Geister waren aktiv, obwohl sie hätten ruhen oder längst von hier fortgegangen sein müssen. Das Flüstern war so laut geworden, dass sich Zayl versucht fühlte, sich die Ohren zuzuhalten.

Sie waren erst ein paar Schritte weit gegangen, da blieb die Edelfrau plötzlich stehen. Ein Blick in ihre Augen war, was der Nekromant brauchte, und ein Blick zur Marmortafel gleich über ihnen bestätigte, dass sie die sterblichen Überreste von Riordan Nesardo erreicht hatten.

»Wenn Ihr lieber einen Moment allein sein möchtet, Mylady ...«

»Nein, seit seinem Tod hatte ich schon genug Momente dieser Art. Mein Gemahl bedeutete mir viel, Meister Zayl, auf gewisse Weise habe ich ihn sogar geliebt, und ich werde es wohl immer tun. Aber jetzt halte ich es für das Beste, wenn wir das tun, was wir tun müssen, damit wir ihn dann wieder in Ruhe lassen kön­nen.«

Der Zauberkundige war sich nicht so sicher, dass es so leicht sein würde, wie Salene offenbar glaubte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er aus Riordans Kammer nichts empfing. Es war die einzige Ruhestätte, in der kein Geist aktiv war. Aber wieso, wenn doch keiner der anderen zur Ruhe kam?

Er hoffte, diese und andere Fragen bald beantworten zu kön­nen. »Dann werde ich hier mit meiner Arbeit beginnen.« Er griff unter seinen Mantel und zog ein Stück weiße Kreide aus einer der Gürteltaschen. »Wenn ich um ein wenig Platz bitten dürfte ...« Während Salene und Polth zurückwichen, kniete er nieder, stellte seine eigene Öllampe zur Seite und zeichnete dann ein

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Fünfeck auf den Boden. In jede der Ecken malte er eines der fünf Elemente, die Rathma predigte – Erde, Luft, Feuer, Wasser und Zeit –, und in die Mitte den Umriss einer Schlangenform, darun­ter setzte er einen nach unten gerichteten Bogen. Dies war eine vereinfachte Ausführung des Symbols, das Trag’Oul repräsen­tierte und das üblicherweise für Zauber verwendet wurde. Als Drehpunkt des Gleichgewichts war der Drache mit allen Elemen­ten verbunden, und sie mit ihm. Auch wenn es ein vereinfachtes Symbol war, stellte es doch eine komplexere Version dar als alles, was Zayl in der Vergangenheit benutzt hatte. Eine Fülle von Symbolen zierte nach einer Weile die Ränder. Der Nekromant vermutete, sie alle würden nötig sein, wenn er die gewünschten Ergebnisse erzielen wollte.

Als das Muster endlich fertig war, holte er Humbart aus der Gürteltasche.

»Was für ein deprimierender Ort«, knurrte der Schädel. »Hier möchte ich ja nicht begraben sein ... jedenfalls nicht, so lange ich ein Wörtchen mitzureden habe.«

Salene musste über die Bemerkung leise lachen, während Polth etwas vor sich hin brummte. Da der Leibwächter damit rechnete, irgendwann in dieser Nacht den Geist von Riordan Nesardo zu sehen, schien ihn ein sprechender Totenschädel nicht großartig zu erschüttern.

»Ruhe, Humbart«, murmelte der Nekromant und legte den blanken Schädel in die Mitte und damit genau auf das Zeichen von Trag’Oul. Hin und wieder ergab sich eine Situation, in der ihm Humbart hilfreich sein konnte, und dies war eine solche. Als Bindeglied zwischen dem Leben nach dem Tod und der Ebene der Sterblichen war Humbart Wessel unübertrefflich. Für Zayl aber stellte er vor allem eine weitere Vorsichtsmaßnahme dar, um

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seine Chancen zu verbessern, Salenes verstorbenen Gemahl auf­spüren zu können.

»Ich weiß gar nicht, warum ich das mache«, murrte Humbart. »Diese Seelen sind alle so launisch, so voller Elend und Trauer. Wenn ich einen Magen hätte, hätte er sich mir bei all dem Wehklagen wohl längst umgedreht ...« Nachdem er seine Meinung kundgetan hatte, schwieg der Geist.

Der Rathmaner griff nach dem Fläschchen, in dem sich Sale­nes Blut befand. Mit der Spitze seines Dolchs zog er den Inhalt auf die Klinge. Dann nahm er die Waffe und zeichnete einen Kreis um Schädel und Symbol.

Er sah die Edelfrau an und sagte: »Bitte die Gegenstände.« Salene übergab ihm den Beutel. Der Nekromant holte ein Teil

nach dem anderen heraus, als Erstes einen zeremoniellen Dolch, in dessen Heft aus massivem Gold das Symbol der Nesardos eingraviert war. Die stumpfe Klinge wies darauf hin, dass diese Waffe nur der Dekoration diente, nicht aber dem Kampf.

Das zweite Objekt war ein blauer Seidenschal von der Art, wie der Rathmaner sie bei einigen Edelmännern auf dem Schiff gese­hen hatte, mit dem er hergekommen war. Diese Schals, die über die Zwillingsmeere gebracht wurden, dienten dem Zweck, Rior­dans hohen Status in Westmarch zu unterstreichen.

Schal und Dolch legte er außerhalb des mit Blut gezeichneten Kreises auf den Boden, dann holte er das letzte Teil aus dem Beu­tel: ein Medaillon an einer Goldkette. Der Nekromant runzelte die Stirn, als er es betrachtete. Die Kette war jüngeren Datums, doch das Medaillon war noch älter als das Haus Nesardo.

Die Oberfläche des Metallobjekts war im Laufe der Zeit fast völlig glatt geworden, doch er konnte noch immer eine Form ausmachen – einen Kopf und acht Beine, die sich in alle Richtun­

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gen ausbreiteten. Zayl versuchte, sich daran zu erinnern, ob ihn jemals etwas gelehrt worden war, was dieser Form entsprach. Ihm wollte aber nichts einfallen, und schließlich legte er es wi­derstrebend zu den anderen Objekten.

»Ich werde jetzt mit der Beschwörung beginnen«, ließ er Sale-ne wissen. »Es wäre am besten, wenn Ihr Euch dicht neben mir aufhieltet. Eure Nähe kann unsere Erfolgsaussichten verbessern.«

Ohne zu zögern stellte sie sich zu ihm. Ihre plötzliche Nähe hatte auf Zayl, der es gewöhnt war, bei einer Beschwörung allein zu sein, einen Moment lang eine ablenkende Wirkung. Er spürte, wie ihre eigene Kraft mit jedem Atemzug pulsierte. Die Gabe war für diese Frau ein so natürlicher Teil ihres Wesens, dass ihr wohl gar nicht klar war, welches Potenzial sie besaß.

Plötzlich regte sich Polth. Zayl vermutete, dass er die Ursache für diese Reaktion des Leibwächters war, doch Polth, der eine Hand auf seiner Waffe ruhen hatte, sah nicht zu ihm, sondern spähte in die Dunkelheit.

»Was ist los, Polth?«, fragte Salene. »Nichts, Herrin. Vermutlich nur das Ungeziefer.« Der Nekromant hielt den elfenbeinfarbenen Dolch über die

Mitte der Zeichnung und begann zu murmeln. Er fühlte, wie ihn Energien umwirbelten und sich für den Zauber sammelten. Das Flüstern der Geister brach ab, als sie spürten, dass jemand in ihre Ebene vordrang.

Riordan ... rief Zayl stumm. Riordan Nesardo, Gemahl von Salene... Riordan, Herr des Hauses Nesardo ...

Einige frühere Hausherren regten sich kurz, kehrten aber prompt in ihren Traumzustand zurück, als sie erkannten, dass nicht sie gerufen wurden. Zayl wusste durch den vorangegange­nen Zwischenfall, dass er sich diesmal stärker konzentrieren

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musste, damit er diese Seelen nicht noch einmal in ein solches Chaos stürzte.

Die Gruft war schon beim Betreten kühl gewesen, doch nun war es noch deutlich kälter geworden. Salene schauderte, und Polth stieß einen leisen Fluch aus. Für den Rathmaner dagegen war diese Temperaturveränderung ein gutes Zeichen. Es bedeute­te, dass sein Zauber tatsächlich die Welt der Geister erreichte.

Riordan ... Riordan Nesardo ... kommt zu uns ... kommt zu uns in der Stunde, in der Eure Braut Euch braucht ... Eine unwil­lige Seele war oft leichter zu einer Reaktion zu bewegen, wenn ein geliebter Mensch involviert war.

Zayl fühlte, wie sich plötzlich etwas regte. Er hielt den Dolch an einer anderen Stelle über das Muster und sprach die Worte, die von Rathma an seine Anhänger weitergegeben worden waren – in einer Sprache, die nur sie verstanden.

Weiter geschah jedoch nichts. Der Nekromant spürte, dass sich ihm etwas nähern wollte, jedoch von anderen Kräften zu­rückgehalten wurde.

Ohne zu Salene zu blicken, sagte Zayl: »Mylady, wenn Ihr ei­ne Hand auf das Heft des Dolchs legen und dann leise den Na­men Eures Gemahls rufen würdet.«

Wiederum tat sie, worum er sie bat, was ihm einmal mehr zeigte, dass sie seinen Fähigkeiten vertraute. Zayl korrigierte ihren Griff, bis sie das Heft richtig umschlossen hielt, dann kon­zentrierte er sich wieder auf seinen Zauber, um ihn auf ihre Rufe abzustimmen.

»Riordan?«, flüsterte die Edelfrau, während völlige Stille ein­trat. »Riordan? Kannst du mich hören? Ich bin es, Salene. Bitte, Riordan, ich muss mit dir sprechen ...«

Wieder machte sich die Präsenz bemerkbar. Diesmal kam sie

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ein Stück näher, wurde aber weiterhin von etwas zurückgehalten. Der Nekromant gewann den vagen Eindruck einer geflügelten Gestalt...

Plötzlich packte er Salene. »Runter!« »Da kommt was, Jüngelchen«, tönte Humbart. »Ich glaube, es

ist ...« Ein entsetzliches Heulen erfüllte die Gruft und wurde von al­

len Seiten zurückgeworfen. Ratten, Insekten und Spinnen brach­ten sich von einer urtümlichen Angst erfüllt in Sicherheit.

Aus den Spinnweben und dem Staub bildete sich ein monströ­ses Ding mit ausladenden Schwingen, das zugleich feurig und vertrocknet und zerfallen aussah. Der Körper war ein kadaver­gleicher Leichnam, an dem sich nicht einmal genug Fleisch be­fand, um die Knochen zu bedecken. Es gab noch den Rest von etwas, das an ein Gesicht erinnerte – das eines Mannes, wie es schien – und das ein paar Haarbüschel und einen Bart aufwies. Doch es waren keine Augen mehr vorhanden, sondern nur noch leere schwarze Höhlen. Der heulende Mund war weiter aufgeris­sen, als es einem menschlichen Wesen je möglich gewesen wäre.

Auch die Arme waren weiter ausgestreckt, als es ein Men­schen je hätte tun können, zudem bildeten sie so wie bei einer Fledermaus einen Teil der Flügel. Die verbliebenen Finger hatten die Form verdrehter Klauen, die zweifellos Fleisch zerfetzen konnten.

Noch während der geisterhafte Schatten Gestalt annahm, schoss er auf die Gruppe zu. Zayl hatte Salene gerade eben zu Boden drücken können, da jagte der teuflische Schatten auch schon über sie hinweg. Hätten sie weiter gekniet, wäre das Ding durch sie hindurchgeschossen.

»Was ist das?«, brachte die Edelfrau heraus. »Ist das ... ist das

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Riordan?« »Nein ... das ist ein Rachegeist, eine verdammte Seele.« Was

die hier zu suchen hatte, interessierte den Rathmaner vor allem anderen. Bevor er jedoch über die Gründe spekulieren konnte, musste er diese Begegnung erst einmal überleben. »Polth! Packt sie!«

Er hätte nichts zu sagen brauchen, denn der Leibwächter beug­te sich soeben vor, um seine Herrin aufzuheben. Er zog sie hoch, als würde sie nichts wiegen, dann legte er schützend einen Arm um sie, während seine andere Hand die Waffe hielt.

Ein Schwert konnte jedoch nichts gegen einen Rachegeist aus­richten. Der Nekromant rollte zur Seite weg und sprang auf, den Dolch in der Hand. Es überraschte ihn nicht, dass der monströse Geist auf ihn fixiert war. Rachegeister dürsteten stets nach dem, was sie nicht länger besaßen, und Zauberkundige waren eine doppelt so lohnenswerte Beute. Zwar würde ein Zauberkundiger ihren Hunger nicht stillen können – nichts Sterbliches war dazu in der Lage –, doch das würde einen Rachegeist nicht davon ab­halten, ihm all seine Kräfte zu entziehen.

Danach würde er sich gegen Salene wenden, da sie die Gabe ebenfalls besaß.

Den Blick auf den kreischenden Ghul gerichtet, befahl Zayl: »Bringt sie nach oben! Es wird uns nicht aus der Gruft folgen. Geht!«

»Nein! Ich werde Euch nicht allein hier zurücklassen!« Lady Nesardo wand sich, um sich aus Polths Griff zu befreien.

»Herrin, Ihr müsst mitkommen«, widersprach der Riese und zog sie hinter sich her auf die Stufen zu.

Mit einem Gänsehaut erregenden Schrei jagte der Rachegeist neuerlich auf Zayl zu. Auch wenn er ursprünglich einmal

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menschlich gewesen war, fehlte ihm der untere Teil des Torsos. An seiner Stelle peitschte ein gefährlicher knöchernen Fortsatz hin und her, vergleichbar fast mit dem Stachel eines Skorpions. Der unheilvolle Schatten war in keiner Weise stofflich, doch wenn irgendein Teil von ihm mit Zayls Körper in Berührung käme, würde der das so empfinden, als würden Hunderte von Klingen in sein Herz gejagt.

Dieser Schmerz würde allerdings bedeutungslos sein im Ver­gleich zu dem, was er zu erdulden hätte, sollte der Rachegeist Gelegenheit bekommen, ihn auszusaugen.

Murmelnd hob Zayl den Dolch hoch. Aus der Kammer, die dem Nekromanten am nächsten war, kam ein Wust von Knochen geschossen, die die Marmorplatte zerschmetterten und sich dann vor Zayl zu einer Wand formierten, deren Leuchten es mit dem des Dolches aufnehmen konnte. Ihm missfiel es, die Gerippe von Salenes Verwandten zu stören, doch ihm blieb keine andere Wahl.

Der Rachegeist wich gerade noch zurück, ehe er mit der Wand aus Knochen in Berührung kommen konnte. Er kreischte wü­tend, während er nach einem Weg suchte, um den Zauber zu umgehen.

Das würde nicht allzu lange dauern, und genau genommen bot eine solche Abwehr nur wenig Schutz vor dem Monster, doch der Nekromant war auch in erster Linie darauf aus, Zeit zu gewin­nen, damit er einen besseren Zauber wirken konnte. Und so lange dieses Ding sich auf ihn konzentrierte, war Salene in Sicherheit.

Doch plötzlich nahm er aus dem Schatten ringsum weitere Be­wegungen wahr.

Er riskierte sein eigenes Leben, als er sich die Zeit nahm, um zu den in der Dunkelheit liegenden Stufen zu schauen. »Bringt

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sie hier raus, Polth! Schnell! Es ...« Der Rachegeist hatte unterdessen erkannt, dass die Barriere

aus Knochen für ihn keine Gefahr darstellte. Prompt schoss er wieder heran, flog durch die in der Luft stehende Wand und brachte sie zum Einsturz. Die Knochen zuckten, dann landeten sie als Haufen auf dem Boden.

Zayl riss den Dolch erneut hoch, reagierte aber zu spät. Zwar konnte er die Kreatur zur Seite ablenken, doch ein Flügel glitt durch seinen Leib.

Es war, als hätte ihm jemand einen Teil seiner Seele geraubt. Mit einem Aufschrei ließ sich der Rathmaner auf ein Knie nie­dersinken. Mehr konnte er nicht tun, um sicherzustellen, dass sich sein Griff um den Dolch nicht lockerte.

»Zayl, Jüngelchen! Über den Grabkammern lauert eine üble Bestie! Ein haariger Bastard mit acht Beinen, Reißzähnen und Klauen! Bei meiner verlorenen Seele! Da ist ja noch einer!«

Leise Zischlaute, die von allen Seiten kamen – auch von oben –, erfüllten mit einem Mal die Gruft. Mehrere Monster ließen sich durch die dichten Spinnweben herab.

Salene stieß einen Schrei aus. Durch den Schleier aus Schmerz, der über seinen Augen lag,

sah Zayl, dass sie und Polth plötzlich von mindestens vier ge­drungenen Schemen umgeben waren, die in aufrechter Haltung fast so groß gewesen wären wie der Leibwächter. Sie wirkten wie eine Kreuzung aus Mensch und Riesenspinne. Polth hielt sie mit dem Schwert von sich fern, doch die Kreaturen, die sich auf vier makabren Hinterbeinen bewegten, bereiteten sich offensichtlich darauf vor, als Gruppe anzugreifen. Eines der Geschöpfe öffnete das lippenlose Maul, zischte und bleckte Reißzähne von einer Größe, wie der Nekromant sie bisher nur bei den giftigsten Ver­

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tretern der Dschungelspinnen gesehen hatte. Doch die Sorge um Salene und Polth trat in den Hintergrund,

da Zayl fühlte, dass der Rachegeist erneut zum Angriff überging. Er rollte sich zur Seite, gerade als der Geist sich auf die Stelle stürzte, an der er eben noch gekniet hatte.

»Komm her!«, herrschte Humbart ihn an. »Mit dir nehme ich’s auf, selbst wenn ich mir meine nicht vorhandenen Arme auf den Rücken binden ließe!«

Der Rachegeist gab einen missbilligenden Laut von sich, dann schaffte er es irgendwie, den Schädel mit seinen körperlosen Flügeln zur Seite zu wischen.

Humbart fluchte, als er gegen eine Wand prallte und dort lie­gen blieb, doch sein Ablenkungsmanöver funktionierte. Zayl hatte ausreichend Zeit, um einen Zauber zu wirken. Ein Speer aus Knochen nahm vor ihm in der Luft Gestalt an und schoss nach nur einem weiteren Wort auf den Rachegeist zu.

Die Klaue von Trag’Oul war eine stoffliche und mystische Waffe zugleich. Dass der Rachegeist keine sterbliche Substanz besaß, machte dabei nichts aus.

Das Ziel der Klaue drehte sich in dem Moment um, in dem das Geschoss es fast erreicht hatte. Der Rachegeist versuchte noch, seinen Leib zu verdrehen und sich in Sicherheit zu bringen, doch er war zu langsam. Zayls Zauber fraß sich in seine Seite.

Ein Schrei, entsetzlicher als alles Vorangegangene, entwich der Kreatur, die sich abwandte und in einen entlegeneren Bereich der Gruft zurückwich.

Der Nekromant rang noch immer nach Atem, als er nach Sa­lene und Polth sah. Ihre grotesken Angreifer hatten sich inzwi­schen eine Strategie überlegt. Einer machte einen Satz hinauf zu den Grabkammern, dann in Richtung Decke, von wo er sich auf

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den Leibwächter fallen ließ. Polth reagierte instinktiv auf die Attacke, doch in dem Augenblick, in dem er sich bewegte, rück­ten die beiden Vordersten der Gruppe gegen Salene vor.

Sie war aber offensichtlich nicht so hilflos, wie die Kreaturen geglaubt hatten. Die Edelfrau mit dem roten Haar machte eine Geste hin zu dem Geschöpf, das sie anzuspringen versuchte – und fast im gleichen Augenblick wurde es von einem Eisblitz mitten in die Brust getroffen. Es wurde gegen die Wand ge­schleudert. Ein Geräusch wie von berstenden Knochen war zu hören, dann sackte das Ding auf dem Boden zusammen. Eine Eisschicht überzog den Kadaver.

Salene betrachtete ungläubig das Ergebnis ihres Handelns. Die zweite Kreatur versuchte, diesen momentanen Schock

auszunutzen. Mit ausgestreckten Klauen trachtete sie danach, Salenes Kehle zu erreichen.

Ein eisblaues Licht blitzte auf, und im gleichen Augenblick schien ein Schutzschild zwischen Salene und den Reißzähnen des Monsters entstanden zu sein.

Das Geschöpf zog aufheulend eine Klaue zurück, die durch und durch gefroren war. Abermals sah es so aus, als könne Sale-ne nicht fassen, was sie bewirkt hatte.

Polth hatte den Angriff der ersten Kreatur abzuwehren ver­mocht, und nachdem er sie mit geschickten Schwerthieben weit genug zurückgetrieben hatte, machte er kehrt und durchbohrte das Monster, dessen Klaue gefroren war.

Doch dann sprang bereits der nächste Angreifer aus dem Schatten und stürzte sich – begleitet von zwei weiteren seiner Art – auf den Leibwächter.

Ohne zu zögern schleuderte Zayl ihnen seinen Dolch entge­gen. Die leuchtende Klinge steuerte unbeirrt auf ihr Ziel zu und

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vergrub sich tief im Rücken einer der Kreaturen. Mit einem scharfen Zischen begann die Kreuzung aus Mensch und Spinne, sich um sich selbst zu drehen, während sie versuchte, nach der Waffe zu greifen.

Der Umstand, dass die Klinge immer noch im Rücken steckte, erschreckte den Rathmaner zutiefst. Eigentlich hätte der Dolch nach vollbrachter Tat zu ihm zurückkehren sollen. Durch Blut und Opfergabe war die Waffe vor Jahren eng mit Zayls Willen verschmolzen worden. Wenn er wollte, dass sie zu ihm zurück­kehrte, dann tat sie das auch ... nur hier und jetzt nicht!

Erst in diesem Augenblick begann er zu begreifen, dass er je­mandem in die Falle gegangen war.

Die sechste Bestie ließ sich aus dem Dunkel herabfallen und fauchte begierig, als sie auf dem Zauberkundigen landete. Das Gewicht drückte Zayl zu Boden und ließ ihn beinahe das Bewusstsein verlieren. Klauenhände zerrten an seinem Rücken, zerfetzten den Stoff und hinterließen klaffende Fleischwunden. Ätzendes Gift tropfte ihm ins Genick.

Doch so schnell ließ sich Zayl nicht unterkriegen. Er rammte seinen Ellbogen in den Leib seines Widersachers und war zufrie­den, dass der einen Schmerzenslaut ausstieß. Die Last, die auf dem Nekromanten ruhte, ließ ein wenig nach, sodass er sich auf den Rücken drehen und sich besser gegen seinen Angreifer weh­ren konnte.

Die Monstrosität schnappte mit gelben Zähnen nach ihm, die so lang waren wie seine eigenen Finger. Der Atem stank nach Grab, doch wirklich erschreckend waren die Augen des Dings. Zayl hätte schwören können, dass sie etwas Menschliches hatten ...

Der Rathmaner hob den Blick ein wenig an und bemerkte, dass

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auf dem Kopf des Dings eine Wulst gewachsen war. Erst als er genauer hinsah, erkannte er, dass es sich um eine separate Krea­tur handelte ... eine Spinne, die zwar kleiner war als das andere Geschöpf, aber immer noch größer als Zayls Hand. Mit hasser­füllten roten Augen starrte sie ihn an, die Beißzangen zuckten bösartig.

Diese Erkenntnis wäre um ein Haar Zayls Untergang gewesen, denn er war lange genug abgelenkt, dass sein Gegner ihn in einen festeren Griff nehmen konnte. Die Zähne näherten sich der Keh­le des Nekromanten und ...

Plötzlich wurde die Kreatur von einer massigen Faust am Kopf getroffen, die sie zur Seite taumeln ließ. Dann kam Polth in Zayls Blickfeld. Die Uniform des Leibwächters hing in Fetzen herab, er selbst war mit Wunden übersät, doch er grinste trium­phierend.

»Danke, Meister Zayl«, polterte er. »Die eine, die ihr mir ab­nahmt, hat genügt. Die beiden anderen sind geflohen, sie haben wohl ihre Lektion gelernt.«

Vom Gegner des Rathmaners abgesehen, waren die verbliebe­nen Kreaturen alle tot, und während Polth ihm aufhalf, ver­schwand auch der letzte Überlebende schnell in der Dunkelheit.

Der Nekromant runzelte die Stirn, da er sich eingestehen musste, dass er die Kreaturen nicht auf magische Weise wahr­nahm. Sie entzogen sich einfach völlig seinen Fähigkeiten. Kein Wunder, dass ihn das Geschöpf, das sich von der Decke herabließ, hatte überrumpeln können.

Dann erwachte in ihm eine andere Sorge. Zayl versuchte, an dem großen Leibwächter vorbeizusehen. »Salene! Was ist ...«

»Unverletzt«, erwiderte Polth. »Aber ob sie auch innerlich un­versehrt ist ... das weiß ich nicht.«

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Zayl verstand, was der Leibwächter meinte. Salene Nesardo stand da, die Arme eng um sich geschlungen, und sah reglos auf die Bestie, die sie besiegt hatte. Ihr Anblick verriet Zayl, dass seine Gastgeberin soeben zum ersten Mal ein Leben genommen hatte. Dass es sich dabei um ein Ungetüm handelte, das sie hatte töten müssen, tat dabei nichts zur Sache.

»Wir müssen sie nach oben bringen, sie muss sich hinlegen«, erklärte der Nekromant. »Die Umgebung dort wird ihr helfen, sich zu entspannen. Ich werde in wenigen Augenblicken zu Euch stoßen.«

»Aye.« Humbarts Schädel lag mit den Augenhöhlen nach oben auf

dem Boden. Sein Gemurmel, er wünsche sich einen guten Schwertarm und zwei Beine, waren für Zayl ein deutliches Si­gnal, dass es ihm gut ging. Daher wollte er zuerst seinen Dolch wieder an sich nehmen, der noch immer aus dem Rücken seines Opfers ragte. Während der Nekromant zu ihm ging, stieß er auf den Rest des Musters, das er auf den Boden gezeichnet hatte.

Wartet bitte wartet bitte wartet bitte hört bitte zu hört bitte zu! Die eindringliche Stimme, die sich unvermittelt in Zayls Kopf

zu Wort meldete, ließ ihn vor Schmerz die Hände an die Schläfen pressen. Er konzentrierte sich und baute die geistigen Schutz­schilde auf, die den Ruf erträglicher machten.

Er sucht den Mond sucht den Mond sucht den Mond er hat ihn aber es ist nicht der Mond sondern es ist der Mond und wenn der Mond gegen den Mond gehalten wird kommt die Spinne wieder ...

Zayl versuchte, dem Redefluss einen Sinn zu geben. Wer zu ihm sprach, war ihm sofort klar. Riordan Nesardo hatte endlich reagiert, wenn auch nicht auf die Art, die der Nekromant erwar­

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tet hatte, und auch nicht zu dem Thema, zu dem der Schatten hätte befragt werden sollen. Doch der frenetische Tonfall ließ keinen Zweifel, dass es sich um eine Warnung handelte, die er vor allem anderen übermitteln wollte. Das war das Einzige, was in diesem Augenblick zählte.

Was meint Ihr?, dachte der Nekromant. Welche Spinne? Wel­cher Mond?

Vage Umrisse bildeten sich in der Nähe der Kammer heraus, in der Salenes Gemahl beigesetzt war. Spinne Mond Spinne Mond Spinne Mond Spinne Mond Mond Spinne Mond Spinnen Spinnenmond Spinnenmond die Zeit kommt die Spinne kommt Astrogha kommt ...

»Astrogha?«, fragte Zayl. Der Name kam ihm irgendwie be­kannt vor. »Spinnenmond?«

»Zayl!« Riordans Präsenz verschwand aus seinem Kopf, und auch die

schemenhaften Umrisse lösten sich prompt auf. Zayl hörte Polth fluchen, und dabei wurde ihm klar, dass Salene seinen Namen gerufen hatte.

»Pass auf, Jüngelchen!«, meldete sich Humbart zu Wort. »Da ist er wieder ...«

Der Rathmaner wurde von zwei kräftigen Händen gepackt und durch die Luft gewirbelt. Zayl landete mitten auf der Bestie, zu der er sich hatte begeben wollen. Mit dem Gesicht geriet er dabei an den Griff seines Dolches, den er instinktiv packte und heraus­zog, ehe er sich umdrehte, um zu sehen, was sich in der Gruft abspielte.

Das Kreischen, das durch den weitläufigen Saal hallte, noch bevor Zayl sich ganz umgedreht hatte, war Antwort genug. Der Rachegeist war zurückgekehrt, um sich den abgelenkten Zauber­

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kundigen vorzunehmen. Doch Polth hatte ihn aus dessen Flugbahn befördert und stand

nun trotzig und mit erhobenem Schwert da, während sich der Geist auf ihn stürzte.

Der Rathmaner hätte sich vielleicht noch verteidigen können, doch der Kämpfer hatte keine Chance. Der Rachegeist jagte durch ihn hindurch, während die Klauen an den Flügeln nach der Brust seines Opfers zu greifen schienen.

Der Riese schrie auf und bebte am ganzen Leib, während seine Haut schrumpelte. Das Schwert glitt ihm aus den zerfallenden Fingern. Polths Fleisch verwandelte sich in Asche, und noch bevor er zu Boden sank, war von ihm kaum mehr als ein Skelett übrig.

Der Rachegeist setzte seinen Flug fort, sein Hunger war nach wie vor ungestillt. Salene stand ihm im Weg und war über den Tod ihres treuen Dieners so entsetzt, dass sie erstarrt zu sein schien.

Zayl hielt den Dolch mit der Spitze nach unten vor sich. So schnell er konnte, sprach er die Worte eines Zaubers. Polth war vor seinen Augen umgekommen, er würde nicht zulassen, dass Salene das gleiche Schicksal ereilte.

Das schwache Licht, das den Dolch umgab, sprang auf den Ra­chegeist über und hüllte ihn ein wie ein Spinnennetz. Er kreisch­te, während er weiter auf Salene zusteuerte, die kaum noch einen Schritt weit von ihm entfernt war.

»Ulth i Rathma syn!«, rief der Nekromant. Das Licht zog sich in die Klinge zurück ... und riss das Geist-

wesen mit sich. Die Kreatur heulte auf und schlug wie besessen mit den Flügeln, konnte sich aber dem Sog nicht entziehen. Zayl zitterte vor Anstrengung, da dieser Zauber sich aus seiner eige­nen Seele ernährte. Doch wenn er auch nur ein wenig nachließ,

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würde der Rachegeist ihn und die Edelfrau töten. Er bediente sich einer Variante jenes Zaubers, mit dem ein

Nekromant durch die Essenz seiner Feinde zu neuen Kräften kommen konnte. Es war ein gefährlicher Zauber, denn indem man das Leben eines anderen nahm, riskierte man es, die Eigen­schaften des Gegners zu übernehmen. Es gab Legenden über Rathmaner, die sich buchstäblich zu jenen Feinden gewandelt hatten, die auf diese Weise ausgelöscht worden waren. Nekro­manten, die dann auf die Seite der Hölle übergewechselt waren, bis sie von anderen zur Strecke gebracht werden konnten.

Doch was Zayl hier versuchte, war noch um einiges riskanter. Immerhin hatte er diesen mit einem weiteren Zauber kombiniert, der bei unlängst Verstorbenen zur Anwendung kam. Bei einem gewöhnlichen Schatten wäre das nicht weiter bedenklich gewe­sen, doch Zayl versuchte hier, die Kontrolle über eines der bösar­tigsten untoten Wesen überhaupt zu erlangen. Schlimmer aber war, dass er zwar seinen Gegner schwächte, jedoch nicht dessen Leben in sich aufnahm, sondern dessen Untod. Die Kälte, die den Menschen erfüllte, war so extrem, dass nicht einmal ein Diener des Gleichgewichts sie lange würde ertragen können.

Der kreischende Rachegeist bewegte sich über das hinweg, was von Polth übrig geblieben war, und näherte sich der Klinge. Zayl biss die Zähne zusammen. Einen letzten Zauber hatte er noch in der Hinterhand, doch er wollte den Geist so weit wie möglich unter Kontrolle haben, bevor er sich daran wagte. Ansonsten würde er der Edelfrau und sich selbst nur den Tod bringen.

Näher ... näher … Jetzt! Zayl konzentrierte sich auf die Überreste des Leibwächters. Polths Leichnam explodierte, da sein Schmerz im Augenblick

des Todes eine äußerst starke Macht war. Zayl lenkte diese

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Macht gegen den Rachegeist. Verstärkt durch die Magie des Nekromanten überwältigten die

Todesenergien den Geist und verbrannten ihn. Nach einem letz­ten wütenden Aufschrei war er spurlos verschwunden.

Zayl versuchte, sich vor den Auswirkungen der Vernichtung des Rachegeistes zu schützen, doch es wollte ihm nicht völlig gelingen. Die tödlichen Energien hüllten ihn ein ...

Das Letzte, was er hörte, war Salenes Schrei.

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SECHS

Salene Nesardo war sich nicht sicher gewesen, was sie von dem blassen, dunkelhaarigen Mann halten sollte, als sie im Schwarzen Widder entschied, ihn von Polth ansprechen zu lassen. Es er­schien ihr der richtige Entschluss, den Nekromanten um Hilfe zu bitten, auch wenn die Kirche von Zakarum in ihrer Kindheit eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. Vielleicht war die Entscheidung zum Teil durch ihre Gabe bedingt gewesen – oder ihren Fluch, wie sie manchmal darüber dachte –, vielleicht hatte aber auch ein Blick in diese grauen Augen genügt, um zu erkennen, was in ihm steckte. Gerüchte und Legenden machten die Nekromanten zu abscheulichen, geistesgestörten Grabräubern, Zauberkundigen, die mit dem Bösen unter einer Decke steckten. Doch das hatte Salene in ihm nicht entdecken können. Vielmehr war ihr etwas aufgefallen, was sie auch beim Blick in den Spiegel bei sich selbst bemerkte – eine stumme Entschlossenheit, das zu tun, was getan werden musste, ganz gleich welche Konsequenzen es für einen selbst nach sich zog.

Und nun war Zayl ihretwegen beinahe umgekommen. Er lag in dem Bett, das sie für ihn bereitgestellt hatte. Es war

das erste Mal, dass er dieses Bett benutzte. Da es ihr zu gefährlich erschienen war, ihn allein in der Gruft zurückzulassen, hatte sie ihn mühsam die Treppe hinaufgeschleppt. Erst als sie das Gefühl hatte, er sei in Sicherheit, war sie zu Sardak geeilt. Mit der Hilfe ihres Bruders hatte sie ihn dann ins Zimmer gebracht.

Salenes Hände zitterten noch immer. Im Geist hatte sie Polths Tod ein ums andere Mal durchlebt. Er war schon vor ihrer Ehe

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mit Riordan ein treuer Diener gewesen, der nicht gezögert hatte, den Nekromanten zu beschützen. Das war selbst für Salene über­raschend gekommen, doch vielleicht hatte Polth geglaubt, Zayl könne ihr Überleben besser als jeder andere sicherstellen. Es beschämte sie, dass nichts von dem Mann übrig geblieben war, was sie hätte beerdigen können. Der letzte Zauber des Rathma­ners hatte auch noch den Rest vernichtet, der der Zerstörung durch den Rachegeist entgangen war. Aber sie wusste auch, dass Polth für Zeremonien nie etwas übrig gehabt hatte. Es hätte ihm gefallen, dass Zayl ihn als Waffe gegen das Monster einsetzte, das ihn getötet hatte.

Sardak war ungewöhnlich zurückhaltend gewesen, als er sich anbot, die Diener zu rufen, damit diese ihr halfen. Doch Salene wusste, dass sich von ihnen keiner in die Nähe des Nekromanten wagen würde. Zum Glück war sie nie so schwächlich gewesen wie andere Frauen ihres Standes, und sie wusste sogar einiges dar­über, wie man Verletzten half, da sie sich oft genug ihrem Bruder hatte widmen müssen, wenn der wieder einmal dem Alkohol erlegen war.

Und sollten sich ihre eigenen Fähigkeiten als unzureichend er­weisen, konnte sie immer noch Humbart Wessel um Rat fragen.

»Sachte, sachte«, mahnte der Schädel sie, als sie die Fetzen von Zayls Mantel und Hemd entfernte. »Ich hoffe, Ihr habt einen starken Branntwein für diese Verletzungen mitgebracht.«

»Der steht gleich neben Euch.« Der Schädel des Söldners, den sie zusammen mit Zayl aus der Gruft geschafft hatte, lag auf seinem gewohnten Platz, links daneben stand eine Flasche mit Hochprozentigem.

»Achtet darauf, dass Ihr jede der Wunden damit tränkt, die diese Bestie ihm zugefügt hat. Ich hoffe, der Trank hat richtig

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Biss. Nicht so wie diese exotischen Liköre, die Blaublütige so gern trinken ... ich bitte um Verzeihung, Mylady.«

»Mein Bruder trinkt den Brandy. Er sollte jede Infektion abtö­ten.«

Humbart lachte hohl. »Ich wünschte, ich könnte einen Schluck davon probieren.«

Während sie mit einem Messer den Stoff wegschnitt, stellte Salene fest, dass Zayl wenigstens gleichmäßig atmete. Doch seine ohnehin schon blasse Haut war inzwischen praktisch weiß, und der bläuliche Schimmer rund um seine Lippen erschreckte sie.

Die Edelfrau nahm ein feuchtes Tuch aus der Keramikschüssel, die sie mitgebracht hatte, und begann, die Wunden zu säubern. Zayls Brusthaare waren verschwitzt, und trotz der schneeweißen Haut fühlte sich sein Körper an, als würde ein Inferno in ihm toben.

Als sie sich sicher war, die Wunden so gut wie möglich gesäu­bert zu haben, griff sie nach der Brandyflasche. Sie wusste, es gab auch verschiedene Kräuter, die hätten helfen können. Doch es war zu spät in der Nacht, um noch einen Diener loszuschicken. Es gab niemanden, der sie ihm um diese Zeit verkauft hätte.

Äußerst behutsam gab sie ein paar Tropfen auf die erste Fleischwunde.

Zayl zuckte kurz zusammen, eine weitere Reaktion folgte nicht.

»Keine Angst, Mädchen«, versicherte ihr Humbart. »Zayl hat eine hohe Schmerzgrenze. Mehr als das da würde ich von ihm jetzt nicht erwarten.«

Salene atmete wieder ruhiger, während sie mehr Branntwein auftrug. Jedes Mal kam von dem Nekromanten nur dieses kurze Zucken.

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»So, das sollte genügen«, murmelte sie ein paar Minuten spä­ter. Als sie die Flasche verschloss, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie zu keiner Zeit daran gedacht hatte, Zayl den langen rechten Handschuh abzustreifen. Irgendwann im Laufe der Beschwörung hatte er sich selbst den linken ausgezogen. Da er sich so wohl wie möglich fühlen sollte, begann Lady Nesardo an dem Stoff zu ziehen.

»Das ist nicht nötig!«, meldete sich prompt der Schädel zu Wort, der einen hektischen Tonfall bekommen hatte. »Es geht ihm auch mit dem Handschuh gut! Das ist typisch für Rathma­ner, lasst ihn einfach in Ruhe, verdammt!«

Salene stieß einen kurzen Schrei aus, dann wich sie aus Schreck vor dem zurück, was sich unter dem Handschuh befand. Da die Hand zuckte, als würde sie auf den Schrei reagieren, war für Salene der Schock noch größer.

»Salene!« Sardak schlug mit der Faust gegen die Tür. »Salene, was ist los?« Er drückte die Tür auf und schob seine Schwester zur Seite, da sie ihn ungewollt daran hinderte, ins Zimmer zu gelangen.

»Es ist nichts, Mädchen«, beteuerte Humbart. »Überhaupt nichts! Es ...«

»Feuer und Schwefel!«, rief Sardak aus. »Was habe ich dir über seine Art gesagt?«

Salene starrte weiter auf die Hand, und unter ihr Entsetzen mischte sich eine morbide Faszination. Sie hörte weder ihren Bruder noch den Schädel reden. Stattdessen wurde ihr Blick wie magisch von Zayls rechter Hand angezogen.

Sie war ganz und gar ohne Fleisch! Nur ein paar exakt platzierte Sehnen schienen die Knochen

zusammenzuhalten, doch von Haut war auf dieser erschrecken­

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den Extremität nichts auszumachen – von den Fingerspitzen bis hin zum Handgelenk nicht! Erst dort wurde der Knochen wieder von Fleisch bedeckt, wenn es auch auf einer Länge von zwei oder drei Zoll den Arm hinauf wie verkohlt erschien.

Sardak bekam sie zu fassen. »Komm mit, Salene! Überlass die­ses Monstrum sich selbst, es ...«

»Hör auf! Du würdest keinen besseren Mann als Zayl fin­den!« Die Edelfrau schüttelte den Kopf. Allmählich fühlte sie sich wieder in der Lage, klare Gedanken zu fassen. »Nein ... nein, Sardak. Er hat mir das Leben gerettet, und Polth wollte er eben­falls retten!«

»Salene!« Sie dirigierte ihren Bruder zurück zur Tür. »Danke, dass du so

um mich besorgt bist, Sardak, aber es geht mir gut. Geh du zu­rück in dein Zimmer. Wenn ich dich brauche, werde ich dich rufen.«

Er fuhr sich durchs Haar. Sein Alkoholkonsum hatte ihn völlig ausgebrannt. Voller Abscheu betrachtete er die skelettierte Hand, nickte dann aber. »Du machst, was du für das Beste hältst, Schwester. So wie immer.« Sardak sah ihr in die Augen. »Aber denk dran, dass ich auf dich achte. Wenn ich aus diesem Zimmer auch nur irgendein ungewöhnliches Geräusch höre, komme ich wieder – mit meinem Schwert!«

Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, war Salene wieder allein mit Zayl und dem Schädel. Langsam näherte sie sich wieder dem reglosen Mann auf dem Bett.

»Ist das ... ist das in der Gruft geschehen?« Humbarts Stimme war kaum hörbar, als er antwortete. »Ich

würde gern sagen, dass es so war, nur damit Ihr noch besser von ihm denkt, aber nein, Mädchen ... Mylady ... das ist nicht der

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Fall. Es geschah schon vor einer Weile.« »Erzählt es mir.« »Es waren Verfluchte, die sie ihm nahmen, verdammte Seelen

aus einer verschollenen Stadt namens Ureh. Er und ein paar Schatzsucher hatten die Stadt gefunden. Er und ich, wir versuch­ten, sie davon abzuhalten, in die Stadt vorzudringen, weil wir wussten, dass sie etwas Übles an sich hatte. Doch was wir letztlich dort vorfanden, hätten wir uns niemals ausmalen können. Sie war eine einzige Ruine, doch als wir uns dort aufhielten, wurde sie plötzlich von Leben erfüllt. Alles war schön und friedlich – dach­ten wir zumindest. Plötzlich verschwanden alle, und der Herr­scher über die Stadt war mit einem der Erzbösen eng verbunden! Zayl war einer von nur zwei Überlebenden, doch es kostete ihn seine Hand, die ihm von diesen Teufeln abgerissen wurde.«

»Aber wie ...« Der Schädel gab ein Schnauben von sich. »Die meisten hätten

nicht gewusst, was sie tun sollten, aber das Jüngelchen ist einer von den Cleveren. Nachdem er und der gute Hauptmann Dumon – der andere Überlebende – sich von einigen von Zayls Art hat­ten heilen lassen, kam er auf eine Idee. Er kehrte dorthin zurück, wo er die Hand verloren hatte, und er fand, was von ihr noch übrig war. Drei Tage und drei Nächte brauchte er, aber dann hatte Zayl sie durch Feuer und Zauberwerk wieder mit seinem Arm verschmolzen. In mancherlei Hinsicht ist sie jetzt sogar noch besser als zuvor! Aber er hat auch teuer dafür bezahlt.«

Während Salene ihm zuhörte, wich das Entsetzen mehr und mehr und machte wachsender Faszination Platz. Würde sie nicht an seiner Stelle genauso gehandelt haben, wenn ihr diese Macht zur Verfügung gestanden hätte? Welche andere Wahl wäre ihm sonst geblieben? Ein Haken vielleicht, so wie bei einem See­

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mann? Einfach nur ein Stumpf? Unter den Adligen gab es Män­ner, die eine Gliedmaße verloren und sie durch eine metallene Nachbildung ersetzt hatten, die sie genauso verhüllten, wie es der Nekromant tat. Lady Nesardo war davon überzeugt, dass viele von ihnen ein Vermögen gegeben hätten für eine Arbeit, wie Zayl sie geschaffen hatte. Vermutlich würden sie sogar damit prahlen, auch wenn die Doktrin von Zakarum solche Magie un­tersagte.

Sie beugte sich vor und streifte den Handschuh weiter ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Innenseite dick gefüttert war, um eine Hand aus Fleisch und Blut vorzutäuschen. Die Edelfrau erinnerte sich daran, dass er die Hand wiederholt benutzt hatte, ohne dass es ihm irgendwelche erkennbaren Schwierigkeiten bereitete.

Ihre Finger schwebten über der Skelettklaue. Schließlich biss sich Salene auf die Unterlippe und berührte den Handrücken. Überrascht stellte sie fest, dass er sich warm und sanft anfühlte. Sie strich über eines der Gelenke, dann hielt sie den Atem an, als einer der knochigen Finger zuckte.

Der Rathmaner murmelte etwas und regte sich. Salene wich wieder zurück, da sie seine Genesung nicht stören wollte.

»Er wird sich schon erholen, Mylady«, versicherte ihr Hum­bart. »Ihr solltet Euch selbst ein wenig ausruhen. Ich werde ihn schon in der Augenhöhle behalten, keine Sorge.«

»Ich sollte besser bleiben. Ich kann Euch nicht allein ...« Der Schädel schnaubte und unterbrach sie. »Was habe ich

denn sonst zu tun, Mädchen? Ich schlafe nicht, jedenfalls nicht so, wie Lebende es tun. Mir macht’s nichts aus, die ganze Nacht wach zu bleiben ...«

Dann nahm seine Stimme einen überraschend sanften Tonfall an. »Ich werde darauf achten, dass ihm nichts zustößt, das ver­

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spreche ich Euch.« Obwohl der Schädel keine Möglichkeit hatte, sich von der

Stelle zu rühren, glaubte Salene seinen Worten. Mit seinen Mit­teln würde Humbart Wessel so auf Zayl aufpassen, wie der be­dauernswerte Polth auf sie aufgepasst hatte.

»Ruft mich, sobald irgendeine Veränderung eintritt«, beharrte sie.

»Das werde ich tun.« »Danke ... Humbart.« Salene hätte fast darauf schwören können, dass sich seine Au­

genhöhlen bewegten. »Nein ... ich habe zu danken, Mädchen.« Lady Nesardo verließ das Zimmer und war mit ihren Gedan­

ken noch immer bei Zayl. Sie überlegte, was sie noch tun konnte, damit er sich schnell erholte ...

Plötzlich stieß sie mit jemandem zusammen, wich instinktiv zurück und sah erst dann, dass es sich um ihren Bruder handelte.

»Sardak! Du hast mich zu Tode erschreckt! Was machst du hier? Ich dachte, du hättest dich ins Bett gelegt!«

Seine Miene war sehr ernst. »Ich bin nicht weit gekommen, Schwester. Ich musste an das denken, was ich da drinnen sah.«

»Wirklich, Sardak, es ist nichts ...« Er packte sie daraufhin so fest an den Schultern, dass Salene

vor Schmerz aufstöhnte. Sardak lockerte den Griff ein wenig, ließ sie aber nicht los. »Er muss gehen, Salene! Du kannst ein solches Ding nicht hier im Haus haben! Er ist eine Gefahr für dich und für uns alle! Sieh dir doch nur an, was mit Polth geschehen ist! Und er wurde fürs Kämpfen bezahlt!«

»Polth starb, als er versuchte, Zayl und mich zu retten, wenn du das meinst. Unmittelbar davor hätte Zayl fast sein Leben für mich geopfert! Du warst nicht dabei, aber in der Gruft ist etwas

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Grässliches geschehen, Sardak!« Er verzog den Mund. »Ja, ich weiß. Aber dennoch, Salene ...« »Er bleibt. Das bin ich ihm schuldig. Es tut mir Leid, wenn dir

das nicht behagt, aber ...« »Aber du bist die Herrin von Nesardo und ich nur ein schäbi­

ger Bastard ...« Als sie ihm widersprechen wollte, senkte er den Kopf. »Das war unnötig, ich weiß. Du hast mir mehr als einmal eine Chance gegeben und mir erlaubt, mich hier so zu Hause zu fühlen, wie du es selbst tust, Salene. Entschuldige meine Worte.«

Salene strich über seine Wange. »Ich verstehe ja deine Sorge. Lass uns einfach vergessen, was passiert ist.«

Sein Blick kehrte zurück zu Zayls Tür. »Ich werde mich dei­nem Willen beugen, meine liebe Schwester. Aber wenn er irgen­detwas macht, was dich auch nur im Mindesten in Gefahr bringt, dann werde ich ihn zur Rechenschaft ziehen.«

Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange und ging zu seinem Zimmer. Salene blickte ihm nach und zweifelte nicht an seinen Worten. In dieser Hinsicht war Sardak Polth recht ähnlich. Den Menschen gegenüber, die ihnen wichtig waren, verhielten sie sich absolut loyal. Und sie wurden beide zu tödlichen Gegnern, wenn sich ihnen jemand in den Weg stellte.

Die Edelfrau hoffte, Letzteres würde Zayl erspart bleiben.

Zayl träumte von Spinnen, zahllosen Spinnen. Von großen und kleinen. Er war in Netzen gefangen, er war in einen Kokon gewi­ckelt. Die Spinnen waren überall um ihn herum ...

In seinen quälenden Träumen sah er ein Gesicht vorüberzie­hen. Ein Gesicht mit kurzem, grauem Haar und Zügen, die sei­nen ähnlich sahen. Dieses Gesicht beobachtete interessiert seinen Kampf, und es ließ nicht erkennen, dass es dem Nekromanten

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helfen wollte. So war Zayl gezwungen, seinen einsamen Kampf allein zu

führen ...

Das Unwetter tobte den ganzen Vormittag und auch noch am Nachmittag. Erst als sich der Abend näherte, ließ es ein wenig nach. Die meiste Zeit des Tages verbrachte Salene damit, auf den Rathmaner aufzupassen. Es beunruhigte sie, dass er sich bislang noch nicht geregt hatte. Obwohl Humbart nichts dazu sagte, merkte sie ihm an, wie besorgt er darüber war.

Zayl war schweißgebadet, die Stirn hatte er zusammengezo­gen, als sei er tief in Gedanken versunken. Die Edelfrau nahm mit Erstaunen die magischen Fluktuationen wahr, die seinen Körper umgaben, so als gehe etwas mit ihm vor, was sie nicht verstehen konnte. Unsicher, was sie sonst noch tun könnte, tupf­te sie seine Lippen mit einem sauberen, feuchten Tuch ab, damit er es so angenehm wie möglich hatte.

Sardak brachte ihr etwas zu essen, da sich das Dienstpersonal weigerte, den Raum zu betreten. Er sagte nichts, als er ihr ein Tablett gab, doch sein Blick wanderte immer wieder wachsam zu dem Nekromanten.

Salene aß schweigend zu Abend, weder sie noch Humbart wussten etwas zu sagen, das ihnen gegenseitig hätte Trost spen­den können. Der Schädel behauptete unverändert, Zayl werde sich erholen, doch seine Worte hatten längst einen schalen Beige­schmack bekommen.

Nur wenige Minuten, nachdem Salene aufgegessen hatte, klopfte es an der Tür, und ein ängstlicher Diener murmelte: »Her­rin, jemand möchte Euch im Arbeitszimmer sprechen.«

»Bei diesem schlimmen Wetter?«, erwiderte die Edelfrau und

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erhob sich. »Wer ist es?« Sie erhielt keine Antwort, und als sie die Tür öffnete, musste

sie feststellen, dass ihr Diener längst davongelaufen war. Verär­gert zog sie die Tür hinter sich zu, dann ging sie hinunter ins Erdgeschoss. Ein weiterer Diener kam soeben mit einem leeren Tablett aus dem Arbeitszimmer und verbeugte sich, als er sie sah.

»Ich habe ihm Wein gebracht, Mylady. Er sitzt jetzt am Feu­er.«

»Wer denn? Wer ist es, Barnaby?« Der Diener mit der Hakennase sah sie verwundert darüber an,

dass sie nicht wusste, wer ihr Gast war. »Es ist natürlich Lord Jitan.«

Jitan? »Danke, Barnaby. Du kannst gehen.« Er verbeugte sich wieder, dann eilte er davon. Salene musste

sich zwingen, die Ruhe zu bewahren, obwohl der Besuch des Mannes, der ihr das Erbe der Nesardos abnehmen wollte, uner­wartet und vor allem unerwünscht kam. Erst als sie das Gefühl hatte, die richtige Ausstrahlung bekommen zu haben, betrat sie den Raum.

»Mylord Jitan«, rief sie. »Womit habe ich die Ehre Eures Be­suchs an einem solchen Abend verdient?«

Aldric Jitan stand aus dem Sessel auf und hielt dabei einen Weinkelch in der Hand, als sei er der Gastgeber, nicht aber die Frau, die vor ihm stand. Der Edelmann hätte eine schneidige Ges­talt abgeben können, doch die nicht zueinander passenden Augen und der Mund hatten etwas an sich, was Salene seit jeher abstieß. Sein Blick wanderte ständig umher, als vermute Jitan, dass sich in den Schatten dieses Zimmers irgendwelche Feinde versteckt hiel­ten. Den Mund hatte er so hochgezogen, dass er sie an einen ausgehungerten Wolf erinnerte, der seine Beute erblickt hatte.

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»Meine liebe, liebe Salene«, sagte er und hob den Kelch. »Ich trinke auf Eure makellose Schönheit.«

Selbst unter den angenehmsten Umständen hätte sie seinen blumigen Worten nichts abgewinnen können. Dennoch machte sie einen höflichen Knicks.

Trotz des schlechten Wetters waren Aldrics Kleidung und sein Haar trocken und makellos, was bedeuten musste, dass seine Diener ihn bis zur Tür gegen den Regen abgeschirmt hatten. Verstohlen sah sie sich nach seinem Mantel um. Er war jedoch nirgends zu sehen, was sie bedauerte, hätte sie doch dann die Gelegenheit gehabt, diese sehr unangenehme Begegnung schnel­ler hinter sich zu bringen.

»Ich bin hergekommen, um zu sehen, ob wir nicht Frieden schließen können, meine liebe Salene«, antwortete Lord Jitan schließlich. Er nahm einen Schluck, dann kam er ein paar Schrit­te näher. Plötzlich ging sein Blick nicht länger unentwegt hin und her, sondern konzentrierte sich ganz auf sie. Salene fühlte sich von diesen Augen angezogen, obwohl sie den Mann so sehr verabscheute. »Wir streiten uns aus einem nichtigen Anlass.«

»Ihr wollt mir das Dach über dem Kopf wegnehmen und mich mittellos auf die Straße setzen.«

»Aber mitnichten!« Aldric beugte sich vor, bis sie nur noch seine Augen sehen konnte. »Mir bleibt nur keine andere Wahl! Ich habe mit fast jeder wichtigen Familie in Westmarch zu tun! Viele meiner Transaktionen umfassen große Geldsummen oder entsprechende Besitztümer. Der Grund, warum ich meinen Ruf gewahrt habe, hängt untrennbar damit zusammen, dass ich im­mer auch meine, was ich sage, und jeder das weiß. Wenn ich jemandem einen Gewinn verspreche, weil er sich an einer meiner Unternehmungen beteiligt, dann weiß er, dass er diesen Gewinn

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auch bekommen wird. Wenn ich bei solchen Unternehmungen jedoch Vorkehrungen gegen ein Fehl verhalten der anderen Seite treffe – eine Notwendigkeit vor allem bei denjenigen, die mich betrügen wollen –, dann muss ich auch konsequent sein, ganz gleich aus welchem Grund das geschieht.«

Obwohl sie es nicht wollte, musste Salene eingestehen, dass sie Aldrics Position durchaus verstehen konnte. Zu oft kam es vor, dass Aristokraten, deren finanzielle Mittel im Schwinden begriffen waren, dubiose Abmachungen trafen und dann ver­suchten, ihren Gläubigern nichts zurückzuzahlen. Wenn sie über den Einfluss anderer verfügten, die ihnen Rückendeckung gaben – wie es oft der Fall war –, standen diejenigen, die sich auf ihr Wort verlassen hatten, am Ende mit leeren Händen da.

»Aber Riordan hat immer Wort gehalten, und er achtete dar­auf, nur dann etwas zuzusagen, wenn er wusste, er ...«

»Das ist wohl wahr.« Das Augenpaar leuchtete. Lord Jitan stand dicht genug vor Salene, um sie zu küssen. Es war sehr un­typisch für sie, dass sie nicht vor ihm zurückwich. »Aber er be­kam nie die Chance, seinen Teil der Abmachung einzulösen – was er sicherlich getan hätte, wäre er nicht vorzeitig verstorben –, und damit fällt die Sicherheit, die zwischen uns ausgemacht war, rechtmäßig mir zu.« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn ich mir nicht nehme, was mir zusteht, wird mich jeder andere betrügen wollen, mit dem ich geschäftlich zu tun habe, und innerhalb eines Jahres werde ich ruiniert sein. Dann bin ich derjenige, der kein Dach mehr über dem Kopf hat. Das wollt Ihr doch sicher nicht, oder etwa doch?«

Sie konnte ihren Blick nicht von ihm lösen. »Nein, das würde ich nicht wollen ...«

»Dann solltet Ihr über meinen Vorschlag nachdenken, Salene.

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Als Lady Jitan würdet Ihr das Vermögen Eurer Familie behalten können, und Ihr würdet alles dazubekommen, was mir gehört. Es wäre eine Transaktion, von der wir beide profitieren würden.« Er berührte ihr Kinn, als wolle er sie küssen. »Wir beide.«

Plötzlich tauchte Zayls Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf. Salene zuckte vor Aldric zurück. Aus seinem Lächeln wurde ein Zähneblecken, das im nächsten Moment wieder einem Lächeln wich ... das jedoch nicht mehr so milde war.

Aus einem unerklärlichen Grund verspürte Salene den Wunsch, sofort ins Quartier des Nekromanten zurückzukehren. Lord Jitan, der ihre plötzliche Unruhe bemerkte, fragte sofort: »Seid Ihr krank? Kann ich Euch irgendwie zu Diensten sein?«

»Nein ... nein, danke. Es tut mir Leid, Aldric, aber ich muss Euer Angebot auch diesmal wieder ausschlagen.«

Sein Lächeln wurde noch bemühter. »Überlegt, was Ihr sagt, Salene ... ich werde tun, was ich tun muss.«

Sie war nicht länger von seinem Blick gebannt und begehrte auf. »So weit ist es aber vielleicht noch nicht, denn ich habe längst nicht alle Maßnahmen ergriffen. Ich befasse mich nach wie vor mit den geschäftlichen Aktivitäten meines Mannes ...«

»Aber ...« Er verstummte abrupt, dann sah er plötzlich in die Richtung, in der Zayls Quartier lag. Seine Miene war wie ver­steinert, als er sich verbeugte. »Nun gut. Wenn das heute Abend zu nichts weiter führt, dann wünsche ich Euch eine gute Nacht. Und ich werde für Euch beten, dass Ihr schon bald Vernunft annehmt.«

Er kippte den verbliebenen Inhalt des Kelchs hinunter, dann verließ er den Raum. Salene machte sich gar nicht erst die Mühe, ihn zur Tür zu begleiten, da er den Weg vom Arbeitszimmer dorthin ohne weiteres finden konnte. Angespannt lauschte sie,

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wie Sekunden später die Tür ins Schloss geworfen wurde. Hufge­trappel und das Geräusch der Kutschenräder auf dem Pflaster unterstrichen die hastige Abreise des zornigen Edelmanns.

Als sie Gewissheit hatte, dass er nicht plötzlich zurückkehrte, eilte Salene die Treppe hinauf. Ein erschrockener Diener wich ihr aus, während Lady Nesardo zwei Stufen plötzlich nahm und nach oben rannte.

Am Kopf der Treppe kam ihr mit zerzaustem Haar Sardak ent­gegen. Er sah sie besorgt an, was zu ihrer Überraschung nichts mit dem Nekromanten zu tun hatte. »Ich hörte von Barnaby, Jitan sei hier gewesen. Was zum Teufel wollte er denn diesmal?«

»Das Gleiche wie immer. Er will, dass ich ihn heirate, damit die Angelegenheit erledigt ist.«

»So beliebt ist meine Schwester! Torion wird sehr eifersüchtig sein, immerhin hat er dich zuerst gefragt!«

Sie hatte jetzt keine Zeit für so etwas. »Es reicht, Sardak. Nach Jitan komme ich auch sehr gut ohne deine spitzen Bemerkungen zurecht!«

Er fasste sie am Arm, als sie an ihm vorbeieilen wollte. »Es tut mir Leid. Beim nächsten Mal soll mich Barnaby sofort rufen. Ich will nicht, dass du mit diesem Mistkerl allein bist.«

Salene hätte fast erwidert, sie komme mit Aldric Jitan auch al­lein sehr gut klar. Doch dann fiel ihr ein, wie dicht sie davorge­standen hatte, seinen Forderungen nachzugeben. Beinahe hätte er sie sogar geküsst!

»Ich werde daran denken«, antwortete sie leise. Lächelnd fügte sie hinzu: »Danke, dass du so um mich besorgt bist.«

»Das kann ich am besten ... vom Trinken abgesehen.« Ihm fiel auf, in welche Richtung sie sich begeben wollte. »Zurück zu

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ihm?« »Ja.« Sie war in größerer Eile als zuvor. »Ich muss weiter.« »Der ist immer noch eine bessere Gesellschaft als Jitan«, mur­

melte Sardak. »Du rufst mich doch, wenn du mich brauchst, ja?« »Ja, Sardak, das werde ich machen. Ich verspreche es dir.« Erst dann ließ er sie los. Salene lief weiter und hoffte, nicht zu

spät zu kommen. Als sie die Tür öffnete, fand sie alles so vor, wie sie es zurück­

gelassen hatte. Zayl lag reglos auf dem Bett und schwitzte weiter, obwohl die Luft in seinem Quartier kühl war.

Die Sorge um ihn wollte einfach nicht weichen. »Was ist ge­schehen, Humbart?«

»Geschehen?« Obwohl der Schädel kein Gesicht besaß, hatte er auf eine unerklärliche Art einen fragenden Ausdruck ange­nommen. »Rein gar nichts. Zwischendurch gab es nur ein paar Momente, in denen absolute Stille herrschte.«

»Aber ich war mir sicher ...« Sie ging zum Bett und fühlte Zayls Stirn.

Sofort steigerte sich ihre Sorge um ein Vielfaches. Sie spürte eine bedrohliche Kraft, die sich auf den Nekromanten konzent­rierte. Wo sie ihren Ursprung hatte, vermochte die Edelfrau aber nicht zu sagen.

»Zayl ...«, flüsterte sie ohne nachzudenken. »Zayl ...« Er drehte den Kopf in ihre Richtung und stöhnte plötzlich. »Er hat sich bewegt!«, rief Humbart. »Beim Mount Arreat, er

hat sich bewegt! Endlich!« Ihre Fingerspitzen, mit denen sie seine Stirn berührt hatte,

fühlten sich warm an, aber nicht besorgniserregend warm. Sein Atem schien wieder gleichmäßiger zu gehen, und als Salene ihm die Stirn trocken wischte, bildete sich nicht sofort ein neuer

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Schweißfilm. Ihre Hoffnung wuchs. »Ich glaube, er ...« Plötzlich öffnete er die Augen. »Karybdus«, stieß er hervor. Kaum hatte er das eine Wort gesprochen, schloss er die Augen

wieder und sein Kopf kippte zur Seite weg. Salene hielt den Atem an, da sie fürchtete, er könne soeben gestorben sein. Doch als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass er friedlich schlief.

»Karybdus?«, wiederholte der Schädel. »Was soll denn das nun wieder heißen?«

Karybdus steckte den Elfenbeindolch weg. Seine Miene zeigte trotz der jüngsten Ereignisse wie üblich keine Regung.

»Ein drittes Mal bereits«, sagte er. Das Ding in der Dunkel­heit, zu dem er gesprochen hatte, bewegte sich auf eine Art, die man am besten als Verärgerung deuten konnte. »Ein drittes Mal. Es wird aber kein viertes Mal geben.«

Der Rathmaner richtete den Blick zur Decke, und auch wenn es keinen offensichtlichen Grund dafür gab, ließ seine Miene für einen kurzen Moment Zufriedenheit erkennen.

»Sei beruhigt, mein Kleiner. Alles wird weiter so laufen, wie es für das Gleichgewicht nötig ist. Wir kennen das Hindernis auf dem Weg zum Erfolg. Wir wissen nun, dass sein Name Zayl ist.« Karybdus streckte den Arm aus, woraufhin etwas Großes, Schwarzes mit zahlreichen Beinen daraufsprang. Der Nekromant strich liebevoll über den Leib. »Natürlich Zayl ... wer sonst?«

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SIEBEN

General Torion war ein Mann der Tat. Müßig herumsitzen zu müssen, machte ihn wahnsinnig, und dementsprechend missge­launt war er an diesem Abend. Noch zwei lange Tage, ehe man den guten Cornelius zur letzten Ruhe betten würde. Das gefiel Torion überhaupt nicht. Der König war tot, er musste bestattet werden, damit sein rechtmäßiger Nachfolger den Thron bestei­gen konnte, was seinen Anspruch festigen würde. Je länger all das dauerte, desto mehr würde spekuliert werden, ob nicht doch ein anderer seinen Anspruch auf die Herrschaft über Westmarch anmelden sollte.

Es gab bereits jetzt zu viele, die bereit waren, genau das zu tun. Salene Nesardos Einverständnis, Justinian zu unterstützen, würde einige der anderen Häuser auf dieselbe Linie einschwören, doch die Liste der Unruhestifter war für den Geschmack des Kommandanten immer noch viel zu lang. Er sehnte sich nach einer einfacheren Zeit, in der diejenigen, die dem Thron dienten, direktere Maßnahmen ergreifen konnten.

Begleitet von seiner sechsköpfigen persönlichen Wache ritt er zum Palast, einem Bauwerk aus grauem Stein, mit spitzen Tür­men, vorspringenden Pfeilern und Wasserspeiern an jeder Dach-kante. Der Palast war wie eine Festung gebaut, mit hohen, kargen Mauern, die von Pfählen und einem tiefen Wassergraben umge­ben und die so glatt waren, dass man nicht an ihnen hinaufklet­tern konnte. Die tiefstgelegnen Fenster befanden sich im dritten Stockwerk, zudem waren sie mit Eisengittern gesichert.

Wenn der Anblick den Gedanken an eine Festung weckte,

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dann lag das vor allem an den Ursprüngen des Palastes. Schon lange bevor es die Stadt gab, hatte es den Palast gegeben. Er war die erste Zufluchtsstätte im neuen Land gewesen, von der aus sich Westmarch in alle Richtungen ausdehnen sollte. Torion war kein Geschichtskenner, ausgenommen es ging um Kriege. Von den Söhnen von Rakkis wusste er nur wegen ihres Erbes der Macht, und er bewunderte, was sie geschaffen hatten. Auf sie ging auch der Bau der ersten Stadtmauer zurück, die von späte­ren Architekten kopiert und übertroffen wurde. Die Hauptstadt selbst war eine Festung und in gewissem Sinn eigentlich nur eine Erweiterung des Palastes.

Aber jede noch so starke Festung konnte fallen, wenn sie nicht von außen, sondern von innen angegriffen wurde. Der Thron musste unbedingt gesichert werden.

Hätte der Junge doch nur so ein eisernes Rückgrat wie sein Vater, dachte der General nicht zum ersten Mal. Seine Fähigkeit zu herrschen, würde niemand anzweifeln.

Bürger, in Felle oder dicke Mäntel gehüllt, verbeugten sich, als er durch die Kopfsteinpflastergasse geritten kam. Mit einem beiläufigen Nicken nahm Torion ihre Ehrenbezeugungen zur Kenntnis. Geschäftsleute und Handwerker spähten aus ihren Ladenlokalen, um einen Blick auf den Mann zu werfen, der als das Schwert des Reiches bekannt war. Manche von ihnen fragten sich sicherlich, warum nicht Torion selbst dem schwachen Erben den Thron entriss. Doch auf solches Gerede reagierte er nur ver­ächtlich. Seine Pflicht war alles, was ihm wirklich wichtig war. Torion eignete sich nicht für die erdrückende Last dieses Amtes, das überließ er lieber Justinian.

An der Mauer, die den eigentlichen Palast umgab, standen aufmerksame Wachleute in ihren roten Uniformen, mit Brust­

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panzern aus grauem Stahl und Helmen mit Kämmen, die Lang­spieße hoch erhoben, die Schwerter griffbereit an ihrer Seite. Über ihnen flatterten die königlichen Banner im Wind, in deren Mitte ein schwarzer Bär im Sprung zu sehen war.

Die Wachen machten rasch Platz, da Torion zu den Männern gehörte, die sich nicht erst identifizieren mussten. Dann ritten er und sein Trapp durch das schmiedeeiserne Tor. Der Wind wehte ihm heulend entgegen, doch er nahm keine Notiz davon, da er in Gedanken mit Wichtigerem beschäftigt war. Genaugenommen achtete er auf gar nichts in seiner Umgebung, weder auf die Stu­fen, die er auf dem letzten Stück des Weges zurücklegen musste, noch auf die wenigen Schritte bis hin zu den großen Eisentoren mit den gefährlich dreinblickenden Wolfsköpfen, dem Symbol der ursprünglichen Herren über diesen Palast. Erst dort hielt er inne und bewunderte die Macht, die diesen Bildnissen innewohnte. Die Söhne von Rakkis waren als herrschende Dyna­stie ausgestorben, doch ihr Vermächtnis war noch immer allge­genwärtig, auch im Blut vieler Menschen, die in Westmarch lebten.

Der hohe, graue Korridor, den er durchschritt, wurde von Fa­ckeln erhellt. Zu beiden Seiten standen die Männer Spalier, zu denen Torion größtes Vertrauen hatte. Die Darstellungen der Wölfe setzten sich auch im Innern des Palastes fort, ein grimmig dreinblickendes Tier nach dem anderen. Wenigstens ein Vorgän­ger von Justinian hatte versucht, allen zu zeigen, wer nun hier herrschte, indem er an der Decke große und kunstvolle – und in den Augen des Generals geschmacklose – Teppiche hatte aufhän­gen lassen, die das Symbol seiner eigenen Linie zeigten. Doch auf Torion wirkten die riesigen Bären nicht Angst einflößend, viel­mehr fand er, dass sie selbst verängstigt aussahen. Fast hätte man

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meinen können, sie würden so dicht unter der Decke hängen, damit die uralten Wölfe ihnen nichts anhaben konnten.

General Torion bog plötzlich scharf rechts ab und ging in eine Richtung, die ihn vom Thronsaal wegführte. Justinian war dort nie anzutreffen, stattdessen verbrachte der neue Monarch seine Zeit lieber in seinem eigenen Quartier, in dem er schon seine früheste Kindheit verlebt hatte.

»General!«, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. »My­lord General!«

Torion erkannte sofort den nasalen Tonfall: Edmun Fair­weather, Adjutant des neuen Königs, ein nervöser, schmeichleri­scher Mann, dem Justinian viel zu viel Aufmerksamkeit schenk­te. »Was gibt es, Edmun?«, fragte der General im Umdrehen.

Die dünne Gestalt in schwarzer Weste und Hose hatte ein leicht vogelähnliches Aussehen. Von einem Haarkranz abgese­hen, der von einem Ohr zum anderen verlief, war sein Schädel kahl.

»Seine Majestät ... Seine Majestät werdet Ihr dort nicht fin­den.«

»Oh? Ist er unten in der Küche?« Torions neuer Herr hielt sich ein wenig für einen Koch, und als es bereits so aussah, als würde er niemals über Westmarch herrschen, hatte er viel Zeit damit verbracht, dies oder jenes Rezept zu versuchen und zu variieren. Es war eine weitere Eigenschaft, die ihn in den Augen vieler Adliger noch tiefer hatte sinken lassen.

»Nein, Mylord General, Seine Majestät erwartet Euch im Thronsaal.«

Der General gab einen überraschten Laut von sich. Das war eine ganz neue Entwicklung. Justinian hatte sich von diesem Saal fern gehalten, als könnte er sich dort die Pest holen. Dennoch

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wollte sich Torion keine zu großen Hoffnungen machen. Dass Cornelius’ Erbe es fertig brachte, den Saal zu betreten, war eine Sache – aber so zu erscheinen, als gehöre er auch wirklich dort­hin, eine ganz andere.

»Dann führt mich hin.« Edmun machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Thronsaal

voraus, vor dem vier Wachtposten in Habtachtstellung postiert waren. Er schnippte mit seinen dürren Fingern, woraufhin zwei der Männer das Portal öffneten. Die Garde des Generals bezog im Gang Stellung, da ihre Präsenz im Thronsaal als Affront gegen den König gewertet worden wäre. Und Justinian konnte es sich momentan nicht leisten, auch nur einen Funken Respekt einzu­büßen.

Doch als Torion eintrat, versetzte ihn der Anblick in größtes Erstaunen, und ehe er sich dessen bewusst wurde, hatte er sich bereits ehrfürchtig hingekniet.

Justinian IV. sah ernst von seinem Thron auf den Befehlsha­ber der Armee von Westmarch hinab. Von der ängstlichen, kind­lichen Gestalt war nichts mehr zu bemerken. Der Mann, der da vor Torion saß, hatte die gleiche machtvolle Ausstrahlung wie der beliebte Cornelius. Der schmale junge Mann mit dem sand­blonden Haar hätte sogar als gutaussehend gelten können, wäre da nicht das pockennarbige Gesicht gewesen. Er hatte die fein geschnittenen Züge seines Vaters, während die Augen ganz ein­deutig die von Königin Nellia waren, seiner Mutter, die kurz nach seiner Geburt verstorben war. Seine Augen wiesen etwas Schwächliches, Wässriges auf, was bei seiner Mutter nicht der Fall gewesen war. Doch heute sah Torion in ein leuchtendes, braunes Augenpaar, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Mylord General Torion«, begrüßte Justinian ihn. Seine sonst

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zu zaghafte Stimme besaß nun die gleiche Energie wie sein Blick. »Es ist mir immer ein Vergnügen. Erhebt Euch.«

Er klingt ganz wie sein Vater, wunderte sich der Komman­dant, während er gehorchte. Ganz so wie der gute Cornelius, als er noch gesund war.

Das weiße Schlafgewand, in dem der Thronfolger bis jetzt zu jeder Tageszeit herumgelaufen war, trug er nun nicht mehr. Stattdessen war der neue König standesgemäß in das gekleidet, woran Schneider Tag und Nacht gearbeitet hatten, seit bekannt geworden war, dass sein Vater nicht mehr genesen würde. Seine Robe erinnerte sehr an die Uniform des Generals, jedoch mit abgerundeten, verzierten Schulterstücken aus Gold und Silber, dazu ein kunstvolles Wappen auf dem goldenen Brustschild. Der Bär zur Linken sah nicht annähernd so verängstigt aus wie die auf den Teppichen im Korridor, vielmehr spiegelte er die Ent­schlossenheit des Mannes wider, der dieses Wappen zur Schau stellte. Ärmel und Hosenbeine waren mit goldenen Streifen ver­ziert. Hohe, schwarze Lederstiefel in militärischem Schnitt kom­plettierten das strahlende Aussehen des Mannes. Torion, der wusste, wie andere reagierten, sobald er selbst einen Raum betrat, erlebte dieses Gefühl nun am eigenen Leib. Es war das erste Mal, dass es ihm so erging, seit König Cornelius ihn vor rund zwei Jahrzehnten zum Ritter geschlagen hatte.

»Euer Majestät«, setzte Torion schließlich an und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass ihm einen Moment lang die Worte fehlten.

»Es ist mir eine Ehre, mich in der Gegenwart meines Lehns­herrn aufzuhalten.«

Justinian machte den Mund auf, zögerte dann aber. Er sah kurz zur Seite und ließ dabei etwas von seinem bisherigen unsi­

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cheren Selbst erkennen. Doch genauso schnell hatte sich der junge Monarch wieder gefasst. Er erhob sich vom Thron und kam die Stufen herunter, um die Hand seines treuesten Dieners zu nehmen.

»Ich weiß, Ihr seid um mich besorgt gewesen, General. Und ich weiß die Unterstützung zu schätzen, die Ihr mir trotz Eurer Sorge habt zukommen lassen.«

Wiederum kam es Torion so vor, als würde Justinians Vater vor ihm stehen. »Ein Wechsel des Befehlshabers ist immer eine Zeit der Ungewissheit, aber mein Vertrauen und meine Loyalität standen zu keiner Zeit in Frage, Euer Majestät.«

»Gut, mein treuer Torion«, sagte der König und grinste plötz­lich – genau wie sein Vater. Justinian versetzte ihn weiter in Erstaunen, als er ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopfte. Erst jetzt wurde deutlich, dass sie beide gleich groß waren. Der sonst übliche gebückte Gang des jungen Herrschers war ver­schwunden, denn dieser Justinian stand mit durchgedrücktem Rücken und gestrafften Schultern selbstbewusst vor ihm. Der junge Mann strahlte den gleichen Stolz aus wie jeder seiner Vor­gänger.

Der General musste sich seinerseits ein Schmunzeln verknei­fen. Wenn das, was er vor sich sah, eine dauerhafte Wandlung war, dann würden sich diejenigen noch sehr wundern, die ihre Blutlinie benutzen wollten, um dem rechtmäßigen Erben den Thron zu entreißen.

»Ich muss sagen, diese Robe steht Euch ausgezeichnet, Euer Majestät«, erklärte er. Mit einem Mal fühlte er sich wesentlich wohler als auf dem Ritt hierher.

»Ja, nicht wahr? Wer hätte das gedacht?« Justinian löste sich von ihm, hob die Arme und lachte in Rich­

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tung Decke. Torion runzelte die Stirn und schaute zu Edmun, der auffällig damit beschäftigt war, einen seiner Ärmel zu betrachten.

Der König ließ rasch die Arme sinken, und für einen kurzen Moment huschte wieder dieser unsichere Ausdruck über sein Gesicht. »Verzeiht mir, General. Das ist nur ein wenig ... Nervo­sität. Ich verspüre noch immer etwas von diesem Kribbeln in meinem Bauch.«

Angesichts dessen, was er bis vor kurzem erwartet hatte, war das eine Antwort, die Torion bereitwillig akzeptierte. Statt eines schwachen, unerfahrenen Jungen hatte der Kommandant einen Mann vor sich, der fähiger zu sein schien als alle, die sich um den Thron balgten. Ein paar exzentrische Züge waren dabei zu erwar­ten. Das war bei jedem Monarchen so, es lag ihnen im Blut.

»Wie stark ist unser Rückhalt, Torion?« Obwohl er nun schon einige Minuten lang den wie ausge­

tauscht wirkenden Justinian vor sich hatte, kam diese direkte Frage für ihn völlig unerwartet. »Wie bitte, Euer Majestät?«

»Wem können wir vertrauen, dass er zu mir hält, General? Wer steht bereits unerschrocken hinter mir?«

Torions klarer Verstand schaltete sich ein, und sofort nannte er eine Reihe von Namen, die er mit dem Namen der Frau ab­schloss, der er am stärksten vertraute. »Und natürlich nicht zu vergessen – Lady Nesardo.«

Justinian sah ihn lange an. »Nesardo steht hinter uns? Seid Ihr Euch da sicher?«

»Sie hat mir ohne Zögern ihre Unterstützung versichert ... und wenn ich etwas anmerken darf: Solltet Ihr so, wie Ihr nun vor mir steht, vor jene treten, die noch wankelmütig sind, wer­den sie sich ganz gewiss auf Eure Seite stellen.«

Wieder sah der junge Monarch zur Seite, doch diesmal wartete

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Torion einfach ab. Wenn das die einzige Eigenart des neuen Jus­tinian war, konnte sich Westmarch glücklich schätzen.

»Ihr habt das Recht, das zu sagen«, erwiderte der König schließlich. Erneut grinste er so wie sein Vater, dann fügte er an: »Bereitet eine Audienz für den frühestmöglichen Zeitpunkt vor, Edmun! Ladet alle ein, von denen der alte Torion glaubt, sie soll­ten herkommen.«

»Ja, Euer Majestät«, sagte sein Adjutant und verbeugte sich tief.

»Ich denke, es ist angebracht, Stärke zu zeigen, nicht wahr, General?«

Abermals war Torion von einer Frage des Mannes überrum­pelt worden. »Euer Majestät?«

»Die militärische Macht von Westmarch muss demonstrieren, dass sie mir gegenüber absolut loyal eingestellt ist. Könnt Ihr dafür sorgen?«

Torion überlegte. »Ein Großteil der aufgestellten Kräfte des Reichs sind Truppen, über die die verschiedenen Lords gebieten, die sie wiederum als Zeichen ihres Vertrauens der Krone überlas­sen. Bei etlichen von ihnen möchte ich lieber nicht, dass sie mo­mentan in Eure Nähe gelangen können, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Was könnt Ihr mir geben?« »Abgesehen von denen, deren Loyalität mir bekannt ist, kann

ich Streitkräfte aus dem Gebiet von Khanduras herbeordern.« Khanduras im Nordosten war eine Region, von der aus häufig Diebesbanden nach Westmarch vorrückten. Khanduras selbst war sehr eifersüchtig auf den natürlichen Wohlstand des Nachbarn, und Torion vermutete, dass ein Teil der Beute, den die Diebe machten, in die dortigen Schatztruhen wanderte. Das hatte man

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bislang jedoch nicht beweisen können. »Einige könnten das für riskant halten. Für einen König wäre

das eine schlechte Entscheidung«, betonte Justinian. »Eure Weisheit beeindruckt mich, Euer Majestät.« Der König runzelte die Stirn und sah abermals zur Seite. Dann

hatte er wieder den stahlharten Blick angenommen. »Natürlich! Wie dumm von mir! Die Stadtwache ist doch ein Teil Eurer per­sönlichen Streitmacht, nicht wahr?«

Torion war sich nicht sicher, ob ihm die Richtung gefiel, in die sich diese Unterhaltung zu entwickeln schien. »Aye, aber ...«

Cornelius’ Sohn klatschte begeistert in die Hände. »Das ist doch perfekt, nicht wahr? Auf diese Weise müssen wir uns keine Sorgen machen, es könnte zu einer Invasion kommen. Und von den Adligen, die mit dem Gedanken gespielt haben, mir den Thron streitig zu machen, wird sich niemand gegen die Wache stellen wollen. Wir benutzen sie, um unseren Machtanspruch zu unterstreichen!«

Ein wenig von der Hoffnung, die in Torion aufgekommen war, wurde damit wieder erstickt. Er betrachtete die Stadtmauern als einen maßgeblichen Teil der Verteidigungseinrichtungen für das Reich, ganz gleich, wie weit Khanduras und Ensteig auch von hier entfernt waren. Eine starke Hauptstadt verlieh dem restli­chen Land Selbstvertrauen.

Doch Justinian hatte seinen Entschluss längst gefasst. Bevor General Torion einen Gegenvorschlag unterbreiten konnte, er­klärte der König: »So soll es geschehen! Ich denke, wir können die meisten Männer von den Mauern abziehen, die zu den Ber­gen und den Wäldern weisen. Bis auf ein paar Wendigos dürfte uns von dort wohl keine Gefahr drohen, nicht wahr, General?«

»So dürfte es sein«, murmelte der Befehlshaber und ging im

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Geist die Zahlen durch. Ja, wenn es unbedingt so geschehen soll­te, dann waren dies die Mauern, die man am ehesten unbewacht lassen konnte. Dennoch würde es Torion einige Zeit kosten, die Wachzeiten neu zu organisieren, und auch der Aufmarsch der Truppen ließ sich nicht im Handumdrehen erledigen. »Es erfor­dert einigen Aufwand, aber es ist machbar.«

»Prachtvoll!« Erneut klopfte Justinian ihm auf die Schulter und ahmte so Cornelius bis ins Detail nach. »Dann lasse ich Euch das also erledigen.«

Torion kam sich vor, als hätte ihn etwas überrannt. Auf dem Weg hierher hatte er mit so etwas nicht gerechnet. »Ja, wie Ihr wünscht, Euer Majestät.« In diesem Moment erinnerte sich der Offizier daran, weshalb er eigentlich gekommen war. »König Justinian, wenn ich ...«

»Ja, Ihr dürft natürlich gehen. Mein Dank ist Euch gewiss, und auch mein Segen.«

Justinian wandte sich ab, um mit Edmun zu sprechen. Die Au­dienz war damit beendet, und General Torion blieb nichts ande­res übrig, als sich zu verbeugen und den Saal zu verlassen. Seine Gedanken überschlugen sich, als er die Vor- und Nachteile ge­geneinander abwog, die dieser Wandel in dem jungen König nach sich gezogen hatte. Die Leibgarde folgte dem General, doch da­von bekam er kaum etwas mit.

Die Stadtmauern sollten stets gut bewacht sein. Das war schon immer so, dachte er. Doch es gab zu viele Unwägbarkeiten, was die Truppen anging, und für das, was Justinian erwartete, musste Torion eine große Streitmacht aufstellen. Ihm blieb keine andere Wahl, als vorübergehend die Stadtmauern zu entblößen.

Doch wenn der Kommandant davon absah, war er insgesamt guter Dinge. Justinian hatte mit einem Mal mehr Rückgrat ge­

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zeigt als in all den Jahren davor. Mit Unterstützung des Generals würde dieses Selbstvertrauen noch weiter gestärkt werden. Viele Könige waren zu Beginn unsicher und unerfahren gewesen, und doch waren sie im Laufe der Zeit über sich selbst hinausgewach­sen und zu Legenden geworden.

Das ist eine gute Sache, sagte sich General Torion, als er den Palast verließ und wieder dem schlechten Wetter ausgesetzt war. So wird das Königreich erhalten bleiben. So wird Westmarch weiterbestehen.

Letztlich kam es darauf vor allem anderen an.

Ein Diener brachte König Justinian IV. einen Kelch mit rosafar­benem Wein, während Edmun weiter schwadronierte, was die kommende Zusammenkunft der Adligen anging. Der junge Mo­narch nahm einen Schluck. »Es reicht.«

Edmun hielt mitten im Satz inne. »Euer Majestät?« »Lasst mich bitte allein, Edmun. Und nehmt den Rest mit.«

Der Adjutant verbeugte sich so tief, dass Justinian glaubte, er würde mit seiner vorstechenden Nase den Boden berühren. »Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.«

Der in Schwarz gekleidete Mann richtete sich wieder auf, dann schnippte er in Richtung der Wachen mit den Fingern.

Der Herrscher von Westmarch sah zu, wie sie alle langsam den Saal verließen. Da ihm jeder von ihnen den Rücken zuge­wandt hatte, konnte niemand sehen, wie Justinian vor Angst die Augen weit aufriss und besorgt den Mund verzog. Die Hand, die den Kelch hielt, zitterte so heftig, dass einige Tropfen Wein auf den edlen Stoff spritzten.

Als die Türen sich schlossen und er endlich allein war, kam ein Keuchen über seine angespannten Lippen. Justinian ließ den

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Kelch fallen. Er ignorierte das Scheppern und die Weinlache, die sich auf dem Boden ausbreitete. Wie ein gefangenes Tier begab er sich in die Mitte des Thronsaals und sah sich um.

»Ah!« Sein Blick konzentrierte sich auf eine leere Ecke. Ängstlich hob er eine zitternde Hand und deutete auf den Schat­ten in der Ecke.

»Vater!«, keuchte Justinian. »Habe ich es gut gemacht, Va­ter?« In der Schwärze des tobenden Unwetters flackerte am Himmel ein einzelnes Licht auf. Wer es bemerkte, würde wohl am ehesten glauben, dass die Wolkendecke lange genug aufgerissen war, um einen einzelnen Sonnenstrahl durchzulassen.

Hätte aber auch jemand beobachtet, wie dieses Licht zu Boden fiel, wäre es als ein Omen betrachtet worden.

In beiden Fällen hätte sich ein Beobachter gründlich geirrt ... und zugleich doch völlig Recht gehabt.

Aber das Licht stürzte nicht einfach zu Boden, sondern sank langsam herab. Dicht über der Stadt kam es sogar zum Stillstand.

Ein Wachmann auf dem äußersten Stadtwall sah zufällig zu dem Licht, vielleicht weil er spürte, dass sich irgendetwas verän­dert hatte. Sein Blick wurde im gleichen Moment glasig, dann wandte der Mann sich ab und ging wieder seiner Arbeit nach. Was er beobachtet hatte, war vollständig aus seinem Gedächtnis gelöscht worden.

Das Licht sank weiter auf Westmarch zu. Sein unnatürliches Leuchten verblasste langsam und wurde eins mit dem grauen Reich unter ihm. Genau über dem Haus Nesardo verschwand es gänzlich aus der Wahrnehmung der Sterblichen.

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Acht

Die drei Gestalten standen da und sahen zu, wie der kniende Zayl sorgfältig das Muster in den weichen Boden zeichnete. Hier und da waren die gellenden Rufe der nachtaktiven Bewohner des Dschungels von Kehjistan zu vernehmen, unheimliche Laute, die die unangenehme Arbeit des Rathmaners zusätzlich unterstri­chen.

Mit seinem Dolch zeichnete Zayl zwei Bögen über einen Kreis, durch den ein Strich gezogen war. Jedes der Bilder flamm­te in dem Moment auf, da es fertig gestellt wurde, dann ver­blasste es zu einem schwachen Grün. Der Atem des jungen Zau­berkundigen wurde angestrengter, je weiter sein Werk voran­schritt.

»Es ist fast vollendet«, erklärte er an die Ältesten gewandt. »Was lehrt uns Rathma darüber, so in das Gleichgewicht ein­

zugreifen?«, fragte die Mittlere der drei, eine hagere Frau mit grauen Zöpfen, die auf jeder Wange ein schwarzes Zwillings­sternenpaar als Tätowierung trug.

Zayl antwortete prompt: »Dass das geringste Ungleichgewicht in eine von beiden Richtungen eine große Katastrophe nach sich ziehen kann.«

Die Frau schürzte ihre schmalen Lippen. »Das ist die Antwort, die jeden Schüler gleich zu Beginn gelehrt wird, damit keiner von ihnen glaubt, sie könnten die Fähigkeiten, die sie erlernen wer­den, nach ihrem Belieben anwenden. Du bist über diesen Punkt weit hinaus, Zayl, Sohn des Icharion.«

»Sieh tiefer in dich und dein Werk hinein«, schlug ein kahl­

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köpfiger Mann vor, dessen Gesicht nur aus Haut und den Kno­chen zu bestehen schien, mit denen die Nekromanten ihrer mys­teriösen Arbeit nachgingen.

»Konzentriere dich«, forderte der Dritte, dessen Gesicht unter der ausladenden Kapuze nicht zu sehen war. Seine Stimme hatte einen eigenartigen Klang, als würde er aus einer tiefen Höhle zu ihm sprechen. »Denke an dich selbst, denn dort hat jeder deiner Zauber mitsamt seinen Konsequenzen seinen Ursprung.«

»Vollende das Muster«, fügte der Mann an, der wie sein eige­ner Tod aussah.

Zayl ergänzte eine Wellenlinie, die Wasser symbolisierte. Er lehnte sich zurück und betrachtete alle Details, bis ihm zweifels­frei klar wurde, dass alles in Ordnung war. Gleichzeitig analy­sierte ein anderer Teil seines Verstands die Frage. Sie hatte also etwas mit dem Muster zu tun, an dem er arbeitete. Die Fragen der Ältesten hingen immer mit dem Augenblick zusammen, da der Augenblick stets der wichtigste Aspekt der Zeit war. Der Augenblick formte die Zukunft und entschied über den Kurs, den Rathmaner einschlagen mussten, damit das Gleichgewicht ge­wahrt wurde.

Er betrachtete die Symbole – die gebrochene Sonne, das Was­ser, die Bögen, die für Leben standen, die Zackenlinien, die Feuer verkörperten. Aus einem unerfindlichen Grund sprachen sie etwas in ihm an, ein Gefühl, das seit langem verschüttet war.

Dann erkannte er die Bedeutung des Musters und verstand, welche Antwort sie hören wollten. »Nein ...«

»Was lehrt uns Rathma, Zayl? », hakte die Frau nach. »Zwingt mich nicht dazu ...« »Du musst diese Lektion lernen, damit du deinen Platz in un­

serer Mitte einnehmen kannst«, sagte die gesichtslose Gestalt

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mit nachhallender Stimme. »Berühre das Muster, Junge. Setz den Zauber frei.«

Der hagere Lehrer hob eine knochige Hand und richtete sie auf seinen Schüler. »Aber zuerst ... beantworte die Frage.«

Zayls Hand zitterte. Fast hätte er mit der anderen Hand die Abscheulichkeit verwischt, die er gezeichnet hatte. Dann jedoch griff das, was er gelernt hatte. Er konzentrierte sich auf das Mu­ster und versuchte, es nüchtern zu betrachten, frei von seinen Emotionen. Sie würden von ihm nicht weniger als das erwarten.

»Rathma lehrt uns, dass eine solche Verwendung des Gleich­gewichts ...« Er musste unwillkürlich schlucken. »... unsere eige­ne Einstellung und damit unsere Seele zerstört. Sollte es dazu kommen, würden wir zu jener Bedrohung werden, die wir selbst zu kontrollieren versuchen.«

»Eine ausreichende Antwort«, erklärte die Frau. »Vollende den Zauber, Zayl.«

Mit zusammengebissenen Zähnen stach der Schüler den Dolch in die Mitte und vergrub die geweihte Klinge bis zum Heft im weichen Untergrund.

Völlige Stille machte sich im Dschungel breit ... und dann zerriss ein neues Heulen die Ruhe. Es waren keine Laute, die von Tieren stammten, sondern sie hatten ihren Ursprung an einem anderen Ort, einem Ort, dem durch Zayls Muster ein Weg auf die Ebene der Sterblichen geebnet worden war.

Ätherische Energiefasern traten aus dem Zentrum hervor, stiegen auf und wirbelten um den, der den Zauber gewirkt hatte. Zayls Haar und Mantel richteten sich auf wie elektrisch geladen. Sogar die Kleidung des Hageren und die der tätowierten Frau reagieren, während der schattenhafte Dritte davon gar nicht berührt wurde.

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Zayl sah zu, wie die Fasern ihn umgaben. Er schaffte es, keine Miene zu verziehen, doch seine Augen verrieten seine tiefen, düsteren Empfindungen.

Viele der Fasern reichten hinauf bis zum Blätterdach des Dschungels. Das Heulen wandelte sich zu einem Stöhnen, das Zayls Körper erzittern ließ.

Dann plötzlich kehrten zwei der Fasern zum Schüler zurück und umkreisten ihn, ehe sie wieder über dem Muster schwebten.

»Sieh sie an«, befahl der Schemenhafte. Zayl hätte lieber alles andere betrachtet, dennoch gehorchte er. Selbst wenn der Älteste ihn nicht dazu angewiesen hätte, wä­

re seine eigene Schuld Grund genug gewesen, um hinzusehen. Als er sich auf die Fasern konzentrierte, nahmen sie für einen

kurzen Moment Konturen an, die kaum zu erkennen waren ... Ein Mann. Eine Frau. Beide ihm ähnlich. Zayl streckte beschwichtigend seine Hand nach ihnen aus.

»Ich wollte nicht, dass es geschieht! Ich ...« Der Schattenhafte streckte sein Bein aus, bis er den äußersten

Rand des Musters mit einem eisernen Stiefel verwischen konnte. Das Heulen und Stöhnen verstummte. Die Fasern verschwan­

den auf der Stelle ... doch die beiden direkt vor dem jungen Ne­kromanten verblassten ganz zuletzt.

Zayl stürzte nach vorn und rief erregt: »Nein! Kommt zu­rück! Bitte ...«

»Bitte!« Er schreckte hoch, die letzten Bilder immer noch vor Augen.

Zayl zitterte am ganzen Leib und sah sich verzweifelt nach den beiden um. Aber er war nicht mehr im Dschungel von Kehjistan, dies war nicht mehr der Moment, in dem das Geschenk Rathmas

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ganz auf ihn übergegangen war. Es war nicht mehr der Moment, in dem sein heimlicher Wunsch für immer von seinen Mentoren zerschlagen worden war.

Nein, dies hier war das Quartier, das ihm Salene Nesardo ge­geben hatte. Er befand sich jenseits der Zwillingsmeere. Er war in Westmarch. Die Erinnerungen kehrten allmählich zurück ... das Gasthaus, die Diebe, die Ausstrahlungen des Hauses Nesardo, der Kampf in der Gruft.

Aber daran schloss sich eine Lücke an. Etwas war seinem Geist entrissen worden. Zayl legte eine Hand an den Kopf, während er sich zu konzentrieren versuchte ...

Augenblicklich fühlte er die kalte Berührung der rechten Gliedmaße.

»Nein!« Der Nekromant starrte auf seine Hand und ihre Fin­ger, auf das Höllische, was er mit sich herumtrug. Was er getan hatte, um das zu bewerkstelligen, verstieß gegen Rathmas sämtli­che Lehren, doch zu der Zeit hatte ihn das nicht gekümmert. Es war einfach eine Notwendigkeit gewesen.

Doch Salene hatte die Hand gesehen, und dieser Umstand be­wirkte bei dem Nekromanten, dass sich alles in ihm verkrampfte, wie es ihm noch nie widerfahren war ... zumindest nicht mehr, seit durch seinen Leichtsinn die zwei wichtigsten Menschen sei­nes jungen Lebens umgekommen waren.

Er blickte über die Schulter und entdeckte Humbart Wessel, der auf einer Anrichte lag. Er schwieg, doch Zayl konnte er nichts vormachen.

»Du kannst gar nicht schlafen, Humbart. Es ist unter deiner Würde, irgendetwas vorzutäuschen.« Der Rathmaner stieg aus dem Bett. Seine Muskeln schmerzten, doch er ging darüber hin­weg. »Erzähl mir lieber, was in der Gruft geschah.«

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»Ich wäre schneller fertig, wenn ich dir erzählen würde, was nicht geschehen ist«, gab der Schädel zurück, berichtete ihm aber dann – bereichert um seine typischen Ausschmückungen – die Einzelheiten dessen, was sich in der Gruft zugetragen hatte. Zayl hörte ihm aufmerksam zu, während sein analytischer Verstand Humbarts Übertreibungen herausfilterte.

Dass Polth tot war, wusste Zayl auch so, und obwohl die Kin­der von Rathma eigentlich über dem Wunsch stehen sollten, um andere zu trauern – war der Tod schließlich nicht nur ein anderer Existenzzustand? –, bedauerte Zayl dennoch, dass der Leibwäch­ter sein Leben geopfert hatte. Damit hatte Salene einen Beschüt­zer weniger, was sich die Edelfrau eigentlich nicht leisten konnte. Sie war in eine Angelegenheit verstrickt, die über die Ebene der Sterblichen hinausging, ja sogar über die Ebene der Toten. Das Ganze hatte etwas Übles an sich, das zum Teil mit der Vernich­tung des Weltensteins zusammenzuhängen schien.

Die Finsteren werden sich regen, hatte der Dschungelgeist ihm bei einer Beschwörung gesagt, kurz bevor Zayl in See gestochen war. Sogar die Verlorenen ...

»Sie hat das Miterleben deines ... ›Handwerk‹ ganz gut ver­kraftet, Jüngelchen«, fügte Humbart nach einer Pause an. »Na­türlich erst nach dem anfänglichen Schock. Als ich erzählt habe, wie du sie verloren hast ...«

»Du hast was gemacht?« »Sachte, Jüngelchen, sachte. Sie kann einiges verkraften. Sie

könnte eine von deinem Schlag sein, jedenfalls was die Willens­stärke angeht! Sie hat sofort begriffen, was du in Ureh versucht hast und warum du der Ansicht warst, du müsstest das mit der Hand bestmöglich korrigieren.«

Diese Worte trugen nicht dazu bei, Zayl zu besänftigen. »Und

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du hast ihr gesagt, was ich ...« Es schien fast so, als würde der Schädel die Stirn in Falten le­

gen. »Natürlich nicht! Manche Dinge sollten besser ungenannt bleiben – oder am besten gleich ganz vergessen werden.«

»Ja ...« Zayls Kopf pochte plötzlich so heftig, dass er sich hin­setzen musste. Er atmete langsam durch und brachte sich so da­zu, wieder ruhiger zu werden. Allmählich ließ das Pochen nach. »Ist irgendetwas Ungewöhnliches geschehen, während ich be­wusstlos war?«

»Die Lady hatte einen Besucher. Soweit ich weiß, war es dieser Lord Jitan.«

Sofort wurde der Nekromant hellhörig. »Tatsächlich? Ich wünschte, ich hätte ihn kennen gelernt.«

Humbart schnaubte abfällig. »Nach seinem Besuch war sie schlechter Laune, das konnte ich spüren.«

Zayl würde bei nächster Gelegenheit mit Salene über diesen finsteren Edelmann sprechen. Im Moment jedoch musste er erst einmal zu Kräften kommen und die Gedächtnislücken schließen.

»Und?«, meldete sich der Schädel wieder zu Wort. »Wer ist dieser Karybdus?«

»Karybdus?« Der Rathmaner sah seinen untoten Gefährten an. »Was soll das sein?«

»Du warst ziemlich unruhig, obwohl du bewusstlos warst, Junge.

Das Einzige, was dich wieder aufzuwecken schien, war die La­dy. Sie hat eine Gabe, die es mit deiner aufnehmen kann. Wenn sie nur damit richtig umzugehen wüsste.«

Salene hatte in der Gruft durchaus mit ihrer Gabe umzugehen gewusst. Doch Instinkt hatte auch seine Grenzen. Was die Edel­frau brauchte, war eine richtige Ausbildung durch einen Hexen­

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meister. Nicht Zayl, sondern jemanden, dessen Fachgebiet für sie akzeptabler war.

Er widmete sich wieder dem ursprünglichen Thema. »Und da­bei habe ich einen ... Karybdus erwähnt?«

»Ja, irgendwann. Also – wer ist es?« Zayl zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe keine Ah­

nung.« »Seit wann ist es deine Angewohnheit, die Namen von Leuten

zu rufen, die du nicht kennst? Das ist mir noch nie aufgefallen, seit unsere Partnerschaft begonnen hat.«

»Es ist auch nicht meine Angewohnheit.« Der Nekromant dachte weiter über den Namen nach. Karybdus. Er klang ver­traut, und doch konnte er ihn nicht zuordnen.

Diese Erinnerungslücken ... »Und weiter habe ich nichts gesagt?« »Ich wünschte, es wäre so.« Zayl nahm sich vor, sich mit diesem Namen weiter noch zu

befassen. Möglicherweise war Karybdus ein Dämon. Das würde vieles erklären.

Dennoch ... Er stand auf und ging zur Tür. »Wohin willst du?« »Ich muss in die Gruft zurückkehren.« »Aber nicht in deinem Zustand«, widersprach ihm Humbart. Der Nekromant hielt inne und sah an sich herab. Er trug nur

seine Hose, das einzige Kleidungsstück, das die zurückhaltende Salene ihm gelassen hatte. Zu allem Überfluss war das Beinkleid auch noch zerrissen. Seine Stiefel standen neben dem Bett, in seiner Hast hatte er sie dort vergessen. Dass er barfuß und nahe­zu unbekleidet in das tückische Reich unter dem Haus zurück­

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kehren wollte, zeigte, in welcher geistigen Verfassung Zayl war. Er hatte nicht einmal daran gedacht, seinen Dolch mitzunehmen.

»Ich glaube, Jüngelchen, du solltest dich erst mal eine Weile ruhig hinsetzen.«

»Ich habe keine ...« Jemand klopfte vorsichtig an die Tür. Oh­ne zu überlegen, rief Zayl: »Herein.«

Die Tür ging auf, Salene trat ein, sah Zayl und hielt den Atem an.

Der Nekromant hob instinktiv die Hände, bis ihm klar wurde, dass er seiner Gastgeberin damit nur einen weiteren Blick auf seine Rechte bot.

Er verbarg sie rasch hinter dem Rücken und murmelte: »Ver­zeiht meinen Aufzug, Mylady.«

Salene hatte sich aber bereits abgewandt. »Ich meinte, Eure Stimme zu hören. Allerdings ging ich davon aus, Euch im Bett vorzufinden. Es war gedankenlos von mir, aber ich war so erleichtert darüber, Euch wieder bei Bewusstsein zu wissen!«

Der Rathmaner sah sich um und entdeckte den Überrest seines Mantels. Er legte ihn sich über, und auch wenn dieser arg rampo­niert war, fühlte sich Zayl sogleich etwas wohler. »Ich war rück­sichtslos. Ihr könnt jetzt wieder in meine Richtung schauen.«

Als sie sich zu ihm umdrehte, bemerkte er ihre geröteten Wangen. Der Nekromant, der solche Reaktionen von Frauen nicht gewöhnt war, sah auf das Bündel, das sie in der Hand hielt. »Kleidung?«

»Eure Größe gleicht der von Sardak, sodass ich es wagen konnte, etwas für Euch zu bestellen. Schlicht, aber dem ähnlich, was Ihr getragen habt. Der Mantel weist zwar nicht die Symbole Eures Berufsstands auf, aber ...«

Er nahm ihr das Bündel ab. »Alles wird ein hervorragender Er­

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satz sein. Ich stehe in Eurer Schuld.« Ihre Miene nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. »Keines­

wegs. Nicht nach ... allem, was passiert ist.« »Es tut mir Leid, was mit Polth geschah. Ich weiß, er bedeutete

Euch viel und Ihr ihm. Solche Loyalität lässt sich nicht kaufen.« »Polths Vater diente meinem Vater.« Salene senkte den Kopf.

»Und dessen Vater diente meinem Großvater. Der Fluch der Nesardos scheint auch auf seiner Familie zu lasten, denn er war der Letzte seiner Linie.«

Zayl dachte nach. »Wenn Ihr es wünscht, könnte ich ...« Ihr Blick ließ ihn verstummen, noch bevor er ausgesprochen

hatte. »Nein, es reicht auch so. Lasst Polth ruhen. Und lasst mei­nen Gemahl ruhen. Es war nicht nur vergebens, der Preis war sogar viel zu hoch.«

»Aber wir konnten dennoch etwas erfahren. Sagt Euch der Name Karybdus etwas?«

»Nein ... aber er schien Euch etwas zu sagen, Meister Zayl. Ihr spracht ihn aus, als sei er Euch bekannt.«

Nachdenklich nickte er. »Ja, aber mit dem Aufwachen scheint das Wissen verschwunden zu sein, wer es ist.«

Sie sah ihn mitfühlend an. »Vielleicht, wenn Ihr Euch weiter erholt habt ...«

»Ja, vielleicht ...« »Wir können uns in einigen Minuten darüber unterhalten«,

sagte sie. »Ihr müsst ausgehungert sein.« Das ungewohnte Magenknurren war ihm tatsächlich aufgefal­

len, doch er hielt etwas so Banales für die geringste seiner Sor­gen. Dennoch erhielt er so Gelegenheit, sich anzuziehen, und seine Gastgeberin würde für einen Moment zur Ruhe kommen. »Etwas Brühe genügt vollauf.«

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»Ihr werdet mehr als nur das essen, wenn ich dabei ein Wort mitzureden habe.« Sie wandte sich zur Tür. »Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Lady Salene.« Als die Edelfrau ihn ansah, fuhr er leise fort: »Wie ich hörte, hat Lord Jitan Euch besucht.«

»Ja.« Ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie den Mann verabscheute.

»Solltet Ihr Euch wieder in seiner Gesellschaft befinden, wäre es am besten, wenn Ihr ihm gegenüber den Namen Karybdus nicht erwähnt.«

»Glaubt Ihr, er weiß, wer er ist?« Der Nekromant fluchte stumm, da ihm klar wurde, dass er sie

soeben auf einen Gedanken gebracht hatte. »Erwähnt einfach nicht den Namen.«

Wieder wandte sie sich ab. »Ich bezweifle, dass ich Lord Jitan so bald wiedersehen werde, jedenfalls nicht, wenn ich darauf irgendeinen Einfluss habe. Ich komme gleich mit etwas zu essen zu Euch.«

Sie schloss die Tür, woraufhin Humbart düster zu kichern be­gann.

Zayl warf ihm einen verärgerten Blick zu. »Worüber amü­sierst du dich denn so?«

»Ich habe ja inzwischen verstanden, dass Rathma eine ganze Menge lehrt, aber offenbar nichts Verbotenes, wenn es um den Umgang mit einer Frau geht ... aber vielleicht liegt das ja auch nur an dir.«

»Sie wird auf mich hören, sie ist vernünftig.« Der fleischlose Kopf schwieg. Ungewohnt missmutig konzentrierte sich Zayl darauf, sich

anzuziehen. Salene hatte Kleidungsstücke gefunden, die seinen

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erstaunlich ähnlich waren. Das galt sogar für den Mantel. Zwar fehlten viele der Innentaschen, über die der vorige verfügt hatte, doch die konnte der Nekromant noch einnähen, wenn er Zeit dafür hatte.

Eine Sache jedoch konnte er nicht hinauszögern. Anders als sein alter Mantel war dieser hier nie präpariert worden.

Zayl breitete ihn auf dem Bett aus, griff in eine seiner Gürtel­taschen und holte eine karmesinrote Kerze hervor. Er stellte sie behutsam mitten auf den Mantel, und nachdem er die Zunder­büchse gefunden hatte, entzündete er den Docht.

Als die Kerze brannte, wurden die Öllampen im Raum sofort gedämpft. Schatten breiteten sich im Raum aus. Die Flamme der Kerze lohte kräftig, leuchtete jedoch blutrot und unterstrich den unheilvollen Aspekt dieses Zaubers.

Von der Kerze ging ein Geräusch aus, das wie ein kurzes, wü­tendes Flüstern klang. Eine dünne Rauchfahne stieg über dem Bett auf. Sekundenlang zuckte die Fahne, dann formte sie sich allmählich zu einem verschwommenen Mund.

»Zayl ...«, ertönte eine raue Stimme. Lange, gefährliche Zähne waren kurz zu sehen, als der Mund sich bewegte. Auch sie waren aus Rauch geformt.

»Ich habe eine Forderung an dich, X’y’Laq.« Der Mund grinste. »Eine Bitte. Einen Wunsch.« »Eine Forderung. Du weißt, welche Macht ich über dich habe.« Der Geist lachte leise. »Die Kerze wird immer kürzer. Schon

bald wirst du sie nicht mehr entzünden können.« Zayl zuckte mit den Schultern. »Darüber kann ich mir immer

noch Gedanken machen, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.« »Du solltest dir darüber stets Gedanken machen, Mensch ...« Scheinbar aus dem Nichts hielt der Rathmaner seinen bleichen

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Dolch in der linken Hand und brachte ihn in die Nähe des Dochts. »Bis dahin solltest du stets daran denken, was ich durch den Bindezauber mit dir machen kann.«

Der Geist gab seinen arroganten Tonfall auf. »Du hast mich gerufen. Was brauchst du?«

»Mach mit meinem neuen Mantel das, was du mit vorange­gangenen auch getan hast, aber füge diesmal die Schuppe von Trag’Oul hinzu ... die du letztes Mal merkwürdigerweise verges­sen hattest.«

Der Mund aus Rauch sank tiefer, bis er sich dicht über dem Mantel befand. »Du hattest es nicht ausdrücklich gesagt. Du musst es ausdrücklich sagen. So lauten die Regeln ...«

Der dunkelhaarige Zauberkundige wischte das Argument mit einer flüchtigen Geste beiseite. »Du wusstest genau, was ich wollte ... aber natürlich, ich hätte es ausdrücklich sagen sollen. Die Schuppe von Trag’Oul soll hierher.« Er berührte die Stelle am Saum. »Und der Rest – und zwar der gesamte Rest – kommt wieder so wie beim letzten Mal auf den Mantel. Keine Abweichungen, keine Auslassungen. Ein exaktes Duplikat.«

»Du lernst schnell, Mensch Zayl. Mögen andere von deiner Art nicht so schnell von Begriff sein.« Der Mund wurde breiter. »Ich bin immer hungrig.«

»Tu, was ich dir sage. Jetzt. Ich werde nicht noch mehr von dem Docht vergeuden.« Um seinen Worten Nachdruck zu verlei­hen, berührte er die Flamme mit der Dolchspitze.

Das Wesen gab einen Laut von sich, der in etwa so klang, als würde es nach Luft schnappen. Der Mund näherte sich dem Mantel. Einen Moment lang geschah nichts, dann aber atmete der Mund plötzlich heftig ein.

»Keine Fehler und keine Auslassungen«, warnte Zayl ihn noch

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einmal. X’y’Laq erwiderte nichts, sondern atmete aus. Kleine, aus Rauch bestehende Symbole wurden über dem

Mantel verteilt. Zayl betrachtete mit geübtem Blick rasch jede Rune, achtete auf die Formen und die Nuancen. Auf einer ande­ren Ebene spürte er die individuelle Magie einer jeden Rune.

Doch ihre Anzahl stimmte nicht. »Alle, X’y’Laq.« »Ich habe nur eine Pause gemacht, um Luft zu holen«, versi­

cherte ihm der Mund rasch, dann atmete er noch einmal aus, und zwei weitere winzige Symbole gesellten sich zu den anderen.

Zayl begutachtete das vollendete Werk ein weiteres Mal, schließlich nickte er zufrieden. Kaum war das geschehen, fielen die Symbole auf den ihnen zugewiesenen Platz auf dem Mantel, auch jene, die unter dem Stoff ihre Position hatten.

Er berührte das Gewebe, und die erste Rune kristallisierte. Sie flammte leuchtend silbern auf, dann schien sie zu verschwinden.

Ein Symbol nach dem anderen verschmolz auf diese Art mit dem Mantel, und als Zayl Gewissheit hatte, dass auch das Letzte eins mit dem Stoff geworden war, zog er den Dolch vom Docht weg.

»Gut gemacht.« »Würde ich dich enttäuschen?« Jemand klopfte an die Tür. »Salene«, zischte Humbart ihm zu. Der Mund stieg auf und drehte sich gleichzeitig in Richtung

Tür. »Eine Frau? Lass sie eintreten. Ich will sehen, ob sie sanft und zart und ...«

Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand griff der Ne­kromant nach dem Docht und löschte die Flamme. Sofort löste sich X’y’Laqs Mund mit einem missbilligenden Laut auf.

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»Einen Augenblick bitte«, rief der Rathmane. Er nahm den ge­fütterten Handschuh hoch. Auch wenn sie seine makabre Hand bereits gesehen hatte, glaubte Zayl aus einem unerklärlichen Grund, sie würde das Gesehene schon vergessen, wenn er die Gliedmaße vor ihr versteckte. »Tretet ein.«

Es war jedoch nicht Salene, die ins Zimmer kam, sondern Sar­dak, der sehr nüchtern und sehr misstrauisch aussah.

»Der Diener sagte mir, Ihr wärt wach. Mit wem habt Ihr gera­de geredet?«

»Natürlich mit mir«, rief der Schädel prompt. Sardak zuckte kaum mit der Wimper. Wie seine Schwester ak­

zeptierte auch er bereitwillig das Bizarre, und es schien fast so, als komme er damit noch besser zurecht als Salene. Alkoholkon­sum konnte im Kopf beunruhigende und entsetzliche Wegbeglei­ter hervorrufen. »Nein, diese Stimme klang anders ... neidisch und hungrig ... aber auf mehr als nur Essen.«

»Kann ich Euch in irgendeiner Weise behilflich sein?«, ging der Nekromant über die Bemerkung hinweg.

Sardak schloss die Tür. »Nur ein kurzes, freundliches Ge­spräch, bevor meine liebe Schwester mit Eurem Mahl herkommt. Ich mag Eure Sorte nicht, Meister Zayl. Ihr steckt Eure Nase in Angelegenheiten, die niemanden etwas angehen sollten. Es ist oft besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen ...«

»Diese Meinung teile ich. Diejenigen, die zu meinem Orden gehören, tun nur, was getan werden muss, um das Gleichgewicht zu wahren.«

Sardak lächelte spöttisch. »Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll, und es kümmert mich auch nicht. Was mich aber kümmert, das ist Salene. Darum will ich mit Euch reden, ehe sie zurückkommt.«

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»Wäre es dann nicht am besten zu sagen, was Ihr sagen wollt?«

»Was ich sagen will«, erwiderte Salenes Bruder, der langsam hinüber zu Humbart ging, »ist Folgendes: Es gibt Schlimmeres als Euch in ihrer Nähe zu haben. Mein Kopf ist endlich klar ge­nug, um das zu erkennen ... und eine Sache fiel mir ein, als ich wieder klar denken konnte. Ein Name, den ein anderer Säufer erwähnte. Salene wird Euch bestätigen, dass ich ein exzellentes Gedächtnis habe, wenn ich nicht zu tief ins Glas schaue. Eigent­lich ist das genau der Grund, weshalb ich trinke. Mein Gedächt­nis ist einfach zu gut. Ich kann nichts vergessen.«

Zayl kannte Männer wie Sardak, und er verstand, was es mit einigen dieser Erinnerungen auf sich hatte. Doch das sollte im Moment nicht seine Sorge sein. Er hatte eine Ahnung, welchen Namen Sardak gehört hatte. »Dieser andere Mann ... erwähnte er den Namen Karybdus?«

Sardak beugte sich vor und spähte in Humbarts leere Augenhöhlen. Zum Glück ließ der es schweigend über sich ergehen. »Genau der! Es geschah nur beiläufig, mit einem bedauernden Tonfall. Ich kann mich so genau daran erinnern, weil der Name so völlig ungewöhnlich klingt – und auch so unheilvoll. Er klingt so wie eine Erdspalte, die sich unter einem auftut, um einen zu verschlingen.«

Sonderbar, dass dieses Wort bei Zayl das gleiche Bild entste­hen ließ. »Und was sagte er weiter?«

Plötzlich packte Sardak Humbart und drehte ihn so, dass das Gesicht zur Wand ausgerichtet war. Der Schädel stieß einen Protestlaut aus, was Salenes Bruder amüsiert auflachen ließ.

Als er wieder zu Zayl sah, war er todernst. »Weiter nichts, verdammt. Das war alles. Mein Kumpan schien sich schuldig zu

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fühlen, dass er den Namen überhaupt in den Mund genommen hatte. Ich hörte ihn nie wieder. Aber ich trank auch nie wieder mit dem Mann.«

Damit befand sich Zayl erneut in einer Sackgasse. Nein, nicht völlig. Wenn Sardaks Trinkkumpan den Namen kannte, dann sprach viel dafür, dass ein Mann so hieß, nicht aber ein Dämon. Doch aus Erfahrung wusste der Nekromant, dass dies nichts daran änderte, dass er sich in einer bedrohlichen Situation be­fand. Das Böse, das ein Mensch anrichten konnte, war oft schlimmer als alles, wozu ein gerissener Dämon in der Lage war. Das war einer der Gründe, warum die Hölle so oft Menschen für ihre Zwecke rekrutierte.

»Danke, dass Ihr mir das gesagt habt.« »Ich habe es nicht für Euch getan, sondern nur für sie.« Sar­

dak wirkte hasserfüllt, obwohl Zayl ihm dafür keinen Grund geliefert hatte.

»Ihr liebt sie sehr.« »Sie ist meine Familie. Meine ganze Familie. Sie ist nicht nur

meine Schwester, sondern auch Mutter und manchmal sogar Vater für mich! Ich würde für sie mein Leben geben, und ich würde jeden töten, der versuchen sollte, sie zu töten!«

Zayl nickte. »Das glaube ich Euch.« Sardak ging zurück zur Tür, atmete tief durch und murmelte:

»Auf jeden Fall dachte ich, es könnte Euch helfen, wenn Ihr wisst, dass ich diesen Namen gehört habe. Ich mag Euch nicht, aber sie vertraut Euch, und sie hat die bessere Menschenkenntnis von uns beiden.«

Er war auch hergekommen, um sich Luft zu machen und Zayl zu warnen, Salene nicht zu hintergehen. Dennoch erwiderte der Nekromant: »Sie vertraut Euch ebenfalls.«

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Zum ersten Mal wirkte Sardak überrumpelt. »Ja«, sagte er langsam. »Ich glaube, das tut sie.«

Zayl dachte über das Gehörte nach. Eine leise Hoffnung regte sich mit einem Mal. »Dieser Kumpan ... vielleicht könnte ich ihn finden und mehr von ihm erfahren. Kennt Ihr seinen Namen? Oder wisst Ihr, wo er zu finden sein könnte?«

»Oh, ich weiß sogar sehr genau, wo er zu finden ist. Aber es wird Euch nicht gelingen, Euch zu ihm zu begeben. Einen von Eurer Art würde man dort nie einlassen. Das würde nur sehr viel Chaos nach sich ziehen.« Der jüngere Nesardo kicherte. »Das wäre es fast wert ... auch wenn es niemals dazu wird kommen können.«

Zayl sah sich plötzlich, wie er versuchte, in die Kirche von Za­karum eingelassen zu werden. Sardaks Bekannter musste dort arbeiten oder ein einfacher Schüler sein, wenn Salenes Bruder so amüsiert auf sein Ansinnen reagierte. »Dann gehört er zum Kle­rus?«

»Meine Güte, nein! Auch wenn das ebenfalls sehr witzig wä­re! Nein, Meister Zayl, Edmun befindet sich an einem noch viel förmlicheren Ort. Er ist der persönlich Adjutant unseres gelieb­ten neuen Königs.«

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NEUN

In den Westlichen Königreichen war es Tradition, dass nach dem Tod eines Königs und der Vorbereitung seines Erben auf den Thron die Adligen des Reichs in der Hauptstadt zusammenka­men, um beiden ihre Ehre zu erweisen und um dem Nachfolger ihre Unterstützung zu bekunden. Zugleich war eine solche Zu­sammenkunft geballter politischer und militärischer Macht für die breite Bevölkerung ein Zeichen dafür, dass stabile Verhältnis­se herrschten.

Manche kamen in langen Karawanen angereist, deren Wagen von schweren Pferden mit dichtem Fell oder von Maultieren gezogen wurden. Andere trafen mit einer einzelnen Kutsche ein, und nicht wenige ließen sich auf der Anreise von einem Trupp gut bewaffneter und wachsamer Söldner begleiten. Hunderte Banner wehten hinter den Stadttoren, was die wohlhabenden Bürger und das einfache Volk gleichermaßen staunen ließ, waren doch viele von ihnen während oder erst kurz vor Beginn der Regentschaft des alten Cornelius geboren worden, sodass sie eine solche Zusammenkunft nie zuvor miterlebt hatten.

Diejenigen dagegen, die in der Stadt eintrafen, hegten recht unterschiedliche Absichten. Viele kamen her, um den toten Monarchen zu preisen, sannen aber auch darüber nach, ob sie seinen Nachfolger nicht gleich mit beerdigen könnten. Andere dagegen, die Justinian IV. ihre Loyalität bekundeten, taten dies eher halbherzig.

Doch ganz gleich, aus welchem Grund sie kamen, Tatsache war, dass sie kamen.

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Und das war das, was für Aldric Jitan zählte. Der Edelmann sah vom Balkon seines an einem Hügel gelege­

nen Hauses zu, wie erneut Gäste ihre Ankunft mit Trompetenge­schmetter und der demonstrativen Zurschaustellung der Banner kundtaten. Lord Jitan rümpfte verächtlich die Nase.

»Das Banner in Rot, Orange und Blau von Baron Charlemo­re«, murmelte er. »Wie üblich trifft er als einer der Letzten ein und gebärdet sich wie ein Pfau.« Aldric sah über die Schulter in den dunklen Raum. »Sieben oder vielleicht acht fehlen noch, aber das dürfte es dann gewesen sein. Seid Ihr schon ein Stück wei­ter?«

In der Finsternis blitzte ein fahles, smaragdgrünes Licht auf, und im gleichen Moment war Karybdus zu sehen. Der Rathma­ner mit dem stählernen Blick beugte sich soeben über einen Tisch, auf dem Sternenkarten ausgebreitet lagen. Das kurze, in Abständen wiederkehrende Aufblitzen stammte von einem klei­nen Kristall, der die Form eines Nagetierzahns hatte. Er hing an einer silbernen Kette und pendelte über den Karten hin und her. Über der einen oder anderen Konstellation verharrte er kurz und leuchtete dann flüchtig auf.

»Geduld ist eine Tugend«, betonte Karybdus. »Vor allem für einen künftigen Herrscher.«

»Aber ich kann es jetzt noch stärker als zuvor wahrnehmen«, gab Aldric zurück und beobachtete wieder die Ankunft des Ba­rons. »Ihr sagtet, es würde stattfinden, wenn sie alle versammelt sind.«

»Und so wird es auch sein. Alle Zeichen sind konstant geblie­ben. Der Spinnenmond steht unmittelbar bevor.«

»Es wird verdammt noch mal auch Zeit! Und was ist mit die­sem Narren, der uns in die Quere kommen will? Dieser andere

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Nekromant? Ihr hattet versprochen, er würde schon längst keine Probleme mehr bereiten!«

Ein weiteres Aufblitzen ließ erkennen, wie Karybdus kurz eine finstere Miene machte. »Er ist sehr erfindungsreich, aber er spielt in diesem Spiel mit, ohne die Regeln oder die anderen Spieler zu kennen – und erst recht hat er keine Ahnung von den Konse­quenzen.«

Lord Jitan legte seine Hand auf das Heft seines Schwertes. »Wenn wir an diesem Punkt nicht die Sphäre gegen ihn einset­zen können und Eure eigenen Fallen versagt haben, dann könnte eine gute stählerne Klinge das Problem vielleicht besser lösen!«

»Wenn es nicht anders geht.« Der Kristall leuchtete ein letztes Mal auf, dann legte der Nekromant seine Hand darum. Einen Atemzug später stand er neben dem Edelmann. »Es wäre ein ironisches Ende für ihn.«

»Was soll das bedeuten? Ihr sprecht von ihm, als würdet Ihr ihn gut kennen, Hexenmeister.«

Karybdus schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Nein, aber sein Ruf ist mir bekannt, und er ist für jemanden seines geringen Alters bemerkenswert. Wäre er nicht so fehlgeleitet, könnte man seine Fähigkeiten sogar als bewundernswert bezeichnen.«

»Und er kennt Euch auch?« »Er kannte mich, doch ich konnte dieses Wissen in seinem

Kopf blockieren.« Der Nekromant, der eine Rüstung trug, straff­te die Schultern und fügte mit einem Anflug von Stolz hinzu: »Immerhin ist er nur Zayl, während ich bin, wer ich bin.«

Aldric gab einen unbestimmten Laut von sich. »Dieser Zayl bereitet uns dennoch weiter Probleme, ganz gleich wer Ihr seid.«

»Jetzt nicht mehr. Wir können wie geplant weitermachen.« Karybdus wollte wieder mit der Dunkelheit verschmelzen, doch

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der Edelmann legte eine Hand auf die Schulter des anderen. Von seiner Position aus konnte Lord Jitan die Miene des Nekroman­ten nicht sehen, sonst hätte er es sich vermutlich noch einmal überlegt, ob er Karybdus wirklich so anfassen wollte.

»Sagt mir doch noch einmal, welchen Nutzen Ihr genau aus allem zieht, Hexenmeister. Ich weiß, was ich bekomme, und das habe ich auch mehr als verdient. Aber ich möchte es von Euch ein weiteres Mal hören, allein um mich zu vergnügen.«

Als Karybdus zu ihm schaute, war sein Gesichtsausdruck wie­der so analytisch und gefühllos wie der eines Gelehrten. Seine Stimme war so tonlos, als würde er Schülern einen Vortrag hal­ten. »Wir, die wir Rathma verehren, dienen dem Gleichgewicht. Das Gleichgewicht ist das Ganze. Ohne es würde die Welt in die Anarchie, ins Chaos abstürzen. Unser Streben ist es, das zu ver­hindern, indem wir Ordnung bringen.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf Aldric. »Ihr seid ein Werkzeug unserer Arbeit. Westmarch befindet sich zur Zeit im Fluss. Eine eiserne Hand ist gefordert, und Ihr werdet gebraucht, damit die Westlichen Kö­nigreiche nicht in Trümmern daliegen.«

Der großgewachsene Edelmann lächelte, da er wie so viele sei­nes Standes für Schmeicheleien empfänglich war, selbst wenn sie so offensichtlich waren.

»Wenn Ihr an der Macht seid, werdet Ihr Maßnahmen ergrei­fen müssen, die von manchen als brutal, ja sogar als bösartig bezeichnet werden dürften. Sie sind diejenigen, die nicht verste­hen, warum es notwendig ist, dass Ihr so handelt. Es müssen Opfer gebracht werden, die aber auf lange Sicht der Menschheit dienlich sein werden. Es wird eine Zeit kommen, da wird man dem Namen Aldric Titel anhängen wie ›der Große‹ oder ›der Vorausschauende‹ oder ›Held der Menschheit‹.« Karybdus zeigte

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auf sich. »Mein Lohn wird darin bestehen, dass ich dem Gleich­gewicht und meinem Nächsten nach besten Kräften gedient habe und dem Chaos Einhalt gebieten konnte, indem ich Euch auf den Thron half ... was nicht mehr lange dauern wird.«

»Nein, allerdings nicht«, stimmte Aldric ihm zu und richtete den Blick zur Decke. Im Geiste erlebte er bereits seine Krönung. Die Massen verehrten ihn, sie jubelten ihm zu. Die Hörner wür­den schmettern, und wenn er noch weiter in die Zukunft blickte, konnte er sich als Anführer einer gewaltigen Streitmacht sehen, in einer Hand den Spinnenmond hoch über sich erhoben, wäh­rend er zuerst gegen die Streitkräfte von Khanduras zog, dann gegen die von Ensteig. Schließlich würde er sich die Barbaren in den nördlichen Regionen vorknöpfen, und dann ... dann würde Aldric seinen Blick auf das legendäre Lut Gholein richten.

Es würde Ordnung auf der Welt herrschen – seine Ordnung. Und wenn er Gewissheit hatte, Karybdus nicht länger zu be­

nötigen, würde er dem Nekromanten die Kehle aufschlitzen. Aldric wusste, dass der Zauberkundige ihm nicht die ganze Wahrheit sagte. Karybdus verfolgte noch ganz andere, heimliche Ziele. Dessen war sich der Edelmann sicher, da er ja auch selbst nicht anders handelte.

»Ach, ich vergaß zu erwähnen, ich habe noch eine Entdeckung gemacht, Mylord. Eine, von der ich mit Freuden sagen kann, dass sie unsere Fortschritte beschleunigen wird.«

Aldric löste sich aus seinem Tagtraum und sah seinen Ver­bündeten interessiert an. »Und?«

Karybdus steckte den kleinen grünen Kristall ein. »Wir sind gar nicht auf das Haus Nesardo angewiesen.«

»Aber ...« Die in Schwarz gekleidete Gestalt verschwand in der Dunkel­

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heit, woraufhin Aldric Jitan ihr frustriert folgte. Obwohl seine verschieden aussehenden Augen sich schnell an die Finsternis gewöhnten, konnte er Karybdus nirgends ausmachen.

»Die Höhle unter dem Haus war eigentlich der vorrangigste Ort, an dem wir unsere Arbeit hätten verrichten sollen. Doch meine Nachforschungen haben ergeben, dass es noch einen bes­seren gibt, der außerhalb der Stadtmauern liegt«, hörte er die Stimme des Rathmaners irgendwo vor sich.

»Besser als der ursprüngliche Tempel?« Aldric versuchte, sich vorzustellen, wo er die Kräfte, die er bändigen wollte, besser hätte zu sich rufen können als an der Stelle, an der die Priester ihrem Herrn ein Monument gebaut hatten. Er versuchte es, doch es gelang ihm nicht. »Was soll das sein?«

Vor Lord Jitan war mit einem Mal ein blasses, elfenbeinfarbe­nes Leuchten zu sehen, das so plötzlich entstand, dass ihm der Atem stockte und er nach hinten zurückwich.

Karybdus’ Gesicht tauchte über dem Leuchten auf, das vom Spinnenmond ausging. Das Spinnenmuster auf der Kugel schien in dem Rhythmus zu pulsieren, in dem er atmete.

»Es ist der Ort, an dem dies hier geschaffen wurde. Der Ort, an dem sich zuletzt die Kinder von Astrogha versammelten, nachdem einer der Gläubigen im Tempel getötet worden war.«

»Ich dachte, das waren die Ruinen, in denen wir es gefunden haben.«

Der Nekromant hielt das Artefakt näher an ihn heran und zog Aldrics Blick darauf. Karybdus’ Stimme hallte in seinem Kopf nach. »Was wir fanden, war der Ort, an dem der Vizjerei den Mond versteckte, in der Hoffnung, niemand würde ihn dort je­mals finden. Es fehlte ihnen an Kraft, den Mond zu vernichten, und es gelang ihnen auch nicht, das zu zerstören, wofür man ihn

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geschaffen hatte. Nein, der Ort, den ich entdeckt habe, ist von größerer Bedeutung als alles andere. Es ist ein Berührungspunkt mit einem jenseitigen Reich ...«

»Ein jenseitiges Reich ...« Lord Jitan löste seinen Blick von dem Artefakt. »Dann brauchen wir doch nicht mehr dieses Mi...«

»O doch, wir brauchen sie sehr wohl«, fiel ihm der Nekromant ins Wort. »Das Blut. Vergesst nicht das Blut.«

»Ja, das hatte ich vergessen. Sie muss dafür sterben, nicht wahr?«

Der fahle Zauberkundige reichte den Spinnenmond an Aldric. Während der Edelmann ihn fast liebevoll in den Handflächen hielt, antwortete Karybdus: »Ganz bestimmt, Mylord. Ganz be­stimmt.«

Aldric strich über das Artefakt, als habe er ein Schoßtier vor sich. »Es war zuvor für mich kein Problem, Hexenmeister, und es ist auch jetzt kein Problem.«

»Hervorragend.« Karybdus zog sich aus dem Lichtschein zu­rück. »Dann gibt es ja keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Bis auf diesen anderen Rathmaner.« Aus der Dunkelheit drang ein anderes Geräusch an seine Oh­

ren, von einem großen Tier, das sich über den Boden bewegte – oder vielleicht an der Wand entlang. Mit Gewissheit konnte Al­dric das nicht sagen. Karybdus gab einen sonderbaren Laut von sich, so als würde er leise auf ein Kind einreden. Dann erwiderte der Nekromant: »Nein, Mylord. Zayl wird nicht länger ein Problem darstellen. Ich habe entschieden, dass der König das für uns erledigen wird.«

»Dieser elende ... oh, Ihr meint Cornelius ...« Wieder war diese kosende Stimme zu hören, gefolgt von dem

langgezogenen Fauchen, das dem Edelmann mittlerweile längst

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vertraut war, das ihn aber nach wie vor beunruhigte. »Ja, der gute Cornelius wird sich den Gotteslästerer vornehmen, der in­mitten von Westmarch sein Unwesen treibt.«

Zayl zog sich in sein Quartier zurück und machte sich seine Aus­bildung zunutze, um seinen Geist in den Griff zu bekommen und seinen Körper zu stärken. Stundenlang saß er regungslos auf dem Fußboden gleich neben seinem Bett und tastete nach den Kräften, von denen das Haus Nesardo durchdrungen war, um von ihnen mehr zu erfahren.

Als er jedoch zu dem Schluss kam, dass er an dem Punkt ange­langt sei, an dem er nichts mehr weiter erreichen konnte, gab es nur noch eine Lösung. Auch wenn der gute Polth ihn zu Lebzei­ten davor gewarnt hatte, musste er sich in der Stadt umhören.

Salene und sogar Sardak versuchten, ihm dieses Unterfangen auszureden, und sie warnten ihn, Zakarum benötige nur den winzigsten Vorwand, um ihn hinter Gitter zu bringen und als Ketzer anzuklagen. Selbst Humbart wollte seinen Freund dazu bewegen, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen, was aber womöglich vor allem daran lag, dass der den Schädel nicht mit­nehmen wollte.

»Du suchst in einer riesigen Stadt nach einem einzelnen Mann, Jüngelchen! Was glaubst du, wie viele schäbige Tavernen es zu durchsuchen gibt? Ein oder zwei? Nein, es sind wohl eher hundert, wenn ich mich recht erinnere.«

Doch alle Argumente waren vergebens. Salene stemmte schließlich verärgert die Hände in die Hütten und ließ ihn wis­sen: »Wenn Ihr unbedingt so leichtsinnig sein wollt, dann werde ich Euch begleiten, damit jemand weiß, wohin Ihr Euch für Eure Suche zu begeben habt.«

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»Wenn schon, meine liebe Schwester«, warf Sardak ein, »soll­te ich derjenige sein. Wer von uns beiden kennt diese Spelunken besser?«

Aber Zayl erteilte beiden eine Absage. »Mylady, Ihr seid be­reits Zielscheibe für irgendeine Macht. Da draußen mitten im Volk wäre es unmöglich, Euch vor einem Angriff zu schützen – und abhängig von dem anzunehmenden Chaos wären auch Euer Bruder und ich einem Angreifer schutzlos ausgeliefert. Ihr wer­det hier bleiben, und ich werde auf Schutzzauber zurückgreifen, die nur jemand meines Standes kennen kann. Und was Euch angeht, Meister Sardak – da für Euch das Wichtigste im Leben Eure Schwester ist, würde es sich von Euch gehören, hier bei ihr zu bleiben, anstatt mit mir von Gasthaus zu Gasthaus zu ziehen und dabei einem Ale zum Opfer zu fallen. Oder vielleicht auch zwei Ale. Oder gar drei oder vier.«

Dass Sardak an dieser Aussage keinen Anstoß nahm, zeigte dem Rathmaner, wie richtig er mit seiner Einschätzung lag. Sale-ne dagegen kochte noch immer vor Verärgerung, doch Zayl hatte ihr klar gemacht, welche potentielle Gefahr sie für jeden bedeute­te, mit dem sie sich sehen ließ. Der Nekromant wusste zwar, dass sie bereit war, ihr Leben zu riskieren, doch andere würde sie nicht in Gefahr bringen wollen. Es missfiel ihm, sie so zu mani­pulieren, aber es geschah zu ihrem eigenen Schutz.

»Dann seid wenigstens vorsichtig«, sagte die Edelfrau, und zu seiner Überraschung strich sie ihm mit den Fingern über die Wange.

Mit einem brüsken Nicken verließ Zayl die beiden rasch. Auch wenn seine Miene es nicht erahnen ließ, drehten sich seine Ge­danken noch minutenlang um diese Berührung. Der Nekromant war nicht daran gewöhnt, durch Außenstehende einen solchen

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Kontakt zu erfahren, und er würde mehr als froh sein, wenn diese Angelegenheit bald abgeschlossen sein könnte. Wenn das der Fall war und er es überlebt hatte, würde er in die tröstende Welt der Wildnis von Kehjistan zurückkehren ...

Die Diener waren übereifrig, seine Abreise so rasch wie mög­lich vonstatten gehen zu lassen. Der schlaksige Barnaby öffnete ihm bereitwillig die Haustür, und zwei Männer in Livree und mit Mänteln trotzten dem unablässig tobenden Unwetter, damit sie das äußere Tor öffnen konnten, das sie – kaum dass Zayl es durchschritten hatte – gleich wieder hinter ihm zuschlugen.

Nun konnte der Rathmane, der sein Gesicht unter der weiten Kapuze verborgen hielt, zum ersten Mal einen ausgiebigeren Blick auf Westmarch werfen.

Der Schwarze Widder verblasste im Vergleich zu den endlosen Reihen von Gebäuden, die sich so weit erstreckten, wie das Auge blicken konnte. Zunächst kam er an großen Anwesen wie dem der Nesardos vorbei, doch Zayl, der sich mit der Geduld und Entschlossenheit einer flinken Dschungelkatze voranbewegte, erreichte schon bald die Handelsviertel der Stadt. Hinter steiner­nen Fassaden fanden sich elegante Geschäfte, in denen Waren aller Art zum Kaufangeboten wurden, darunter auch Dinge, die der Rathmaner aus seiner Heimat kannte. Ein oder zwei Objekte zogen seine Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich, da sie eindeutig aus geheiligten Stätten stammten, von denen er wuss­te, dass man sie geplündert hatte.

Gasthäuser der gehobeneren Klasse fanden sich ebenfalls in den Gassen, die wie fast überall Kopfsteinpflaster aufwiesen. Vor einigen der Lokale standen elegant gekleidete Wachen mit Schwertern oder anderen Waffen, Männer, deren Aufgabe es war, das Gesindel fern zu halten. Aus den Lokalen war Musik zu

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hören, dann und wann ansprechende Klänge, die die Billigung seines geschulten Ohrs fanden. Anderes wiederum war so dis­harmonisch, dass er sich fragte, ob dort wohl taube Kobolde spielten, um Opfer des Urbösen zu foltern.

Dann stieß der Rathmaner auf eine Kirche von Zakarum. Zwei identische Türme stiegen zu beiden Enden des Bauwerks

hoch in die Luft, um alles zu überragen, was in der Nachbarschaft errichtet worden war. Die Türme stachen so spitz in den Himmel, als wollten sie Engel aufspießen. Die Dachziegel waren so über­lappend gelegt worden, dass die gewaltige Kirche – die schon eher einer Kathedrale glich – ein wenig an einen sich zusammenkau­ernden Drachen erinnerte. In die Mauern der Türme und des Hauptgebäudes hatte man Bleiglasfenster eingelassen, die wohl mindestens doppelt so groß wie Zayl waren. Jedes der Bilder darauf stellte eine Szene aus den Schriften der Kirche dar, doch der Rathmaner fand, dass sie alle etwas Verzweifeltes an sich hatten. Es schien, als sei die Kirche von Zakarum darauf bedacht, ihren Gläubigen immer wieder vor Augen zu führen, was jene erwartete, die sich nicht strikt an das hielten, was gepredigt wur­de.

Vier Wachleute in ihren blutroten Rüstungen und Umhängen standen vor dem massiven Holztor. Soldaten des Glaubens. In ihrer Pflichterfüllung waren sie genauso eifrig wie in ihrer Frömmigkeit. Im Allgemeinen dienten sie dabei aber nur als Beschützer der Kirchenoberen.

Ein Wachmann mit Visier vor seinem Helm sah in Zayls Rich­tung, sein Gesicht war vollständig verdeckt. Zayl blieb gelassen, während er die Gruppe passierte, wusste aber, dass man ihn als etwas Außergewöhnliches und damit als potentielle Bedrohung wahrgenommen hatte.

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Doch keiner der Wachleute ergriff irgendwelche Maßnahmen, und dann endlich war Zayl außer Sichtweite der Kirche. Erst als er sich sicher war, dass niemand ihn verfolgte und niemand zu sehen war, gestattete er sich, erleichtert durchzuatmen.

Die ersten Schenken hatte Zayl noch ignoriert, da sie nicht der Art von Gasthaus entsprachen, von denen laut Sardak anzuneh­men war, dass Edmun dort häufig einkehrte. Nun aber näherte sich der Zauberkundige den ersten weniger noblen Etablisse­ments, die schon interessanter waren. Er betrachtete die beiden Gasthäuser, denen er am nächsten war, dann entschied er sich für das linke von beiden, von dem der meiste Lärm ausging und das den schäbigeren Eindruck machte.

Kaum jemand nahm von ihm Notiz, als er eintrat, was ein si­cheres Zeichen dafür war, wie tief diese Kreaturen bereits gesun­ken waren. Normalerweise nahmen sogar die, die nichts von Zayls Stand wussten, sofort wahr, dass er sich von einem ge­wöhnlichen Reisenden unterschied.

Musik, Gelächter und lautstark ausgetragene Streitigkeiten bestürmten seine Ohren, doch welche von den drei Lärmquellen die lauteste war, vermochte er nicht zu sagen. Zayl ging zwischen den Gästen umher und warf ihnen verstohlene Blicke zu, immer in der Hoffnung, diesen »Mann des Königs« zu entdecken. Es wäre viel leichter gewesen, Sardak einfach mitzunehmen, doch so lange Zayl sich nicht auf dem Anwesen aufhielt, war es ihm lie­ber, wenn Salene ihren Halbbruder an ihrer Seite hatte.

Doch auch so wurde schnell genug deutlich, dass es sich bei keinem der Anwesenden um den persönlichen Adjutanten von König Justinian handelte. Der Rathmaner machte kehrt, und nachdem er eben noch einem betrunkenen Kaufmann mit einem Bauch von der Größe von Trag’Oul hatte ausweichen können,

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war er in den Regen zurückgekehrt. Er zog seinen Mantel enger um sich und begab sich zur nächsten Taverne.

Aber auch der Besuch dort erwies sich als Zeitverschwendung, was für die beiden nächsten Gasthauses ebenso galt. Zayl war sich der Schwierigkeit bewusst, die Suche erfolgreich abschließen zu können, dennoch baute er auch diesmal auf Rathmas Versi­cherung, der Weg werde schon zu ihm kommen. Irgendein Hin­weis auf den bislang unauffindbaren Edmun würde sich ergeben, dessen war sich der in Schwarz Gekleidete sicher.

Zayl hatte Salene nichts von dem anderen, mindestens so dringenden Grund gesagt, weshalb er das Haus allein verlassen wollte. Doch fernab der Nesardos war er nicht länger den Ein­flüssen des Hauses ausgesetzt, und er würde möglicherweise seinen rätselhaften Gegenspieler besser wahrnehmen können. Vielleicht gelang es ihm, mehr über diesen Karybdus zu erfah­ren, ohne dabei auf die Hilfe dieses dubiosen Edmun angewiesen zu sein. Sollte ihm das gelingen, wollte Zayl sich unverzüglich dem Ort zuzuwenden, an dem der Unbekannte sich aufhielt. Das war Grund genug, um Salene aus allem herauszuhalten.

Plötzlich stieß er mit einem stämmigen Mann zusammen, der das harte Leder eines Söldners trug. So sehr ihn seine mangelnde Konzentration erschreckte, so stark fühlte er sich auch von dem Zusammenprall überrumpelt. Er sah auf in das halb verdeckte Gesicht des anderen.

»Hauptmann Dumon?«, kam es dem Nekromanten über die Lippen.

Doch fast im gleichen Moment erkannte er, dass er nicht den anderen Überlebenden von Ureh vor sich hatte. Eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu leugnen, doch die Unterschiede waren zugleich deutlich genug, um zu erkennen, dass es sich nicht um

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den Mann handelte, mit dem er ihn verwechselt hatte. »Ihr solltet besser immer auf Euren Weg achten«, erwiderte

der Fremde. Seine Art zu reden war für einen Mann von seinem Beruf ungewöhnlich kultiviert.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung ...« Der Söldner grinste ihn an. »Hätte ich Zeit genug, würdet Ihr

mir als Wiedergutmachung einen Krug im Garrett’s Crossing ausgeben müssen. Dort trinkt man am besten in der ganzen Stadt. Jeder geht dorthin.«

Zayl wollte darauf etwas erwidern, doch mit einem freundli­chen Lächeln ging der Mann weiter. Der Nekromant sah ihm einen Augenblick lang nach, dann machte er sich wieder auf den Weg.

Nach einer Weile erreichte er eine ganze Ansammlung von Gasthäusern, die von unterschiedlichstem Niveau waren. Zayl wurde klar, dass seine Suche nach Edmun der Jagd nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen glich. Bedauerlicherweise wollte auch die andere Suche nichts ergeben, von der er sich ohnehin mehr versprochen hatte. Obwohl sein Geist unablässig auf der Suche war, gab es keinen Hinweis auf einen anderen Zauberkundigen, weder einen Vizjerei noch einen Vertreter einer anderen Richtung.

Natürlich konnte er jederzeit zum Palast gehen und nach Ed­mun fragen, doch der bloße Gedanke ließ Zayl kläglich lächeln. Die Wachen würden ihn nur einmal ansehen müssen, dann lan­dete er entweder im Kerker oder wurde aus Westmarch vertrie­ben.

Der Wind wurde wieder stärker, und Zayl zog abermals den Mantel enger um sich, während er die Kapuze tiefer ins Gesicht rutschen ließ. Das Holzschild über einer Tür schaukelte heftig

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hin und her, jedes Mal von metallenem Kreischen begleitet. Als es besonders laut wurde, sah Zayl kurz auf ...

... und konnte seinen Augen kaum trauen. Garrett’s Crossing. Abrupt sah er über die Schulter, überzeugt davon, jemand ste­

he hinter ihm, doch da war nichts. Sein Blick wanderte zurück zu dem Schild.

Mit entschlossener Miene machte der Nekromant schließlich die Tür auf und trat ein.

Garrett’s Crossing war ein deutlich besseres Etablissement als der Schwarze Widder, das es aber noch lange nicht mit den Gast­häusern aufnehmen konnte, an denen er zu Beginn seiner Er­kundung vorbeigekommen war. Die Gäste hier verfügten über deutlich mehr Geld, das sie in einer Taverne lassen konnten, doch allzu spendabel konnten oder wollten sie nun auch wieder nicht sein. Der Schankraum war gut besucht, Musik war zu hören, einige der Gäste lachten gutgelaunt. In der Menge würde sogar eine so griesgrämig dreinblickende Gestalt wie Zayl nicht auffal­len.

Doch er konnte nirgends jenen Edmun entdecken, und insge­heim verfluchte er bereits, dass er geglaubt hatte, ihn hier antref­fen zu können. Der Rathmaner wandte sich soeben zum Gehen, da ...

... da kam ein Mann aus einem der Hinterzimmer, auf den Sardaks Beschreibung des königlichen Adjutanten passte. Sein Gesicht war gerötet, eindeutig als Folge übermäßigen Alkoholge­nusses ... und einer anderen Sache.

Diese »andere Sache« huschte im nächsten Augenblick an Ed­mun vorbei, um nach dem nächsten Freier Ausschau zu halten.

Justinians Vertrauter zog seine Kleidung zurecht, und Zayl

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nutzte die Gelegenheit, sich ihm zu nähern. Der Mann sah auf, entdeckte den Nekromanten und stieß ei­

nen Wutschrei aus, während er verfluchend einen Finger auf Zayl richtete.

In diesem Moment nahmen alle Anwesenden von ihm Notiz. Edmun wirbelte auf der Stelle herum, Zayl versuchte, ihm zu

folgen. Doch plötzlich stürmten von allen Seiten Männer in karme­

sinroten Rüstungen und mit unheilvoll leuchtenden Schwertern in der Hand in die Taverne, stießen Gäste aus dem Weg und schmissen Tische um, an denen getrunken und gespielt wurde.

Zayls Beute konnte ungehindert ein paar Soldaten passieren, während die Männer der Kirche von Zakarum weiter vorrückten und den Nekromanten einkreisten. Hinter ihnen entdeckte er eine Gestalt, die den Einsatz leitete. Seine Miene war vom Eifer geprägt, den Rathmaner dingfest zu machen und ihn unter kei­nen Umständen entkommen zu lassen.

In aller Eile zeichnete Zayl ein Symbol in die Luft, das an ein schlafendes Auge erinnerte, dazu murmelte er einige unverständ­liche Worte.

Nur er nahm die kleinen schwarzen Kugeln wahr, die über den heraneilenden Männern Gestalt annahmen. Augenblicklich fielen die Kugeln herab und bedeckten die Köpfe der Soldaten.

Der Angriff geriet ins Stocken, da die Männer in ihren Rüs­tungen plötzlich miteinander kollidierten oder aber gegen Tische rannten und mit erschrockenen Gästen zusammenprallten. Die geschlossene Linie war gestört worden, Zakarums heilige Krieger stolperten blindlings in alle möglichen Richtungen davon. Der Anführer konnte nichts anderes tun, als wie wild mit den Armen zu fuchteln.

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Die Phase der Blindheit würde aber nicht lange anhalten. Ge­duckt huschte Zayl an einem schwerfälligen Riesen vorbei und hielt auf die schaulustige Menge zu, die sofort zurückwich, da niemand einen Nekromanten berühren wollte.

Er stürmte nach draußen in den Regen, jedoch nicht, um dann sogleich die Flucht anzutreten. Vielmehr lief er um die Hausecke und steuerte den Ausgang an, den Edmun wahrscheinlich ge­nommen hatte.

Die Tür wurde noch vom Wind hin und her bewegt, als sei kurz zuvor jemand dort entkommen, jedoch war von Edmun nichts mehr zu sehen. Allerdings konnte der Rathmaner seine Spur wahrnehmen. Nun, da er seine Beute gefunden hatte, wür­de er keine Ruhe geben, bis er endlich mit diesem Mann gespro­chen hatte.

Er spähte um die nächste Ecke und sah gerade noch, wie eine vom Regen durchnässte Gestalt ein Pferd aus dem Stall führte.

Zayl konzentrierte sich, um den Zauber zu wiederholen, den er bereits bei den Zakarum angewandt hatte.

Doch noch während er zu seinen Gesten ansetzen konnte, da kam ihm eine Reitergruppe in den Weg. Zayl hielt die Reiter in ihren Rüstungen auf den ersten Blick für weitere Soldaten von Zakarum. Doch auch wenn deren Rüstungen rot waren, ent­sprach es nicht dem blutigen Farbton der Kirche.

Er versuchte, den Zauber auf diesen Trupp anzuwenden, als ihm klar wurde, dass sich auch jemand hinter ihm befand.

Schwere, gepanzerte Leiber brachten den Rathmaner schmerz­haft zu Fall. Zayl hörte jemanden Befehle brüllen, dann traf ihn eine gepanzerte Faust an der Schläfe.

Von da an spürte er nichts mehr.

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ZEHN

Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr bedauerte Salene, dass sie es sich hatte ausreden lassen, Zayl auf der Suche nach Justinians Adjutanten zu begleiten. Der Nekromant kannte sich kaum aus in Westmarch, und er war bereits mehr als einmal ihretwegen angegriffen worden, was der Edelfrau zutiefst Leid tat. Sie war niemand, der andere gern für sich kämpfen ließ, nicht einmal Menschen wie Polth, der dafür sogar noch entlohnt wor­den war.

Daher beschloss Salene, sich an die Fersen des Nekromanten zu heften, ehe ihm Schlimmes widerfahren konnte.

Es war nicht besonders schwierig, sich unbemerkt von Sardak davonzustehlen. So sehr ihr Halbbruder auch um sie besorgt war, vertraute er ihr doch viel zu sehr. Als sie sich für die Nacht zu­rückzog, ließ Sardak sich von ihr auf die Wange küssen und wünschte ihr einen guten Schlaf. Dann begab er sich in seine eigenen Gemächer, die dicht neben ihren gelegen waren, und versicherte ihr, sofort zur Stelle zu sein, falls sie nach ihm riefe.

Die Edelfrau wartete nur so lange, bis im Haus Ruhe einge­kehrt war, dann zog sie etwas Ähnliches an wie beim Besuch der Gruft, warf sich einen Mantel über und schlich sich aus ihrem Zimmer. Um zu vermeiden, von Sardak vielleicht doch gehört zu werden, wählte sie einen Umweg, der vorbei an Zayls Quartier führte. So würde niemand etwas davon mitbekommen, dass sie das Haus verließ.

Zumindest hatte sie es sich so vorgestellt. »Ziemlich herausgeputzt, nur um über die Flure zu spazie­

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ren«, dröhnte eine Stimme aus dem Zimmer des Nekromanten. Salene wollte den Sprecher ignorieren, doch der begann laut

und unmelodisch zu summen, woraufhin Lady Nesardo rasch das Quartier betrat.

»Hört auf, Humbart! Sardak hört Euch sonst noch!« »Warum auch nicht?«, gab der Schädel nur geringfügig leiser

zurück. »Ihr werdet Euch nicht nach draußen begeben, Mäd­chen!«

»Zayl setzt für mich sein Leben aufs Spiel in einer Stadt, in der er sich so gut wie gar nicht auskennt, und sucht nach einem Mann, von dem mein Bruder ihm nur eine vage Beschreibung geliefert hat. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn überhaupt allein losziehen ließ!«

»Ihr würdet Euch wundern, wie erfinderisch das Jüngelchen sein kann. Wenn dieser Edmun den Palast verlassen hat, wird er ihn finden.« Nach einigem Zögern fuhr er fort: »Allerdings ist es schon eine ziemlich große Stadt.«

»Und ich kenne mich hier viel besser aus.« »Aber Ihr solltet auch nicht allein das Haus verlassen, Myla­

dy.« Sie blieb unverändert trotzig. »Ich werde Sardak nicht in Ge­

fahr bringen, nur weil ich einen Entschluss gefasst habe.« »An ihn hatte ich auch gar nicht gedacht.« Der fleischlose

Schädel benahm sich so, als hätte er sie mit einem Finger ange­stoßen. »Nehmt mich, dann können wir uns auf den Weg ma­chen ...«

»›Wir‹?« »Mädchen, ich habe fast mein ganzes sterbliches Leben lang

nach Schätzen gesucht und Männer gejagt! Und ich kenne Zayl besser als jeder andere. Ihr wollt ihn finden, und zwar schnell,

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daher braucht Ihr mich!« Was er sagte, war einleuchtend – und das beunruhigte Salene

umso mehr. »Ich weiß nicht ...« »Wenn es Euch nicht gefällt, mich in der Armbeuge zu tragen,

sodass uns jeder sehen kann, dann steckt mich einfach in die Tasche hier gleich neben mir. Die benutzt Zayl auch, wenn wir reisen. Ich bitte Euch nur, dass Ihr mich umgehend aus dem Haus bringt, damit ich mich orientieren kann.«

Unentschlossen stand Salene da, dann griff sie nach der Tasche und fragte: »Und Ihr seid Euch sicher, dass Ihr mich zu ihm füh­ren könnt?«

»Uns beide verbindet mehr als nur Magie, Mylady. He, Ob­acht!« Sein letzter Ausruf bezog sich auf ihren Versuch, den Schädel ohne Unterkiefer so zu fassen zu bekommen, dass er ihr nicht aus den Fingern gleiten konnte.

Nachdem sie ihn in der Tasche in die richtige Position gelegt hatte, machte sie sie an ihrem Gürtel fest. Verwundert nahm sie zur Kenntnis, wie leicht der Schädel war. »Ist alles mit Euch in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

»Es könnte kaum besser sein.« Salene verzog das Gesicht. Sie hatte mit dem Schädel wie mit

einem lebenden Wesen gesprochen, was er definitiv nicht war. Auf der anderen Seite benahm sich Humbart Wessel aber auch so, als weile er noch unter den Lebenden.

Es war ein Leichtes für sie, das Haus unbemerkt zu verlassen, da sie genau wusste, welcher ihrer Diener sich wann wo aufhielt. Kurz darauf hatte sie den dunklen Stall erreicht. Da Lady Nesar­do daran gewöhnt war, für sich selbst zu sorgen, bereitete es ihr auch keine Probleme, ihr Pferd zu satteln. Erst als sie das äußere Tor erreichte, begegnete sie dem einzigen Wachmann, der dort

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seinen Dienst versah. »Ihr wollt bei diesem Wetter wirklich noch das Haus verlas­

sen, Mylady?«, fragte der bewaffnete Mann, der bereits seit zehn Jahren für sie arbeitete und dem es nie in den Sinn gekommen wäre, sie tatsächlich zur Umkehr zu bewegen. Lady Nesardo tat das, wonach ihr gerade war, und daran änderte niemand etwas.

»Ja, Dolf. Betrachte es wie das Jahr, in dem meine Mutter starb.«

»Aah«, entgegnete der Wachmann und ging aus dem Weg. Während sie langsam an ihm vorbeiritt, murmelte er: »Ich hoffe, Mylady, das Ergebnis ist diesmal ein Besseres. Seid versichert, es wird niemand etwas davon erfahren, schon gar nicht Euer Bru­der.«

Nachdem das Anwesen der Nesardos bereits ein Stück weit hinter ihnen lag, fragte Humbart plötzlich: »Was habt Ihr beide da vorhin gemeint?«

»Als meine Mutter erkrankte, bekam Dolf mit, dass ich jede Nacht ausritt, angeblich, um nach jemandem zu suchen, der sie heilen konnte.«

»Und das war nicht der Fall?« Salene schüttelte den Kopf, ihre Gedanken kehrten in jene fin­

stere Zeit zurück. »Nein, zumindest später nicht mehr. Zuerst bemühte ich die Hilfe eines Vizjerei, da ich hoffte, er könnte mir beibringen, wie ich sie retten kann. Das schlug fehl.«

Nach einem kurzen Zögern hakte der Schädel nach: »Wenn Ihr etwas zuerst gemacht habt, dann habt Ihr auch etwas danach gemacht ... Was war es?«

»Es war das erste Mal, dass ich mich nach einem Nekromanten umsah.« Der Schädel konnte die Tränen nicht sehen, die ihr über die Wangen liefen und sich mit dem Regen vermischten. »Da­

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mals dachte ich, wenn ich sie nicht am Leben erhalten kann, würde ich sie von den Toten auferstehen lassen, damit sie immer bei mir bliebe.«

»Ich nehme an, Ihr fandet keinen, oder, Mädchen?« »Nein ... und was meine Mutter angeht, bin ich heute auch

froh, dass es mir nicht gelang ...« Der Schädel war klug genug, darauf nichts zu erwidern. Der Regen ließ ein wenig nach, als sie Haus Nesardo ein gutes

Stück weit hinter sich gelassen hatten. Diese Tatsache entging Salene nicht, allerdings hatte sie auch schon vor Zayls Feststel­lung gewusst, dass ihr Heim der Nexus einer uralten Macht war. In der Vergangenheit hatte sie sich daran nie sonderlich gestört, doch nun war da irgendetwas, das diese Kräfte bündelte und ge­gen sie richtete.

Zayl hatte darauf bestanden, sich zu Fuß in die Stadt zu bege­ben, was sie zwar nicht hatte verstehen können, ihr nun aber einen gewissen Vorteil an die Hand gab. So schnell und katzen­gleich der Nekromant sich auch bewegen konnte, er würde viel mehr Zeit benötigen, um sich umzusehen, als es für Salene zu Pferd der Fall war.

Die Edelfrau spähte unter der Kapuze ihres Reisemantels in Richtung der ersten Lokale, die vor ihr lagen. Sie hegte starke Zweifel daran, so viel Glück zu haben, dass sie den Rathmaner gleich im ersten Anlauf finden oder etwas über seinen Aufent­haltsort erfahren würde, doch Salene konnte keine der Tavernen auslassen.

»Dann wollen wir mal«, murmelte sie, doch als sie abstieg, kam aus der Gürteltasche ein Flüstern.

»Das Jüngelchen ist seit längerem nicht hier gewesen. Ihr könnt weiterziehen.«

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Sie hielt inne und fragte im gleichen leisen Tonfall: »Woher wisst Ihr das?«

»Wir sind miteinander verbunden, wie ich bereits sagte«, kam die knappe Antwort. »Stellt keine weiteren Fragen, glaubt es mir einfach: Ich weiß, er ist nicht hier. Zieht weiter.«

Salene saß wieder auf. Sobald sie das nächste Gasthaus oder eine Taverne erreichte, legte sie sanft eine Hand auf die Gürtelta­sche. Der Schädel antwortete jedes Mal mit nur einem Wort – das zu ihrer Bestürzung immer »nein« lautete.

Auf diese Weise kamen sie zwar viel schneller voran, doch gleichzeitig beunruhigte sie die Feststellung, wie weit Zayl in der kurzen Zeit in die Stadt vorgedrungen war.

Ihre Sorge wuchs erheblich, als sie an der großen Kathedrale von Zakarum vorbeiritten. Die aufmerksamen Wachleute ließen sich von den Unbilden der Elemente nicht einschüchtern, son­dern kümmerten sich einzig darum, nach Ketzern Ausschau zu halten, von denen sie glaubten, sie seien überall zu finden.

»Langsam«, murmelte Humbart plötzlich. »Es ist nicht lange her, dass er hier in der Gegend war.«

Ihr Puls begann zu rasen. Dass sie sich in solcher Nähe zu den Zakarum befanden, konnte nichts Gutes bedeuten.

»Haltet hier«, fuhr ihr Begleiter in der Gürteltasche fort. »Am besten Ihr seht Euch in den Etablissements hier um. Seine Spur ist sehr stark.«

Vor einer Taverne namens Garrett’s Crossing stieg sie vom Pferd, band es an und rückte die Gürteltasche zurecht, in der der Schädel ruhte. Schließlich näherte sie sich dem Eingang.

Gerade wollte sie den Türgriff packen, da kam eine große Ges­talt aus dem Gasthaus gestürmt und hätte sie fast umgerannt. Der Mann – dem Erscheinungsbild nach ein professioneller

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Kämpfer – fasste sie an den Armen, um zu verhindern, dass sie rücklings auf dem nassen Kopfsteinpflaster landete.

»Vorsicht, Kleine. Ihr müsst besser auf Euch aufpassen!« Er hob sie hoch und setzte sie gleich neben ihrem Pferd ab. »Ich hätte Euch verletzen können!«

»Es ist ja nichts passiert«, gab sie zurück und wollte an dem Mann vorbeigelangen. »Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, aber ich suche nach einem Freund.«

Irgendwie gelang es dem hünenhaften Kämpfer, ihr weiter im Weg zu stehen. Auch wenn sein Gesicht zum Teil von der Kapu­ze verdeckt wurde, erinnerte etwas an seinem Aussehen an ihren guten, leider verstorbenen Polth.

Es stimmte sie etwas milder, selbst als er abermals versuchte, sie am Betreten den Lokals zu hindern. »Das ist kein Ort für Euresgleichen, Mylady. Da drinnen wird gerade noch nach der letzten Schlägerei Ordnung geschaffen.«

Schlägerei? Salene hörte ein leises Geräusch aus der Gürtelta­sche, woraufhin sie prompt mit der Hand daraufklopfte, wie sie es einmal bei Zayl beobachtet hatte. Humbart verstummte au­genblicklich. »Wie meint Ihr das? Was ist geschehen?«

Der Mann rieb sich das Kinn, dann beugte er sich fast wie ein Verschwörer vor. »Scheint so, als sei einer von den Finsteren dagewesen, einer dieser Hexenmeister, die Tote zum Leben er­wecken. Man sagt, er habe ebenfalls nach jemandem gesucht. Ihm war bloß nicht bekannt, dass die Zakarum da schon nach ihm Ausschau hielten.«

Die Edelfrau hielt den Atem an, zwang sich aber, äußerlich Ruhe zu bewahren. Sie betete, dass die Dunkelheit und das schlechte Wetter den geschwätzigen Fremden nicht erkennen ließen, welche Miene sie machte. »Dann hat die Kirche ihn fan­

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gen können?« »Den Nekromanten? O nein, er hat gezeigt, wie buchstäblich

blind die Zakarum sein können. Und dann ist er entkommen, um demjenigen nachzustellen, den er gesucht hatte.«

Salene atmete, noch bevor sie sich dessen bewusst wurde, er­leichtert aus. Doch der Fremde nahm auch davon keine Notiz. »Ziemlich viel Aufregung«, brachte sie heraus. »Aber Ihr habt Recht. Dort muss ich nicht nach meinem Freund suchen.«

»Aye. Und wenn Ihr gestattet, Mylady, möchte ich Euch wis­sen lassen, dass ein Freund von Euch viel wahrscheinlicher mit dem großen General Torion an einer Tafel speisen würde, anstatt Gast an einem so schäbigen Ort zu sein.« Der in Leder gekleidete Mann nickte nachdrücklich. »Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, aber ich muss weiter. Ich wünsche Euch einen guten Abend, Mylady.«

Dann machte er Platz und ging die Straße entlang, in der das Unwetter weiter tobte.

Salene blieb am Eingang stehen, aber nicht, weil sie vielleicht doch noch die Taverne betreten wollte. Vielmehr lag es an e.twas, was der Mann gesagt hatte.

... dass ein Freund von Euch viel wahrscheinlicher mit dem großen General Torion an einer Tafel speisen würde ...

Je länger Salene darüber nachdachte, desto mehr hielt sie ei­nen solchen Ausgang für eine sehr plausible Möglichkeit. Torion waren die Stadtwachen unterstellt, und ein solcher Zwischenfall hätte seine Leute rasch auf den Plan gerufen. Selbst wenn die Kirche Zayl nicht gefangengenommen hatte – und das war ja nach den Worten des Fremden auch nicht der Fall – und wenn er nicht immer noch durch Westmarch zog, dann war anzunehmen, dass jemand von seiner Art sofort dem General vorgeführt wor­

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den war. Ein Teil von ihr beharrte darauf, diese Schlussfolgerung weise

etliche Unwägbarkeiten auf, doch er wurde schnell zum Schwei­gen gebracht. Von einer plötzlichen Entschlossenheit erfasst, band die Edelfrau ihr Pferd los und saß auf. Torions Arbeitszim­mer – das als Hauptquartier und zugleich als sein Zuhause diente – war recht weit entfernt, doch sie war bereits so tief bis in die Stadt vorgedrungen, dass es keinen großen Unterschied mehr machte, ob sie jetzt oder später umkehrte. Zayl hatte jegliche Hilfe verdient, die sie ihm bieten konnte. Und Torion würde auf sie hören ...

Während sie ihr Pferd antrieb, fragte eine erstickte Stimme: »Sind wir allein?«

»Ja, Humbart.« »Geht es Euch gut, Lady Salene?« Sie bemerkte eine Sorge in seinem Tonfall, die nichts mit ihrer

Suche nach dem Nekromanten zu tun hatte. »Natürlich.« Nach einer kurzen Pause wollte er wissen: »Und wohin reiten

wir nun?« »Zu General Torion.« »Würde es Euch etwas ausmachen, mir den Grund dafür zu

nennen?« Seine Fragen ergaben für sie keinen Sinn. »Wenn Zayl sich

nicht in der Gewalt der Zakarum befindet, dann spricht vieles dafür, dass die Stadtwache ihn zu fassen bekommen hat.«

Wieder folgte eine Pause, die diesmal sogar so lang war, dass Salene bereits glaubte, sie habe alle Fragen des Schädels beant­wortet. »Was ist denn mit der Kirche von Zakarum?«

Beunruhigt über seine offenbare Unfähigkeit, ihren Ausführungen zu folgen, ließ sie das Pferd langsamer reiten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie in Wind und 180

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sie sich vergewissert hatte, dass sie in Wind und Wetter allein unterwegs war, antwortete sie: »Ihr habt doch gehört, was er über die Geschehnisse in der Taverne gesagt hat, oder etwa nicht?«

»Geschehnisse?« Nachdem er kurz innegehalten hatte, fügte Humbart an: »Ich habe kein verdammtes Wort über irgendeine Taverne gehört, Lady Salene. Weder das noch irgendetwas über die Zakarum oder General Torion, abgesehen von den Dingen, die über Eure Lippen kamen. Ich habe eine seltsame, einseitige Unterhaltung gehört, weiter nichts.«

Salene zog an den Zügeln, bis das Pferd stand. Sie schüttelte die Regentropfen ab, die sich auf ihrer Kapuze gesammelt hatten, dann hielt sie die Gürteltasche hoch. Humbarts fleischloses Ge­sicht zeichnete sich unter dem Stoff ab. »Ein Mann kam aus der Taverne. Er sprach davon, dass die Kirche Zayl fast gefangen genommen hätte. Ihr müsst das alles doch gehört haben!«

Selbst in der Dämmerung kam es ihr so vor, als könne sie se­hen, wie die leeren Augenhöhlen sie durch den Beutel hindurch betrachteten – und von Sorge erfüllt waren.

»Ihr habt mit niemandem gesprochen, den ich höre konnte – so Leid es mir tut, Euch das sagen zu müssen, Mylady! Ich hörte nur Euer Selbstgespräch ...«

Er musste Unsinn reden, eine andere Erklärung gab es nicht. Der Mann war dort gewesen, er hatte auf seine Art wissen lassen, Torions Quartier sei ein möglicher Ort, an dem der Nekromant zu finden sein könnte.

Torion ... Sie hängte die Tasche zurück an ihren Gürtel und trieb ihr

Pferd zur Eile an. »Wohin wollt Ihr denn nun, verflucht?«

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»Dorthin, wohin ich gerade eben auch wollte«, erwiderte sie und machte sich darauf gefasst, von dem Schädel erneut Wider­spruch zu hören. »Ich werde feststellen, ob Zayl bei Torion ist. Nur darauf kommt es an.«

In diesem Moment zerriss ein langes Donnergrollen die Luft und machte es unmöglich, irgendeinen Kommentar von Humbart zu hören, sollte er ihn von sich gegeben haben.

Abgesehen davon hätte Salene sich davon ohnehin nicht be­einflussen lassen.

»Was soll ich mit Euch anstellen, Nekromant?« Das war nicht die Art von Frage, die Zayl, gleich nachdem er

das Bewusstsein zurückerlangt hatte, gefiel. Auch die Stimme – die ihm bekannt war – verhieß nichts Gutes.

Sein Kopf schmerzte immer noch, doch obwohl er am liebsten geschlafen hätte, bis das Dröhnen in seinem Schädel nachließ, zwang er sich, die Augen zu öffnen. Wie erwartet sah er General Torion vor sich, der ihn hasserfüllt anstarrte. Der Rathmaner wollte sich erheben, bemerkte aber erst in dem Moment, dass man ihn an eine Mauer angekettet hatte.

»Der Offizier, der den Trupp anführte und Euch herbrachte, hörte von Eurem kleinen Auftritt in der Taverne. Ihr könnt von Glück reden, dass er Euch nicht einfach ausgeweidet hat, als nie­mand hinsah.«

Zayl schaffte es, sich aufzusetzen. Sein Kopf wurde allmählich klarer, und nach und nach nahm er seine Umgebung deutlicher wahr. Er war zu Gast in einer der Kerkerzellen von Westmarch, die sich tief unter der Erde befinden musste, wenn seine Wahr­nehmungen zutrafen. Der Boden war mit schmutzigem Stroh bedeckt. Das Mauerwerk war aus Steinen errichtet, die sogar so

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alt waren, dass der Nekromant einen Hauch von Magie wahr­nehmen konnte, von dem Torion wahrscheinlich nichts wusste. Auch qualvolle Erinnerungen hielten sich hier unten, so wie unter dem Haus Nesardo. Einige Geister waren noch hier, viel­leicht sogar an diesem Ort gefangen.

Feuchtigkeit hielt sich in dem Raum, in den Ecken wuchs Moos. Die Tür bestand aus einer dicken Eisenplatte mit einem Riegel, der in ein Schloss auf der anderen Seite der Mauer passte. Ein kleines Gitter im oberen Teil der Tür war das Einzige, was das Innere der Zelle mit der Außenwelt verband. Für Licht sorgte lediglich eine kleine Öllampe, die Torion in der Hand hielt.

»Ich frage Euch nochmals: Was soll ich mit Euch anstellen, Nekromant?«

»Ihr könntet mich freilassen.« Die Mundwinkel des Generals zuckten kaum merklich. »Sieh

an, der Nekromant hat sogar Sinn für Humor. Es geschehen tatsächlich noch Zeichen und Wunder.« Dann verfinsterte sich seine Miene wieder. »Vielleicht ist das aber sogar Euer Ernst.«

»Ich habe niemandem etwas getan. Ich wurde angegriffen.« »Das entspricht aber nicht dem, was der persönliche Adjutant

seiner Majestät sagt, Edmun Fairweather. Er ist derjenige, dem Justinian Glauben schenkt. Ach, und nicht zu vergessen die Zaka­rum, die mit Euch auch noch ein Hühnchen zu rupfen haben. Aber das dürfte einen Nekromanten wohl nicht überraschen.«

Zayl sah dem Kommandanten in die Augen und beugte sich nicht dessen stechendem Blick. »Und welche Verbrechen werfen sie mir vor?«

»Selbstverständlich Blasphemie. Außerdem das Wirken von Zaubern gegen Verfechter des Glaubens. Und damit Ihr es wisst: Selbstverteidigung wird von ihnen nicht als Argument aner­

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kannt. Sie mögen Eure Art nicht, Nekromant, und mir geht es nicht anders.«

»Verstehe.« Zayls tonlose Erwiderung schien zu bewirken, dass sich in Ge­

neral Torion etwas regte, da er plötzlich anfügte: »Aber ich halte mich für einen gerechten Mann, auch gegenüber jenen, die ich nicht mag. Ich habe kein Verbrechen feststellen können, das man Euch nach dem Gesetz zur Last legen könnte, daher werde ich tun, was in meiner Macht steht, um Euch hier herauszuholen. Seid dankbar, dass meine Leute aufgetaucht sind. Hätten Euch die Zakarum in die Finger bekommen, wärt Ihr unrettbar verlo­ren gewesen. In ihrem eigenen Reich gelten ihre Gesetze, und Ihr würdet Euch jetzt in einer viel heißeren Umgebung befinden. Die Kirche glaubt, alles lasse sich mit Feuer reinigen.«

Der General wandte sich von ihm ab und schlug mit der fla­chen Hand gegen die Tür. Ein Wachmann öffnete sofort. Torion wäre wohl gegangen, ohne noch etwas zu sagen, doch eine Sache war dem Rathmaner in diesem Moment wichtig: »General Tori­on! Salene darf nicht in die Hände von Zakarum geraten, sonst ...«

Er hielt mitten im Satz inne, als er den verzweifelten Ge­sichtsausdruck des anderen Mannes bemerkte.

»Erzählt mir nichts darüber, dass Lady Nesardo in Gefahr schwebt! Ihr seid derjenige, der durch seine bloße Anwesenheit ihr Leben aufs Spiel gesetzt hat! Ihr wollt, dass sie in Sicherheit ist? Dann erwähnt nie wieder ihren Namen! Besser noch wäre es, wenn Ihr einfach vergessen würdet, dass Ihr ihr je begegnet seid.« Nach einer kurzen Pause fügte er an. »Oh, und glaubt ja nicht, wir hätten Eure Fähigkeiten vergessen. Dieser Bereich wurde speziell für Eure Art gebaut. Eure Zauber funktionieren

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hier nicht. Ihr könnt es ruhig versuchen. Jeder versucht es min­destens einmal. Damit seid Ihr wenigstens ein Weile beschäftigt, während ich versuche, Eure Haut zu retten.«

Mit diesen Worten stürmte der General aus der Zelle. Der ängstliche Wachmann spähte hinein, bis er Zayl erblickte, dann schlug er die Tür zu. Der Nekromant hörte, wie der Riegel vorge­schoben wurde ... und dann saß er in völliger Stille und Dunkel­heit da.

Man hatte ihm seinen Dolch und alle Gürteltaschen abgenom­men, und wenn Torion die Wahrheit sagte, dann war seine Magie ebenfalls wirkungslos. Dennoch trug sich Zayl mit der Absicht, aus seiner Zelle zu entkommen, und er war der Ansicht, dass seine Chancen gut standen. Nekromanten traf man in Westlichen Königreichen selten an, und wenn man die Zellen gegen Vizjerei und andere ihrer Art geschützt hatte, war es durchaus denkbar, dass seine Fähigkeiten ihm immer noch helfen konnten.

Einen Versuch war es allemal wert. Denn sich auf die Bemü­hungen des Generals oder auf die Gnade der Zakarum zu verlas­sen, kam einem Selbstmord gleich. Auch wenn er sich damit zum Flüchtigen in Westmarch machte, hielt Zayl es für die beste Möglichkeit, die er hatte. Außerdem hegte er den sehr konkreten Verdacht, dass sich vor allem Salene einen Wettlauf gegen die Zeit lieferte.

Leise murmelnd rief er nach seinem Dolch. Ganz gleich, wo der sich befand, würde er nichts unversucht lassen, um zu ihm zurückzukommen. Er konzentrierte sich auf die Waffe und stellte sie sich in allen ihren Details vor. Sein Blut nährte sie, sie war so sehr ein Teil von ihm wie seine Hand oder sein Herz.

Fast augenblicklich nahm Zayl die Präsenz seiner rituellen Klinge wahr, die nicht weit von ihm entfernt war, jedoch von

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irgendetwas zurückgehalten wurde. Vielleicht hatte er die Macht des Zaubers unterschätzt, den der General um die Zelle hatte legen lassen. Der Rathmaner konzentrierte sich noch stärker, bis ihm trotz der kalten Umgebung Schweißtropfen auf die Stirn traten.

Dann hörte er zu seiner Überraschung ein Murmeln, von dem er zunächst glaubte, es dringe aus dem Korridor zu ihm. Erst nachdem er länger gelauscht hatte, wurde dem Nekromanten bewusst, dass es seinen Ursprung in den Schatten hier in der Zelle hatte.

Etwas befand sich bei ihm! Während er in die Finsternis starrte, strengte sich Zayl noch

mehr als bisher an, den Dolch zu sich zu rufen. Das Murmeln wurde eindringlicher, es kam aus allen Richtungen, die Worte ergaben keinen Sinn, doch der boshafte Tonfall wurde auch so deutlich. Er spürte etwas unglaublich Altes ...

Mit dem Gefühl ging eine vertraute Furcht einher. Der Rathmaner brauchte einen Moment, ehe er in der sich steigern­den Macht die gleiche uralte Kraft wiedererkannte, der er erst­mals in Salenes Haus begegnet war.

Er begann an seinen Ketten zu zerren, obwohl er wusste, dass es ein sinnloses Unterfangen war. Ein monotoner Gesang wurde angestimmt, so wie man es bei einer rituellen Opferung hören konnte. Bilder entstanden ungewollt vor dem geistigen Auge des Nekromanten – verzerrte Männer und Frauen, die sonderbaren schwarzen Kopfschmuck trugen und in Gewänder mit Kapuzen gekleidet waren, die auf Brusthöhe das Zeichen einer finster dreinblickenden Spinne trugen. Sie hielten Schwerter mit ge­zackten Klingen, und vor ihnen wanden sich reihenweise hilflose, verstümmelte Opfer.

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Dann wurde Zayl klar, dass es sich bei dem scheinbaren Kopf­schmuck in Wahrheit um die gleiche Art Spinnen handelte, von denen die Kreaturen in der Gruft kontrolliert worden waren.

Nachdrücklich schüttelte er den Kopf und versuchte, sich auf den Dolch zu konzentrieren. Der Gesang dröhnte in seinen Oh­ren. Zayl hob seine Stimme an, um den Lärm zu übertönen und die üblen Visionen zu verdrängen. Dabei wiederholte er ein ums andere Mal den Beschwörungszauber.

Ohne Vorwarnung wurde die Zellentür aufgerissen, und der Wachmann, der zuvor hineingespäht hatte, baute sich vor ihm auf. In einer Hand hielt er eine Lampe, die andere ruhte auf dem Knauf seiner Waffe, während er sich über den Gefangenen beug­te.

»Schluss jetzt!«, knurrte er. »Stellt Euer Gebrabbel ein, sonst schneide ich Euch die Zunge ab. Ruhe!«

Zayl verstummte, aber nur, weil er vor Entsetzen das anstarr­te, was er im Schein der Lampe an den Wänden ringsum zu se­hen bekam. Feuchtigkeit lief über den Stein – es war das Blut jener, die in den Visionen geopfert worden waren. Es tropfte auf den Boden und breitete sich in Richtung des Gefangenen und des nichtsahnenden Wärters aus.

»Raus hier!«, fuhr der Rathmaner ihn an. »Schnell, bevor es zu spät ist!«

»Was ist denn mit Euch los?« Mit der Lampe folgte der Wachmann seinem Blick. »Habt Ihr Angst vor ein paar Spinnwe­ben oder Ratten?«

Er sah genau in die weiter anwachsende Blutlache, doch er konnte offenbar nichts wahrnehmen. Der Wachmann machte sogar einen Schritt in Richtung der Wand und trat in die Lache.

Dabei traten aus der Wand hinter ihm ein Paar skelettartige,

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mit Ichor überzogene Arme. Zwar konnten sie den Wachmann nicht erreichen, doch die knorrigen Finger versuchten gierig nach ihm zu schnappen ...

Neben dem ersten bildete sich ein weiteres Paar Arme, dann noch eines ...

»Um Eures Lebens und Eurer Seele willen«, fuhr Zayl fort, ohne von der finsterer werdenden Miene des Mannes Notiz zu nehmen, »geht endlich!«

Der Wachmann runzelte die Stirn, spähte über seine Schulter und schien nach wie vor nichts zu sehen.

Für Zayl bestand die Wand derweil aus hundert oder mehr Händen, die in die Luft griffen. Zu diesem Schrecken gesellten sich fleischlose, wütend dreinblickende Köpfe, die die Verdamm­nis jener hinausschrien, die von den Herren der entstellten Prie­ster geopfert worden waren.

Plötzlich gab der Wachmann ihm eine Ohrfeige. »Versucht nie wieder solche Tricks mit mir, Hexenmeister! Ihr solltet besser zu dem Gott beten, dem Ihr dient, denn wenn die Kirche Euch zu fassen bekommt, dann wird sie ...«

Die monströsen Klauenhände schafften es endlich, nach dem ahnungslosen Soldaten zu greifen. Als der Mann vor Überra­schung und aufkommendem Entsetzen den Mund aufriss, pack­ten ein Dutzend Hände seine Arme und Beinen, seine Kehle und seinen Rumpf.

Mühelos rissen sie den glücklosen Wachmann in Stücke. Die Skeletthände schleuderten blutgetränkte Leichenteile um­

her, die Laterne fiel scheppernd zu Boden und kippte auf die Seite, brannte aber weiter.

Schlimmer noch als das offensichtliche Blutbad war für Zayl jedoch, was er jenseits der Ebene der Sterblichen wahrnahm. Die

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Seele des Wärters – ein flüchtig Ding, das nur vage an den Mann erinnerte – wurde von einigen der Hände weiterhin festgehalten, die den Schatten mit seinen weit aufgerissenen Augen immer näher an die Wand heranzogen und ihn dann gegen die schreien­den Schädel schleuderten.

So wie ein Schwarm fleischfressender Fische, auf den Zayl einmal in Kehjistan gestoßen war, fielen die Köpfe über die hilf­lose Seele her und zerfetzten sie, bis nichts mehr von ihr übrig war. Erst dann richteten sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den angeketteten Nekromanten.

Die Blutlache hatte Zayl erreicht, doch anstatt sich um ihn herum zu verteilen, bewegte sich das Blut an seinen Stiefeln und seiner Kleidung nach oben, als wolle es den Rathmaner vollstän­dig überziehen. Er spürte, wie seine Beine steif wurden, und er trat nach der Flüssigkeit, doch die haftete wie Teer an seinem Leib. Schlimmer war aber noch, dass sie kälter als Eis war und ihre Kälte bis zu seinen Knochen vordringen ließ.

Zayl hätte um Hilfe rufen können, doch damit würde er jeden zu dem gleichen Schicksal wie dem des Wachmanns verdammen, der dumm genug war und ihm helfen wollte. Unfähig, sich dage­gen zu wehren, sah er mit an, wie sich ihm die monströsen Hän­de näherten und sich das Blut weiter auf seinem Körper ausbrei­tete.

Doch als ihn die skelettierten Gliedmaßen zu fassen bekamen, zerrissen sie ihn nicht in Stücke. Vielmehr zerrten zwei von ih­nen die Ketten aus der Mauer und räumten damit das einzige Hindernis aus dem Weg, um ihn zu den hungrigen Mäulern zu holen.

Die Schreie der vor langer Zeit Verstorbenen und das Klage­lied ihrer Qualen war das Einzige, was er noch hören konnte ...

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Zayl zwang sich mit aller Kraft, nach seiner Klinge zu rufen. Im nächsten Moment kam sie durch die offene Tür geschossen

und landete, noch während er nach vorn gezogen wurde, in sei­ner Hand. Ohne zu zögern drehte er die Hand um und durch­trennte die fleischlosen Finger, die seinen Arm festhielten. Als sich ihr Griff löste, führte der Zauberkundige einen Hieb nach der üblen, karmesinroten Flüssigkeit, die sich um seinen Unter­leib gelegt hatte.

Das Klagelied wurde ohrenbetäubend laut, die Schreie rückten in den Hintergrund. Ein eisiger Wind ließ Zayl schaudern, und er sah an der Wand nach oben.

Ein weiterer hungriger Schädel nahm dort Gestalt an, doch der war so riesig, dass er von der Decke bis zum Boden reichte. Er verdrängte alle anderen, und als er sein gewaltiges Maul aufriss, sah Zayl, dass sich im Innern Spinnweben befanden, auf denen ausgemergelte Leiber lagen. Sie alle sahen aus, als seien sie aus­gesaugt worden.

Erst da fiel dem Nekromanten auf, dass dieser Schädel über acht Augenhöhlen verfügte.

Zayl murmelte einen Zauber, der Dolch begann zu leuchten. Er berührte mit der Klinge die teuflischen Hände, die ihn loslie­ßen, als hätte der Kontakt sie verbrannt.

Voller Hoffnung hielt Zayl den Dolch an das Blut, das sich prompt rückwärts bewegte und sich von Rumpf und Beinen zu­rückzog.

Mit einem Blick zur offenen Tür rollte sich der Nekromant zur Seite weg ...

In diesem Moment schoss aus dem grotesken Maul ein breiter, weißer Strahl.

Die Masse bedeckte Zayl von Kopf bis Fuß und klebte noch fe­

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fester an ihm als das Blut. Der Rathmaner versuchte, sich daraus freizuschneiden, doch die Klinge blieb einfach stecken.

Verzweifelt rief Zayl: »Zi i Odyssian mentus ...« Weiter kam er nicht, da das riesige Maul einatmete und damit

das Netz an sich zog, in dem sich der Nekromant verfangen hat­te. Einen Augenblick später verschwand Zayl in der pechschwar­zen Öffnung.

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Elf

Zayl stürzte durch einen Wirbel aus Geräuschen, die ihm fast den Verstand raubten. Schreie, Rufe, Gelächter – alles stürmte auf seine Ohren ein, bis er betete, taub werden zu dürfen.

Er hielt den Dolch fest umklammert und wusste, er war das Einzige, was ihn von einem Schicksal trennte, das schlimmer war als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Die rituelle Klin­ge flammte hell auf, doch der Trost, den sie in diesem monströ­sen Reich spenden konnte, war nur minimal.

Dann plötzlich löste sich das Netz auf, und der Nekromant war frei – um nur einen Moment später auf eine harte Oberfläche geschleudert zu werden.

Zayl lag benommen da, unfähig sich gegen jegliche Art von Angriff zur Wehr zu setzen. Er rechnete damit, jeden Moment in Stücke gerissen zu werden, doch nichts geschah.

Erst da erkannte er, dass seine Kleidung ihr Aussehen verän­dert hatte. Er trug das Gewand jener Männer und Frauen aus seiner Vision, jener Priester mit dem Spinnensymbol auf der Brust und dem beängstigenden Kopfschmuck.

Heiliger, Ihr müsst Euch beeilen, ertönte eine Grabesstimme. Kräftige Hände packten den verdutzten Nekromanten an den Armen und führten ihn zu einem langen Stempfad, den er bis dahin nicht hatte sehen können. Der Mond ist im Aufsteigen begriffen. Das Opfer muss dargebracht werden, und nur Euch ist es gestattet.

»Was?« Zayl sah zu demjenigen, der gesprochen hatte, und musste sich zwingen, nicht laut aufzuschreien.

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Das Gesicht des Mannes war eine verwesende Masse, in der sich unzählige winzige Spinnen eingenistet hatten. An den Stel­len, an denen das verwesende grüne Fleisch nicht von Spinnwe­ben überzogen war, labten sich andere Tiere an dem, was von Muskeln und Sehnen verblieben war, und saugten daran so ge­nussvoll wie ein Vampir, der frisches Blut trank. Ein Auge war eingefallen und vertrocknet, das andere schon vor langer Zeit von den Kreaturen verzehrt worden.

Lange Strähnen des von Milben befallenen Haars lagen über dem Hinterkopf. Das Gewand hing in Fetzen herab und war ver­dreckt, und an den Stellen, an denen es eng am Rumpf anlag, zeichneten sich die Rippen unter dem Stoff ab. Die Hand, die immer noch Zayls Arm umschlossen hielt, befand sich in keiner besseren Verfassung, und am ganzen Leib des toten Priesters wimmelte es von Spinnen ...

Auf dem Kopf saß das, was Zayl zuvor für eine Art Bedeckung gehalten hatte, und starrte ihn mit hasserfüllten, unmenschli­chen Augen an.

Ein Spinnenparasit. Der Nekromant wich instinktiv zurück, stieß aber gleich mit

dem nächsten Priester zusammen, der nicht besser aussah. Sein Unterkiefer hing sogar so weit herab, dass es aussah, als würde er lediglich von dem Muskel auf der linken Seite gehalten. Er hatte noch beide Augen, doch sie waren trocken und gelblich.

Sie sind alle für Euch vorbereitet worden, sagte der Zweite mit der gleichen Stimme wie der Erste. Sie können es nicht erwarten, in die Arme von Astrogha geschickt zu werden.

Astrogha? Riordan Nesardos Schatten hatte diesen Namen erwähnt. Und auch er hatte irgendetwas von einem Mond gesagt, oder nicht? Zayl versuchte nachzudenken, doch das Klagelied

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setzte wieder ein, erfüllte seinen Kopf und machte alle Gedanken zunichte. Er umschloss das Heft seines Dolchs wieder fester und hoffte, die Stimmen in seinem Schädel wenigstens davon abzu­halten, ihn weiter an den Rand des Wahnsinns zu treiben.

Plötzlich griff der erste Priester nach der Waffe. Die werdet Ihr nicht benötigen, Heiliger. Tokaric hat die richtige Klinge. Lasst mich Euch diese Last abnehmen.

»Nein!« Zayl konnte sich nicht länger daran erinnern, warum er unbedingt seinen Dolch behalten wollte, dennoch war er nicht bereit, ihn aus der Hand zu geben.

Wie Ihr wünscht, Heiliger. Die makabre Gestalt brachte etwas zustande, was einem beschwichtigenden Lächeln am nächsten kam.

Wir sind fast da, Heiliger, fügte der Zweite an, dessen Unter­kiefer bei jedem Wort hin und her schaukelte.

Der Nekromant sah nach vorn ... und erblickte unendlich viele steinerne Altäre vor sich, die bis in alle Ewigkeit reichten und auf denen jeweils schreiende, sich windende Gestalten angekettet waren.

Zayl sah, dass sie alle bei lebendigem Leib gehäutet worden waren.

Sie schreien aus Vorfreude, sagte der Erste. Gepriesen sei Astrogha!, ergänzte der andere ehrfürchtig. Doch der Rathmaner schüttelte energisch den Kopf. »Das ist

verkehrt! Das bringt alles aus dem Gleichgewicht!« Die beiden schienen seinen Protest nicht zu hören. Mit einer

Kraft, die man den kadavergleichen Leibern nicht zugetraut hät­te, zerrten die zwei Priester Zayl zum ersten Altar. Dort standen zwei weitere verwesende Gestalten in ihren Gewändern und verneigten sich tief vor ihm.

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Der Mond ist fast über uns, sagte die größere der beiden Krea­turen, deren Leib sich bereits stark zersetzt hatte und von der nur noch die Stimme verriet, dass es sich eigentlich um eine Frau handelte.

Astrogha ist im Aufsteigen begriffen, fügte der Begleiter an, dessen rundlicher Bauch unter dem verfaulenden Stoff in Bewe­gung war, da etliche Spinnen unterschiedlichster Größe unter das Gewand krochen oder darunter hervorkamen.

Das erste der Opfer schrie unhörbar. Die weibliche Leiche strich sanft über den gehäuteten Kopf des

Opfers. Lasst ihn nicht noch länger warten, Heiliger. Er verlangt danach, Teil von Astroghas Ruhm zu werden.

»Ja ... natürlich ...« Langsam hob Zayl den Elfenbeindolch. Nicht diese Klinge!, warf die Frau sofort ein und bekam sein

Handgelenk zu fassen. In ihrer verwesten Hand hielt sie einen anderen Dolch, der völlig schwarz war und in dessen Heft man ein teuflisches, achtbeiniges Muster eingraviert hatte.

Zur gleichen Zeit versuchte der erste Priester abermals, Zayl die fahle Klinge aus der Hand zu nehmen. Seine Anstrengungen waren jedoch vergebens, was aber nichts daran änderte, dass der desorientierte Nekromant auch die schwarze Waffe in die Hand nahm.

Über das Herz, drängte der rundlichere Priester. Zwei schnelle Schnitte, dann kann das Organ noch schlagend aus dem Körper genommen werden.

»Das Herz«, murmelte Zayl. Sein Blick wanderte über die ge­folterte Gestalt. Die oberen Hautschichten waren mit großem Geschick abgezogen worden, sodass das Opfer die Tortur über­lebte. Der Rathmaner vermutete, dass dem Mann zuvor ein Trank verabreicht worden war, damit er nicht an dem Schock

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sterben konnte. Während die verwesenden Priester ihm Anweisungen erteil­

ten, machte sich Zayl bereit, die Klinge tief in den Leib eindrin­gen zu lassen. Zwei schnelle Schnitte. Sie würden sehr tief rei­chen müssen, wenn er hineingreifen und das Herz sofort zu fas­sen bekommen sollte.

Er betrachtete seine eigene Waffe und fand, es sei wohl wirk­lich besser, diesen anderen Dolch aus der Hand zu geben. Der hatte mit dem Opfer für Astrogha nichts zu tun, und durch ihn würde es Zayl nur unnötig erschwert, das Organ aus dem Leib zu reißen.

Doch bevor er die Waffe einem der Anwesenden aushändigen konnte, sah der Priester mit dem schiefen Unterkiefer nach oben und verkündete: Der Spinnenmond ist aufgegangen! Astrogha ist bei uns!

Zayl schaute hoch. Der Mond war eine vollkommene Kugel, makellos rund und

von leuchtender Intensität. Zuerst war er völlig fahl, doch dann krochen Schatten über den oberen Rand. Sie flossen wie ein Strom nach dem anderen über die Oberfläche, bis es acht von ihrer Art waren. Als der Erste von ihnen die Mitte erreichte, folgte ein größerer schwarzer Fleck.

Sekunden später war der überwiegende Teil des Mondes von der Silhouette einer Spinne verdeckt. Zayl betrachtete das Schau­spiel und wunderte sich, wie echt der Schatten wirkte.

Ihr müsst jetzt handeln!, beteuerte die Frau, die ihm die Wor­te ins Ohr flüsterte.

Handelt jetzt!, drängte auch der erste Priester. Handelt jetzt! Handelt jetzt!

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Die Gestalten, die bei den anderen Altären standen, setzten zu einem neuen Sprechgesang an. Handelt jetzt! ... Handelt jetzt!

Handelt jetzt, und der Segen Astroghas wird Euch gewiss sein!, erklärte plötzlich das gehäutete Opfer, dessen lidlose Au­gen sich in die des Nekromanten zu bohren schienen. Ihr werdet das Werkzeug für meine glorreiche Auferstehung sein! Ihr wer­det ein Gott unter Sterblichen!

Zayls Hand stockte. Er schüttelte den Kopf, und als einer der verwesenden Priester ihm helfen wollte, das Begonnene zu Ende zu führen, da riss sich der Rathmaner plötzlich los.

»Nein! Bei Rathma, bei Odyssian, bei Theroni – ich befehle Euch zu verschwinden!«

Die gespenstischen Figuren bewegten sich auf ihn zu. Nun, Heiliger, sagte die Erste von ihnen. Ihr habt eine Pflicht zu erfül­len. Eine Bestimmung. Gebt mir die weiße Klinge, und alles wird von Euch verstanden und akzeptiert werden.

»Ich werde Euch gewiss eine Klinge geben.« Zayl veränderte den Griff um das Heft des schwarzen Dolchs, dann schleuderte er ihn auf den Sprecher.

Die finstere Waffe bohrte sich nicht in die Brust des Priesters – welches Herz würde schon so lange überdauern? –, sondern in den Kopf, da der Nekromant wusste, dass die Kraft, die den Leichnam zum Leben erweckt hatte, darüber mit ihm verbunden war.

Die Klinge drang in den Schädel ein, die Hände des Priesters griffen nach dem Heft und versuchten, daran zu zerren. Dann aber fiel der Ghul zu einem verrotteten Haufen – Fleisch und Knochen und Kleidung – zusammen.

Die weibliche Gestalt holte nach Zayl aus, die anderen waren gleich hinter ihr. Ihr müsst die Opferung vollenden!

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Zayl richtete seinen eigenen Dolch gegen sie und wiederholte die Namen, die er um weitere ergänzte. »Bei Rathma, bei Odys­sian, bei Theroni, bei den Jalak, bei Mumryth vom Flügel, bei Trag’Oul, ich schicke euch alle hinfort! Ich verleugne diesen Ort, dieses monströse Reich!«

Die übrigen untoten Priester rückten weiter gegen Zayl vor und bildeten einen Schwarm, der umso schreckerregender wurde, je näher er dem Nekromanten kam. Sie streckten ihre Klauen und ihre hungrigen Mäuler nach ihm aus. Für Zayl war es, als würde er den Alptraum von Ureh noch einmal erleben ... nur dass man ihm diesmal mehr vom Leib reißen würde als die Hand.

Leise beschwor er Den’Trag, die Zähne von Trag’Oul. Vor ihm in der Luft nahmen leuchtende Projektile Gestalt an, die augen­blicklich auf die abscheuliche Horde losschossen. Die erste Reihe, darunter die ursprünglichen Priester, fielen, als die kraftvollen Spitzen sie durchbohrten. Ihre Leiber wanden und drehten sich, dann zerschmolzen sie und verblassten zu nichts mehr als winzi­gen rote Pfützen.

Doch noch immer stand er einer ganzen Heerschar gegenüber. Zwar wusste er, es würde zu nichts führen, dennoch schaute sich Zayl um und hielt nach einem Fluchtweg Ausschau.

Nur ein paar Schritte entfernt entdeckte er ein weißes Loch, das allzu verlockend auf ihn wirkte.

Er mochte eine Falle sein, dennoch rannte er los. Schließlich konnte er nicht hierbleiben und bis in alle Unendlichkeit kämp­fen. Seine Flucht vor dem hypnotischen Zauber, der über ihn gelegt worden war, stellte eine Wende hin zum Guten dar, doch gegen eine solche zahlenmäßige Übermacht würde er zweifellos unterliegen.

Als sich der Zauberkundige dem Loch näherte, flammte es

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plötzlich auf. Zayl bedeckte seine Augen und hielt den Dolch ausgestreckt, überzeugt davon, dass er wirklich nur von einer Falle in die nächste geraten war.

Stattdessen aber hörte er hinter sich ein gewaltiges Aufstöh­nen. Er wagte einen Blick zurück über die Schulter und sah, wie die ersten Reihen der dämonischen Priester im Gehen zu Staub zerfielen.

Zayl sprach im Flüsterton einen Eid gegenüber Trag’Oul aus und sprang in das Loch. Hinter sich ertönte das wütende Zischen von etwas, das weitaus bösartiger war als die Masse der Untoten. Etwas traf ihn am Rücken, und er merkte, wie er fast zum Still­stand kam.

In diesem Moment schloss sich das Loch ... Und dann fand sich der Nekromant mitten in einem Wolken­

bruch wieder. Er schlug mit großer Wucht zu Boden und zuckte am ganzen Leib.

Ein Donnerschlag machte es ihm für einen Augenblick un­möglich, irgendetwas zu hören. Unbeweglich und kraftlos lag Zayl mehrere Minuten lang einfach nur da. Wäre die untote Horde jetzt über ihn hergefallen, hätte er nichts tun können, um sie daran zu hindern, ihn in Stück zu reißen.

Allmählich normalisierte sich seine Atmung wieder, und der Schmerz, der durch seinen Körper jagte, ließ soweit nach, dass er wieder ein erträgliches Maß annahm. Er blinzelte ein paar Mal, dann betrachtete er seine Umgebung.

Er befand sich in einem dichten Tannen- und Eichenwald, der Regen prasselte auf ihn herab. Obwohl Zayl über eine außerge­wöhnlich gute Sehkraft verfügte, konnte er hier nicht weit bli­cken. Es war Nacht, was ihn vermuten ließ, dass er seine Zelle nicht vor allzu langer Zeit verlassen hatte. Der Wald sah so aus,

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wie er es von einem Wald in Westmarch erwartet hätte. Doch wo war die Stadt? In alle Richtungen konnte der

Rathmaner nur mehr Bäume ausmachen, die die Nacht noch dunkler gestalteten.

Langsam wurde ihm bewusst, dass er nach wie vor seinen Dolch in der linken Hand hielt. Er hob die mystische Klinge hoch und murmelte einen kurzen Zauber, woraufhin die Waffe für einen Augenblick hell leuchtete und dann ein wenig schwächer weiterglomm.

Zayl drehte sich langsam im Kreis und sprach leise weiter. Nachdem er eine Drittel Umdrehung zurückgelegt hatte, flamm­te der Dolch auf.

Er befand sich also noch in der Nähe der Stadt, auch wenn er nicht sagen konnte, wie weit er wirklich entfernt war. Vermut­lich wartete ein langer Fußmarsch auf ihn.

Es regnete unverändert heftig, Dunst kam auf und machte den Wald nur noch düsterer. Zayl zog Mantel und Kapuze zurecht, dann machte er sich auf den Rückweg zur Stadt.

Der Alptraum, den er eben durchlebt hatte, steckte ihm noch immer in Leib und Geist. Er war dicht davor gewesen, dem üblen Geschöpf zu verfallen, das in die Zelle eingedrungen war. Schlimmer noch war aber, dass Zayl immer mehr daran glaubte, es sei nicht nur auf seine Seele, sondern auch auf seinen Körper aus.

Aber warum? Wer oder was war Astrogha? Sein Symbol war die Spinne. Zayl wusste, eines von beiden hätte ihm bekannt vorkommen müssen, doch das Wissen war wohl so wie das Wis­sen über die Identität des mysteriösen Karybdus aus seinem Be­wusstsein getilgt worden.

Der andere Nekromant und dieser Astrogha mussten irgend­

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wie zusammenhängen. War Karybdus ein Vizjerei, der das Ver­mächtnis von Astroghas einstiger Herrschaft an sich reißen woll­te? Es war klar, dass das, was sich in der Vision zugetragen hatte, eine verdrehte Version früherer Ereignisse darstellte. Die Priester waren einst lebende, atmende Männer und Frauen gewesen, die sich ganz ihrem bösen Meister verschrieben hatten. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein habsüchtiger Vizjerei bei seinem Streben nach Macht in ein verlorenes, verbotenes Reich vordrang.

Der Boden fiel leicht ab, als Zayl in Richtung Westmarch mar­schierte. Er überlegte, was er über das Land wusste und vermute­te, sich in der Nähe jener Berge zu befinden, die er bei seiner Ankunft gesehen hatte. Wäre es nicht so dunkel und neblig ge­wesen, hätte er die Gipfel sicher zwischen den Baumwipfeln ausmachen können. Falls dem so war, bedeutete das bedauerli­cherweise auch, dass der müde Zauberkundige zu Recht von einem langen Rückweg ausging.

Und dann? Man würde feststellen, dass er verschwunden und der Wachmann brutal zu Tode gekommen war. Jeder – Salene eingeschlossen – wäre dann davon überzeugt, dass er diese Tat zu verantworten hatte. Jeder Mann und jede Frau nähme an der Jagd auf ihn teil.

Salene. Dass sie glauben würde, er sei dieser blutrünstige Schlächter, machte ihm mehr zu schaffen als alles andere. Doch er zweifelte daran, ihr jemals die Wahrheit glaubhaft machen zu können. Nicht mal er selbst hätte daran glauben wollen.

Vielleicht wäre es am besten gewesen, Westmarch hinter sich zu lassen, doch das konnte der Nekromant nicht. Selbst wenn er noch nicht so tief in diese Sache verstrickt gewesen wäre, änderte es nichts an der Tatsache, dass sich etwas Unheilvolles über einen großen Teil des Landes erstreckte. Wenn er einfach seine Bemü­

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hungen einstellte, wäre das so gewesen, als hätte er persönlich daran gearbeitet, das Gleichgewicht zu stören und die Welt dem Urbösen anheim fallen zu lassen.

Seine Stiefel sanken tief in den aufgeweichten Boden ein. Zayl kam dadurch nur langsam voran, doch seine Entschlossenheit war größer als zuvor. Er hatte dem Geist von Rathma und Trag’Oul gegenüber einen Eid abgelegt, er hatte sein Leben sei­nem Stand verschrieben und alles andere aufgegeben. Rathmas Weg hatte ihm wenigstens in einem gewissen Umfang die Gele­genheit gegeben, seine eigenen Übertretungen wieder gutzuma­chen ...

Wie sehr wünschte sich Zayl, hier auf einen weiteren von sei­ner Art zu treffen, vor allem einen der Ältesten, die ihn unter­wiesen hatten. Doch Falaya, der hagere Horus und der gesichtslo­se Nil befanden sich jenseits der Zwillingsmeere ... vorausgesetzt, der ewige Kampf hatte sie nicht seit ihrer letzten Begegnung das Leben gekostet. Wahrscheinlich fanden sich hier und da in den Westlichen Königreichen einige jüngere Rathmaner, doch wäre einer von ihnen in der Nähe gewesen, hätte Zayl dessen Präsenz gespürt und umgekehrt.

Es liegt allein in deiner Hand, ermahnte er sich. Ist es nicht genau so, wie du es immer haben wolltest? Du allein ... ganz allein?

Ein raues, animalisches Brüllen übertönte plötzlich Donner und Regen. Etwas Riesiges bahnte sich seinen Weg durch den nebligen Wald.

Zayl hob den Dolch und sprach eine Beschwörung, die ihm mehr Licht schenkte. Dann konnte er einen kurzen Blick auf eine hoch aufragende Gestalt mit roten Augen und dichtem, weiß­braunem Fell werfen. Sie bewegte sich wie ein Mensch und zu­

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zugleich wie eine Bestie. Und dann war sie auch schon wieder im Wald verschwunden. Der Nekromant wähnte sich trotz des Verschwindens nicht in

Sicherheit. Er drehte sich einmal um sich selbst und suchte mit seinen empfindsamen Sinnen nach dem Dolch und der Kreatur.

Was war es gewesen? Kein Bär, dafür ähnelte es zu sehr einem Menschen. Was er in diesem winzigen Augenblick zu Gesicht bekommen hatte, erinnerte ihn an etwas ... an etwas, das man ihn gelehrt hatte.

Die Blätter hinter ihm raschelten ein wenig. Zayl rollte sich sofort zur Seite und entging damit einer riesi­

gen Gestalt, die jene Stelle anvisierte, an der er eben noch ge­standen hatte. Der Nekromant versuchte, mit der Klinge nach dem Wesen zu schlagen, doch das erwies sich für seine Größe als äußerst beweglich und war bereits außer Reichweite.

Die Bestie zögerte keine Sekunde, sondern stürmte zurück in den Wald und verschwand, als sei sie nie dagewesen.

Schwer atmend wartete der Rathmaner ab. Da eine Weile nichts geschah, stand er vorsichtig auf. Unter keinen Umständen hätte er glauben wollen, er sei nun außer Gefahr. Mit den beiden Angriffen hatte die Bestie nur ihre Beute testen wollen. Sie wusste nun genug über ihn, um ihn beim dritten Angriff töten zu wollen.

Zayl zeichnete drei Symbole in die Luft und richtete die Klin­ge auf die Stelle, an der er seinen Widersacher zuletzt gesehen hatte. Das Leuchten des Dolchs, der auf die Kreatur hätte zeigen sollen, ließ jedoch nichts erkennen.

Er wartete ab, nichts geschah. Schließlich sah sich der Nekro­mant gezwungen, seine Position aufzugeben. Regen und Donner­schläge machten es für ihn schwierig, irgendetwas zu hören, so

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lange sich der Gegner nicht in seiner unmittelbaren Umgebung aufhielt – und wenn das erst der Fall war, hatte Zayl ohnehin längst verloren. Jeder Schritt kam ihm wie eine Ewigkeit vor, da er einen neuerlichen Angriff für immer wahrscheinlicher hielt, je mehr Zeit verstrich.

Es ist nur ein Tier, sagte er sich. Du bist ein Mensch. Du bist ihm geistig überlegen.

Doch Rathmas Lehren besagten auch, dass alles in der Natur der Wahrung des Gleichgewichts diente. Während Menschen hinsichtlich der Intelligenz und der Waffen die Oberhand besa­ßen, waren die Kreaturen des Waldes leiser und flinker – und tödlicher.

Es gab einige Zauber, die er zu seiner Verteidigung hätte be­nutzen können, doch dazu musste er die Kreatur zu Gesicht be­kommen, ehe die ihn umbrachte. In vieler Hinsicht sah er sich einem weit gefährlicheren Feind gegenüber, als wenn er es mit einem Vizjerei oder den untoten Priestern zu tun gehabt hätte.

Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte die Umgebung für Sekundenbruchteile in grelles Licht. Der Nekromant nutzte die Gelegenheit und nahm alles in sich auf, was sichtbar wurde. Dennoch konnte er von seinem Widersacher keine Spur entdek­ken.

Hatte der sich einer leichteren Beute zugewandt? Zayl bezwei­felte das zwar, doch wenn er nach wie vor das Ziel war, warum erfolgte dann nicht der nächste Angriff?

Er stolperte einige Minuten durch den Wald und betrachtete wachsam jeden Schatten und jede Bewegung. Der Boden fiel nun noch etwas stärker ab, sodass sich der Zauberkundige mit der rechten Hand am Unterholz festhalten musste, während er auf dem Weg in eine ebenerdigere Region war.

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Leises Plätschern ließ ihn aufhorchen. Zayl kniff die Augen zusammen, und dann entdeckte er einen Strom, der seinen Pfad kreuzte. Behutsam setzte er erst einen, dann den anderen Fuß ins Wasser, und ...

Praktisch aus dem Nichts traf ihn eine riesige Faust ins Ge­sicht.

Der Nekromant verlor den Halt und fiel in den Strom, wäh­rend ihm sein Dolch in hohem Bogen aus der Hand flog. Wieder hörte er das ohrenbetäubende Brüllen, dann landete etwas plat­schend im Strom. Das Wasser lief ihm über den Rücken, als Zayl aufblickte ... und den Umriss eines Riesen sah.

Zayls linke Hand streckte sich instinktiv zur Seite aus, der Dolch flog von der Stelle, an der er gelandet war, direkt in seine Handfläche. Er nahm ihn hoch und ließ die ganze Kraft seines Willens in die Waffe strömen, damit sie heller wurde.

Die Wirkung war so heftig, als wäre ein Dutzend Blitze in den Boden eingeschlagen. Die Bestie stieß einen erschreckten Schrei aus und bedeckte instinktiv die Augen.

Zum ersten Mal bekam Zayl den Wendigo zu sehen. Er hatte tatsächlich die Statur eines Mannes, aber die

Proportionen waren andere. Die Beine waren dicke, behaarte Stämme, und der untere Teil des Torsos war doppelt so breit wie der von Zayl, doch das alles wirkte schmächtig im Vergleich zu der gewaltigen Brust und den kolossalen Schultern, die sicher sechs Fuß breit waren. Doch sie mussten auch ein solches Format aufweisen, da sie Arme zu tragen hatten, die jede Armee hervorragend als Rammböcke hätte einsetzen können. Jede Faust war groß genug, um Zayls Kopf vollständig zu umschließen, und zweifellos verfügte sie auch über genügend Kraft, um mühelos seinen Schädel zu zerquetschen. Es grenzte an ein Wunder, dass

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der Rathmaner überhaupt noch lebte. Die Runen, die er von X’y’Laq erzwungen hatte, leisteten ganze Arbeit.

Der Kopf des Wendigos war gedrungen und groß, und auf den ersten Blick wirkte es so, als sei er verrutscht, denn er saß nicht auf einem Hals, der sich zwischen den Schultern befand, sondern war tief in die Brust eingesunken, was der Kreatur das Aussehen eines Buckligen verlieh. Die Stirn des Wendigos war flach, und zusammen mit der platten Nase erinnerte er an die Primaten, die in Kehjistan ansässig waren. Dennoch hatte der Schädel etwas Menschliches, und das galt auch für die Augen, wären sie nicht von einem brennenden roten Wahnsinn erfüllt gewesen.

Der Gigant brüllte abermals und bleckte dabei die scharfen Zähne eines Fleischfressers ... der vermutlich dem Fleisch eines Menschen den Vorzug vor allem anderen gab. Aus den Legen­den, die Zayl gelesen hatte, wusste er, dass das nicht immer der Fall gewesen war. Die Wilden Männer – wie die Rathmaner sie nannten – waren einst als ruhiges, zurückgezogen lebendes Volk bekannt gewesen, doch das hatte sich im Laufe der letzten Gene­rationen geändert. Das Urböse hatte ihre reinen Seelen befleckt und aus ihnen Marodeure gemacht. Zwar richteten sie unter den Menschen heftige Blutbäder an, doch das wirklich Schlimme war, dass die Wendigos und ihresgleichen als Erste für den Kampf um das Gleichgewicht geopfert werden würden. Die Menschen hat­ten bereits mit der Jagd auf sie begonnen, und ihr dichtes Fell war ein zusätzlicher Nutzen, da Wohlhabende dafür gut bezahlten.

Zayl tat der Niedergang der Wendigos Leid, jedoch nicht ge­nug, dass er sein eigenes Leben geopfert hätte, damit diese Krea­tur sich an ihm laben konnte. Während sich der Riese erholte, richtete der Nekromant seine Klinge nach unten und wirkte ei­nen Zauber.

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Einen Moment lang war der Wendigo von einem fahlen blau­en Schimmer umgeben, der ihm das Fellhaar zu Berge stehen ließ. Das Tier stieß ein Grunzen aus, doch als es merkte, dass weiter nichts geschah, griff es nach Zayl.

Genau in diesem Moment wurde der Wendigo von einem Blitz getroffen. Dessen Wucht schleuderte die brüllende Kreatur wie eine Puppe davon. Der Riese prallte gegen einen Baum, der unter der Wucht in der Mitte entzweibrach. Die Baumkrone landete einige Schritte rechts von Zayl.

Mit zitternden Beinen richtete sich der Nekromant auf. Er spähte zur dunklen Gestalt, die zwischen den Überresten des Baumstamms lag. Der Gestank von versengtem Fell stieg Zayl in die Nase.

Der Wendigo regte sich nicht. »Rathma sei gepriesen«, murmelte Zayl. Seine Kraft und seine

Konzentration waren beide stark mitgenommen, und er bezwei­felte, dass er noch irgendetwas anderes hätte tun können, wäre der letzte Zauber fehlgeschlagen. Er hatte den Wendigo praktisch zu einem Magneten gemacht, der sowohl elementare Magie als auch die Elemente der Natur selbst auf sich lenkte. Seine Hoff­nung, das Unwetter würde sofort darauf reagieren, hatte sich zu seinem großen Glück erfüllt.

Er klammerte sich an einen anderen Baumstamm, während er sich von der reglosen Gestalt abwandte. Wie weit er noch würde gehen können, wusste er nicht. Ihm war nur klar, dass er keine Pause einlegen durfte. Irgendwie würde er Westmarch schon erreichen, eine andere Wahl blieb ihm auch gar nicht.

Hinter ihm war plötzlich ein langes, tiefes Knurren zu hören, dazu das Geräusch von Bewegungen. Ein Blick über die Schulter genügte, um Zayl erkennen zu lassen, dass der Wendigo sich

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soeben wie ein Phönix aus der Asche erhob. Das Tier schüttelte den Kopf und stand auf, und auch wenn der Rathmaner in der Dunkelheit die Augen nicht sehen konnte, spürte er, dass sie auf ihn gerichtet waren.

Der Nekromant biss die Zähne zusammen und lehnte sich ge­gen den nächsten Baumstamm. Er hob den Dolch, doch sein Verstand war nicht auf Anhieb konzentriert genug, um einen Zauber wirken zu können.

Der pelzige Riese schwankte unsicher hin und her. Dass er überhaupt noch lebte, kam für Zayl einem Wunder gleich. Wenn nicht einmal ein Blitz diese Bestie stoppen konnte, was denn dann?

Der Wendigo stolperte und sank auf ein Knie. Er hielt inne und atmete schwer, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass die Verletzungen beträchtlich waren. Der Nekromant wurde ruhiger, da ihm nun mehrere Zauber in den Sinn kamen, mit denen er diesen Widersacher endgültig unschädlich machen konnte.

Doch der Wendigo tat etwas Eigenartiges, etwas so Außerge­wöhnliches, das so völlig den Erwartungen des Zauberkundigen zuwiderlief, dass der nur den Dolch sinken lassen und die Kreatur anstarren konnte.

Der Waldbewohner sah ihn an ... und streckte ihm beide Hän­de in einer flehenden Geste entgegen. Der Wendigo, der ihm gerade eben noch nach Fleisch und Blut getrachtet hatte, erbat ganz zweifelsfrei Zayls Hilfe.

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Zwölf

»Das ist keine gute Idee«, murmelte Humbart in der Gürtelta­sche.

Salene tippte auf die Tasche und ermahnte ihn: »Still! Die Wachen hören Euch sonst noch!«

Sie näherte sich den beiden Männern, die in Habtachtstellung nahe der Tür zu Torions Arbeitszimmer postiert waren. Die zwei waren das mittlerweile vierte Paar, mit dem sie seit ihrer An­kunft konfrontiert worden war. Die Zeit, die die Edelfrau an jedem dieser Hindernisse zubringen musste, hatte sie an den Rand eines Wutausbruchs gebracht. Aus einem unerfindlichen Grund war Salene davon überzeugt, dass sich der General und Zayl über den Weg gelaufen waren, so wie der namenlose Söld­ner es angedeutet hatte. Wenn dem so war, kam es auf jede Se­kunde an, da Torion den Nekromanten sicherlich nicht sonderlich zuvorkommend behandeln würde.

»Ich bin Lady Salene Nesardo«, erklärte sie gebieterisch. »In­formiert bitte General Torion, dass ich mit ihm sprechen möchte. Jetzt.«

Die beiden Männer hatten sie eindeutig erkannt. Der ältere der beiden Wachleute senkte den Kopf und erwiderte: »Ich werde Eure Nachricht dem Adjutanten des Generals zukommen lassen.«

Eine Minute später kam ein junger, dunkelhaariger Offizier mit langer Nase und spitzem Kinn aus dem Arbeitszimmer. »La­dy Nesardo! Welch unerwartete Freude!«

»Danke, Alec. Bringt mich bitte zu Torion. Ich muss dringend mit ihm reden.«

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Die Miene des Adjutanten wurde ernst. »Mylady, dies wäre kein guter Zeitpunkt. Es gibt derzeit Angelegenheiten, die seine ungeteilte und sofortige Aufmerksamkeit erfordern. Ich kann Euch nicht sagen, wie lange dieser Zustand noch anhalten wird. Ihr müsst wissen ...«

Salene wusste, wenn sie Alec gewähren ließ, würde er seine Ausführungen unendlich ausdehnen. Es war seine Methode, unerwünschte Besucher abzuschrecken, da die meisten von ihnen angesichts des Wortschwalls früher oder später ermüdeten und sich bereit erklärten, zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es dem General genehmer war, zurückzukehren. Sie hatte ihn beobach­tet, wie er diesen Trick bei anderen anwandte, noch nie jedoch bei ihr, gehörte sie doch zum bevorzugten Personenkreis des Gene­rals.

Die Edelfrau fiel ihm abrupt ins Wort: »Ich habe verstanden, dass Torion sehr beschäftigt ist, aber ich glaube doch, dass er mich wird sehen wollen, Alec. Das kann ich Euch sogar verspre­chen.«

»Aber Lady Nesardo ...«, setzte der Adjutant an, der längst gemerkt hatte, dass vor ihm eine Frau stand, die sich nicht so mühelos abwimmeln ließ.

Jeder weitere Wortwechsel blieb ihnen jedoch erspart, da in diesem Moment General Torion auftauchte, den Uniformkragen aufgeknöpft, das Haar ein wenig zerzaust. Er kam aber nicht aus seinem Arbeitszimmer, sondern aus dem Korridor, durch den Salene erst wenige Minuten zuvor gegangen war.

»Pardon, Mylady«, polterte Torion und eilte an Salene vorbei, ohne sie zu erkennen. »Hauptmann Mattheus! Sie müssen ...« Dann hielt er plötzlich inne und sah über die Schulter. »Mylady Nesardo!«

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Die Miene der Edelfrau blieb ausdruckslos. »General ...« »Nun, damit erledigt sich eine Sache, die ich Euch auftragen

wollte, Hauptmann. Die andere Sache ist die: Ich möchte, dass Sie dem diensthabenden Wachkommandanten auftragen, einen Trupp ins Haus Nesardo zu schicken. Besser wäre es noch, wenn Sie den Trupp anführten ...«

»Torion!«, warf Salene erschrocken ein. »Was redet Ihr da? Soldaten in meinem Haus?«

Der General ging über ihren Ausruf hinweg und fuhr fort: »Die Männer sollen das Haus mit dem größten Respekt behan­deln, aber sie sollen jeden Raum durchsuchen. Ich will eine Be­stätigung, dass er sich nicht dort versteckt hält.« Dann zeigte er auf die beiden Wachleute vor der Tür. »Nehmt die zwei mit. Ich will mit Lady Nesardo unter vier Augen sprechen.«

Alec Mattheus salutierte zackig vor dem General. »Jawohl, Sir. Ihr da! Kommt mit!«

Während sich das Trio entfernte, konzentrierte sich Salenes langjähriger Verehrer endlich auf sie. »Ich wollte auch eine Es­korte zu Euch nach Hause schicken – speziell für Euch.«

»Wieso? Was ist denn los?« Seine Stimme wurde ein wenig sanfter. »Um Gewissheit zu

haben, dass Ihr während der Durchsuchung nicht dort seid. Ich versuche, Euch zu beschützen! Salene, ich habe Euch vor diesem Grabschänder gewarnt! Nun hat er seine abscheulichen Taten um einen höchst widerwärtigen Mord bereichert. Ich habe noch auf keinem Schlachtfeld ein solches Gemetzel erlebt! Die Wache war ein unschuldiger Mann!«

Ihre Angst wurde stärker, da er nur über etwas reden konnte, was Zayl betraf. »Torion, was ist vorgefallen?«

»Euer Freund, der Nekromant, wurde von der Stadtwache her­

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hergebracht, unmittelbar bevor er der Elite von Zakarum in die Hände fallen konnte. Es wurde behauptet, er habe versucht, in einer gut besuchten Taverne einen Zauber zu wirken, und dann seine Kräfte gegen die Getreuen der Kirche eingesetzt. Wie viel davon wahr ist, war mir zu dem Zeitpunkt gleich ...«

»Also habt Ihr ihn kurzerhand festnehmen und in eine Zelle werfen lassen?«

Er schien beleidigt zu sein. »Wäre es Euch lieber gewesen, wenn die Kirche ihn hingerichtet hätte? Rückblickend wünschte ich, man hätte genau das mit ihm getan! Euretwegen habe ich mein Bestes versucht, Salene, und dafür musste ein guter Mann sein Leben lassen – ganz zu schweigen davon, dass dem ver­dammten Hexenmeister auch noch irgendwie die Flucht gelingen konnte. Salene, mein Wachmann wurde buchstäblich in Fetzen gerissen!«

Salene war entsetzt, aber auch erleichtert darüber, dass der Nekromant nicht länger in Gefangenschaft saß. Mit dem Zeige­finger tippte sie energisch gegen den Brustschild des Generals. »Zayl ist kein Mörder, Torion! Er hat für mich getan, was er konnte, und dabei ist er beinahe umgekommen! Er ist ein guter Mann, ich vertraue ihm ...«

»Er hat Euch geblendet! Ich habe Euch vor ihm gewarnt! Ihr wisst vielleicht, dass die Zakarum bereits Erkundigungen über Euch einholen. Wenn ich ihnen Zayl geben kann, werden sie vielleicht noch ein Auge zudrücken, was Euch angeht.« Er schüt­telte den Kopf. »Und ich dachte, die Dinge würden sich zum Bes­seren wenden, da nun der König endlich wie ein Mann auftritt ...«

Die rothaarige Frau ging über seinen Versuch hinweg, das Thema zu wechseln, und wandte sich ab. Wenn Zayl nicht mehr

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hier war, sprach vieles dafür, dass er zu ihr nach Hause zurück­kehren und damit Torions Männer in die Arme laufen würde, die der General losgeschickt hatte. Sie musste versuchen, vor ihnen dort einzutreffen.

Eine schwere Hand legte sich fest um ihren Arm. »Ich würde Euch abraten, jetzt sofort zu gehen, Salene. Ich muss sogar dar­auf bestehen ...«

Weiter kam der Kommandant nicht, denn Salene reagierte in­stinktiv und legte ihre Hand auf seine – woraufhin General Tori­on mitten im Satz erstarrte.

Sie bekam eine Gänsehaut und wich erschrocken zurück. Der Mann stand reglos da, einen Arm ausgestreckt, während die Fin­ger in die leere Luft griffen.

Die Edelfrau berührte noch einmal seine Hand, die sich warm anfühlte. Sie beugte sich vor, um genauer hinsehen zu können, doch sie vermochte nicht festzustellen, ob er noch atmete.

»Oh, Torion! Was habe ich Euch angetan?« »Was ist denn los, Mädchen?« Einen Augenblick lang glaubte Salene, der General habe es ir­

gendwie geschafft, zu ihr zu sprechen, doch dann erinnerte sie sich an Humbart in ihrer Gürteltasche. »Es ist ... es ist Torion! Er steht da wie eine Statue!«

Der versteckte Schädel stieß einen leisen, aber sehr blumigen Fluch aus, dann sagte er: »Ich dachte mir schon, dass etwas nicht stimmt. Ich hörte, wie er die anderen wegschickte, deshalb habe ich es gewagt, ein Wort zu sagen. Sieht er bleich aus, oder kä­sig?«

»Nein ... er sieht aus wie sonst auch. Nur, dass er sich nicht bewegt! Ich kann keine Atmung feststellen – ich habe ihn umge­bracht!«

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»Aber nein, nicht doch!«, rief Humbart rasch. »So was habe ich schon mal gesehen. Vermutlich ist er nur vorübergehend wie erstarrt. Es ist wie ein Schlaf, ein sehr tiefer Schlaf.«

Einen solchen Schlaf kannte Salene nur von den Toten. Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, ich habe ihn getötet!«

»Nein! Ihr besitzt die Gabe der Hexerei, das haben wir schon vorher beobachten können. Und jetzt dringt diese Gabe an die Oberfläche! Er schläft nur, und sehr wahrscheinlich wird die Wirkung bald nachlassen.«

Sie hoffte und betete, das möge die Wahrheit sein. »Kann ich ... kann ich irgendetwas tun?«

Der Schädel gab ein Brummen von sich. »Ich kann Euch nicht sagen, was Ihr in dieser Sache machen könnt, Mylady, aber ich für meinen Teil würde Zayl suchen. Das Jüngelchen ist mein Freund.«

Salene zögerte keine Sekunde. Nach einem letzten schuldbe­wussten Blick zu Torion eilte sie davon. Zum Glück begegnete sie nur den Wachleuten, die sie zuvor ins Haus gelassen hatten und sich über ihre Anwesenheit nicht wunderten. Sie deuteten eine Verbeugung in Salenes Richtung an, doch die Edelfrau verlang­samte ihr Tempo nicht.

Sie holte ihr Pferd und machte sich auf den Heimweg. Es regne­te und stürmte unverändert, doch davon bekam sie kaum etwas mit. Ihr ging es vor allem darum, vor Hauptmann Mattheus und dessen Leuten zu Hause einzutreffen, bevor mit der Durchsu­chung begonnen wurde. Sie konnte nur hoffen, dass der Adjutant etwas länger brauchte, um Haus Nesardo mit seinem Trupp zu erreichen. Dennoch zählte jede Sekunde.

Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich das Tor er­reichte, das zu ihrem Haus führte. Von den Soldaten war noch

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nichts zu sehen. Nur Salenes Wachmann stand am Tor. Er salu­tierte und ließ sie ein.

»In Kürze wird ein Trupp Soldaten eintreffen«, ließ sie ihn wissen.

»Mylady?« Zwar hatte sein Tonfall etwas Fragendes, doch sei­ne Augen verrieten, dass er ahnte, nach wem diese Soldaten su­chen würden.

»Halte sie bitte so lange wie möglich auf, ohne dich selbst in Gefahr zu bringen. Bitte!«

Es war ein Beweis dafür, welche Loyalität sie von ihrer Die­nerschaft erwarten durfte, dass der Mann sofort nickte und er­klärte: »Darauf könnt Ihr Euch verlassen, Mylady.«

Mit einem knappen Kopfnicken, mit dem sie ihm für seine Zusicherung dankte, ritt Salene zum Haus weiter. Sie stieg vom Pferd und lief die Stufen zur Eingangstür so hastig hinauf, dass die Gürteltasche mit Humbart wie verrückt hin und her baumel­te. Die Tür wurde geöffnet, noch bevor sie den Griff zu fassen be­kam. Salene wich vor Schreck zurück, gleichzeitig merkte sie, wie sich die Gürteltasche mit dem Schädel zu lösen begann. Sie be­kam sie noch eben zu fassen, als die Schnüre aufgingen, mit de­nen die Tasche festgehalten wurde, dann sah sie hoch, da jemand in der Tür stand.

»Ich hatte mich schon gefragt, wo du abgeblieben bist«, meinte ein verärgerter Sardak.

»Ich ...« »Ja, ja, ich weiß. Zayl. Du hast dich aus dem Haus geschlichen,

obwohl ich für dich die Ohren offen gehalten hatte. Als ich er­fuhr, was geschehen war, hattest du dich längst auf den Weg gemacht! Fast wäre ich dir gefolgt, aber ich fürchtete, wir könn­ten uns verpassen ...«

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Mit der Gürteltasche in der Hand drängte sie sich an ihm vor­bei ins Haus. »Für so etwas habe ich jetzt keine Zeit. Sie können jeden Augenblick eintreffen! Wo ist er? In seinem Zimmer?«

»Wer? Der Nekromant? Ich habe ihn nicht gesehen, und ich saß bis jetzt im Wohnzimmer, da ich mit deiner oder seiner Rückkehr rechnete.«

Zayl war nicht hier? Salene versuchte nachzudenken. Sie war sich so sicher gewesen, er würde herkommen, hierher zu ihr.

Doch dann erinnerte sie sich an die tragische Szene, die Torion beschrieben hatte. Auch wenn sie davon überzeugt war, dass Zayl nicht dafür verantwortlich war, hatte sich irgendetwas Schreckli­ches abgespielt – und der Nekromant musste dabei anwesend gewesen sein.

Plötzlich ertönten laute Rufe vom Tor her. Sardak schloss die Tür. »Freunde von dir?«

»Hauptmann Mattheus und ein Trupp Wachleute. Sie sind hier, um nach Zayl zu suchen.«

»Er ist zwar nicht hier, aber sie werden so oder so nach ihm suchen wollen. Was schlägst du vor, Schwester? Sollten wir sie gewähren lassen? Es wäre wohl das Vernünftigste.«

Sie musste plötzlich an Torion denken. Wenn der Adjutant sie hier antraf, würde er sich fragen, wie sie so schnell hatte zurück­kehren und sich aus den Fängen seines Vorgesetzten hatte befrei­en können. »Es wäre besser, wenn man mich nicht antreffen würde, Sardak. Frag bitte nicht nach dem Grund ...«

Er zog eine Braue hoch. »Und da dachte ich immer, ich sei der Verwegene in der Familie. Wie sehr du dich verändert hast, Sale-ne ...« Er sah sie mit ernster Miene an. »Aber du kannst dich schwerlich vor ihnen verstecken. Torions Schoßhund ist äußerst tüchtig. Er wird einfach überall nachsehen.«

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Ihre Gedanken überschlugen sich. Es gab nur einen Ort, von dem sie sich nicht vorstellen konnte, dass er sich auch dort um­sehen würde. »Dann werde ich mich in der Gruft verstecken.«

Humbart meldete einen erstickten Protest an, aber ein ungläubiger Sardak kam ihm zuvor. »Das kann nicht dein Ernst sein! Nach allem, was du mir geschildert hast? Dann stellst du dich besser dem Hauptmann! Was um alles in der Welt willst du angestellt haben, dass du eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung ziehst?«

»Das kann ich dir nicht sagen.« Sie ging zum hinteren Teil des Hauses, Sardak folgte ihr. »Außerdem werde ich nicht bis ganz nach unten gehen, sondern nur bis zur Treppe. Es gibt dort ein paar Alkoven, in denen ich warten kann.«

»Bis dahin könnte er auch gehen, Salene.« »Nein, das wäre ein Sakrileg. Ein Gebäude und sogar alte Ver­

liese zu durchsuchen, ist eine Sache, aber die Totenruhe der Vor­fahren eines der ältesten Häuser von Westmarch zu stören, das ist ein ganz anderes Thema. Er wird sich zum General begeben müssen, um sich von ihm eine Erlaubnis einzuholen. Das wird uns etwas Zeit verschaffen, um in Ruhe nachzudenken.«

Sardak schüttelte ratlos den Kopf. »Ich möchte ja zu gern wis­sen, was du verbrochen hast.«

»Später, Sardak ...« Er brachte sie zum Eingang, doch die Edelfrau hielt ihn davon

ab, sie weiter zu begleiten. »Ich überlasse es dir, sie ins Haus zu lassen«, murmelte sie. »Und ich möchte nicht, dass du ...«

»Dass ich versage? Keine Angst, ich werde dich schon nicht enttäuschen.«

»Das wollte ich gar nicht sagen.« Sie berührte seine Wange. »Ich weiß, du wirst das hinkriegen. Es gelingt dir immer. Ich

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möchte nur nicht, dass du ein unnötig hohes Risiko eingehst.« »Aber das kann ich nun mal am besten«, erwiderte er grin­

send, wurde aber gleich wieder ernst, als er von der Haustür her Lärm vernahm. »Geh jetzt besser, ich werde mich um sie küm­mern. Mach dir darüber keine Sorgen.«

Mit einem letzten dankbaren Blick ging die Edelfrau die Trep­pe hinunter. Die schmerzhaften Erinnerungen, die in den alten Kammern beerdigt lagen, regten sich, als sie in ihre Nähe kam. Doch wie schon in ihrer Kindheit zwang sich Salene, sie zu igno­rieren.

Schließlich hatte sie die Tür zur Gruft erreicht. Dort blieb sie stehen, da ihr einfiel, dass sie ihr Pferd vor dem Haus unbeauf­sichtigt zurückgelassen hatte, als sie hereingestürmt war. Sie verfluchte ihre Nachlässigkeit, doch jetzt ließ sich daran nichts mehr ändern. Es war zu spät zur Umkehr, und es konnte durch­aus sein, dass Alec Mattheus das Tier nicht einmal als ihres er­kannte. Vielleicht konnte Sardak das Thema ausräumen, indem er erklärte, es handele sich um sein Pferd.

Vielleicht ... Es war einfach alles zu viel. Salene wusste, sie sollte kehrtma­

chen und sich dem Hauptmann stellen. Torion würde man über kurz oder lang ohnehin entdecken, und alle würden sich daran erinnern, wer ihn zuletzt gesehen hatte. Sollten die Männer des Generals sie festnehmen, würde sie zumindest nicht die Inquisi­tion der Kirche fürchten müssen.

Doch dann würde niemand mehr da sein, der sich um Sardak kümmerte ... und für Zayl würde es keine Hoffnung auf Rettung mehr geben.

Vorausgesetzt, er lebte überhaupt noch. Mit einer Hand war die Tür zur Gruft unmöglich zu öffnen,

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wie Salene nun feststellen musste. Sie legte die Gürteltasche mit Humbart auf den Boden und mühte sich mit dem Griff ab. Der Schädel schwieg beharrlich. Offenbar war ihm bewusst, dass das leiseste Geräusch von den Männern der Stadtwache wahrge­nommen werden konnte.

Während sie an der Tür zog, musste Salene wieder an Zayl denken. War er von jener monströsen Macht aus seiner Zelle geholt worden, die ihn bereits hier in der Gruft angegriffen hat­te? Wenn dem so war, dann schien es – wie sogar der für ge­wöhnlich leichtsinnige Sardak so zutreffend gesagt hatte – eine Torheit, sich jetzt in die Gruft zu begeben.

Doch es gab im ganzen Haus keinen anderen Raum, den Tori­ons Adjutant bei seiner Suche auslassen würde. Der sehr gründli­che Hauptmann Mattheus würde sich bis hinunter in die alten Verliese begeben, aber nicht weiter – selbst dann nicht, wenn er vermuten sollte, jemand könne sich in der Gruft verstecken. Dafür würde er sich auf jeden Fall erst eine Erlaubnis einholen müssen.

Zumindest hoffte sie das. Zu ihrem Entsetzen waren von oben plötzlich Stimmen zu hö­

ren. Den Blick auf den Korridor hinter sich gerichtet, zog sie noch

einmal mit aller Kraft an der Tür. Ein Knarren ertönte, dann war ein Spalt entstanden, der breit

genug war, um sie hindurchschlüpfen zu lassen. Die Stimmen wurden lauter, schriller. Sie schienen sich ihrer

Position zu nähern. So schnell sie konnte, schloss sie die Tür hinter sich, sie ging mit einem viel zu lauten Ächzen zu.

Im gleichen Augenblick überkam Salene das unbehagliche Ge­fühl, nicht allein zu sein. Sie starrte hinunter in die Gruft, davon

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überzeugt, dass sie irgendwo auf den Stufen in der Dunkelheit eine Bewegung ausgemacht hatte.

Eine Stimme unmittelbar vor der Tür ließ sie zusammenfah­ren. Wie hatten die Soldaten so schnell bis hierher vordringen können? Sie wich verblüfft vom Eingang zurück und wunderte sich, dass die Jäger jetzt schon praktisch bei ihr angelangt waren. Hatten sie die Wahrheit aus Sardak etwa mit Gewalt herausge­holt? Der Hauptmann würde doch ganz bestimmt nicht so weit gehen!

Unschlüssig ging Salene einige Stufen nach unten, bis sie ei­nen der Alkoven erreicht hatte. Sie zog sich in ihn zurück und wartete, dass die Soldaten trotz der Heiligkeit des Ortes herein­kamen – oder ihre Suche anderswo fortsetzten.

Wieder war da dieses Gefühl, nicht allein in der Gruft zu sein. Salene schauderte und schwankte zwischen ihren unangenehmen Erinnerungen an den letzten Besuch und dem Wunsch, unent­deckt zu bleiben.

Hätte ich doch bloß ein wenig Licht, dachte sie, während sie sich gegen die steinerne Mauer drückte. Nur ein klein wenig Licht, das Alecs Männer nicht bemerken können, wenn sie dicht vor der Tür stehen ...

Direkt vor ihr entstand ein schwaches blaues Leuchten. Salene schnappte erschrocken nach Luft. Voller Angst, man

könnte sie gehört haben, wartete sie regungslos darauf, dass die Soldaten die Tür öffneten und hereingestürmt kamen.

Doch die Tür blieb geschlossen. Salene betrachtete das ver­wunderliche Leuchten, das sie inzwischen mehr tröstete, als dass es ihr Angst einflößte. Salene dachte darüber nach und wurde sich schließlich bewusst, dass sie selbst das Licht verursacht hatte. Sie hatte sich das Licht gewünscht, und dann war es vor ihr aus

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dem Nichts entstanden. Fasziniert streckte die Edelfrau ihre Hand aus und stellte fest,

dass sich dieses Licht auf eine angenehme Weise warm anfühlte. Zur gleichen Zeit schwand allmählich das Unbehagen, das die Gruft bei ihr ausgelöst hatte.

Sie sah zur Tür. Die Stimmen waren verstummt, woraufhin sie ausatmete. Langsam beruhigte sich ihr Puls wieder ...

... bis sie am Fuß der Treppe erneut eine Bewegung wahr­nahm!

Salene starrte nach unten, wo sie am äußersten Rand des schwachen Scheins eine massige Gestalt ausmachte, die sie unter Tausenden wiedererkannt hätte.

»Polth?« Sie ging eine Stufe nach unten und das Leuchten vollzog ihre Bewegung nach.

Die Silhouette schien sich zu kräuseln ... dann zog sie sich tie­fer in die Gruft zurück.

Eine Mischung aus Faszination und Furcht ließ sie Haupt­mann Mattheus und dessen Leute vergessen, während sie eine Stufe nach der anderen hinabstieg. Doch ganz gleich, wie schnell sie sich voranbewegte, die schattenhafte Erscheinung blieb stets am äußersten Rand ihres Gesichtsfelds.

Aber Polth ist tot!, wurde Lady Nesardo von einem Teil ihres Bewusstseins ermahnt. Es änderte nichts daran, dass sie sich weiter dem Fuß der Treppe näherte.

Das Leuchten bewegte sich immer vor ihr her. Sie konnte jetzt die ersten Grabkammern sehen, doch der flüchtige Schemen war verschwunden. Eine kleine Spinne huschte in die Dunkelheit und erinnerte Salene an den Angriff der dämonischen Kreaturen bei ihrem letzten Aufenthalt in der Gruft.

Mit einem Mal gewann die Vernunft die Oberhand, und Sale­

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ne ging eine Stufe zurück. Es war besser, dort oben im Alkoven zu warten.

Noch besser wäre es natürlich, hätte sie die Gruft sofort wie­der verlassen können. Herzukommen war ein Fehler gewesen.

Sie ließ ihre Hand sinken, und in diesem Augenblick wurde Lady Nesardo bewusst, dass sie noch einen weiteren schreckli­chen Fehler begangen hatte. Die Gürteltasche mit Humbart lag noch vor der Tür! Je länger sie darüber nachdachte, desto über­zeugter war sie davon, dass sie in Wahrheit die Stimme des toten Söldners gehört hatte, der nach ihr rief. Vermutlich hatte er sie auf ihre Nachlässigkeit hinweisen wollen, doch es war zu spät gewesen. Durch die Tür war seine Stimme so stark gedämpft worden, dass Salene sie nicht erkannt hatte.

Wütend auf sich selbst eilte sie zurück nach oben. Sollte einer der Soldaten bei seiner Suche bis zur Tür vorstoßen und die Gür­teltasche mitsamt ihrem beunruhigenden Inhalt entdecken, wür­den wohl keine Gepflogenheit und kein Privileg Hauptmann Mattheus noch davon abhalten können, auch die Gruft zu durch­suchen.

Doch als sie die nächste Stufe zurücklegte, hallte plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf. Herrin ...

Salene zögerte, biss sich auf die Unterlippe und warf einen Blick über die Schulter.

Herrin ... Die Edelfrau ging wieder eine Stufe nach unten, sah aber

nichts, auch wenn die Stimme real zu sein schien. Herrin ... Sie sah nach links. Dort, halb im Schatten verloren, hielt sich der tote Polth auf

und starrte auf sie herab. Trotz seines grausigen Endes wirkte er

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vollständig, wenngleich auch blass und irgendwie hohl. Vorsichtig streckte sie eine Hand nach ihm aus und flüsterte:

»Mein lieber Polth ... bist du das?« Sein Kopf neigte sich nach vorn, und auch wenn sich seine

Lippen nicht bewegten, konnte sie wieder seine Stimme hören. Ich lebe ... um Euch zu dienen, Herrin ...

Der Tonfall wies nichts Spöttisches auf, auch wenn seine Wor­te blanke Ironie waren. In seinen Augen erkannte sie Trauer, aber auch Trotz.

»Polth, mein lieber Polth ...« Sie näherte sich ihm, doch das Licht bewegte sich mit ihr. Der Umriss des Leibwächters kräuselte sich und wich vor ihr zurück. Er schien weder im Licht noch in der Dunkelheit, sondern genau an der Grenze zwischen beiden zu existieren. Sofort blieb Salene stehen. »Was ... warum bist du hier?«

Ich lebe ... um Euch zu dienen, Herrin ..., wiederholte er, dann hob er einen Arm und zeigte in die Dunkelheit. Die Wahrheit ... dort ...

»Wovon redest du da?« Dort ... Herrin ... die Wahrheit ... über Nesardo ... und Jitan ... Jitan! Dass die Erscheinung ihres treuen Dieners den Namen

Aldric Jitan erwähnte, musste bedeuten, dass Polth wirklich auf etwas Bedeutsames gestoßen war.

Sich wohl bewusst, wie Sardak und Zayl über ihren Leichtsinn denken würden, folgte Salene Nesardo dem richtungsweisenden Arm. Das Licht verfolgte sie wie ein Schatten und ließ sie mehr von der Gruft erkennen.

Sie erwartete, dass Polth vollständig verschwinden würde, doch stattdessen verschwand er jedes Mal kurz und tauchte dort wieder auf, wo sich der Rand des Lichtscheins befand. Ganz

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gleich, wie viele Schritte Salene machte, der tote Leibwächter war zu ihrer Linken immer gleich weit von ihr entfernt. Obwohl er nicht länger unter den Lebenden weilte, spendete seine Anwe­senheit ihr auf eine ungewöhnliche Art und Weise Trost.

Überrascht sah sie, dass die Kadaver der Kreaturen, die sie beim letzten Mal angegriffen hatten, noch immer hier verstreut lagen. Ratten nagten an den Überresten und sahen auf, als sie vom Lichtschein erfasst wurden, doch nur die wenigsten zogen sich zurück in die Dunkelheit. Salene betrachtete die Kadaver mit mehr Neugier als Abscheu. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, sie nicht mehr hier vorzufinden, so als seien sie nur Teil eines Alptraums gewesen. Dass dem nicht so war, unter­strich nur die Gefahr, der sie trotzen mussten, verlieh dem Gan­zen aber auch einen Hauch von Sterblichkeit. Diese Monster waren so gestorben, wie auch ein Mensch hätte sterben können. Oder gestorben waren. Beispielsweise Polth ...

Noch während ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, pas­sierte Salene die Stelle, an der er sein Leben verloren hatte. Zum Glück war nichts mehr da, was sie hätte sehen können. Der Zau­ber des Rathmaners war sehr gründlich gewesen.

Betroffen sah sie zu seinem Schemen. »Polth, kannst du mir je vergeben ...«

Er brachte sie mitten im Satz zum Schweigen, indem er mit Nachdruck den Kopf schüttelte. Die Aussage war deutlich: Polth wollte, dass sie weitermachte, und zwar um jeden Preis. Sein eigener Tod bedeutete ihm weniger als das, was hier zu ergrün­den war.

Sie ging an den Grabkammern von Riordan und ihrer Eltern vorbei. Ein Stück weiter waren ihr die Namen im besten Fall noch vage bekannt, der Stil der Schrift nahm etwas Archaisches

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an, und immer häufiger durchzogen Risse den Stein. Schließlich hatte sie das Ende der Gruft erreicht ... und stand

vor einer weiteren alten Treppe. »Dort?«, fragte sie und deutete auf den Weg, der hinab ins

nächste Geschoss führte. Polth zeigte auf die Stufen. Seine Fähigkeit, etwas zu sagen,

schien sehr begrenzt zu sein. Eine Träne rann über Salenes Wan­ge. Sie kannte Geschichten von Geistern, die Großartiges für jene taten, die ihnen wichtig waren, doch sie hätte nie geglaubt, so etwas am eigenen Leib zu erfahren.

»Ich bete, dass du danach Ruhe finden wirst«, murmelte Lady Nesardo ihm zu.

Polth zeigte nur unbeirrt nach unten. Das unablässige Leuchten erhellte den Weg vor ihr, während

Salene eine Stufe nach der anderen hinunterging. Schwere, feuchte Luft schlug ihr entgegen, als sie sich ins nächste Unterge­schoss begab. Die Edelfrau musste husten, blieb aber nicht ste­hen.

Diese Ebene kannte sie ebenfalls, da hier die Diener beigesetzt waren, die dem Haus Nesardo besondere Loyalität und Hingabe entgegengebracht hatten. Diese Kammern waren zwar nicht mehr so kunstvoll gestaltet wie die der Familie selbst, doch für diejenigen, die man hier zur letzten Ruhe gebettet hatte, war diese Geste eine große Ehre. Nur ein paar aus jeder Generation kamen in den Genuss eines derartigen Vorzugs, und Salene hatte vorgehabt, auch Polth eines Tages hier beizusetzen. Doch von ihm existierte nichts mehr, was man hätte bestatten können.

Dem Geist schien die entgangene Ehre jedoch nichts zu bedeu­ten. Als die Edelfrau zu ihm sah, zeigte der Hüne weiter beharr­lich tief in die weitläufige Halle.

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Moos überzog viele der älteren Kammern. Bei etlichen war der Name auf der Inschrift nicht mehr zu entziffern. Während sich Salene den Weg durch die Gruft bahnte, begann sie sich zu fra­gen, ob eine solche Würdigung ihrem Leibwächter überhaupt angemessen gewesen wäre. Schon lange bevor sie Haus Nesardo geerbt hatte, wäre es dringend geboten gewesen, diese Ebene zu säubern und zu renovieren.

Dann tauchte das Licht vor Salene etwas in seinen Schein, das Salene innehalten ließ und vor die Frage stellte, ob es das alles wirklich wert war.

Schutt und Geröll füllte den restlichen Teil dieser Ebene, ein Einbruch, der schon vor Jahrhunderten stattgefunden hatte, aber nichtsdestotrotz erschreckende Ausmaße aufwies. Sie sah bear­beiteten Stein, sogar ein paar Knochenreste – und eine Platte, die sie schließlich als Teil des Stockwerkbodens über ihr identifizier­te.

Natürlich war ihr die Geschichte vertraut. Die Nesardos hatten Jahre benötigt, um diesen Teil des Herrenhauses nach seinem Zusammenbruch wieder in Stand zu setzen. Die hauptsächlichen Anstrengungen hatten dabei dem Haus gegolten und jenen zwei Ebenen der Gruft, die wichtig waren. Niemand schien daran in­teressiert gewesen zu sein, die unteren Stockwerke auszugraben. Es hieß, dass manche den Zusammenbruch sogar für einen Segen hielten.

Doch welche Absicht wurde damit verfolgt, sie hierher zu diri­gieren? Glaubte Polth, sie könne durch glatten, soliden Fels ge­hen?

Salene erinnerte sich, über welche Magie sie verfügte. Konnte sie es wagen, sie hier und jetzt ins Spiel zu bringen? Sie sah zu Polth, doch der Schatten stand einfach nur da, als würde er auf

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etwas warten. Für Salene schien es keine andere Wahl zu geben, als einen

Zauber zu versuchen. Doch als unausgebildete Hexenmeisterin wusste nicht, wie sie das überhaupt angehen sollte. Alle bisheri­gen Zauber hatte sie mehr unbewusst gewirkt – als Reaktion auf eine potenzielle oder bestehende Bedrohung.

Ihr Blick wanderte zu dem riesigen Geröllhaufen. Vielleicht sollte sie erst einmal einen schwachen Zauber versuchen und die kleineren Steine von der Stelle bewegen. Wenn das glückte, konnte sie die Wirkung des Zaubers allmählich ausweiten ...

Salene machte einen Schritt nach vorn. Nein ... Die Warnung des Geistes kam zu spät. Kaum hatte Salene den

Fuß aufgesetzt, gab der Boden unter ihr nach, und eine tiefe Grube tat sich auf. Sie versuchte verzweifelt, noch irgendwo Halt zu finden, doch alles, was sie anfasste, stürzte mit ihr in die Tiefe.

Mit einem Aufschrei wurde die Edelfrau von der Dunkelheit unter ihr verschlungen.

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Dreizehn

Zayl saß dem Wendigo gegenüber und versuchte dahinter zu kommen, was er dachte. Der Nekromant und die Bestie hockten regungslos da, seit sie unerwartet um Hilfe gebeten hatte, anstatt ihrer Natur zu folgen und den Menschen in Stücke zu reißen.

Der praktisch denkende Teil von Zayls Verstand – der mei­stens dominierte – drängte darauf, den Wendigo seinem Schick­sal zu überlassen. Immerhin war es nichts weiter als ein verfluch­tes Monster, das seinen Hunger mit Menschenfleisch stillte. Es war dem Erzbösen verfallen und eine Wiedergutmachung began­gener Taten längst nicht mehr möglich.

Doch eine andere Seite sprach die Gefühle des Rathmaners an, die erst vor kurzem aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht wa­ren. Und sie sagte ihm, dass sich die Kreatur völlig untypisch verhielt. Zayl fühlte sich an die alten Legenden über diese Ge­schöpfe erinnert, als die Wendigos und ihre Cousins noch ruhige, zurückgezogen lebende Bewohner der Wälder und Berge waren.

Nachdem er seinen vormaligen Verfolger über eine Stunde lang angestarrt hatte, stand der Nekromant schließlich auf und näherte sich dem verletzten Riesen.

Die Pranken, die ihn in kleine, blutige Stücke hätten zerreißen können, blieben gesenkt, als Zayl in ihre Reichweite kam. Er bückte sich und berührte eine dieser Hände, die der Wendigo daraufhin langsam so drehte, dass die Innenseite nach oben wies. Der Rathmaner murmelte leise etwas vor sich hin.

Als Reaktion darauf gab der Wendigo eine Reihe von Grunz­lauten von sich. Zayl konnte nicht verstehen, was die Bestie ihm

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sagen wollte, doch der Tonfall klang nach Frieden und Vertrauen. In der Dunkelheit ist Licht, so wie es im Licht Dunkelheit gibt,

lehrte Rathma. Und Zayl hoffte, dass sich sein Gott bei dieser Annahme nicht geirrt hatte.

Er widmete sich dem Bein des Wendigos, das diesem solche Schmerzen bereitete. Es war zweifellos durch die Wucht der Explosion gebrochen worden, und nur die barbarische Kraft der Kreatur hatte es ihr ermöglicht, ihre geschundene Extremität überhaupt anzuheben.

Doch das allein erklärte noch nicht den Sinneswandel der pel­zigen Kreatur. Irgendwie mussten die Kräfte, die Zayl beschwo­ren hatte, bis in Herz und Seele des Geschöpfs vorgedrungen sein und es aus dem Griff des Erzbösen befreit haben. Das war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab.

Der Nekromant war im Begriff, sich das gebrochene Bein ge­nauer anzusehen, warf aber zuvor noch einen letzten Blick in die Augen der Kreatur. Verwundert stellte er fest, dass er sogar in der Dunkelheit erkennen konnte, welcher Wandel sich vollzogen hatte. Das Blutrote und die rasende Wut waren aus den Augen verschwunden, stattdessen wirkten sie so menschlich, dass das Leid, das Zayl in ihnen fand, ihn tatsächlich rührte.

Diese Augen gaben für ihn den Ausschlag. Der Rathmaner legte seinen Dolch auf die Stelle, wo das Bein gebrochen war, während er mit der freien Hand ein Symbol darüber zeichnete.

Der Wendigo stieß einen Grunzlaut aus, seine Pranke wander­te in Richtung Bein. Zayl warf einen Blick darauf, blieb aber ruhig. Das Einzige, was jetzt zählte, war sein Zauber.

Der Wendigo zog die Pranke zurück und ließ den Nekroman­ten gewähren.

Ein schwaches weißliches Leuchten breitete sich über dem ver­

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letzten Bein aus, das wieder zusammenwuchs, während die Risse in der Haut heilten, sich in Narben verwandelten, die schließlich verblassten. Selbst das Fell wuchs sofort wieder über die verheil­ten Stellen.

Als er fertig war, atmete Zayl schwer aus. Er hatte zwar nicht lange benötigt, aber die Anstrengung war immens gewesen. Den­noch war er mit dem Ergebnis zufrieden.

Ein lautes Knurren dröhnte im Ohr des Nekromanten, dann wurde er plötzlich in die Luft gehoben.

Zweimal drückte der Wendigo seine feuchte, schwarze Nase gegen die von Zayl, knurrte langanhaltender und komplexer und setzte die viel kleinere Gestalt schließlich wieder ab.

»Gern geschehen«, sagte Zayl, da er nicht wusste, wie er sonst reagieren sollte.

Erneut stieß die riesige Kreatur, die ihn offenbar deutlich bes­ser verstand als umgekehrt, Laute aus.

Zayl erwartete, dass der Wendigo sich sofort in den Wald zu­rückziehen würde, doch stattdessen stimmte er eine Reihe von Knurrlauten an, während er hinter den Nekromanten deutete. Im ersten Moment glaubte Zayl, jemand lauere ihm in der angezeig­ten Richtung auf. Dann aber verstand er, dass der Riese nach Westmarch wies.

»Ja, ich muss dorthin.« Der Regen hatte ein wenig nachgelas­sen, und auch wenn Zayls Ausbildung nicht völlig reichte, um Erschöpfung und Schmerzen zu unterdrücken, musste er weiter­ziehen. Als er jedoch losmarschierte, folgte der Wendigo ihm auf dem Fuße.

Der Rathmaner sah über die Schulter. »Du musst nicht mitkommen.«

Der Wendigo reagierte wieder mit einer Folge von Knurr- und

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Brummlauten, die zwar unverständlich, aber zum Teil recht ele­gant klangen. Was er sagen wollte, war indes eindeutig: Der Wendigo würde Zayl nicht sich selbst überlassen, sondern auf ihn aufpassen.

»Du bist mir nichts schuldig, du kannst in den Wald zurück­kehren.«

Sein riesiger Begleiter wirkte unbeeindruckt. Zayl runzelte die Stirn und fügte sich schließlich in sein

Schicksal. Er drehte sich um und setzte seinen Fußmarsch fort. Hinter ihm war das leise Geräusch der pelzigen Riesenpfoten auf dem Grund zu hören. Es klang, als würden seine eigenen Schritte einen Hall wie Donnerschläge auslösen.

Es kostete Zayl all seine Kraftreserven, um die Wegstrecke zu bewältigen, doch da der Wendigo ihn entschlossen begleitete, spürte der Nekromant, wie sein Selbstvertrauen allmählich zu­rückkehrte. Als er in der Ferne endlich die äußersten Mauern von Westmarch ausmachte, atmete er erleichtert auf. In diesem Mo­ment kümmerte es ihn nicht, dass die Bewohner der Stadt ihm vermutlich so eifrig wie die von Ureh nach dem Leben trachteten.

»Trag’Oul sei gelobt.« Zayl sah über die Schulter zu seinem pelzigen Begleiter. »Die ...«

Der Wendigo war verschwunden! Aufmerksam beobachtete der Nekromant den düsteren Wald,

doch nichts gab einen Hinweis darauf, dass sich die Bestie über­haupt je in seiner Nähe aufgehalten hatte. Zayl wunderte sich über die flinke und geräuschlose Art des Wendigos. Er konnte wirklich von Glück sagen, dass er dem ersten Angriff hatte ent­gehen können.

Da die Hauptstadt in Sichtweite gekommen war, hatte der Wendigo seine selbstauferlegte Pflicht erfüllt. Zayl machte das

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Zeichen, das für das Gleichgewicht stand, und wünschte dem Waldbewohner eine sichere Rückkehr in seine gewohnte Umge­bung.

Das Geschöpf war von dem Rathmaner zu einem Sonderling unter seinesgleichen gemacht worden, da alle anderen unverän­dert dem Erzbösen verfallen blieben. Zayl hatte seinem vormali­gen Widersacher keinen wirklichen Segen mit auf den Weg ge­geben, denn der einsame Wendigo würde für immer anders als seine Artgenossen sein.

Und doch war die Bestie froh darüber gewesen, das Böse abzu­streifen, das sie in seiner Gewalt gehabt hatte. Der Nekromant sagte sich, er hätte unter den gleichen Umständen genauso emp­funden.

Geringfügig mehr Helligkeit am Himmel war das einzige Zei­chen dafür, dass die Nacht dem Tage wich. Das Wetter war un­verändert schlecht, und der Nekromant konnte spüren, dass das mit den Mächten zusammenhing, die sich in der Stadt und um sie herum sammelten.

Mächte, die womöglich manipuliert wurden von Lord Jitan und ... und ...

Plötzlich kam ihm der Name »Karybdus« in den Sinn ... doch diesmal erinnerte sich Zayl.

Er erinnerte sich ... und als er wieder auf dieses Wissen zugrei­fen konnte, fiel ihm vor Schreck die Kinnlade herunter!

Salene stützte sich ab und kam auf wackligen Beinen zum Ste­hen. Sie war tief gestürzt, viel tiefer als nur in das dritte Unterge­schoss, in das sie ihrer Meinung nach hätte vordringen sollen. Nach ihrer Einschätzung – die fragwürdig war, wie sie nur zu gut wusste – musste sie drei oder vier zusätzliche Etagen in den Un­

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tergrund gefallen sein. Wären da nicht ihre unberechenbaren Fähigkeiten gewesen,

hätte sie diesen Sturz sicher nicht überlebt. Die Steine, auf denen sie lag, waren schroff und scharfkantig, doch wie durch ein Wun­der hatte sie nur einige Kratzer davongetragen.

Steine und Geröll waren in alle Richtungen verteilt worden. Das blaue Leuchten begleitete sie noch immer, doch seine Reich­weite war ein wenig eingeschränkt, sodass sie nur wenig um sich herum erkennen konnte.

Von Polth war jedenfalls nichts zu sehen, das konnte sie auch so feststellen. Trotz des Zwischenfalls war sie davon überzeugt, dass er sie nicht in eine Falle hatte locken wollen. Sein Schatten war offenbar der Meinung, dass die Kräfte, die sie schon vor den Kreaturen in der Gruft bewahrt hatten, auch diesmal wieder für ihren Schutz sorgen würden.

Salene wünschte, sie wäre ebenfalls so sehr von ihren Fähigkei­ten überzeugt.

Stolperad ging sie weiter, wieder begleitet von dem schwachen Leuchten. Zum ersten Mal reagierte Salene frustriert über die mäßige Beleuchtung. Wäre das Licht doch nur heller gewesen, dann hätte sie vielleicht frühzeitig gesehen, dass der Boden zu unsicher war, um ihn zu betreten. Das hätte ihr einigen Ärger erspart.

Sie konzentrierte sich auf das Licht und wünschte sich eine Helligkeit, die ausreichte, um zu erkennen, was vor ihr lag, damit sie nicht noch einmal in Gefahr geriet.

Das Licht gehorchte prompt und wurde sogar so hell, dass La­dy Nesardo die Hände vor das Gesicht halten musste, um nicht geblendet zu werden. Als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, wagte sie einen Blick auf das, was vor ihr lag – und wich entsetzt

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zurück. Der schmale Gang, in dem sie gelandet war, endete gerade mal

zwei Schritte vor ihr! Dies wäre ihr zwar auch ohne das stärkere Licht aufgefallen, wenn sie nur in diese Richtung gegangen wäre. Doch sie hätte nicht einmal ein Zehntel dessen erkennen können, was dahinter lag.

Die Kammer erstreckte sich von dort aus steil nach unten und zu beiden Seiten, sodass sie eine riesige Schüssel bildete, in der sich ein gewaltiges Amphitheater mit Steinbänken befand. Hun­derte Menschen hätten dort sitzen können, ohne sich zu nahe kommen zu müssen. Obwohl von beträchtlichem Alter, machte das Bauwerk insgesamt einen intakten Eindruck. Vom Staub abgesehen zeigte sich der Zahn der Zeit nur in ein paar Rissen in der einen oder anderen Bank sowie an einer Stelle, an der ein Teil der Decke herabgestürzt war und zwei Sitzreihen rechts von Salene zertrümmert hatte.

Doch so erstaunlich dieser Anblick auch auf sie wirkte, ver­blasste er völlig gegen das, was Salene am anderen Ende des ural­ten Bauwerks entdeckte.

Eine Spinne hing dort in einem Netz aus Gold, das die gesamte Höhlenwand überzog. Der gewaltige Leib bestand aus schwarzer Jade, die im Lichtschein bösartig funkelte. Jedes der Gliederbeine war nach unten gebogen und lief in rubinroten Klauen aus.

Der Kopf war mindestens so groß wie der von Salene, und auf ihm waren acht Gruppen von je acht immens großen Diamanten angeordnet. Die Edelfrau wandte den Blick von den Kristallaugen ab, da die Facetten ihr das Gefühl vermittelten, als würde die Spinne sie hungrig anstarren.

Vollendet wurde das Bild von einem Paar goldener Beißzan­gen, deren Spitzen mit karmesinroten Rubinen besetzt waren.

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Der Anblick weckte allzu lebhafte Erinnerungen an die Krea­turen aus der Gruft. Salene sah sich rasch um, und auch wenn es keinen Hinweis auf diesen Schrecken gab, wollte sie nichts mehr, als umgehend in ihr Haus zurückzukehren. Lieber stellte sie sich dem guten Hauptmann Mattheus, anstatt noch länger hier unten zu bleiben.

Doch Lady Nesardo tat nicht das, was sie eigentlich wollte, sondern ging einen Schritt weiter, der sie nach unten in das Am­phitheater führte. Sie konnte sich ihr Verhalten selbst nicht er­klären. Eine Stimme in ihrem Hinterkopf schrie sie an, sie solle kehrtmachen und weglaufen. Doch aller Abscheu und Angst zum Trotz wurde sie von der riesigen Spinne angezogen.

Dir Fuß berührte die erste steinerne Stufe. Ringsum ertönte plötzlich ein Flüstern, doch es gelang Salene

nicht, die Quelle auszumachen. Die Edelfrau tat noch einen Schritt, woraufhin das Flüstern lauter wurde. Sie konnte einen Rhythmus erkennen, fast so, als würde jemand singen. Ein mo­notoner Gesang.

Von der Spinne angezogen, als sei sie in deren Netz gefangen, ging Salene weiter die Treppe hinunter. Der Gesang wurde lauter und schien von überall im Amphitheater widerzuhallen. Sie sah – oder bildete sie es sich nur ein? –, dass Männer und Frauen in Gewändern auf den Bänken vor ihr saßen, die alle gebannt das riesige Tier anstarrten, ohne auch nur mit der Wimper zu zuk­ken. Die geisterhafte Menge klatschte im Takt zu ihrem Gesang in die Hände.

Nachdem Salene die halbe Strecke zurückgelegt hatte, wurde ihr klar, dass die Menge nicht irgendeinen Satz rief, wie ihr Un­terbewusstsein es zunächst vermutet hatte, sondern nur ein ein­ziges wiederkehrendes Wort... einen Namen.

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Astrogha ..., sangen sie. Astrogha ... Astrogha ... »Astrogha«, flüsterte sie. Der Name hatte etwas Vertrautes an

sich, so als hätte sie ihn bestens gekannt, dann jedoch aus einem unerfindlichen Grund wieder vergessen.

Astrogha ..., fuhren die Geister fort, als wollten sie sie voran­treiben. Astrogha ...

Salene hatte bald den Fuß der Treppe erreicht, sodass der gi­gantische Spinnenleib fast genau über ihr hing. Vor ihr befand sich ein Altar, dessen Oberfläche von karmesinroten Streifen wie von Adern durchzogen war.

Plötzlich lag auf dem Altar der Geist einer jungen Frau, die die Augen weit aufgerissen hatte und unter dem Einfluss von Dro­gen zu stehen schien. Hinter ihr stand ein ausgemergelter Prie­ster, dessen Gewand die Silhouette des Spinnengottes trug.

Astrogha ... Astrogha ..., rief er. Wir bieten dir unser Ge­schenk, um dir den Weg für deine Ankunft zu ebnen ...

Aus dem dicken Gewand zog er eine gekrümmte Klinge. Der monotone Gesang der Menge hatte eine ohrenbetäubende Laut­stärke erreicht.

Ein Schrei schallte durch das Amphitheater. Halb gefangen zwischen Vergangenheit und Gegenwart drehte

sich Salene Nesardo um. Männer in Rüstungen – Männer, die so geisterhaft waren wie

die Gestalten, die sie niederstreckten – stürmten auf die Ver­sammelten los. Schwerthiebe und Pfeile trafen diejenigen, die sich ihnen in den Weg stellten und nicht zurückweichen wollten.

Die Söhne von Rakkis sind hier!, rief irgendjemand voller Entsetzen. Die Söhne von Rakkis sind hier!

Schließt die Zeremonie ab! Das kam aus der Richtung des Priesters. Als Salene zu ihm sah, waren da noch zwei andere

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Gestalten, eine Frau und ein stämmiger Mann. Letzterer war derjenige, der gesprochen hatte. Schließt die Zeremonie ab, bevor ihre verdammten Vizjerei auftauchen!

Doch die Gestalt, die das Messer hielt, schüttelte den Kopf. Nein! Der Mond zieht bereits vorüber! Der Augenblick ist ver­strichen! Er reichte der Frau etwas Rundliches, das Salene nicht erkennen konnte. Nehmt es. Es muss weitergegeben werden, bis seine Zeit wiedergekommen ist ...

Aber wohin soll es?, fragte die Frau. Egal! Bis ans Ende der Welt, wenn es nötig ist!, knurrte der,

der den Dolch hielt. Im Amphitheater waren unterdessen vor Jahrhunderten gestorbene Soldaten damit beschäftigt, diejenigen abermals zu töten, deren Knochen sich längst zu Staub aufgelöst hatten. So lange nur die, die uns nachfolgen, wissen, wann es zurückgebracht werden muss ... und wohin!

Aber was ist mit dem Blut?, wollte der andere Mann wissen, der auf die angekettete Frau zeigte. Wo finden wir wieder jeman­den von ihrem Blut? Das Blut ist so wichtig wie der Zeitpunkt und der Mond!

Der Priester, der die Gruppe anführte, lächelte finster. Rakkis selbst hat uns durch sein Bestreben, eine Dynastie zu erschaffen, mit dem Potenzial für viele versorgt. Auch er deutete auf die benommene Frau. So wie sie wird es andere mit dem richtigen Blut geben! Nun geht! Beeilt Euch! Ich kann die Vizjerei schon fühlen.

Die Frau nickte. Mit ihrer Last und der stämmigen Gestalt an ihrer Seite, wandte sie sich ab ... und verschwand in der Ge­schichte.

Der Priester, der den Dolch hielt, hatte einen monströsen Ge­sichtsausdruck angenommen und beugte sich über sein Opfer. Der

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Augenblick, seinem Gott die junge Frau als Geschenk darzubrin­gen, mochte verstrichen sein, doch das würde den Mann nicht daran hindern, sie zum eigenen Vergnügen zu töten.

Der Pfeil, der sich plötzlich in seinen Hals bohrte, hielt ihn dann aber doch davon ab. Der Dolch entglitt seiner Hand, der Priester stöhnte auf und sank nach vorn über die junge Frau, die sich nun endlich regte. Sie stieß einen gequälten Laut aus, dann richtete sie ihren Blick auf Salene.

Ihre Augen waren die von Lady Nesardo! Im Amphitheater kehrte Ruhe ein. Stöhnend sank Salene auf

ein Knie nieder. Die Schreie der Sterbenden verhallten von ihr ungehört.

Die Edelfrau brauchte mehr als eine Minute, ehe sie sich wie­der auf ihre Umgebung konzentrieren konnte. Langsam erhob sie sich und sah sich um. Alles war wieder so, wie sie es zuerst wahrgenommen hatte. Staub, Risse in den Bänken, und kaum mehr als das. In den Gängen lagen nicht die niedergemetzelten Anhänger des Kults, auch stürmten keine Soldaten in Rüstungen mehr umher. Das alles war wieder in die ferne Vergangenheit zurückgekehrt, wo es hingehörte.

Ihr Blick wanderte zum Altar. Die Frau mit Salenes Augen war nicht länger dort, sondern stellte so wie alles andere nur mehr eine Erinnerung dar. Noch immer erschüttert von dem Erlebten, nahm Salene allen Mut zusammen und berührte eine der schwachroten Linien auf dem Stein. Sie wusste, es war das Blut früherer Opferungen.

»Wie entsetzlich«, murmelte sie. »So entsetzlich.« »Manchmal ist etwas Entsetzliches nötig, um am Ende etwas

Gutes zu erreichen.« Sie wirbelte herum und sah vor sich einen Mann stehen, der

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eine Rüstung trug und eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Seine schwarze Kleidung und das fahle, etwas hagere Gesicht erinnerten sie schwach an Zayl.

»Ihr seht die Toten fast so gut wie wir«, meinte der Mann mit kühler Stimme. »Vielleicht seht Ihr sie in mancher Hinsicht sogar noch klarer, wenn ich bedenke, was Ihr in Euch tragt.«

»Wer ... wer seid Ihr? Ihr seht aus wie ... wie ...« Salene zögert, den Namen auszusprechen.

»Wie Zayl?« Der Mann lächelte flüchtig. »Das liegt daran, dass ich bin, was er ist, ein Anhänger des gesegneten Rathma ... ein Nekromant, wenn Ihr so wollt.« Der in Schwarz Gekleidete deutete eine Verbeugung an. »Ihr könnt Karybdus zu mir sa­gen.«

Salene wurde blass, drehte sich um und wollte fliehen – wäre dabei aber beinahe mit dem Gesicht in etwas Monströses gerannt, was von der Edelsteinspinne herabhing.

Eine Spinne, so groß wie ein Kleinkind. Sie spie in Salenes Richtung und bewegte die Beißzangen, als wollte sie sie ins Ge­sicht beißen. Dickes schwarzes Fell überzog den abscheulichen Leib. Acht bösartige grüne Augen gleich über den Beißzangen waren alle auf die fassungslose Edelfrau gerichtet.

Salene wich zurück ... und stieß mit dem Nekromanten zu­sammen.

Karybdus packte sie an den Handgelenken und drückte sie an sich. Mit seinen kurzen grauen Haaren und der erhabenen Miene erinnerte er sie an manchen ihrer Lehrer aus ihrer Jugend. Das machte jedes Wort, das er wie beiläufig sprach, umso entsetzli­cher.

»Aber, aber, Mylady Nesardo. Ihr müsst Euch nicht vor mei­nem Kleinen hier fürchten. Skaro tut nur, was ich ihm sage, und

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er weiß, dass Euch nichts zustoßen darf ... jedenfalls noch nicht.« »Lasst mich los!« »Es ist tatsächlich so, wie Rathma sagt. Das Gleichgewicht

wird einen führen, wenn man nur geduldig ist. Ich kam her, um ein kleines, aber wichtiges Objekt für unsere Aufgabe zu holen – einen Dolch –, und dabei stoße ich auf Euch, als würdet Ihr schon darauf warten, Euch endlich auf den Altar legen zu dürfen.«

Salene biss die Zähne zusammen und versuchte, ihre Fähigkei­ten zu nutzen, die sie jetzt mehr denn je brauchte. Das Leuchten wurde zu einem gleißenden Licht, wodurch Karybdus gezwungen war, mit einer Hand die Augen abzuschirmen.

Salene wand sich aus dem gelockerten Griff und rannte in die einzige Richtung, die ihr in diesem Moment verblieb. Dass sie sich damit noch weiter von dem Loch in der Decke entfernte, durch das sie gestürzt war, kümmerte sie nicht. Wichtig war nur, sich vor dem Nekromanten in Sicherheit zu bringen.

Hinter ihr murmelte Karybdus irgendetwas, und im gleichen Augenblick bewegte sich der Boden unter ihr, Risse bildeten sich im Stein.

Aus diesen Rissen kamen Knochen geflogen, uralte Knochen aller Art – Schädel, Rippen, Schulterblätter. Große und kleine Fragmente wirbelten plötzlich um Salene herum, als sei sie in einem Tornado gefangen.

Sie versuchte, das Hindernis zu überwinden, doch der Wirbel aus Knochen vollzog jede ihrer Bewegungen nach. Wenn es ihr gelang, eines der Stücke aus dieser rotierenden Wand zu schla­gen, kehrte es gleich wieder an seinen ursprünglichen Platz zu­rück.

Dann fielen plötzlich einige Stücke zu Boden, und im nächsten Moment hatten sich die Knochen zu einer Mauer aufgetürmt.

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Salene drehte sich um, doch dort wiederholte sich das Schauspiel, bis ihr in alle Richtungen der Weg versperrt war – auch nach oben, damit sie nicht über diese Barriere klettern konnte.

Sie schlug mit der Faust gegen den Knochenkäfig, doch abge­sehen von einem kurzen bläulichen Aufblitzen an der Stelle, wo sie das Hindernis traf, geschah nichts – bis auf die Tatsache, dass plötzlich ein pochender Schmerz durch ihre Hand jagte.

Ruhige, bedächtige Schritte kündigten an, dass sich Karybdus näherte. Lady Nesardo drehte sich um, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Er schien sich nicht über ihren Fluchtversuch zu ärgern, sondern wirkte sogar äußerst zufrieden.

»Das Blut fließt wahrlich durch Eure Adern. Ich habe es gleich gespürt. Es wird den Weg öffnen.«

»Was redet Ihr da? Warum tut Ihr mir das an?« Er ermahnte sie zur Ruhe, als wäre sie ein vorlautes Kind.

»Seid Euch bitte darüber im Klaren, dass ich dies alles nur zum Nutzen des Gleichgewichts tue – und damit zum Nutzen der ganzen Welt.«

Auf seiner Schulter tauchte die riesige Spinne auf und zog sich in Karybdus’ Armbeuge zurück. Der Nekromant betrachtete das Tier, und zum ersten Mal zeichneten sich in seinem Gesicht Emotionen ab. Er flüsterte der Bestie etwas zu, als handele es sich um einen Säugling, gleichzeitig streichelte er ihren Rücken.

Als er zu Salene hochsah, war seine Miene wieder kühl und ausdruckslos. »Ich muss Euch um Verzeihung für das bitten, was ich gleich tun werde. Es ist eine Variante dessen, was wir den Lebenslass nennen – in Anlehnung an das, was Ihr als Aderlass kennt. Diese Maßnahme ist erforderlich, damit Ihr keine weite­ren Dummheiten versucht.«

Noch ehe Lady Nesardo reagieren konnte, schoss seine freie

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Hand durch eine Lücke im Knochenkäfig und berührte Salene über dem Brustbein.

Sie wurde im gleichen Moment von einer entsetzlichen Schwäche befallen, ihr war, als hätte man ihr jeglichen Funken Kraft geraubt ... die auf den Nekromanten übergegangen war. Die Edelfrau wollte sich von ihm lösen, doch dafür war es längst zu spät. Sie merkte, wie ihr Bewusstsein langsam schwand.

Während Salene Nesardo zusammenbrach, hörte sie Karybdus ohne auch nur einen Hauch echten Mitgefühls sagen: »Es tut mir Leid ... sehr Leid sogar ...«

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VIERZEHN

General Torion schnappte nach Luft. Kräftige Hände packten den Kommandanten, als er zusam­

menzusacken drohte. Die vertraute Stimme von Hauptmann Alec Mattheus schallte ihm entgegen: »General? Geht es Euch gut? Könnt Ihr mich hören?«

»Ja, das kann ich. Ihr könnt aufhören, mir ins Ohr zu brül­len!« Torion fühlte, wie ihn auch die letzte noch verbliebene Kraft in seinen Beinen im Stich zu lassen drohte. »Ein Stuhl! Schnell!«

Der stets eifrige Adjutant hatte bereits einen Stuhl hinter ihn gestellt, was sich als vorteilhaft erwies, da der General sich fallen ließ, noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte.

Während Torion durchzuatmen versuchte, kniete Hauptmann Mattheus neben ihm nieder und reichte ihm einen Kelch mit der bevorzugten Weinsorte. Der General nahm den Kelch dankbar an und leerte ihn fast in einem Zug.

Sein Adjutant beugte sich vor. »General ... was ist gesche­hen?«

Nach kurzem Überlegen erwiderte Torion: »Der Nekromant! Er ist dafür verantwortlich!«

»Er war hier? Aber niemand hat gemeldet, dass jemand außer Lady Nesardo gekommen und wieder gegangen ist...«

»Und Ihr glaubt, sie habe mir das angetan? Wollt Ihr das wirk­lich jetzt und hier behaupten?«

»Nein, Sir!« Hauptmann Mattheus runzelte die Stirn. »Ich bin eben von ihrem Haus zurückgekommen. Die Suche dauert noch

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an, General, doch nach allem, was ich bislang gesehen habe, dürf­te Zayl sich dort wohl nicht aufhalten ... es sei denn, er versteckt sich in der Gruft.«

Torion machte eine finstere Miene. »Und Ihr seid gekommen, um Euch die Erlaubnis einzuholen, auch die Gruft zu durchsu­chen?«

»Angesichts der Tatsache, dass es sich um das Haus Nesardo handelt und wir vielleicht sehr gründlich forschen müssen ... ja, Sir.«

Der General trank noch einen Schluck Wein, während er über die Bitte nachdachte. Dann jedoch antwortete er leise: »Nein, das halte ich nicht für nötig. Wie ich sagte, war dies hier das Werk des Nekromanten. Er ist ganz offensichtlich hergekommen und hat Lady Nesardo mitgenommen. Daher wird er im Haus nicht zu finden sein.« Seine Stimme wurde fester, in seinen Augen blitzte etwas Finsteres auf. »Ich sage Euch, was Ihr machen wer­det, Alec. Ich will, dass alle Patrouillen nach ihm Ausschau hal­ten. In seiner Aufmachung wird ihn niemand übersehen können, aber ich werde Euch dennoch eine genauere Beschreibung geben, die Ihr weiterleiten könnt. Er könnte in Begleitung der Lady unterwegs sein. War ihr Bruder zu Hause?«

Hauptmann Mattheus verzog das Gesicht. »Ja, Sir, das war er. Kaum zu glauben, dass die beiden miteinander verwandt sind ...«

»Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. Wichtig ist, dass Sardak zu Hause war. Also wird er sehr wahrscheinlich nir­gendwo zusammen mit dem Nekromanten auftauchen. Gebt aber den Männern die klare Anweisung, weder Lady Nesardo noch irgendjemandem sonst in seiner Begleitung Schaden zuzufügen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Ich möchte nicht, dass Unschuldige verletzt werden. Verstanden?«

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Der Adjutant nickte. »Ich werde dafür sorgen, dass sie unver­sehrt bleibt, Sir. Ich verspreche es Euch.«

»Guter Mann.« Torion merkte, dass er allmählich wieder zu Kräften kam. »Helft mir an meinen Schreibtisch.«

Nachdem der Hauptmann das getan hatte, griff der Komman­dant nach Pergament und Federkiel. Rasch notierte er eine Be­schreibung von Zayl, wie er ihn im Gedächtnis hatte. Torion betrachtete sich als Mann mit exzellentem Erinnerungsvermö­gen, und was er niederschrieb, war der Beweis dafür, dass er Recht hatte.

»Hier, das wird Euch weiterhelfen.« Während der jüngere Soldat die Zeilen las, fügte Torion an: »Findet ihn, bevor die Kirche ihn in ihre Fänge bekommt, hört ihr?«

»Ich werde ihn sofort herbringen, Sir.« Der Kommandant brummte. »Sollte er bei Eurem Versuch,

ihn zu retten, ums Leben kommen, weil er sich zur Wehr setzt, Alec, dann weiß ich, dass es nicht zu vermeiden war.«

Ohne eine Miene zu verziehen, ging der Adjutant noch einmal die Beschreibung durch. »Ich sollte mich besser sofort darum kümmern.«

»Tut das.« Grimmig, aber zufrieden sah Torion zu, wie sein Untergebener sich auf den Weg machte. Hauptmann Mattheus würde sich um den Grabräuber kümmern, sodass auf Salene kein Verdacht fiel. Letztlich würde sich alles so ergeben, wie es das auch sollte, und dann würde sie erkennen, dass er der Richtige für sie war ...

Ein Wachmann kam in sein Arbeitszimmer gestürmt: »Gene­ral, Sir! Er ist hier!«

Für einen Augenblick glaubte Torion, der Nekromant sei so dreist, herzukommen und sich zu stellen, doch er wusste, dass

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Zayl kein solcher Narr war. Der Kommandant stand auf und fragte ungeduldig: »Wer denn? Sagt schon!«

»König Justinian! Ganz allein! Ohne Wachen und ohne Vorankündigung!«

Torion riss die Augen auf. Zwar war der Wandel vielverspre­chend, den er bei seinem neuen Monarchen beobachtet hatte, doch eine solche Vorgehensweise hatte weniger mit Mut und Selbstbewusstsein zu tun, sondern grenzte schon an Selbstmord. Zugegeben, früher war König Cornelius oft allein durch die Stadt geritten und hatte auch dem General hin und wieder einen Be­such abgestattet. Doch es war viel zu früh, dass sein Sohn ihm darin nacheiferte. So lange nicht demonstriert worden war, wie gefestigt Justinians Position war und welchen Wandel er durch­gemacht hatte, schwebte er ständig in der Gefahr, einem Attentat derjenigen zum Opfer zu fallen, die ihren Anspruch auf den Thron geltend machen wollten.

Allerdings waren das Dinge, denen man sich bei einer anderen Gelegenheit widmen konnte. Was im Augenblick zählte, war einzig die Tatsache, dass der König hier war. »Wo ist er? Bereitet eine Ehrenwache vor! Ich will ...«

»Aber dieser ganze Pomp ist doch gar nicht nötig«, wurde er von einer sanften Stimme unterbrochen.

General Torion ging in Habtachtstellung. »Euer Majestät! Das kommt völlig unerwartet und ... und ...«

»Ich weiß, es ist eine ärgerliche Störung.« Justinian hob rasch eine Hand, um den Offizier an einem Widerspruch zu hindern. Der neue König trug Reitkleidung, die im gleichen Stil gehalten war wie das, was Torion zuletzt an ihm gesehen hatte. Lediglich die Hose war an den Hüften ausgestellt, und ein goldener Reise­mantel schützte ihn vor den Elementen. Auf Torion wirkte der

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König wie die perfekte Zielscheibe für jeden, der ihm Übles woll­te. »Bitte, keinen Protest. Ich nehme an, Ihr möchtet mich darauf aufmerksam machen, wie leichtsinnig es von mir ist, allein un­terwegs zu sein.«

»Euer Majestät, in diesem Ton würde ich niemals mit Euch re­den.«

Diese Bemerkung ließ den neuen Herrscher von Westmarch nahezu feixen. »Jedenfalls nicht in der letzten Zeit, nicht wahr? Immer mit der Ruhe, Torion. Ihr werdet Euch auf einige noch radikalere Veränderungen von meiner Seite einstellen müssen. Wenn ich über die offizielle Krönung hinaus König bleiben will – oder sogar nur bis zur Krönung, wenn Ihr versteht, was ich mei­ne –, muss ich mich mehr so benehmen wie mein Vater.«

Wenn er sich noch mehr so benimmt wie sein Vater, dachte Torion, dann wird er zu Cornelius! Das war nicht unbedingt das Schlechteste, was geschehen konnte, wenn der Nachfolger auf diese Weise das Jahr überlebte.

Während er versuchte, sein geistiges Gleichgewicht wiederzu­erlangen, fragte der General: »Was verschafft mir überhaupt die Ehre Eures Besuchs, Euer ...«

»Bitte sagt nicht ›Euer Majestät‹. Redet mich mit Justinian an. Mein Vater bestand schon darauf, von Euch mit dem Vornamen angesprochen zu werden, wie ich mich erinnern kann.«

Torion hatte viele Jahre benötigt, ehe es ihm gelungen war, sich mit diesem Befehl behaglich zu fühlen. Dem Mann, der nun vor ihm stand, sagte er davon jedoch nichts. »Aye, das ist richtig.«

Justinian grinste ihn breit an. »Dann könnte ich von Euch nichts anderes verlangen. Ich vertraue Euch so sehr wie mein Vater.«

Dankbar verbeugte sich Torion vor ihm.

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Der König warf dem verblüfften Wachmann einen kurzen Blick zu. »Torion, ich muss mit Euch über etwas reden. Könnten wir das unter vier Augen erledigen?«

Er hört sich sogar an wie Cornelius. »Ja, Euer ... ja, Justinian.« Dem Wachmann befahl er: »Schickt die Wachposten weg, die vor meiner Tür stehen, und dann kehrt auf Euren Posten zurück. Niemand wird uns hier stören, es sei denn, ich rufe jemanden zu mir. Verstanden?«

»Jawohl, Sir.« »Weggetreten ... und schließe hinter dir die Tür.« Als sie endlich allein waren, fiel Torion mit einiger Verspätung

auf, dass er seinem erhabenen Gast nicht mal einen Platz angebo­ten hatte. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und brachte den Stuhl mit nach vorn. »Bitte, Justinian. Ich bestehe darauf.«

»Ich habe zwar nicht vor, länger zu bleiben, dennoch vielen Dank.« Wieder grinste Justinian auf eine Art, die den Soldaten an seinen alten König erinnerte. Der Thronfolger ließ sich in den weichen Ledersessel mit der hohen Rückenlehne sinken, den To­rion aus eigener Tasche bezahlt hatte. »Sehr angenehm ... wie ich sehe, ist es gut, Befehlshaber der königlichen Streitkräfte zu sein.«

»Euer Vater war sehr großzügig mir gegenüber. Wenn Ihr der Meinung seid, es sei zu viel des Guten gewesen, dann ...«

»Oh, liebe Güte, nein! Ich wüsste nicht, welcher andere Mann es mehr verdient hätte, dieses Amt zu bekleiden! Ich weiß, Eure Loyalität und Euer Gehorsam sind nicht im Mindesten anzu­zweifeln, und das halte ich in einer so schwierigen Zeit für das Wichtigste.«

Wieder verbeugte sich Torion. »Ihr seid zu freundlich.« Plötzlich blickte Justinian so zur Seite, wie er es schon im

Thronsaal getan hatte. Der Kommandant, der sich diesmal nicht

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so sehr daran störte, wartete geduldig ab. Einen Moment später richtete der Monarch auch schon wieder den Blick auf ihn. »Lasst es mich kurz machen, Torion. Ich habe gehört, ein Fremder halte sich in unserem Reich auf. Ein gefährlicher Fremder von jenseits der Zwillingsmeere ...«

Der General versuchte, sich seine Verwunderung darüber nicht anmerken zu lassen, dass der König davon wusste, doch es wollte ihm nicht gelingen. Mit einem breiten Grinsen fügte Justinian an: »Wie ich sehe, wisst Ihr, wen ich meine.«

»Es heißt ...« »Es soll einen Zwischenfall gegeben haben ... außerdem etwas

Ernstes, das sich in einer Eurer Zellen abgespielt hat.« Torion machte nicht länger einen Hehl aus seiner Verwunde­

rung. »Der Thron ist bestens informiert.« Justinian sah ihn mit stechendem Blick an, von den wässrigen

Augen war nichts mehr zu bemerken. »Ist das nicht genau die Art und Weise, wie es auch bei meinem Vater lief? So sehr er Euch auch vertraute, verfügte er stets über weitere Informations-quellen.«

»Das ist wahr, Euer Majestät. Ja, es stimmt, in der Stadt hält sich ein Nekromant auf. Ein fahler, dunkelhaariger Knabe na­mens Zayl. Er wurde nach einem Zwischenfall mit den Zakarum festgenommen ...«

»Die sich bereits an mich gewandt hatten, damit dieser Zayl an sie übergeben wird, als es zu dieser bedauernswerten Flucht kam. Ich wurde von dieser Anfrage völlig überrascht, Torion.«

Der General zog seinen Kragen gerade. »Ich wollte Euch in Kenntnis setzen, doch in dem Moment brach Chaos aus. Um ehrlich zu sein, Justinian ... dieser Zayl entkam aus einer der gesicherten Zellen, die von Eurem Vater speziell für Leute seiner

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Art eingerichtet wurden.« »Das stimmt nicht ganz.« Wieder schaute der junge König zur

Seite, schürzte die Lippen und erklärte dann: »Er ist ein Nekro­mant. Er ist anders als ein Vizjerei. Die Zelle hätte mit einigen anderen Zaubern gesichert werden müssen. Das war eine grobe Nachlässigkeit.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Aber Euch trifft keine Schuld.«

»Das ändert nichts daran, dass es in meine Verantwortung fällt.«

»Vergesst es. Wenn Ihr glaubt, versagt zu haben, dann könnt Ihr das wiedergutmachen, indem Ihr ihn wieder zu fassen be­kommt. Diesmal möchte ich, dass dieser Zayl direkt zu mir ge­bracht wird.«

General Torion stutzte. Bis gerade eben hatte er noch ge­glaubt, Justinian sei wirklich zur Besinnung gekommen, doch dieses Ansinnen machte diesen Eindruck zunichte. »Das wäre alles andere als klug. Mit seinen finsteren Kräften ...«

Justinian klopfte sich an die Brust, etwas klimperte unter dem Hemd. Erst da fiel Torion auf, dass der neue Herrscher von Westmarch ein schwarzes Kettenhemd trug. »Keine Sorge, ich bin geschützt.«

»Was ...«, begann Torion, wurde aber von seinem Monarchen abermals unterbrochen.

»Und wie kommen die Vorbereitungen voran?«, wechselte der König abrupt das Thema. »Ich denke, inzwischen sollte alles be­reit sein. Die Männer sind von den Stadtmauern abgezogen, nehme ich an.«

»Es ist alles bereit. Heute Morgen habe ich das letzte Kontin­gent abgezogen.«

»Und Eure Männer ruhen sich auch alle aus? Dann werden sie

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erholt sein, wenn ich sie brauche?« Der Kommandant nickte. »Alles so, wie Ihr es angewiesen

habt. Sie werden in Bestform sein, dafür bürge ich mit meinem Leben.«

»Wollen wir hoffen, dass es nicht dazu kommen wird.« Justin­ian stand auf und legte die Stirn in Falten. »Damit ist nur noch die Sache mit dem Nekromanten zu erledigen. Sorgt dafür, dass er wieder gefasst wird, Torion. Das ist entscheidend. Alles ent­scheidend.«

»Er ist ein Störenfried, aber er ist wohl kaum so bedeutend.« Wieder reagierte der Thronfolger mit einem stechenden Blick.

»Sorgt einfach nur dafür, dass er umgehend zu mir gebracht wird.«

Torion konnte beim Anblick dieser Augen nichts anderes tun, als abermals bestätigend zu nicken.

Von einem Moment zum nächsten war Justinian wieder jovial gestimmt. Er kam um den Schreibtisch herum und klopfte dem Offizier auf den Rücken. »Mein guter alter Torion! Ich weiß, ich kann mich auf Euch verlassen! Ich konnte mich schon immer auf Euch verlassen! Lebt wohl!«

General Torion öffnete seinem Monarchen rasch die Tür, und nachdem der Mann gegangen war, stand er einfach nur da und versuchte, all das zu verarbeiten, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte.

Letztlich lief alles darauf hinaus, dass Justinian nun König war und er Zayl vorgeführt bekommen wollte. So lange Torion Sale-ne heraushalten konnte, war ihm alles andere recht. Falls Hauptmann Mattheus den Rathmaner im Verlauf der Festnahme töten musste, würde sich der General dafür entschuldigen. Doch er war sich sicher, Justinian würde dafür Verständnis haben.

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Sollte Zayl allerdings lebend zurückgebracht werden, würde sich Torion als Erster freiwillig melden, um als sein Henker auf­zutreten. Er umfasste das Heft seines Schwerts und stellte sich vor, wie er den Kopf des Nekromanten vom Rumpf trennte.

Salene würde früher oder später verstehen, warum er so han­deln musste ...

Karybdus. Während sich Zayl gegen die Mauer drückte, um den suchen­

den Blicken der Wache dort oben zu entgehen, überschlugen sich seine Gedanken angesichts der Folgen, die ihm durch seine wie­dergefundene Erinnerung bewusst wurden.

Karybdus. Selbst für die zurückgezogen lebenden Rathmaner war er eine Legende. Seine Taten galten als Musterbeispiele für eine völlige Hingabe an das Gleichgewicht, für eine strikte Un­terwerfung, was Trag’Oul und die Lehren Rathmas anging.

Er war also derjenige, der Zayl beinahe getötet hätte? Es war unglaublich, und doch war es die Wahrheit. Zayl hatte

seine Gedanken berührt, so wie Karybdus zweifellos die von Zayl berührt hatte. Sie waren sich nie begegnet, jedenfalls konnte sich der jüngere Rathmaner nicht daran erinnern. Doch er hatte ge­spürt, dass Karybdus ihn ebenfalls erkannt hatte. Einige von Zayls Taten waren Gegenstand der Gespräche anderer Rathma­ner, das wusste er. Doch die Vorstellung, dass der Größte ihres Ordens wusste, wer er war ...

Hör auf damit!, ermahnte sich Zayl verbittert. Seine Bewun­derung für alles, was Karybdus geleistet hatte, ließ ihn beinahe vergessen, welch schreckliche Bedrohung ein solcher Widersa­cher für ihn darstellte. Wer wusste besser, wie Zayl dachte und handelte, wenn nicht ein anderer Nekromant?

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Karybdus wäre als Verbündeter eine gewaltige Erleichterung für seine Aufgabe gewesen. Aber Karybdus als Gegner hieß, dass Zayls Überlebenschancen praktisch gegen Null gingen.

Er schlich um eine Ecke und beobachtete die Straße, die ihn bis auf Sichtweite ans Haus Nesardo heranführen würde. Auch wenn die Wachen es hüteten, ging der Rathmaner nicht davon aus, dass es ihm irgendwelche Schwierigkeiten bereiten würde, sich unbemerkt Zutritt zu dem Gebäude zu verschaffen. Zayl musste wissen, wie es Salene ging. Erst wenn er Gewissheit hat­te, dass sie wohlauf war, konnte er sich einem Gegner widmen, dessen Fähigkeiten und Kenntnisse seine eigenen um ein Tau­sendfaches übertrafen.

Aber was konnte Karybdus dazu veranlasst haben, sich in eine Sache zu verstricken, die so völlig gegen die Lehren seines Or­dens gerichtet war? Im Verlauf seines Lebens hatte der alte Ne­kromant gegen Tyrannen, Zauberkundige und üble Dämonen gekämpft, um das Gleichgewicht zu wahren. Karybdus war der­jenige, der viele Zauber vervollkommnet hatte, die von Zayl und den anderen angewendet wurden.

Während viele Rathmaner durch ihren Stand bedingt früh starben, war von Karybdus bekannt, dass er über hundert Jahre alt war. Sein Lebenswille und sein Durchhaltevermögen wurden von dem Wunsch angetrieben, die Welt im endgültigen Gleich­gewicht zu erleben. Es gab viele – Zayl rechnete sich zu ihnen –, die glaubten, Karybdus habe Rathmas Perfektion nahezu er­reicht.

Es musste eine Erklärung für diese Entwicklung geben, und Zayl konnte sich nur eines vorstellen. Karybdus hatte sich vielen Gegnern gestellt, die über schreckliche Kräfte verfügten. In vie­len Geschichten, die über diese Konfrontationen erzählt wurden,

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hieß es, er habe den Lebenslass auf eine Weise benutzt, wie ande­re Nekromanten sie sich nicht einmal vorzustellen vermochten.

Aber mit dem Zauber ging auch immer eine Gefahr einher, die von allen gefürchtet wurde. So wie Zayl es in der Gruft getan hatte, riskierte es auch Karybdus jedes Mal, irgendeinen Aspekt eines Widersachers zu einem Teil seiner eigenen Persönlichkeit zu machen. Vielleicht hatte nicht ein einzelner dieser Aspekte etwas ausgemacht, sondern womöglich war es die Summer vieler, die Anhäufung von so viel Bösem gewesen, was schließlich sei­nen Preis gefordert hatte. Ohne es zu wissen, war Karybdus dann zu jener Bedrohung geworden, die er sein Leben lang bekämpft hatte.

Diese Erkenntnis erschütterte Zayl, während er durch den Re­gen hindurch Salenes Anwesen beobachtete. Es bedeutete, dass jeder Rathmaner noch viel vorsichtiger sein musste als bislang. Immerhin besaßen nur wenige von ihnen die Willenskraft, die man Karybdus nachsagte. Allein der Kampf gegen den Schrecken in der Gruft hätte genügen können, um Zayl zur anderen Seite überwechseln zu lassen, wäre er ihm nur ein wenig stärker aus­gesetzt gewesen ...

Er verdrängte für den Moment derart erschreckende Überle­gungen, da er sah, wie ein Soldat das Anwesen nur wenige Schritte entfernt passierte. Zwar wollte er wohl den Eindruck erwecken, lediglich auf Patrouillengang zu sein, doch war er da­für viel zu langsam.

Die Schatten waren der Freund eines jeden Rathmaners, zu­mindest meistens. Nekromanten wussten, wie sie sich in einem Schatten verlieren konnten, auch wenn er scheinbar zu hell oder zu schmal war, um als Versteck zu dienen. Also verschmolz Zayl mit der Dunkelheit, und selbst wenn der Soldat in seine Richtung

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geschaut hätte, wäre ihm nichts aufgefallen. Als der Mann in der Rüstung auf halbem Weg zurück zu sei­

ner ursprünglichen Position war, befand sich der Zauberkundige längst auf dem Grundstück des Hauses Nesardo. Hinter einem Baum blieb er stehen und beobachtete zwei von Salenes Wach­leuten, die um das Gebäude patrouillierten. Zwar waren sie ihr loyal ergeben, dennoch hielt er es nicht für ratsam, wenn sie ihn zu sehen bekamen. Wahrscheinlich würden sie zu der Ansicht neigen, ihrer Herrin am besten zu dienen, wenn sie die Bedro­hung an ihrer Seite unschädlich machten.

Als der Weg endlich frei war, begab sich Zayl zum Haus. In einigen der Räume im oberen Geschoss, in denen sie und ihr Bruder ihre Quartiere hatten, brannte Licht. Zayl betrachtete die Fenster und überlegte, hinter welchem sich Salenes Zimmer befand, dann tauchte er wieder in die Schatten ein.

Sardak schenkte sich ein Glas von seinem privaten Weinvorrat ein. Zwar zitterte seine Hand nicht, dennoch fürchtete, es könne jeden Moment so weit sein. Er hatte das Gefühl, dass dieser oh­nehin schon von Problemen heimgesuchte Abend im weiteren Verlauf nur noch schlimmer werden könnte.

»Sardak Nesardo ...« Seine Hand krampfte sich zusammen, und es war gut zu hö­

ren, wie das Glas zerbrach. Er spähte in den Schatten ... und aus seiner Überraschung wurde Verbitterung, als er die Gestalt er­kannte, die sich aus der Dunkelheit schälte.

»Sieh an, der Nekromant! Ich hätte mir denken können, dass Ihr Euch auf diese Art in irgendwelche Winkel verdrückt. Ganz netter Trick übrigens. Könnt Ihr den nächsten Monat bei den Feierlichkeiten vorführen? Er dürfte gut ankommen.«

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»Erspart mir weitere Scherze, Sardak«, gab Zayl zurück. Sein ruhiger Tonfall bildete einen deutlichen Kontrast zu der finsteren Miene des Mannes. »Ich war in meinem Quartier, dann in dem Eurer Schwester ...«

»Also das gehört sich aber gar nicht.« Sardak nahm ein Sei­dentuch aus der Tasche und wickelte es um die Schnittwunden seiner Handfläche. »Wenigstens ist nichts im Fleisch stecken geblieben.« Er sah den Nekromanten an. »Ihr wollt wissen, wo meine Schwester ist? Meine kostbare Schwester? Meine Schwe­ster, die Euretwegen ihr Leben aufs Spiel setzt?«

»Sardak ...« Salenes Bruder holte nach ihm aus, doch Zayl entzog sich mü­

helos dem Schlag. »Sie hält sich in der Gruft versteckt, verdammt! Sie wollte

nicht von dem guten Hauptmann Mattheus entdeckt werden, weil er für Torion arbeitet und eine Nase wie ein Spürhund hat! Sie ist Euretwegen nach unten gegangen, und bislang ist sie nicht zurückgekehrt!«

»In die Gruft?« Zayl machte keinen Hehl daraus, wie konster­niert er angesichts dieser Enthüllung war. »Und obwohl sie schon so lange dort unten ist, seid Ihr ihr nicht gefolgt?«

»Glaubt Ihr vielleicht, ich wollte das nicht? Im Augenblick halten zwei von Mattheus’ Leuten vor dem Eingang zum Keller Wache. Er hat sie dort postiert, weil er sich erst die Erlaubnis holen muss, um die Gruft zu durchsuchen. Sogar die Zakarum rümpfen angesichts einer solche Entweihung die Nase, aber in Eurem Fall würde ja wohl jeder eine Ausnahme machen.«

Zayl wandte sich um. »Kommt mit, wenn Ihr wollt.« »Mitkommen? Wohin?« »Natürlich in die Gruft. Zu Eurer Schwester.«

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Gegen seinen Willen folgte Sardak ihm ein paar Schritte. »A­ber die Wachen am Eingang ...«

Auf Zayls Blick hin verstummte Sardak und kniff entschlossen die Augen zusammen. »Gebt mir Zeit genug, mein Schwert zu gürten. Mehr will ich nicht.« Der Nekromant nickte.

Die beiden Soldaten, die Hauptmann Mattheus zurückgelassen hatte, waren gute und tüchtige Männer, denen der Adjutant sein Leben anvertraut hätte. Sie verrichteten ihren Dienst mit der gleichen Präzision wie er selbst, und beide wurden für eine Be­förderung vorbereitet, auch wenn sie selbst es noch nicht wuss­ten.

Für Zayl stellten die beiden dagegen nur ein flüchtiges Hin­dernis dar. Der Zauber, den er wirkte, war eine Variation jener Blindheit, die die Zakarum befallen hatte. In diesem Fall jedoch war den beiden Männern nicht bewusst, dass sowohl ihr Seh- als auch ihr Hörvermögen beeinflusst wurde.

So konnten Zayl und Sardak – Letzterer mit einer noch nicht entzündeten Fackel in der Hand – geradewegs auf die beiden zugehen, die Wache hielten, während der Nekromant und sein Begleiter sie nur mit einer Hand breit Abstand passierten.

Als Zayl die Tür öffnete, zuckten die Bewacher nicht einmal mit der Wimper.

Erst als sie die Tür hinter sich geschlossen, die Fackel entzün­det und sich ein Stück weit durch den Korridor bewegt hatten, sagte Sardak: »Verdammt, den Zauber würde ich gern lernen! Der hätte mir in der Vergangenheit so manche unschöne Ausein­andersetzung erspart. Könnt Ihr ihn mir beibringen?«

»Ja, aber dazu müsst Ihr zuerst einen Eid gegenüber Rathma leisten, den übermäßigen Alkoholgenuss aufgeben und ...«

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»Schon gut«, warf Salenes Bruder ein. »Die Sache mit dem Alkoholgenuss macht es alles hinfällig. Ich werde einfach weiter­hin wie gewohnt leiden ...«

Sie bahnten sich ihren Weg zwischen den alten Verliesen hin­durch, die Zayl mit den qualvollen Erinnerungen ihrer einstigen Insassen überfielen. Diesmal schottete er sich sofort gegen sie ab.

»Verdammt, wie ich diese Stimmen hasse«, murmelte sein Begleiter.

Zayl reagierte überrascht. »Ich wusste nicht, dass Ihr sie so deutlich hören könnt.«

»Ich verrate Salene schon nicht alles. Warum sollte ich Euch alles erzählen?«

Sardak war eindeutig für Magie viel empfänglicher, als er nach außen hin zeigte. Es war fast so stark wie bei Salene. Zayl hätte ihm gern einige Fragen gestellt, doch in dem Moment nahmen seine geschulten Ohren ein tiefes, fast unhörbares Geräusch wahr. Anders als zuvor handelte es sich nicht um das Wehklagen eines vor langer Zeit gestorbenen Gefangenen. Es war ein Sum­men, und im nächsten Moment erkannte der Rathmaner die Melodie.

»Humbart?«, rief er. Der Summen verstummte, aus dem Korridor vor ihnen kam

der Ruf: »Zayl! Jüngelchen! Dem Himmel sei Dank!« Als sie um die nächste Ecke bogen, gelangten sie zu der Tür,

die in die Gruft führte. Sie war verschlossen, doch davor lag eine große schwarze Gürteltasche, in der sich ein Objekt befand, das die Größe einer Melone hatte – oder eines Schädels.

Zayl nahm die Tasche hoch und machte sie auf. Die leeren Augenhöhlen des Schädels schienen ihn anzustrahlen.

»Ich dachte schon, man hätte mich hier unten für alle Zeit ver­

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vergessen«, erklärte die hohl klingende Stimme. »Ich dachte, die Wachen würden nach dir und ihr suchen wollen, aber die sind nicht hier aufgetaucht. Wenn sie mich gefunden hätten, wären diese elenden Narren sicher auf die Idee gekommen, sie müssten mich zurück in die Gruft bringen! Hah! Kannst du dir etwa vor­stellen, dass diese alten Knochen eine angenehme Gesellschaft sein könnten?«

»Ganz ruhig, Humbart! Was ist mit Salene? Was ist gesche­hen?«

»Das Mädchen war völlig aufgelöst, Jüngelchen, das sage ich dir. Die Lady legte mich da hin, und dann ging sie ohne mich in die Gruft. Ich habe versucht, sie zu rufen, aber entweder hat sie mich nicht gehört, oder sie hat einfach nicht auf mich geachtet. Aber nachdem sie diesen Torion hatte erstarren lassen, war sie ...«

Zayl sah kurz zu Sardak. »Was hat sie gemacht?« Ihr Bruder erwiderte nichts, während der Schädel unüberhör­

bar erfreut war, eine Erklärung abliefern zu dürfen. Der Nekro­mant hörte aufmerksam zu und war zugleich erfreut und entsetzt über die Schilderung.

Salenes Fähigkeiten manifestierten sich immer stärker, doch ihre mangelnde Übung im Umgang mit ihnen brachte sie in Ge­fahr. Trotzdem vermutete er, dass Torions Zustand nur von vo­rübergehender Dauer war. Als er es den anderen sagte, machte Humbart einen bestätigenden Laut, und Sardak atmete erleich­tert aus.

»Da ist noch was«, murmelte der Schädel. »Ich meine, ich hät­te sie mit jemandem reden gehört. Mit jemandem, den sie kann­te.«

»In der Gruft?« Sardak stöhnte auf. »Verdammt!«

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Zayl vergeudete keine Zeit, sondern steckte den Schädel zu­rück in die Tasche und befestigte sie an seinem Gürtel.

»Komm bloß nicht ebenfalls auf die Idee, mich hier draußen liegen zu lassen«, meldete sich Humbart mit erstickter Stimme zu Wort.

Sardak zog die Eingangstür mit einer Entschlossenheit auf, die es mit dem verstorbenen Polth hätte aufnehmen können. Dann begab sich die Gruppe ins erste Untergeschoss.

»Ich dachte, der Gestank wäre schlimmer«, kommentierte Sar­dak und warf einen Blick auf die Namen einiger Verstorbener. »Alles rechtmäßig in der Familie Geborene! Ohne Salene wäre ich nicht mal würdig, bei den Bediensteten bestattet zu werden.« Er kniff den Mund zusammen. »Wenn sich herausstellt, dass Lord Jitan sie in seiner Gewalt hat, werde ich ihm die Augen ausstechen und sie an einen Wendigo verfüttern!«

Der Nekromant zog die Brauen zusammen, doch Sardak be­kam davon nichts mit. Zwischen Lord Jitan und Karybdus gab es ganz eindeutig eine Verbindung, Zayl wusste bloß noch nicht, wie sich diese Verbindung gestaltete. Er hatte sich nicht die Mü­he gemacht, von seiner zurückgekehrten Erinnerung zu berich­ten. Seine Absicht war, seinem Widersacher erst dann gegenü­berzutreten, wenn Sardak und Salene weit weg und damit in Sicherheit waren. Von Sardak erwartete er nur, dass der die Edel­frau so weit wie möglich aus der Gefahrenzone brachte. Gegen den anderen Nekromanten würde Salenes Bruder keine Chance haben.

Allerdings standen Zayls Chancen gegen Karybdus auch nicht sonderlich gut.

Sardak stieß einen Fluch aus, fuchtelte mit der Fackel und fragte: »Sind das die Dinger, von denen sie zuvor angegriffen

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wurde?« »Ja.« Die Kadaver der Spinnenbestien lagen reglos da und ver­

rotteten. Bewegung kam nur in sie, sobald Ratten und ähnliche Tiere sich an ihren Leiber gütlich taten. Zayl suchte die Umge­bung ab, konnte aber nichts spüren.

Doch ... da war eine andere Präsenz. Schwach, aber vertraut. Noch während er sie wahrzunehmen begann, wurde sie deutlich stärker, als würde sie von seiner Gegenwart angezogen.

Vor ihnen nahm Polths Schatten Gestalt an. Rathmaner ..., ertönte eine Stimme in Zayls Kopf. Der Nekromant antwortete nicht sofort, da er zunächst

sicherzustellen versuchte, ob er wirklich das sah und fühlte, was er glaubte. Nekromanten konnten einen Schatten sagen und tun lassen, was sie wollten. Erst als er überzeugt war, dass es sich wirklich um Polth allein handelte, antwortete er.

»Warum seid Ihr noch hier, Leibwächter? Eure Pflicht im Le­ben habt Ihr erfüllt. Ihr solltet weiterziehen, so wie es alle ma­chen.«

Versagt ... im Leben ... und im Tod ... »Wie meint er das?« Die Frage kam von Sardak. Die Tatsache, dass er der Fragende

war, versetzte Zayl abermals in Erstaunen. Er würde mit Sardak noch in Ruhe über dessen Fähigkeiten sprechen müssen, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Im Augenblick jedoch galt seine ganze Aufmerksamkeit dem Geist. »Redet Ihr von Salene? Ist sie ... nicht mehr unter uns?«

Zur Erleichterung der beiden Männer schüttelte Polth den Kopf und zeigte dann nach unten. Schickte sie hin ... für die Wahrheit ... wusste nicht ... wusste nicht, dass er dort ist! Wuss­te nicht ... habe versagt ...

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Der Geist verblasste fast völlig, so sehr machte ihm zu schaf­fen, was seiner Herrin widerfahren war. Zayl dachte über die Worte nach, um zu verstehen, was Polth meinte.

»Ist sie in der Gruft für die Dienerschaft?« Sardak packte Zayl am Ärmel. »Kommt schon, verdammt! Vielleicht ist sie ver­letzt!«

Als sich der Nekromant nicht rührte, lief Sardak ohne ihn los. Zayl sah, dass Polth den Kopf schüttelte. Wenn Salene nicht im nächsten Untergeschoss war, wo dann? Etwa in der alten Gruft darunter? Oder womöglich noch tiefer?

Er wollte den Schatten fragen, doch der tote Leibwächter hatte seine Zeit aufgebraucht und war wieder verschwunden. Der Rathmaner eilte Sardak hinterher und hoffte, dass der nicht gera­dewegs in eine Katastrophe lief.

Sardak war bereits ein Stockwerk tiefer, als Zayl an der Treppe ankam. Der Nekromant nahm zwei Stufen plötzlich und folgte dem flackernden Lichtschein der Fackel.

Unten angekommen fand er seinen Begleiter vor einem Loch im Boden stehen, das eindeutig die Folge eines früheren Einstur­zes war. Zayl beugte sich vor und betete zu Trag’Oul, dass für Salene noch nicht die Zeit gekommen war, auf die nächste Ebene zu wechseln.

»Sie ist nicht tot«, flüsterte Sardak. »Das würde ich spüren. Ich weiß es. Reicht das bis hinunter in die alte Gruft?«

»Weiter, viel weiter sogar.« Zayl setzte sich so, dass seine Bei­ne in das Loch ragten.

»Was habt Ihr vor?« Der Nekromant bemerkte Sardaks Blick. Der Mann war um

seine Schwester besorgt, nicht um ihn. »Geht wieder nach oben. Von hier an muss ich allein weitermachen. Es ist noch schlim­

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mer, als ich es mir vorgestellt hatte.« »Ich werde sie nicht im Stich lassen!« »Hört mir zu! Unter dem Nesardo-Anwesen sind uralte Kräfte

am Werk. Dies hier war früher ein anderer Ort, ein Ort, an dem Blutopfer dargebracht wurden. Ich spüre es, und ich glaube, Ihr spürt es auch.«

Sardak presste die Lippen zusammen. »Na und? Nichts ist mir wichtiger als Salene. Entweder Ihr springt als Erster, oder Ihr macht Platz, damit ich es tun kann!«

»Sardak ...« Ohne Vorwarnung versetzte Zayls Gefährte ihm einen Hieb

mit dem Handrücken, der zwar nicht genügte, um den Nekro­manten zu verletzen. Doch Zayl verlor dadurch fast die Balance.

Dieser kurze Moment genügte Sardak, um in das Loch zu springen. Zayl streckte noch eine Hand nach dem Mann aus, doch es war bereits zu spät. Er hörte Sardaks Fluchen erst leiser werden, dann kehrte völlige Stille ein.

Der Rathmaner umschloss fest das Heft seines Dolchs. »Mach dich bereit, Humbart.«

»Und wie?«, gab der Schädel murrend zurück. Zayl sprang ebenfalls in das Loch. Beim Sturz in die Tiefe prallte er immer wieder von den

schroffen, unebenen Wänden ringsum ab. Einige Male hätte sich der Nekromant schwere Verletzungen zugezogen, wäre er nicht durch seinen Mantel geschützt gewesen. Er fragte sich, wie es Sardak erging, der keinen solchen Schutz besaß, und er verfluch­te den Mann für seinen Leichtsinn.

Als es bereits so schien, als würde der Sturz niemals enden, fand sich Zayl mitten in einem weitläufigen Raum wieder. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich so zu drehen, dass er nicht mit dem

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Kopf voran aufschlug. X’y’Laq hatte bei den schützenden Runen zwar die Anweisungen aufs Wort befolgt, doch der Dämon war gerissen genug, immer noch einige Fehler einzubauen.

Kräftige Hände packten Zayl an den Schultern, dann zog Sar­dak ihn hoch. Von einer Prellung an der rechten Wange und einer Schnittwunde an einer Hand abgesehen wirkte Salenes Bruder unversehrt.

»Was macht Euer Kopf?«, fragte Sardak hastig. »Alles in Ord­nung?«

»Ja, und Euch scheint es auch nicht schlechter ...« Sardak schnitt ihm das Wort ab. »In manchen Dingen hatte

ich schon immer Glück, das wisst Ihr! Könnt Ihr Eure Zauber wirken?«

Zayl runzelte die Stirn. »Ja, aber warum fragt Ihr?« Der Begleiter des Nekromanten zeigte über dessen Schulter.

»Weil ich glaube, dass mein Schwert allein gegen diese Meute nicht ausreichen wird.«

Zayl drehte sich um und erblickte eine schattenhafte Gruppe von Gestalten, die allesamt Gewänder trugen und sich ihnen langsam, aber beständig näherten. Es waren ihre Bewegungen, die den Rathmaner irritierten. Er hob den Dolch hoch und ließ ihn in einem helleren Licht erstrahlen.

Im Schein dieses Lichts konnte Zayl die Gesichter der Toten sehen.

»Mein Gott!«, stieß Sardak aus. »Die sind ja noch widerlicher, als ich dachte!«

Die Toten zählten nach Dutzenden, und in einiger Entfernung waren weitere Schemen zu erkennen. Dass sich an ihnen noch Reste von Fleisch hielten, war ein Zeichen für die Macht, der sie gedient hatten ... und für die andere Kraft, die sie nun hatte auf­

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erstehen lassen. Karybdus. Zayl fühlte, dass der andere Rathmaner hier gewesen war ...

was zudem bedeutete, dass er Salene vermutlich längst in seine Gewalt gebracht hatte. Offenbar hatte er auch damit gerechnet, dass Zayl ihm folgen würde. Und marionettengleich hatte er das auch tatsächlich getan.

»Irgendeine Idee, Zauberkundiger?« Zayl wirkte sofort den Zauber für die Zähne von Trag’Oul.

Die spitzen Projektile nahmen mitten in der Luft Gestalt an, dann schossen sie mit erschreckender Präzision auf ihre Ziele los.

Doch kurz bevor sie die ersten der verwesten Ghule erreicht hatten, verschwanden sie wieder.

»Bei den Verfluchten Augen von Barabas!« »Damit habt Ihr wohl nicht gerechnet, wie?«, knurrte Sardak

und hielt sein Schwert so fest, dass die Knöchel weiß hervortra­ten.

Zayl hätte damit rechnen müssen, dass Karybdus Gegenmaß­nahmen ergreifen würde, um seinen Zauber wirkungslos zu ma­chen. Wieder hatte der jüngere Nekromant seine Einfältigkeit unter Beweis gestellt.

Als sich die Untoten weiter näherten, fiel Zayl noch ein ungu­tes Zeichen auf. Die Fetzen ihrer Kleidung verrieten, dass sie alle zusammengehörten, denn jedes Gewand war noch so gut erhal­ten, dass darauf das Spinnensymbol zu erkennen war. Das Sym­bol wurde von der glitzernden Riesenspinne verstärkt, die von der Decke herabhing und in den Schein des Dolchs getaucht war. Auch wenn sie nur aus Juwelen und Kristallen geschaffen war, wirkte sie doch ausgesprochen lebendig.

Plötzlich kam die abscheuliche Horde zum Stehen. Die Gestalt

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in der vordersten Reihe streckte eine knochige Hand aus. Wir haben auf Eure Rückkehr gewartet, Meister ... kommt,

schließt Euch uns an ... schließt Euch uns an ... Es war die Stimme eines der verwesenden Priester aus Zayls

Traum. Er und die anderen Toten bedeuteten dem Nekromanten, zu ihnen zu kommen.

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»Kennt Ihr diese Horde?«, rief Sardak erschrocken aus. »Nur aus meinen Alpträumen.« Zayl hielt den Dolch vor sich,

um die Untoten wenigstens für einen Moment aufzuhalten. »Bleibt hinter mir.«

»Ich hatte auch nicht vor, irgendwo anders hinzugehen.« Aus der Gürteltasche tönte Humbart: »Was ist denn da drau­

ßen los, Jüngelchen?« »Das wollt Ihr lieber gar nicht wissen«, erwiderte Sardak, wor­

aufhin der Schädel in Schweigen verfiel. Der Priester schenkte Zayl ein grausiges Lächeln. Kommt,

Meister! Eure treuen Schüler erwarten Euch! Um seine Aussage zu unterstreichen, knieten bis auf ihn alle

nieder und begannen, immer und immer wieder monoton ein Wort zu singen.

Astrogha ... Sardak beugte sich vor. »Was meinen sie damit? Was ist ein

Astrogha?« Zayl deutete auf die riesige Spinne über ihnen. »Das da, würde

ich sagen.« »Und warum singen sie Euch an?« Der Rathtnaner schüttelte den Kopf. »Ich habe eine Vermu­

tung, aber ich möchte sie lieber nicht aussprechen.« »Wenn das Leben meiner Schwester davon abhängt ...« Der Ghul unmittelbar vor ihnen griff in sein Gewand, dann

zog er aus einer breiigen Masse aus Innereien und Knochen den gekrümmten Dolch hervor, den der Nekromant in seinem Traum

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gehalten hatte. Meister, wenn Ihr die Opferung vollendet, werdet Ihr endlich

ein Ganzes sein ... »Ich bin schon ein Ganzes, vielen Dank. Es wird Zeit für euch

alle, ins Grab zurückzukehren.« Zayl hielt seine eigene Klinge ausgestreckt. »Zurück ins Grab mit euch, mit euch allen!«

Wieder kam als Antwort das makabre Lächeln. Aber das kön­nen wir nicht ... nicht ohne Euch ...

»Das gefällt mir gar nicht, Zauberkundiger.« Zayl, der Sardaks Meinung teilte, murmelte: »Haltet die

Schwertspitze an die meines Dolchs.« »Wie? Warum?« »Macht, was ich sage, wenn Euch das Leben Eurer Schwester

lieb ist. Von Eurem eigenen ganz zu schweigen!« Sardak gehorchte so hastig, dass er dem Rathmaner fast noch

den Zeigefinger abgetrennt hätte. Als sich die Klingen berührten, sprang das Leuchten von der elfenbeinfarbenen Klinge auf die Schwertspitze über und hüllte dann Sardaks Waffe vollständig ein.

Er betrachtete die veränderte Klinge. »Mich trifft der Schlag!« »Das könnte durchaus passieren, wenn wir das hier nicht

überleben.« Die Untoten hatten sich inzwischen wieder aufgerichtet. Der

Priester runzelte die Stirn, so gut ihm das mit seinem verwesten Gesicht noch möglich war. Meister, Ihr seid der Auserwählte ... Ihr könnt nicht Eure Bestimmung verleugnen ... und wir werden das auch nicht zulassen.

Zayl hätte gern gefragt, was diese Bestimmung im Detail für ihn vorsah, doch plötzlich machte der Priester einen Satz nach vorn, und im gleichen Augenblick stürmten auch die anderen

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hinterher. »Verdammt und nochmals verdammt!«, fluchte Sardak. Die Klauenhände der Ghule griffen nach ihnen und ließen den

Nekromanten erneut an seine Erlebnisse in Ureh denken. Zayls Miene verhärtete sich.

»Nicht schon wieder«, murmelte er. »Niemals wieder!« Dann holte der Rathmaner aus. Karybdus konnte die Kreaturen gegen viele Zauber schützen,

aber es gab keinen Weg, sie auch vor der Macht zu schützen, die der Dolch besaß. Vom Drachen gesegnet, war diese Waffe für jeden Nekromanten die erste und die letzte Wahl. Als der Prie­ster ihm zu nahe kam, war es die Elfenbeinklinge, die sich durch sein Gewand und in seine Rippen fraß.

Mit einem unmenschlichen Keuchen fasste der untote Priester nach der Stelle, an der er getroffen worden war, dann zog er sich in die Menge zurück. Andere Untote rückten begierig auf seinen Platz nach, ohne davon Notiz zu nehmen, was sich soeben zuge­tragen hatte. Zayl gefiel es, ihnen zu zeigen, was sie versäumt hatten. Er durchschnitt bei zwei Ghuls die Kehlen und rammte einem anderen die Klinge in die Brust.

Der starken Magie der Waffe ausgesetzt, starben die Ghule genauso, wie Menschen gestorben wären. Sie sackten in sich zusammen und wurden von den Nachrückenden niedergetram­pelt.

Zayl hatte damit gerechnet, Sardak verteidigen zu müssen, doch der war im Umgang mit dem Schwert höchst geschickt. Er führte einen Schlag nach dem anderen, trennte Häupter und Gliedmaßen ab und fällte dabei mindestens so viele Gegner wie Zayl, möglicherweise sogar noch mehr.

Doch der Ansturm schien nicht abzuebben. Alle Ghule wiesen

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Spuren auf, die für einen gewaltsamen Tod sprachen. Der Nekromant konnte nur mutmaßen, dass die Feinde ihres »Got­tes« sie so zugerichtet hatten. Karybdus hatte ihren Durst nach Rache benutzt, um sie auferstehen zu lassen. Dass er so viele von ihnen den Gräbern hatte entsteigen lassen, sagte einiges darüber aus, wo die Grenzen seiner Fertigkeiten lagen – sofern solche Grenzen überhaupt existierten.

Doch wenn Karybdus für ihre Auferstehung verantwortlich war, warum beharrten sie dann darauf, Zayl als Meister zu be­zeichnen?

Die Frage geriet in Vergessenheit, als immer mehr Untote auf das Paar zuströmten. Zayl hieb und stach nach ihnen, und ob­wohl er einen Gegner nach dem anderen ausschaltete, nahmen die Attacken kein Ende.

»Es werden immer mehr!«, rief Sardak, der gerade einen wei­teren skelettierten Alptraum enthauptete. Als die Hände des Kopflosen weiter nach ihm zu greifen versuchte, trennte er sie beide an den Handgelenken ab. Dann trat er den fuchtelnden Torso zurück in die Menge.

»Kämpft weiter! Lasst nicht nach!« Zayl überlegte ange­strengt, was er unternehmen konnte, um die Horde von Sardak und sich abzulenken.

Sein Blick wanderte zu der riesigen Spinnenstatue, die von der Decke herabhing.

»Rathma, führe meine Hand ...« Er holte mit dem Dolch in weitem Bogen aus und trieb Karybdus’ höllische Gefolgsleute kurzzeitig zurück.

Die Augen auf die Spinne und vor allem auf deren oberen Teil gerichtet, setzte der Nekromant zu einer Beschwörung an.

Die Den’Trag – die Zähne von Trag’Oul – bildeten sich erneut

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in der Luft, doch diesmal richtete Zayl sie nicht gegen die Unto­ten, sondern zielte mit den Geschossen auf die Spinne.

Etliche Projektile trafen den Edelsteinleib und prallten ab, doch das störte Zayl nicht. Der Leib war nicht das eigentliche Ziel seines Zaubers.

Karybdus hatte die Untoten vor den meisten Zaubern ge­schützt, die der Nekromant beherrschte, aber er hatte es ver­säumt, auch den Tempel zu schützen. Die alten Ketten, so ge­schmiedet, dass sie wie ein Spinnennetz aussahen, hatten jahrhundertelang der Natur getrotzt, doch den mystischen Zäh­nen waren sie schutzlos ausgeliefert. Das Sperrfeuer riss an den Gliedern und zerfetzte so viele von ihnen, dass das Gewicht der Statue nicht länger gehalten werden konnte.

Von einem gewaltigen Ächzen und dem Geräusch gesprengter Ketten begleitet, löste sich die rechte Hälfte aus ihrer Befestigung und schwang wie ein Pendel durch die Höhle.

Die Reaktion der Untoten erstaunte sogar Zayl. Zunächst blie­ben sie alle stehen, als sei der Zauber erloschen, der sie in Gang gesetzt hatte. Als dann die Spinne mit der Höhlenwand kollidier­te, setzten die Ghule zu einem wehklagenden Heulen an.

Zayl packte den verblüfften Sardak am Arm und rief ihm zu: »Jetzt! Jetzt!«

Große Steinbrocken und Erde regneten auf die untote Horde und das herab, was vermutlich früher einmal ihr geheimer Tem­pel gewesen war. Eine Bankreihe nach der anderen wurde zer­schmettert, Scharen von Untoten wurden unter den Massen begraben, dennoch blieben immer noch etliche von ihnen unver­sehrt.

Doch sie alle heulten weiter, um ihrer Trauer über die Zerstö­rung des Götzenbilds Ausdruck zu verleihen.

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Die Kollision war auch für die Spinne zu viel. Die hintersten Beine brachen als Erste ab und stürzten mitten in den Tempel. Ein steinerner Altar, dessen blutige Vergangenheit der Nekro­mant nur zu gut spürte, zerbarst in tausend Stücke.

Ein weiteres Bein brach ab, ein Teil davon fiel in die klagende Menge, der andere wurde über Zayl und Sardak hinweggeschleu­dert und krachte gegen die andere Höhlenwand. Diese ließ gleichfalls Felsbrocken und Erde niederregnen.

Ein Zittern durchlief die Höhle, und Salenes Bruder rief: »Das Ganze hier wird jeden Moment einstürzen, Zauberkundiger!«

»Wir müssen den Tempel durchqueren! Ich glaube, dort ge­langen wir hinaus!«

»Ihr ›glaubt‹?«, wiederholte Sardak fassungslos. Plötzlich schlug ihn eine der Gestalten ins Gesicht und schleu­

derte ihn zu Boden. Der Rathmaner wirbelte herum und sah sich dem Priester gegenüber.

Entweihung!, rief der Ghul. Blasphemie! Ihr könnt nicht wirklich sein Werkzeug sein! Ihr seid einer solchen Ehre unwür­dig! Ich werde es nicht gestatten!

Er zog das Opfermesser und holte aus, doch Zayls Rechte be­kam das knochige Handgelenk des Priesters zu fassen. Die beiden Kämpfer waren nur wenige Zoll voneinander entfernt, doch für den Nekromanten war der faulige Gestank vertraut, den der Untote absonderte, sodass er ihm nichts ausmachen konnte.

»Wo ist sie?«, wollte Zayl wissen. »Ist sie bei Karybdus? Wo­hin hat dein Meister die Frau gebracht?«

Mein Meister ist Astrogha. Ich habe keinen anderen Herrn! Der Rathmaner unternahm einen neuen Anlauf. »Ich sprach

von Karybdus. Wo ist der andere Nekromant?« Dort, wo der Mond entsteht ... verkündete der Priester stolz.

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Er bereitet die Rückkehr meines Herrn vor. Das Werkzeug, das für die Rückkehr meines Herrn ausgewählt wurde, wird keine so wunderbare Opfergabe sein, aber es wird ihm besser dienen als Ihr!

Der Untote holte Luft, obwohl es für jemanden in seinem verwesten Zustand völlig unnötig war. Zayl nutzte den Moment, um sich loszureißen.

Aus dem Mund seines Gegenübers schossen plötzlich Hunder­te von schwarzen Spinnen. Die Ersten von ihnen, die auf Zayl landeten, verbissen sich sofort in seinem Mantel.

Doch jede von ihnen nahm schnell eine blasse Weißfärbung an und zerfiel zu Asche. Das hielt jedoch die Nachfolgenden nicht ab, die sich ebenfalls durch den Stoff zu beißen versuchten. Der Mantel zischte an den Stellen, an denen sie zubissen, was ein deutliches Zeichen für das Gift war, das sie dabei verspritzten.

Der groteske Priester atmete wieder tief ein, doch dann kam nur ein erstauntes Röcheln aus seinem Mund – und ein paar schlaffe Spinnen. Er sah an sich hinab auf seine Brust, aus der eine schimmernde Schwertspitze ragte.

Sardak zog seine Klinge heraus, die durch Zayls Zauber noch immer gestärkt war.

»Das ist für Salene«, zischte er. Der Ghul sank auf die Knie, der Kopf kippte zu einer Seite weg

und löste sich mit einem Knacken vom Rumpf. Die Arme fielen zu Boden, dann sackte der Rest in sich zusammen, bis nur noch ein Haufen

Knochen dalag, dazu ein wenig ausgetrocknetes Fleisch und Stoffreste.

Zayl warf Sardak einen dankbaren Blick zu und schüttelte die restlichen Spinnen ab, die alle gestorben waren, als der Priester

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aufhörte zu existieren. Die beiden Männer liefen vorbei an den Steinbänken und vor­

bei an etlichen heulenden Ghulen. Keiner von ihnen unternahm einen ernsthaften Versuch, die zwei aufzuhalten. Bekämpfen mussten sie nur jene, um die sie keinen Bogen machen konnten. Die meisten waren mit einem Hieb von Zayls Dolch oder Sardaks Schwert erledigt.

Um sie herum nahm das Chaos immer größere Ausmaße an, da sich weitere Felsbrocken lösten und zu Boden stürzten. Aber auch wenn die Untoten im Augenblick kein Problem für die bei­den Männer darstellten, gab es etwas anderes, dem sie sich nicht entziehen konnten – egal, wohin sie auch blickten, keiner von ihnen vermochte den Ausgang zu entdecken.

»Er muss hier sein«, beteuerte Zayl. »Die Logik verlangt es!« Sardak berührte mit der Schwertspitze den massiven Fels.

»Aber alles hier ist real. Vielleicht sind diese Verrückten alle hier gestorben, weil es keinen verdammten Fluchtweg gibt!«

Der Rathmaner konnte das nicht glauben. Zumindest die Ho­hepriester mussten über einen Weg in die Freiheit verfügen, selbst wenn sie keine Gelegenheit bekommen hatten, ihn zu benutzen.

Natürlich! Er hatte die Höhle aus dem Blickwinkel der An­hänger dieses Kults betrachtet, dabei waren sie nur durch einen Zauber auferstandene Tote. Karybdus war aber derjenige, der das Ganze geplant hatte, also würde er auch dafür gesorgt haben, dass Zayl nicht die Wahrheit sah, sollte er den Angriff der unto­ten Horde überleben.

Was Zayl mit den Wachen im Haus gemacht hatte, war ihm nun selbst durch Karybdus’ Hand widerfahren. Der hatte mit einer Variation des Blindheitszaubers gearbeitet, sodass beide

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Männer getäuscht worden waren. Zayl war zutiefst beeindruckt von den Fähigkeiten des anderen Nekromanten.

»Tretet zurück, Sardak.« Sein Begleiter gehorchte, während Zayl den Dolch hob und

dann den Gegenzauber sprach, um die Blindheit aufzuheben. Hinter ihm sagte Sardak plötzlich: »Zauberkundiger ... sie ha­

ben zu heulen aufgehört.« Das konnte nur bedeuten, dass die Untoten sich neu formier­

ten. In wenigen Minuten würden sie wieder auf sie losstürmen ... Dort! Der Nekromant nahm den gewirkten Zauber wahr.

»Hier lang, Sardak! Schnell!« »Ihr werdet noch dagegenlaufen, wenn Ihr nicht ... Mich trifft

der Schlag!« Der Ausruf galt Zayl, der aus Sardaks Sicht einfach in der

Felswand verschwunden war. Einen Atemzug später fand sich der Nekromant in einem alten

Tunnel wieder. Nachdem er festgestellt hatte, dass dort keine unmittelbare Gefahr drohte, drehte er sich nach Salenes Bruder um.Zum Glück tauchte der in diesem Augenblick hinter ihm im Tunnel auf. Er blieb stehen und tastete seinen Oberkörper ab, als überrasche es ihn, unversehrt zu sein. »Ein netter Trick.«

»Das Werk des Mannes, den wir suchen. Karybdus.« »Er hat Salene? Nicht Jitan?« »Ich nehme an, die beiden sind gemeinsam anzutreffen.« Zayl

betrachtete die Wand, durch die sie gekommen waren. Nichts deutete darauf hin, dass die Ghule sie verfolgten. Wie erhofft, konnten sie die Wahrheit ebenfalls nicht sehen.

»Lassen wir diesen Haufen einfach so zurück? Was ist, wenn sie beschließen, sich an die Oberfläche zu begeben?«

Ein Poltern erschütterte den Tunnel, das vom Mittelpunkt der

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rückwärtigen Höhle ausging, die sie beide soeben hinter sich gelassen hatten. »Das ist kaum zu befürchten. Die Höhle stürzt weiter ein, sie wird viele von ihnen unter sich begraben. Außer­dem nehme ich an, dass sie nur meinetwegen aus ihren Gräbern geholt wurden. Da ich nicht mehr da bin, werden sie wohl bereits dorthin zurückkehren.«

»Dem Himmel sei Dank!« Als Sardak das sagte, überkam Zayl ein eigenartiges Gefühl,

das ihn dazu veranlasste, hinter sich zu schauen. Der Tunnel war jedoch nach wie vor leer.

»Stimmt irgendetwas nicht?« Zayl machte sich nicht die Mühe, den anderen zu fragen, ob er

etwas gesehen hatte. Der Nekromanten führte das Gefühl auf seine wachsende Sorge zurück, was mit Salene war. So viele kostbare Minuten waren vergeudet worden ...

Aber war das wirklich der Fall? Was wusste er über den Spin­nenmond? Nach dem Traum und anderen Bruchstücken zu urtei­len, war seine wahre Natur verwirrend, doch wenigstens zum Teil hatte er etwas mit einer bestimmten Phase der Nacht zu tun. So hatte sich zumindest der untote Priester geäußert.

Wenn sich Zayl nicht irrte, war der Anbruch der Nacht noch einige Stunden entfernt.

»Ich glaube, wir sind noch nicht zu spät dran«, ließ er Sardak wissen. »Trotzdem müssen wir uns beeilen.«

»Und wohin müssen wir?« »Das weiß ich noch nicht, aber ich habe eine Idee, wie wir die

Antwort auf diese Frage finden können.« Aus der Gürteltasche meldete sich eine erstickte Stimme. Zayl

blieb stehen, öffnete sie und nahm den Schädel von Humbart Wessel heraus.

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»Bin ich froh, dass das vorüber ist«, erklärte er dumpf. »Und was bin ich froh, dass ich das alles nicht mitansehen musste!«

»Wolltest du irgendetwas, Humbart? Dann sprich.« »Ich wollte dich nur daran erinnern, dass du sie eher finden

wirst, wenn du mich benutzt. Schon vergessen?« »Ihn benutzen?« Sardak sah die beiden zweifelnd an. »Was

wollt Ihr machen? Ihn auf den Boden legen und ihn dann schnuppern lassen wie einen Hund?«

Der Schädel lachte. »Ja, so etwas in der Art, Jüngelchen.« Zayl war davon nicht sehr angetan. »Bist du dir sicher, Hum­

bart? Als ich den Zauber das letzte Mal benutzt habe, hat es dich beinahe dein Leben gekostet. Es gibt andere Methoden ...«

»Die dauern alle zu lang, oder sie sind nicht präzise genug! Hör zu. Ich werde nicht zulassen, dass diese feine Dame für ir­gendeinen Möchtegern-Spinnengott abgeschlachtet wird, wenn ich es irgendwie verhindern kann! Was denkst du, was für ein Mann ich bin?«

»Ein toter?«, warf Sardak ein. »Tu es, Zayl. Ich werde es schon überstehen.« Der Rathmaner diskutierte nicht länger mit ihm. »Die Ent­

scheidung liegt bei dir.« Er kniete sich im Tunnel hin und legte den Schädel so, dass er

in die Richtung blickte, in die sie gehen mussten. Zayl hielt den Dolch hoch über den Überrest von Humbart und zeichnete mit ihm das Symbol eines Drachenauges.

»Zeig uns den Weg, Rathma«, sagte Zayl leise, »denn es ist für das Gleichgewicht unverzichtbar.«

Mit diesen Worten ließ er den Dolch niederfahren. Sardak hielt die Luft an, als die Klinge tief in die Schädeldecke

eindrang, die keinen Widerstand zu bieten schien. Der Dolch

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leuchtete hell auf, und im nächsten Augenblick hatte das Leuch­ten den gesamten Schädel eingehüllt.

Es war kein Zauber, den Zayl von seinen Meistern gelernt, sondern den er aus einer Notwendigkeit heraus selbst entwickelt hatte. Deshalb hegte er auch die Hoffnung, jeden magischen Schleier zu durchdringen, den sein Widersacher gewirkt hatte.

Der Schädel begann zu zittern, als versuche etwas in ihm, sich zu befreien. Aus den leeren Augenhöhlen trat ein grüner Licht­schein, der sich über einige hundert Schritte weit erstreckte.

In diesem Licht bildeten sich Konturen, die immer wieder für einen Moment verschwanden – zwei Silhouetten: eine in Schwarz gekleidete Gestalt und ... Lady Nesardo.

»Salene!« Sardak griff nach dem am nächsten stehenden Bild, doch seine Finger glitten durch den Arm seiner Schwester.

Zayl betrachtete zunächst eingehend die Edelfrau, um sich ein Bild von ihrer Verfassung zu machen. Die in kurzen Abständen aufflackernden Gestalten zeigten, dass sich Salene in Trance zu befinden schien. Ihr Gesicht war blass, die Arme baumelten schlaff herab, ihre Augen blickten starr geradeaus. Der Nekro­mant verurteilte diesen Missbrauch des Wissens, das Rathma und Trag’Oul gewährt hatten, und so wanderte sein wütender Blick zu dem Mann, der Salene in seiner Gewalt hatte.

Von seinem legendären Widersacher hatte er immer nur Be­schreibungen gehört, doch es gab keinen Zweifel, dass er es mit Karybdus zu tun hatte. Das kurze, graue Haar, die weise, nach­denkliche Miene, dazu die Rüstung aus Knochen und Metall, die der Rathmaner eigenhändig für die epische Schlacht gegen den Vizjerei Armin Ra gefertigt hatte.

Die Bilder verschwanden und wurden ein paar Schritt weiter von anderen ersetzt, die auch das Paar zeigten. Sie sahen fast

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identisch aus, da sie zeigten, wie Karybdus sorglos vorausging, gefolgt von einer gehorsamen Salene, die nicht Herrin ihres Wil­lens war.

Zayl hob den Schädel auf und zog den Dolch heraus. Trotz der Trennung leuchtete Humbart nach wie vor, und das Licht, das aus seinen Augenhöhlen strömte, zeigte weiterhin eine Abfolge von Darstellungen.

»Kommt«, sagte der Zauberkundige. Sardak ging bedächtig neben Zayl her, während der weiter den

Schädel vor sich hielt. Alle paar Sekunden tauchte vor ihnen ein Bild von Salene und Karybdus auf. So besorgniserregend diese kurzen Szenen auch waren, hatten sie auf die beiden Männer doch eine beruhigende Wirkung. Es gab keine Veränderung, stattdessen gingen die beiden einfach immer weiter durch den Tunnel.

»Ich dachte, Eure Art werde falsch eingeschätzt«, meinte Sale­nes Bruder mit einem zornigen Blick auf Karybdus. »Habt Ihr nicht meiner Schwester gegenüber behauptet, Euresgleichen wäre nicht bösartig?«

»Karybdus’ Handeln folgt nicht Rathmas Lehren, wie ich sie kenne. Sein Verhalten ist eine Abweichung von der Regel. Ich muss deshalb annehmen, dass er jener Finsternis zum Opfer gefallen ist, deren Bekämpfung er sich ursprünglich verschrieben hatte.«

»Er ist ein ›Opfer‹?« Der Rathmaner nickte nachdrücklich. »Es muss so sein.« Sardaks Schnauben war ein klarer Hinweis darauf, dass er da­

von keineswegs überzeugt war. Sie folgten dem Tunnel für mehr als eine Stunde, wenn Zayls

Schätzung richtig war. Sardak war genau wie er selbst auch der

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Meinung, dass sie die Stadtmauern längst hinter sich gelassen haben mussten, doch ein Ende des Weges war noch immer nicht in Sicht.

Dann jedoch spürte Zayl, dass ihnen ein leichter Luftzug ent­gegenwehte. »Wir nähern uns einem Ausgang, der nach draußen führt.«

Sardak griff nach seinem Schwert. Schließlich fanden sie sich in einem Wald wieder. Der Zugang

zur Höhle war über Jahrhunderte hinweg von Brombeersträu­chern und Erde überwuchert worden, sodass er inzwischen prak­tisch nicht mehr zu erkennen war. Zayl spürte zudem eine Tar­nung aus alten Schutzzaubern, die Karybdus offenbar aufgeho­ben hatte.

Sardak schaute sich um und fragte: »Haben wir noch Zeit, um Hilfe zu holen?«

»Ich fürchte nein. Seht Ihr?« Die neueste Szene zeigte, dass Karybdus sein Tempo be­

schleunigte, während Salene ihm einfach folgte. »Dann eben nicht.« Zayl legte eine Hand auf Sardaks Schulter. »Ich gebe Euch die

Chance, jetzt nach Hause zurückzukehren.« »Aber ihr könntet meine Hilfe gebrauchen, oder nicht?« »Ja. Jemand muss Salene wegbringen, so lange Karybdus abge­

lenkt ist.« Der andere Mann marschierte los. »Dann wollen wir keine

Zeit vergeuden.« Der Weg war durch den beständigen Regen rutschig gewor­

den, und beide Männer wären einige Male beinahe gestürzt. Einmal hätte Zayl trotz seiner hervorragenden Reflexe Humbart schon fast verloren gehabt und ihn nur in allerletzter Sekunde

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noch zu fassen bekommen. Sie befanden sich bereits tief im Wald, als die Bilder plötzlich

einfach verschwanden. »Was ist los?« Sardak drehte sich einmal um seine Achse.

»Wo ist das Nächste? Es muss ein Nächstes geben!« Der Schädel leuchtete noch, doch ganz gleich, in welche Rich­

tung Zayl ihn drehte, nirgends tauchte eine Darstellung von Salene auf.

Er wollte die Hoffnung gerade aufgeben, da blitzte ein Bild auf, das Karybdus zeigte.

Sardak sah es im gleichen Moment wie der Nekromant und sprach die Frage aus, die Zayl bereits durch den Kopf ging. »Sieht er etwa uns an?«

»Lauft!«, war das Einzige, was Zayl erwidern konnte. Aus dem Wald und sogar von den Baumkronen herab kamen

entsetzliche Kreaturen auf sie zugestürmt. Es war die gleiche Art wie die, gegen die sie in der Gruft gekämpft hatten, nur waren diese hier weitaus zahlreicher. Zayl schätzte sie auf ein Dutzend, doch nach dem Rascheln im Laub zu urteilen, musste die Zahl weit höher liegen.

Wie Katzen, die sich an ihre Beute heranschlichen, näherten sich die Kreaturen den beiden Männern. Sardak hatte sich Zayls Warnung zu Herzen genommen und befand sich bereits etliche Schritte vor dem schnelleren Rathmaner.

Ihre Verfolger sprangen von Ast zu Ast, hetzten über den Bo­den und bewegten sich mit weiten Sätzen von einem Baum­stamm zum nächsten. Bösartiges Fauchen begleitete die Verfol­gungsjagd, und immer wieder wurde ein Gestrüpp oder ein Bü­schel Gras dicht neben oder hinter den Flüchtenden von dem Gift getroffen, mit dem die Spinnenwesen auf sie zielten.

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»Ich dachte, Ihr hättet die meisten von ihnen getötet, Zauber-kundiger!«

»Dem Ehrgeiz eines anderen fallen immer viel mehr zum Op­fer!« Zayl war sich so gut wie sicher, dass es sich bei den Kreatu­ren um Lord Jitans Männer handelte, entweder treue Diener oder Söldner. Er erinnerte sich an die Spinnen, die auf den Köpfen der Kreaturen in der Gruft gesessen hatten. Hätte er Zeit gehabt, sich die Verfolger genauer anzusehen, wären sie bei ihnen sicherlich auch zu finden gewesen.

Eines der Geschöpfe ließ sich auf den Nekromanten fallen. Seine Klauen versuchten, den Stoff des schützenden Mantels zu zerfetzen. Zayl reagierte, indem er seinen Dolch durch den Para­siten und den Schädel des Monsters darunter jagte. Eine übelrie­chende, grünliche Flüssigkeit trat aus der Wunde aus, die aber zum Glück nur mit seiner Kleidung in Berührung kam.

Kaum hatte er sich eines Verfolgers erledigt, wurde er auch schon vom nächsten angegriffen, der den Nekromanten zu Boden riss. Einen Moment lang sah Zayl nichts anderes als die grässli­che Verschmelzung aus Mensch und Spinne vor sich. Von den Fangzähnen troff das Gift, und als ein wenig davon den Rathma­ner auf der Wange traf, brannte die Stelle wie Feuer.

Da diese Wesen wahrscheinlich so wie die Ghule durch Karyb­dus’ Magie geschützt waren, musste Zayl zu anderen Maßnah­men greifen. Er rammte die Finger einer Hand direkt gegen die Körperpartie, die die Kehle der Kreatur darstellen musste.

Kaum jemand hätte aus einer solchen Attacke einen Nutzen ziehen können, doch Rathmaner wurden in verschiedenen waf­fenlosen Kampftechniken ausgebildet. Sie waren auch mit den Funktionen des Körpers besser vertraut als viele andere, da sie die komplexen Zusammenhänge an Toten studierten.

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Seine Finger bohrten sich tief in die Kehle. Das Spinnenwesen röchelte heftig, und nur eine rasche Drehung seines Kopfes konnte Zayl davor bewahren, mit Gift überschüttet zu werden.

Sein Angreifer rollte sich zur Seite, während er mit zwei Gliedmaßen seine zerquetschte Kehle hielt. Zayl ersparte ihm weiteres Leiden, indem er den Dolch ins Genick der Kreatur jag­te. Von Sardak hörte er einige wüste Flüche, als der eine weitere Bestie mit seiner Klinge abwehrte. Die Spinnen wichen zurück, doch von langer Dauer war das nicht.

»Bereit zum Weiterlaufen, Zauberkundiger?« Noch bevor Zayl antworten konnte, schallte ein tierisches

Heulen durch den Wald. Den Männern und ihren Verfolgern blieb nicht mehr als ein einzelner Atemzug, um auf das unheim­liche Geräusch zu reagieren. Dann stürzte sich eine riesige Ge­stalt auf eines der schrecklichen Geschöpfe.

Mühelos hob die Gestalt zwei der Spinnenwesen hoch und schlug sie mit solcher Wucht gegeneinander, dass Zayls Ohren schmerzten, als sie das Bersten der Knochen auffingen. Die Kör­per erschlafften, der Riese schleuderte sie auf zwei weitere, die sich eben der neuen Bedrohung zuwenden wollten.

Eines der Ungetüme konnte dem Geschoss nicht schnell genug ausweichen und wurde mit ihm davongeschleudert. Die zweite Bestie reagierte noch gerade rechtzeitig, dann sprang sie den Giganten an und erhielt Unterstützung von zwei Artgenossen, die sich aus den Bäumen herabließen.

Wenn sie aber glaubten, ihren Widersacher in eine Position gebracht zu haben, aus der es kein Entkommen mehr gab, dann hatten sie sich gründlich getäuscht. Die erste Kreatur wurde von einer mächtigen Pranke zermalmt, als sei sie nicht mehr als eine lästige Fliege. Die beiden anderen lösten bei ihrem Gegner nur

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ein fast schon menschlich klingendes, verächtliches Schnauben aus, dann klaubte er sich die zwei vom Leib. Obwohl sie fauchten und ihr Gift verspritzten, das sein Fell leicht versengte, aber kei­nen weiteren Schaden anrichtete, packte er sie und rammte sie mit dem Kopf voran in den Boden.

Diese scheinbare Unbesiegbarkeit veranlasste die anderen Spinnenwesen dazu, sich hastig in die Bäume zurückzuziehen. Während sie die Flucht ergriffen, stieß der Riese ein trotziges Heulen aus. Dann richtete er seinen hasserfüllten Blick auf die beiden Menschen.

»Ein Wendigo!«, sagte Sardak. »Ich glaube, mit den Spinnen­dämonen waren wir besser bedient.«

Zayl teilte diese Meinung nicht, sondern machte einen Schritt auf den schwer atmenden Riesen zu, der die Annäherung mit einem wütenden Gebrüll kommentierte.

Der Nekromant streckte seine linke Hand aus ... und der Wen­digo wurde ruhig. Er ahmte Zayls Geste nach, bis sich ihre Fin­gerspitzen berührten.

Obwohl der Wald so weitläufig war, hatte der Wendigo denje­nigen wiedergefunden, der ihn geheilt hatte.

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Sechzehn

Aldric Jitan hätte die zerklüftete Anhöhe, die vor ihm lag, nie­mals für einen Nexus der Macht und auch nicht für die Geburts­stätte jenes kostbaren Artefakts gehalten, das er im Arm trug. Er hätte sie nicht einmal für ein Gebäude gehalten, das von den Unbilden der Zeit seit langem verdeckt worden war. Der ehrgei­zige Edelmann hätte darin einfach nur einen weiteren Klumpen Erde auf dem Land gesehen, das er hoffentlich bald als sein Kö­nigreich würde betrachten können.

Es war aber auch nicht wirklich wichtig, wofür Jitan das hielt, was er sah. Schließlich erkannte sein Begleiter, der eine Kapuze über dem Kopf trug, sofort, dass sie am Ziel angelangt waren. Das war für den Edelmann Befriedigung genug. Hier würde sich schon sehr bald eine weitere Geburt abspielen, die Geburt seiner Herrschaft über den Rest der Welt.

Er, Karybdus und die Frau waren die Einzigen, die sich hier aufhielten ... oder besser gesagt: die Einzigen, die noch mensch­lich waren. Mehrere von Astroghas Kindern kauerten in der Nähe und achteten auf mögliche Eindringlinge oder warteten auf neue Befehle. Lord Jitan bedauerte nicht, dass er fast all seine Gefolgsleute in diese Kreaturen hatte verwandeln lassen, da sie ihm so sogar noch viel besser dienten als zuvor.

Er zog den Mantel aus Wendigo-Fell enger um sich und beug­te sich zu Salene vor. Lady Nesardo war hübsch anzusehen, das musste Aldric zugeben. Sein Hass auf sie hatte vor allem damit zu tun, dass sie sich seinem Verlangen widersetzte. Da sie nun kein Hindernis mehr für ihn darstellte, empfand er ihre Schön­

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heit als verlockend. Er streckte langsam seine freie Hand nach ihr aus ...

»Solche Gelüste sind jetzt nicht empfehlenswert«, erklärte Karybdus und tauchte neben ihm auf, als habe er sich hingezau­bert. »Eure ganze Konzentration muss auf die Beschwörung gerichtet sein, die ich Euch gelehrt habe. Erinnert Ihr Euch noch an alles?«

»Ja, ich erinnere mich an jedes kleine Bisschen von diesem Un­sinn«, erwiderte er. »Auch wenn ich keine Ahnung habe, was das meiste davon bedeuten soll.«

Der bleiche Nekromant legte den Kopf schief. »Wünscht Ihr Sprachunterricht oder lieber die Gewissheit, niemals wieder von Alpträumen geplagt zu werden? Ganz zu schweigen vom Beginn Eurer triumphalen Regentschaft.« Karybdus berührte mit einer Hand, die in einem Handschuh steckte, Lord Jitans Schläfe. »Denkt nach. Gab es irgendwelche weiteren Alpträume?«

Die hatte es nicht gegeben. Aber seit Aldric im Besitz des Ar­tefakts war, erlebte er im Schlaf lustvolle Visionen seiner anste­henden Herrscherzeit. Was hatte er von Lady Nesardo, wenn Aldric, erst einmal in Amt und Würden, die hundert begehrens­wertesten Frauen des ganzen Reichs haben konnte? Es war zwar eine Schande, sie nicht erst noch kosten zu können, doch wenn das der Preis für die absolute Macht war, würde er ihn zahlen. Abgesehen davon hatte der Edelmann selbst zu Zeiten, als er noch geglaubt hatte, er müsse sie heiraten, um an ihr Haus und an das zu gelangen, was sich darunter befand, nicht beabsichtigt, das Bett mit ihr zu teilen. Sie war von Anfang an als Opfer vor­gesehen gewesen, weiter nichts.

Nein, alles was er von Salene Nesardo brauchte, war ihr Herz und ihr Blut.

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»Also«, sagte der Edelmann, dessen Erwartung sich zu stei­gern begann. »Wo wird wohl der Eingang sein?«

»Dort.« Karybdus zeigte auf eine besonders unansehnliche Stelle des Hügels.

Selbst für Aldric war klar, dass tonnenweise Fels und Erdreich den fraglichen Eingang bedeckten. »Dieser Trupp wird Wochen benötigen, um den Zugang freizulegen. Mit dem Tempel sind wir besser bedient!«

Der Rathmaner schüttelte den Kopf. »Ihr vergesst, was Ihr festhaltet, Mylord.«

»Wollt ihr damit etwa sagen, das hier wird den Eingang frei-räumen?«

»Ihr müsst nur den Befehl geben.« »Dann sagt mir, wie ich das anstelle!«, verlangte Lord Jitan

ungeduldig. »Hebt es wie eine Krone über den Kopf. Konzentriert Euren

Blick auf die Stelle, auf die ich zeige. Zwingt den Weg dazu, dass er sich für Euch öffnet.« Karybdus gestattete sich den Anflug eines Lächelns. »Dann wird es auch geschehen.«

»Das ist alles?« Aldric stellte sich so, dass er eine bessere Posi­tion hatte, dann tat er, was der Nekromant ihn geheißen hatte. Er hielt den Spinnenmond so hoch über sich, wie er nur konnte, und blickte zum Hügel.

»Seht Ihr diese Aussparung in Form einer Mondsichel, My­lord? Richtet Euren Blick darauf. Habt Ihr das getan? Gut. Jetzt gebt dem Artefakt den Befehl. Ihr wisst, was Ihr Euch wünscht.«

Der Edelmann konzentrierte sich, dabei hörte er ein Flüstern, das allmählich zu jenem monotonen Gesang anschwoll, der ihm bereits vertraut war.

Astrogha ... Astrogha ...

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Doch in seinem Kopf wurde daraus etwas anderes, nämlich sein Name. Aldric ... Aldric ...

Während er sich vorstellte, wie die unsichtbare Menge seinen Namen skandierte und seinen Ruhm verkündete, begann das Spinnenmuster auf dem Artefakt zu zucken. Die vordersten Bei­ne bewegten sich, bis sie die Stellen erreichten, an denen die Fingerspitzen des Edelmanns die Sphäre berührten.

Der Hügel begann zu erzittern. Öffne dich für mich, befahl Aldric Jitan lautlos. Öffne dich für

mich! Dann war ein Krachen zu hören, das wie ein Donnerschlag

klang, und im gleichen Moment spaltete ein Riss den Hügel in zwei Teile. Tonnenweise Gestein rollte bis zum Fuß hinunter und ließ jene verwandelten Diener davoneilen, die sich nahe dem Hügel aufgehalten hatten und die sonst von dem plötzlichen Steinschlag getroffen worden wären.

Die gesamte Anhöhe geriet in Bewegung, bis vor den beiden Berge von Geröll lagen.

»Es ist vollbracht«, erklärte Karybdus. »Lasst nur dem Staub noch ein paar Minuten, um sich wieder zu legen.«

Aldric ließ die Arme sinken, die das Artefakt hielten. Sein Puls raste, Adrenalin wurde durch seine Adern gejagt. »Phanta­stisch!«

Der Nekromant stand dicht neben ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Aber nur ein kleiner Teil von Astroghas Gaben. Stellt Euch vor, Mylord, wozu Ihr fähig sein werdet, wenn erst die gesamte wunderbare Macht des Spinnengottes ein Teil von Euch geworden ist.«

»Wie lange noch? Verdammt, Mann! Ich kann nicht noch län­ger warten!«

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Karybdus sah zum Himmel, dann entgegnete er: »Die erste Phase beginnt in kaum mehr als zwei Stunden. Es wäre gut, wenn wir unsere Vorbereitungen träfen.«

Während er sprach, legte sich der Staub, und die beiden konn­ten einen Blick auf die Geburtsstätte der Sphäre werfen.

Zwillingsstatuen standen inmitten des Risses, spinnenköpfige Krieger mit acht menschlichen Armen, deren Hände unterschiedliche Waffen hielten. Die unheilvollen Wächter waren doppelt so groß wie ein Mensch, und sie waren so lebensecht aus Stein gehauen, dass sie auch nach Jahrhunderten noch immer so aussahen, als wollten sie das, was im Inneren verborgen lag, gegen alles und jeden verteidigen.

»Sollen wir eintreten, Mylord?«, fragte Karybdus höflich. Doch Aldric war bereits auf dem Weg zum Eingang zu dieses

uralten Bauwerks. Der Spinnenmond lag wieder in der Armbeu­ge, während er mit der anderen Hand über die glatte Oberfläche strich, als würde er ein Kind oder einen Schoßhund liebkosen. Während seine monströsen Diener eine Ehrengarde bildeten, gingen er und der Nekromant an den düsteren Statuen vorbei in ein Bauwerk, das erheblich weitläufiger war, als es von außen den Anschein hatte.

So wie der Tempel erstreckte sich auch dieses Bauwerk weit unter der Oberfläche des Hügels. Die Stufen, über die die Gruppe sich in die Tiefe begab, bestanden aus einer schillernden Sub­stanz, die der des Artefakts recht ähnlich war. Jedes Mal, wenn Aldric einen Fuß aufsetzte, schienen sich Formen innerhalb der Stufe zu bewegen, achtbeinige Schatten, die dem in der Sphäre glichen.

Keiner der Männer hielt eine Fackel in der Hand, und doch war der Weg vor ihnen so hell erleuchtet, als würden sie sich

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unter freiem Himmel bewegen. Es gab keine erkennbare Licht­quelle, die Helligkeit war offenbar einfach vorhanden, weil sie benötigt wurde. Für Aldric war das ein weiterer Hinweis auf die Kräfte, über die er schon bald würde verfügen können.

Schließlich tauchte vor ihnen das Objekt auf, das diesen ver­gessenen Ort wirklich als das auswies, wonach sie gesucht hatten: ein ausladender, ovaler Altar, in den das Spinnensymbol eingra­viert war.

Doch da war noch etwas anderes, und es veranlasste Karybdus zu einem untypischen, verärgerten Fauchen.

Am Fuß des Altars lagen drei Skelette, drei mumifizierte Ge­stalten, deren Kleidung dem Edelmann bekannt vorkam.

»Diese Leichen ... sie sehen aus wie das Ding im Grab.« Aldric blinzelte. »Die gleichen verdammten Blumengewänder. Wie hattet Ihr sie genannt? Vazjero?«

»Vizjerei«, spie der Nekromant die Antwort förmlich aus. »Wie ich Euch bereits sagte, sind sie die niedersten Zauberkundi­gen, allesamt korrupt und verdorben.« Karybdus zog seinen Dolch. »Und sie sollten sich nicht an diesem antiken Ort befin­den. Meinen Forschungen zufolge ist dies hier der einzige Zu­gang.«

»Nun, sie hatten den Mond ja auch mal besessen, nicht wahr? Vermutlich haben sie den Zugang auf die gleiche Weise geöffnet wie wir.«

Karybdus schwieg, als berechne er irgendetwas, dann nahm sein Gesicht wieder einen neutralen Ausdruck an. Er nickte. »Wie Ihr bereits sagtet. So müssen sie es gemacht haben.«

Dennoch fiel Lord Jitan noch etwas anderes auf. »Sind sie ex­akt wie der eine im Grab?«

Er musste Karybdus nicht erklären, was er damit meinte. Der

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Rathmaner zeichnete bereits mit seinem Dolch ein Muster in die Luft. Gleichzeitig stieß er Worte aus, wie Aldric sie noch nie gehört hatte.

Ein Pfeifen ertönte, so als würde man die Luft aus dem Raum saugen. Einer nach dem anderen fielen die Mumien in sich zu­sammen. Morsche Knochen verdrehten sich und zogen sich zu­sammen. Die Körper rollten sich in einer Weise auf, dass von ihnen nur noch kleine Bündel übrig blieben, die in keiner Weise mehr an etwas Menschliches erinnerten.

Karybdus ballte eine Hand zur Faust, gleichzeitig zerfiel jedes der Bündel zu Staub.

»Nun müsst Ihr Euch darüber keine Gedanken mehr machen, Mylord.«

Äußerst beruhigt und zufrieden nickte Aldric und ging weiter zum Altar. Hinter ihm ließ Karybdus seinen stählernen Blick noch einmal durch den ganzen Raum wandern, dann folgte er ihm.

Salene blieb dicht hinter dem Rathmaner. Ihre Miene war noch immer völlig ausdruckslos.

»Ihr seid ein Quell an Wundern, Zauberkundiger«, murmelte Sardak, der die Augen weit aufgerissen hatte. »Einen Wendigo zu bändigen! Unglaublich! Was könnte ich in den Tavernen Ge­schichten zum Besten geben!«

»Ich habe ihn nicht gebändigt«, erwiderte Zayl, dessen Finger­spitzen noch immer die der Bestie berührten. »Man könnte wohl eher sagen, ich habe ihn von einem Fluch erlöst.«

»Wie poetisch formuliert. Jemand sollte darüber ein Märchen schreiben.«

Plötzlich meldete sich aus Zayls Armbeuge die hohle Stimme

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von Humbart. »Es ist nicht das erste Mal, dass er solche Wunder vollbringt! Wer mit dem Jüngelchen reist, erlebt immer etwas Interessantes ...«

»Ich persönlich beschränke meine Abenteuer lieber auf Taver­nen. Das hier ist mir viel zu aufregend ...«

So sehr seine Begleiter von dieser Begegnung auch begeistert waren, interessierte sich Zayl doch viel mehr für den »Zufall«, dass der Wendigo ihn gefunden hatte. Sie waren weit von der Stelle entfernt, an der er das erste Mal auf den pelzigen Riesen getroffen war. Bemerkenswert war aber vor allem, dass es für den Wendigo keinen Grund gab, überhaupt erst nach ihm zu suchen, ganz zu schweigen davon, dass er ihm in einem so entscheiden­den Moment zu Hilfe gekommen war.

Als Anhänger von Rathma und als Diener des Gleichgewichts glaubte Zayl nicht an Zufälle.

Sardak stellte die Frage, die ihnen allen durch den Kopf ging: »Und jetzt? Haben wir das da jetzt am Hals?«

»›Das da‹ ist ein ›er‹, Narr! Bezeichnet ihn nicht als ›es‹, das ist unhöflich!«

Der Schädel hatte tatsächlich Recht, und Zayl wunderte sich, warum ihm das nicht schon zuvor aufgefallen war.

Sardak hingegen war von Humbarts Wissen nicht beeindruckt. »Ich bleibe dabei. Haben wir das ...«

Weiter kam er nicht, da der Wendigo grunzte und in eine Richtung zeigte, in die er sich dann auch fortbewegte.

»Wir sollen ihm folgen«, erklärte der Nekromant. »Wir sollen folgen? Und was ist mit Salene?« »Ich vermute, wir finden sie, wenn der Wendigo sein Ziel er­

reicht hat.« Der andere Mensch hielt sein Schwert auf den Riesen gerich­

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tet. »Ich will hoffen, dass wir dort nicht auf das Heim der Bestie stoßen.«

Während sie losmarschierten, schweiften Zayls Gedanken von der zeitlich günstigen Ankunft des Wendigos ab und widmeten sich den Fallen, die ihnen von Karybdus gestellt worden waren. Es schien, dass der Nekromant auf jede Eventualität vorbereitet war. Karybdus hatte nicht nur damit gerechnet, von Zayl verfolgt zu werden, sondern auch gewusst, nach welcher Methode er wo zuschlagen musste.

Bei den Fallen waren aber widersprüchliche Absichten spürbar geworden. Sowohl die böswillige Macht, die Zayl aus der Zelle geholt hatte, als auch die untoten Heerscharen hatten danach gestrebt, ihn zu einem Teil dessen zu machen, was immer sie verkörperten. Karybdus dagegen ließ keinen Zweifel daran, dass er Zayl um jeden Preis aus der Gleichung streichen wollte.

»Irgendwas ist da vorne los«, ließ Humbart aus der Armbeuge verlauten. »Ich kann es fühlen, du auch, Jüngelchen?«

»Ja.« Der Wendigo steuerte ein paar Grunzlaute bei, dann zeigte er

auf einen Hügel. Zayl und Sardak folgten ihm. Von ihrer Positi­on aus konnten sie den Eingang zu jenem Ort sehen, an den Ka­rybdus Salene gebracht haben musste. Zayl betrachtete voller Unbehagen die steinernen Wächter, dann widmete er sich dem Eingangsbereich insgesamt. Ringsum hielten sich auf dem Fels und im angrenzenden Wald mehrere der grotesken Menschen-spinnen auf, die offensichtlich Ausschau nach möglichen Ein­dringlingen hielten.

»Sind wir doch zu spät?«, fragte Sardak, dessen Schwerthand zitterte.

Zayl sah hinauf zum Himmel. »Ich glaube nicht. Der Tag

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weicht erst allmählich dem Abend. Ich nehme an, dass sie warten müssen, bis der Mond in einer bestimmte Position steht. Den­noch wird die Zeit allmählich knapp.«

Der andere Mensch wollte loseilen. »Dann wollen wir mal.« Es war der Wendigo, der ihn zurückhielt, wobei die riesigen

Pranken Sardak erstaunlich sanft hochhoben. Dass ein so blut­rünstiges Wesen derart behutsam agieren konnte, war mehr als überraschend. Der Wendigo setzte den strampelnden Schwert­kämpfer gleich neben Zayl ab und ließ eine Geste folgen, die man nur als Ermahnung deuten konnte.

»Versucht, nicht so übermütig zu sein«, fügte der Nekromant an. »Wir können nicht umhin, auf einen geeigneten Moment zu warten, einen, wenn sie es sich absolut nicht leisten können, ihre Aufmerksamkeit auf uns zu richten.«

»Aber sie müssten doch ohnehin wissen, dass wir ihnen auf der Spur sind! Diese Monstrositäten, gegen die wir kämpften, werden längst ihr Versagen gemeldet haben. Warum sollen wir also warten? Am besten stürmen wir mit gezückten Waffen vor! Eine solche Kühnheit werden sie nicht erwarten.«

Sardak wollte unbedingt seine Schwester retten, und Zayl konnte es ihm nicht verdenken. »Wir werden einen anderen Weg finden. Das verspreche ich Euch, Sardak.«

»Aber welcher Weg soll das sein?« In diesem Moment brummte der Wendigo leise und deutete

auf ein Gebiet gegenüber dem Ort, an dem Salene festgehalten wurde.

»Ich will es ja nicht beschwören«, meinte Humbart. »Aber ich glaube, er hat die Antwort auf unsere Frage ...«

Während der Wendigo sie in die angedeutete Richtung führte, versetzte sich Zayl in die Denkweise des anderen Rathmaners ...

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und überlegte, wie Karybdus dazu gebracht werden könnte zu glauben, Zayl halte sich an einem gänzlich anderen Ort auf.

Karybdus versteifte sich und blinzelte über die Schulter in Rich­tung Eingang.

Lord Jitan bemerkte sein Verhalten. »Stimmt etwas nicht?« »Die Falle ist zugeschnappt, aber die Beute ist entkommen.« »Heißt das, dieser Zayl ist auf dem Weg hierher? Wie konnte er so vielen Fallen entrinnen? Führt er eine Streitmacht aus der Stadt an?«

»Nein, so geht er nicht vor. Ich kann nicht sagen, was genau geschehen ist. Unter den Überlebenden scheint Verwirrung zu herrschen. »Der Zauber eines Nekromanten. Ihr habt mir davon erzählt. Sicher könnt Ihr ihn aufheben.« Karybdus legte die Stirn in Falten. »Es ist kein Zauber, einfach nur ... allgemeine Verwir­rung.« Der grauhaarige Rathmaner rümpfte die Nase. »Und es ist nichts, worüber Ihr Euch Gedanken machen müsstet, Mylord. Wir werden Zayls Ankunft erwarten, und sobald er auftaucht, werden wir uns mit ihm befassen.«

»So wie es in Westmarch geschehen sollte?«, gab Aldric zu­rück und unterbrach seine Begutachtung des Altars. »Durch Cornelius? Durch diese toten Anhänger des Kults?«

Der Nekromant wirkte nicht beunruhigt, obwohl Aldric ein­mal mehr seine Fähigkeiten in Zweifel zog. »Cornelius hat im­mer noch eine Rolle zu spielen. Er und unser ehemaliger Edmun machten es erst möglich, dass die Falle der Zakarum zuschnappte. Dass die Kirche nicht schnell genug reagierte, obwohl sie wusste, dass ein Rathmaner in der Stadt ist, fällt in ihre Verantwortung. Man war gewarnt, dass er gefährlich sein würde. Cornelius stellte auch sicher, dass General Torion seine gesamte Aufmerksamkeit

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auf Zayl richtete.« Karybdus legte den Kopf ein wenig schief. »Insgesamt würde ich sagen, dass Cornelius uns sehr gut gedient hat, Mylord.«

»Wenn Ihr es so darstellt, würde ich es auch so sehen. Euer Verstand ist so komplex wie ein Labyrinth, Hexenmeister. Gegen Euch würde ich nur ungern zu einer Partie Schach antreten. Ich wüsste nie, ob ich nun gewinne oder verliere.« Der Edelmann sah zu Salene. »Ist denn die Zeit jetzt gekommen?«

Als Reaktion darauf schnippte Karybdus mit den Fingern. Sa­lene kam zu ihm zum Altar und legte sich mit solcher Selbstver­ständlichkeit auf den Steinblock, als würde sie zu Bett gehen.

Er steckte seinen Dolch weg und zog stattdessen eine der Kult-klingen aus seinem Gürtel. Lady Nesardo war ihm genau in dem Moment begegnet, als er mit seiner Suche nach dem richtigen Opfer begonnen hatte. Daher nahm er es als ein Zeichen dafür, dass seine Arbeit für das Gleichgewicht von Erfolg gekrönt sein würde.

Mehrere der verwandelten Diener des Edelmanns nahmen ihre Position um den Altar und um die am Ritual Beteiligten herum ein. Sie alle wirkten so begierig wie Aldric.

»Bald wird die Macht Euer sein, Mylord«, erklärte der Ne­kromant. »Die Macht und Heerscharen von Anhängern, die Euch treu ergeben sein werden. Und das alles auf einen Schlag.«

Unter dem Mantel des Rathmaners kam dessen achtbeiniger Schutzgeist hervor. Die große Spinne krabbelte auf Karybdus’ Schulter und ließ sich dort nieder.

Aldric hob erwartungsvoll den Spinnenmond hoch über seinen Kopf, woraufhin das Artefakt zu leuchten begann.

»Da, Mylord. Seht Ihr? Es ist der Beginn der ersten Phase.« »Nun weidet sie schon aus!«

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»Geduld. Es müssen noch die richtigen Worte gesprochen wer­den.« Karybdus begab sich zur anderen Seite des Altars und hielt den Opferdolch über Salene. Nach einem Blick zum Artefakt schien er zufrieden mit dem zu sein, was er sah, und begann zu murmeln. Das einzige Wort, das sein Begleiter wiedererkennen konnte, war ein Name ... Astrogha.

Von den verwandelten Dienern ging ein leises, aber gleichmä­ßiges Zischen aus, ein monotoner Gesang der Kinder von Astrogha. Die Spinnenparasiten auf den Köpfen schienen der Arbeit des Nekromanten mit wachsender Ungeduld in ihren unmenschlichen Augen zuzusehen.

Karybdus ließ den Dolch sinken. Der Schnitt, den er Salene am Hals zufügte, war minimal, be­

stenfalls als oberflächlich zu bezeichnen. Nur ein paar Tropfen Blut traten aus der Wunde aus, doch der Rathmaner schien durchaus zufrieden zu sein. Er sorgte dafür, dass die Spitze der Klinge ausreichend mit dem Blut in Berührung kam, dann streckte er seinen Arm nach Aldric aus.

Der Edelmann ließ den Spinnenmond gerade lange genug sin­ken, dass die blutige Spitze das Spinnenmuster in der Mitte be­rühren konnte. Die Beine des Bildes begannen sofort zu zucken.

»Es ist rein«, verkündete Karybdus. »Es ist das Blut von Astrogha.«

In das schreckliche Licht des Artefakts getaucht, hatte Lord Aldric Jitans Gesicht etwas Schauriges. Sein Verlangen nach dem, was der Nekromant ihm versprochen hatte, raubte ihm alles Menschliche.

»Dann bringen wir es hinter uns«, zischte er sein Gegenüber förmlich an.

Doch Karybdus sah zur Seite in Richtung der Schatten. Seine

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gelassene Miene war nur eine Maske, die nichts darüber verriet, was wirklich in ihm vorging. Er ist hier.«

»Wer? Wieder dieser verdammte Zayl?« Aldric schaute einige der Kreaturen an, die sich sofort aus der Formation lösten und mit wütenden Zischlauten dem Eingang entgegenstrebten.

»Er kommt näher. Er hat keine andere Wahl, als den Weg zu benutzen, den wir gegangen sind. Aber er wird nicht einfach so hereinkommen, sondern er wird Zauber ins Spiel bringen ...« Der Nekromant ließ seine verstärkten Sinne schweifen. So wie ein Raubvogel, der eine frische Beute ausgemacht hatte, konzentrier­te sich Karybdus auf einen Punkt rechts vom Eingang. »Ich muss ihm mein Kompliment aussprechen. Er ist bereits hier.«

»Ich sehe nichts.« »Das werdet Ihr noch.« Karybdus beschrieb eine Geste in der

Luft. Eine nadelspitze Knochenlanze – die Klaue von Trag’Oul –

nahm vor ihm Gestalt an und schoss dann in die Richtung, in die der Rathmaner schaute.

Als die Klaue den Eingang erreichte, war in der Luft ein Kräu­seln zu sehen, in dem man die Umrisse einer Gestalt erkennen konnte, die Mantel und Kapuze trug.

Die Umrisse einer Gestalt, in deren Brust sich die Klaue fraß. »Ha!«, meinte Lord Jitan grinsend. Drei der verbliebenen Diener rückten vor, um festzustellen, ob

das Opfer noch lebte. Mit dem Opferdolch in der Hand machte Karybdus gleichzeitig ein paar Schritte vom Altar fort. »Sehr sonderbar. Er ist ganz gewiss tot, doch ich kann seine lebende Präsenz noch immer wahrnehmen ...«

Der Edelmann näherte sich ebenfalls dem regungslosen Kör­per. »Er muss tot sein! Niemand überlebt ...«

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Ein gellender Schrei erfüllte die Kammer und hallte von allen Seiten wider. Aldric, Karybdus und die Diener drehten sich in aller Eile um die eigene Achse und suchten nach der Quelle.

Eine große Fläche Marmor ging auf einige von Lord Jitans Ge­folgsleuten nieder.

Karybdus stieß einen Fluch aus und zog seinen eigenen Man­tel höher, als der Leichnam plötzlich in sich zusammenfiel und aus den verwesenden Überresten eine stechende Wolke aufstieg. Die dehnte sich binnen Sekunden aus und hüllte einige der Krea­turen ein, die sich der Leiche genähert hatten.

Eine Kreatur in der vordersten Reihe konnte sich noch fau­chend von den Überresten des Toten abwenden, dann aber sackte sie schlaff in sich zusammen. Zwei weitere hatten gerade noch Zeit genug, den Tod des ersten Dieners zur Kenntnis zu nehmen, dann fielen auch sie den giftigen Dämpfen zum Opfer.

Gleichzeitig stürmten Zayl und Sardak aus einer der im Schat­ten liegenden Ecken der Kammer hervor. So plötzlich tauchten sie auf, dass es aussah, als seien sie geradewegs durch den Fels hereingekommen. Zayl, der keinen Mantel trug, streckte den Arm aus, und dort, wo Karybdus den toten Nekromanten vermu­tet hatte, erhob sich etwas zusammen mit dem wallenden Ge­wand. Während das Ding aufstieg, entpuppte es sich als einer von Aldrics mutierten Männern. Eine Dolchwunde auf dem Rücken zeigte, dass die Kreatur längst tot gewesen war, noch bevor die Klaue sie durchbohrt hatte.

Sardak jagte seine Klinge durch ein weiteres Monster, dann eilte er zu seiner Schwester. »Salene! Salene! Wach auf!«

Lord Jitan drehte sich um, als er die Aufforderung hörte: »Du da! Lass sie in Ruhe, du Spelunkenratte! Sie gehört uns!«

Fluchend holte Sardak nach dem Edelmann aus. Obwohl der

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ein mächtiges Artefakt in seinen Händen hielt, wich Aldric ins­tinktiv dem Hieb aus.

Sardak drehte sich wieder um und verpasste Salene eine schal­lende Ohrfeige. Sie stöhnte auf und drehte den Kopf in seine Richtung, reagierte sonst aber nicht.

Zayls Mantel, der vom Dolch hochgehalten wurde, kehrte wie ein Geist zum Nekromanten zurück. Er zog den schwarzen Stoff vom Dolch und warf ihn sich über die Schultern. Dort legte sich der Mantel wie ein lebendes Wesen um seinen Träger, während der Dolch von selbst in die Hand des Nekromanten zurückkehrte. Zayl hatte die mit ihm eng verbundene Waffe benutzt, um sei­nen Gegner abzulenken. Er wusste, der andere Rathmaner würde die Lebensenergie wahrnehmen und logischerweise denken, es handele sich um Zayl; immerhin gab es keinen anderen Zugang zu der Kammer.

Aber weder Karybdus noch Lord Jitan wussten von der Exi­stenz des geheimen Tunnels für die Priester, wohingegen der Wendigo damit offenbar sehr vertraut war. Nur dadurch war es den Rettern möglich gewesen, ihren Gegnern so nahe zu kom­men.

Zayl gingen viele Fragen durch den Kopf, die den Wendigo und dessen Handlungen angingen, doch diese Fragen mussten erst einmal warten. Nicht nur Salenes Leben stand auf dem Spiel, auch er selbst und Sardak waren noch lange nicht außer Gefahr.

Noch während er diesen Gedanken verfolgte, sah er, wie Ka­rybdus – der den Saum seines Mantels noch immer vor Mund und Nase hielt – einen Kreis und zwei Linien quer über ihn hin­weg zeichnete. Zayl fühlte, wie im gleichen Moment seine Kräfte nachließen, und sofort reagierte er mit dem gleichen Symbol, fügte aber eine dritte Linie quer zu den anderen hinzu, sodass der

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Kreis perfekt geteilt wurde. Augenblicklich fühlte er, wie er wie­der erstarkte.

Plötzlich senkte sich ein Schatten über Zayls Gegner. Karyb­dus sah nach oben und warf sich so weit zur Seite, wie er nur konnte. Das Stück Marmor, das sich gelöst hatte, fiel krachend zu Boden und verfehlte ihn nur knapp.

Noch während der Marmor in der Luft war, stürzte sich der Wendigo auf Astroghas Kinder und schlug eines von ihnen mit einem einzigen Treffer zu Brei. Zwei andere sprangen ihn an und verbissen sich in ihm, doch ihre Zähne konnten das dichte Fell nicht durchdringen, sodass ihr Gift nur Flecken auf dem Pelz hinterließ.

Zayl gesellte sich zu Sardak. »Bringt sie hier raus! Schnell!« »Ich kann sie nicht aufwecken, sie muss getragen werden!« »Ich kümmere mich darum.« Der Nekromant beugte sich vor.

Der Zauber gehörte nicht zu denen, die einem Schüler beige­bracht wurden, doch im Laufe der Jahre hatte sich Zayl so wie auch Karybdus eigene Zauber angeeignet. Ein Rathmaner akzep­tierte jede Art von Zauber, der dem Gleichgewicht half, voraus­gesetzt, er konnte nicht den korrumpieren, der ihn wirkte.

Seine Rechte – die weiterhin im Handschuh steckte – hielt er über Salenes Gesicht. Als er Sardak heftig einatmen hörte, wurde er daran erinnert, dass der so bald nicht vergessen würde, was sich unter dem Handschuh verbarg.

Zayl sprach rasch die Worte für den Zauber, die ursprünglich dem Zweck gedient hatten, einen Schatten aus seinem ewigen Schlaf zu holen. Vor langer Zeit hatte er die Wirkung so verän­dert, dass er nun jemanden wecken konnte, der unter dem Bann eines Zaubers stand.

Das Problem war nur, es funktionierte nicht immer.

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Doch diesmal war Trag’Oul auf seiner Seite. Salene stöhnte auf, dann öffnete sie die Augen.

»Passt auf!«, schrie sie im gleichen Moment. Aldric Jitan, der den leuchtenden Spinnenmond in den Händen

hielt, betrachtete das Trio wie eine wütende Gottheit. Sardak warf sich dem heimtückischen Edelmann entgegen, ehe

Jitan den teuflischen Zauber entfesseln konnte, den er ohne Zweifel gegen sie wirken wollte. Die Schwertspitze bohrte sich tief in die Schulter des Widersachers, der aufschrie und fast das unheilvolle Artefakt hätte fallen lassen.

Indem er aber Zayl und Salene beschützte, machte sich Sardak selbst angreifbar. Von seinem Ziel abgelenkt, sah er nicht den Angreifer, der sich ihm von der Seite näherte. Der achtbeinige Schrecken bekam Salenes Bruder zu fassen und hob ihn in die Luft, bevor Zayl etwas dagegen tun konnte. Die Reißzähne gru­ben sich tief in Sardaks Hals.

»Sardak!«, schrie Salene auf und streckte eine Hand nach ih­rem Bruder aus. »Oh, Sardak! Nein!«

Aus ihrer nach vorn gerichteten Handfläche löste sich ein Feu­erblitz, der quer durch die Kammer jagte und Sardaks teuflischen Angreifer mit solcher Wucht traf, dass er die Kreatur durch die Luft wirbelte. Ihr Bruder blieb von der Kraft unberührt. Wäh­rend die brennende Masse, die eben noch einer von Jitans Die­nern gewesen war, gegen die gegenüberliegende Wand krachte, hielt Sardak seinen Hals fest und taumelte ein paar Schritte zu­rück.

Salene löste sich aus Zayls Griff. Obwohl ihre Beine noch wacklig waren, lief sie zu ihrem Bruder und hielt ihn fest, ehe er zusammenbrach.

Der Nekromant versuchte ihr zu folgen, doch plötzlich richte­

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ten sich zwei der toten Ungeheuer auf und näherten sich ihm. Dahinter sah Zayl, wie Karybdus mit ausdrucksloser Miene da­stand und mit seinem Dolch nicht nur die beiden, sondern auch die anderen getöteten Kreaturen dirigierte.

Fluchend hieb Zayl nach dem Kopf der ersten untoten Kreatur. Als sich die Klinge tief in den Schädel fraß, zuckte die Kreatur kurz und sackte dann kraftlos zusammen. In diesem Moment begann auch das zweite Monster zu zucken ... und dann explo­dierte es!

Mit einem Aufschrei flog Zayl nach hinten und kollidierte so heftig mit dem Altar, dass jeder Knochen in seinem Leib erzitter­te. Sein Kopf dröhnte vor Schmerz, sein Blick war getrübt, und er konnte nichts anderes machen, als dort liegen zu bleiben, wo er zusammengesunken war. Trotz des Durcheinanders, das in sei­nem Kopf herrschte, wurde ihm allmählich bewusst, dass Karyb­dus der Gerissenere von ihnen beiden war. Er hatte die Toten auferstehen lassen und dann die heftigen Energien eines getöte­ten Körpers entfesselt. Genaugenommen war der zweistufige Angriff sogar eine düstere Variante jenes Zaubers, den Zayl an­gewandt hatte.

Verschwommen nahm der Nekromant seine Umgebung wahr. Die Rettungsaktion war gründlich schiefgegangen. Sardak lag sterbend in Salenes Armen, der Wendigo wurde von Lord Jitans teuflischen Kreaturen überrannt, die ihn längst zu Boden hatten ringen können. Und Zayl selbst war noch immer nicht in der Lage, sich zu erheben oder seinen Gefährten auf irgendeine Wei­se Beistand zu leisten.

Jitan näherte sich Salene, doch Karybdus deutete auf den Wendigo und befahl: »Kümmert Euch um das Ding! Ich werde die Frau vorbereiten!«

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Der Edelmann grinste. Den Spinnenmond fest im Griff zeigte Aldric auf den pelzigen Riesen.

Doch in dem Moment flammte vor ihm ein gleißendes Licht auf, das Lord Jitan zwang, seine Augen mit dem Artefakt abzu­schirmen.

Gleichzeitig brachte der Wendigo es irgendwie fertig, sich auf­zurichten. Mit ohrenbetäubendem Gebrüll schüttelte er seine Angreifer ab, als sei das eine Kleinigkeit. Eine Kreatur, die sich hartnäckig an ihm festklammerte, packte er am Hals und schleu­derte sie mit aller Kraft zu Boden. Mit einem einzigen Hieb sei­ner linken Faust verwandelte er seinen letzten Gegner in eine leblose Masse.

Der Waldbewohner richtete seinen wilden Blick auf Zayls Wi­dersacher, der sich ganz auf Salene konzentrierte. Der Wendigo packte den zerschmetterten Kadaver und zielte auf den Nekromanten.

Doch es war, als würde diesen ein sechster Sinn warnen, denn Karybdus drehte sich noch rechtzeitig um, erkannte die Gefahr, in der er schwebte, und brachte sich mit einem Satz zur Seite in Sicherheit.

Gleichzeitig rannte der Wendigo zu Zayl und hob den hilflo­sen Nekromanten mühelos mit einer seiner Pranken hoch.

»Nein ...«, keuchte Zayl. »Nicht mich ... die anderen ...« Der Riese schien zu gehorchen und rannte zu Salene und ih­

rem Bruder. Doch da er unter einem Arm bereits den Nekroman­ten trug, konnte er nur noch die Edelfrau retten.

»Sardak!«, rief sie aus. »Ich kann ihn hier nicht zurücklas­sen!«

Ihr Retter kümmerte sich nicht um ihren Protest, sondern stürmte zum Ausgang der Kammer.

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»Hinterher!«, hörte Zayl den anderen Nekromanten rufen. »Schickt ihnen die Kreaturen hinterher, Mylord!«

Aldric Jitan bellte wütend einen Befehl, und das gierige Zi­scheln seiner Diener verriet, dass sie ihrer Beute nachstellten. Zayl wollte dem Wendigo etwas zurufen, doch aus seiner Kehle drang nur ein Krächzen.

Sie verließen den Tempel und näherten sich der dunklen Zu­flucht, die der Wald bot. Hinter ihnen jagten Astroghas Kinder ihrer Beute nach. Zayl war sich darüber im Klaren, dass er im Moment nichts tun konnte, und beugte sich dem Willen des Wendigos. Er hörte, wie Salene schluchzend um ihren Bruder trauerte. Bedauern überkam ihn. Sardak hatte sich als mutiger und fähiger Mann entpuppt, dem es nur darum gegangen war, sich für seine Halbschwester zu opfern, obwohl diese mit Privile­gien zur Welt gekommen war, die man ihm in seiner Jugend versagt hatte.

Plötzlich hob der Rathmaner den Kopf. Seine Halbschwester! Sardak war vom selben Blut wie Salene, wenn auch nur zur

Hälfte. Dennoch ... er war vom selben Blute ...

Aldric Jitan stieß eine Reihe wüster Verwünschungen aus, die sogar den weitgereisten Karybdus beeindruckten. Der grauhaari­ge Nekromant wartete, bis der Edelmann genug Dampf abgelas­sen hatte, dann fiel er ihm ins Wort.

»Beruhigt Euch, Mylord. Die Situation ist nicht so verfahren, wie es Euch erscheint.«

Die beiden unterschiedlichen Augen loderten vor Wut. »Nicht so verfahren? Dieser verdammte Zayl hat mehr Leben als die sprichwörtliche Katze! Wie könnt Ihr so gelassen sein? Er hat

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Euch ein weiteres Mal zum Narren gehalten!« »Keineswegs. Vielmehr habe ich viel von Zayl gelernt, und das

rechne ich ihm hoch an. Er ist noch weit erfinderischer, als sein Ruf es vermuten ließ.«

»Erfinderischer?« Aldric lachte rau auf. »Immer eine Unter­treibung auf Lager! Das war ein Wendigo, mein Freund! Ein Wendigo! Wie zum Teufel ist er an eine von diesen Bestien ge­kommen?«

Karybdus nickte. »Erfinderisch, wie ich bereits sagte. Was den Wendigo an sich angeht, hattet Ihr die ideale Gelegenheit, die Kreatur aus dem Weg zu räumen. Wieso habt Ihr sie nicht ge­nutzt?«

»Da war dieses verdammte Licht! Habt Ihr das etwa nicht ge­sehen? Ich schwöre, es war so grell wie die Sonne!«

»Ein grelles Licht?« Der Nekromant schürzte die Lippen. »Si­cher ein weiterer von Zayls Tricks. Oder von der Frau. Sie ver­fügt über große Macht, die bislang weitestgehend ungenutzt geblieben ist. Es wäre interessant, sich näher mit ihr zu beschäf­tigen.«

»Es wäre interessanter, sie für das Ritual hier zu haben! Der Moment der Annäherung ist verstrichen!« Der Edelmann er­weckte den Eindruck, als sei er bereit, den Spinnenmond sogar gegen Karybdus einzusetzen. »Mein Augenblick wurde mir ge­raubt!« Sein Gesicht nahm einen ängstlichen Ausdruck an. »Ich werde wieder zu träumen beginnen ...«

Karybdus hob eine Hand, um den Mann zu beruhigen. »Noch ist nicht alles verloren, Mylord. Wir haben genug, um unser Werk zu beginnen. Alles kann so wie geplant ablaufen.«

»Aber wie?« Der Rathmaner machte eine Geste, die an die beiden verblie­

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benen Diener gerichtet war, dann zeigte er auf eine Gestalt, die unweit des Altars in sich zusammengesunken am Boden lag.

Sardak. »Ich habe sofort gehandelt, als ich sah, dass er gebissen wor­

den war. Das Blut in seinem Körper ist noch warm, und mein Zauber sorgt dafür, dass es nicht länger aus seinen Wunden strömt.«

Aldric betrachtete Sardak, als hätte er in seinem Essen irgend­ein Ungeziefer entdeckt. »Dieser Bastard? Welchen Nutzen soll er für uns haben? Dieser Kerl ist ein Taugenichts und ein Trun­kenbold ...« Lord Jitan rieb sich die Verletzung, die ihm eben jener Taugenichts zugefügt hatte. »Ich würde ja am liebsten vor­schlagen, ihn aus dem Tempel zu werfen, aber ich fürchte, wir würden damit nur noch mehr Wendigos anlocken, die wenig wählerisch sind ...«

»Wir sollten etwas so Wertvolles nicht den Wendigos zum Fraß vorwerfen.« Während die Kreaturen Sardak hochhoben, fügte Karybdus an: »Erst recht nicht, wenn wir damit noch unse­re Ziele erreichen können. Er ist ihr Halbbruder. Das Blut, das sie in sich trägt, fließt zum Teil auch durch seine Adern.«

Jetzt endlich verstand Aldric, was es mit Sardak auf sich hatte. Ein fast schon kindliches Strahlen zeichnete sich auf dem Gesicht des arroganten Edelmanns ab. »Er kann das Opfer sein? Auch wenn er tot ist?«

»Er ist noch nicht ganz tot.« Der Rathmaner wartete, bis der Körper auf dem Altar lag, dann zog er den Opferdolch. »Mehr brauchen wir nicht.« Der Zauberkundige schaute Aldric an. »Wenn Ihr dann Euren Platz einnehmen würdet, Mylord?«

Mit einem noch breiteren Grinsen kam Lord Jitan der Auffor­derung nach.

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SIEBZEHN

Noch immer fest im Griff des Wendigos hatte Zayls Sicht auf den nebligen Wald etwas Alptraumhaftes. Schwarze Schemen huschten vorbei und waren schon wieder verschwunden, kaum dass sie wahrgenommen wurden. Hinter den Bäumen trieb sich eine Meute fauchender Wölfe herum, die nichts lieber getan hätte, als den Riesen, den Nekromanten und womöglich auch Salene zu reißen.

Die Edelfrau war in Schweigen verfallen, entweder aus Er­schöpfung, die durch die Flucht bedingt war, oder aus Trauer um ihren Bruder. Er wusste nicht, ob sie ihn hören konnte, doch Zayl wollte auch nicht mit ihr über Sardak reden. Damit würde er nur Gefahr laufen, unabsichtlich seiner Befürchtung Ausdruck zu geben, Sardak könnte Karybdus und Lord Jitan ungewollt das geben, wonach sie strebten. Nicht nur für Sardaks Seele, sondern für alle anderen musste sich Zayl an die Hoffnung klammern, dass Salenes Bruder durch das Gift seines Angreifers gestorben war, ehe Karybdus hatte einschreiten können.

Nur der fleischlose Schädel von Humbart Wessel, der in der Tasche an Zayls Gürtel sicher verstaut war, hatte einen Kom­mentar von sich gegeben, wenngleich er lediglich aus Fragen bestand: »Was zum Teufel ist denn jetzt los? Ist das ein Erdbe­ben? Was passiert hier?«

Nachdem aber minutenlang keine Antwort gekommen war, hatte auch Humbart sich entschlossen, bis auf weiteres zu schweigen.

Der Wendigo schien nicht zu ermüden, obwohl er zwei er­

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wachsene Menschen – und einen Schädel – tragen musste. Doch ebenso wenig ließen sich ihre Verfolger zunächst von dem Tem­po abschrecken, das er vorlegte. Sie hielten mit ihm mit, konnten ihn aber nicht einholen. Zayl schöpfte Hoffnung, als die Ersten von ihnen zurückfielen ...

Doch dann stürzten sich ohne Vorwarnung zwei der Kreaturen, die von vorn kamen, auf den Wendigo! Salene stieß einen Schrei aus, und sogar Zayl musste nach Luft schnappen, als der Riese sie beide losließ. Der Nekromant landete fast an einem Baumstamm, doch seine katzengleichen Reflexe ermöglichten es ihm, sich so­fort zu orientieren und wieder aufzurichten. Er hielt Ausschau nach Salene, entdeckte stattdessen aber den Wendigo, der mit einer Kreatur an seinem Arm und einer auf seiner Brust kämpfte und sich dabei bereits zu den übrigen Verfolgern umdrehte.

Mit seinem Dolch zeichnete Zayl ein geschwungenes Symbol in die Luft und konzentrierte sich dabei auf die beiden vordersten Geschöpfe der Verfolgermeute. Das Paar blieb plötzlich stehen, sah sich nach seinen Artgenossen um ... und dann stürzten sich die zwei mit dem Eifer, mit dem sie ihre Beute gejagt hatten, auf ihresgleichen.

Unter dem Einfluss von Zayls Zauber attackierten die Kreatu­ren die anderen Verfolger, rissen an ihnen und schnappten nach ungeschützten Kehlen. Die Kämpfenden rollten in die Reihen hinter ihnen und machten das Chaos nur noch schlimmer.

Zayl nutzte die kurze Verschnaufpause und lief in die Rich­tung, in der er Salene vermutete.

Zuerst konnte er sie nicht finden, und fast fürchtete er, ein anderer von Jitans Dienern – womöglich eine der Kreaturen, die den nichtsahnenden Wendigo angesprungen hatten – könnte sie bereits verschleppt haben. Das Rascheln der Zweige rechts von

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ihm machte ihn dann endlich darauf aufmerksam, wo Salene steckte.

Zu seinem Entsetzen lief die Edelfrau in die Richtung, aus der sie gekommen waren, offenbar um zu ihrem Bruder zu gelangen.

Unbemerkt folgte ihr der Nekromant. Aus einiger Entfernung hörte er das Brüllen des Wendigos, unter das sich das wütende Fauchen der Verfolger mischte. Zayl wünschte, er hätte dem Waldwesen mehr helfen können, doch er musste Salene daran hindern, etwas offensichtlich Selbstmörderisches zu tun. Sollte Sardak gestorben sein, bevor Karybdus ihn für seine Zwecke hatte missbrauchen können, benötigten ihre Widersacher Lady Nesardo nach wie vor.

Salene rannte blindlings drauflos und war in solcher Panik, dass sie offenbar nicht genau wusste, in welche Richtung sie laufen musste. Zayl dagegen folgte ihr, als wäre er in diesem Wald aufgewachsen, indem er geschickt zwischen den Bäumen hindurchlief und tiefhängenden Ästen sowie hochstehenden Wurzeln auswich.

Der Rathmaner hatte sie nach kurzer Zeit eingeholt. Salene schien ihn nicht zu hören, während Zayl jeden ihrer hastigen Atemzüge vernahm ... und auch, wie sie von Zeit zu Zeit den Namen ihres Halbbruders rief. Salene war wie besessen von Sar­dak. Sie würde es erst aufgeben, zu ihm gelangen zu wollen, wenn ihrem Körper die Kraft fehlte, auch nur noch einen Fuß vor den anderen zu setzen – oder wenn Zayl sie zu fassen bekam.

Er streckte einen Arm nach ihr aus, versuchte, ihren Mantel zu packen ...

In dem Moment baute sich vor ihr eine alptraumhafte Gestalt auf. Die Kreatur griff mit vier Armen nach Salene. Die Fangzäh­ne bewegten sich auf ihren Hals zu und ...

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Eine Sekunde später kreischte die Kreatur vor Schmerz auf, da sich ein Feuer über ihren Rücken ausbreitete. Sie zuckte wild und ließ die Edelfrau los, dann fiel sie nach hinten auf den Boden.

Das Feuer erlosch in dem Augenblick, in dem die Kreatur starb. Salene, in deren Hand das Leuchten der Flammen bereits verblasste, betrachtete kurz den Kadaver, dann rannte sie weiter.

Der Kampf hatte lange genug gedauert, sodass Zayl sie einho­len konnte. Mit der rechten Hand packte er ihren Arm. »Mylady Nes...«

Sie schaute ihn über die Schulter an, ihr Gesichtsausdruck war schrecklich anzusehen. Instinktiv legte sie ihre Hand – die schon wieder zu glühen begann – auf seinen Handschuh, der augen­blicklich in Flammen aufging.

Hätte sie seine linke Hand genommen, wäre Zayl grausamen Schmerzen ausgesetzt gewesen. So aber war er gezwungen, Sale-ne loszulassen und den brennenden Stoff in aller Eile von seiner Hand zu schleudern.

Der Anblick seiner fleischlosen Gliedmaße ließ Salene schließ­lich zusammenzucken. Sie starrte auf seine Hand, den brennen­den Handschuh, und dann richtete sie ihren Blick auf seine Au­gen.

»Ich wollte nicht ... ich ...« »Ihr müsst Euch dafür nicht entschuldigen«, unterbrach er sie

leise. »Kommt lieber mit! Schnell!« Er versuchte, sie in Richtung Westmarch zu dirigieren, doch

Salene entzog sich seinem Griff. »Nein! Sardak braucht mich! Er braucht mich!« »Sardak ist tot«, gab er mit finsterer Miene zurück. »Er gab

sein Leben, um Eures zu retten, Mylady! Sein ...« Fast hätte er »Opfer« gesagt, doch im letzten Augenblick konnte er sich zu­

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rückhalten. »... Mut darf nicht vergebens gewesen sein. Wir müssen uns nach Westmarch wenden!«

»Wir können nicht dorthin zurück. Torion ...« »Er wird Euch nichts antun, sondern Euch nach Kräften be­

schützen, Mylady.« Sie stemmte trotzig die Hände in die Hüften. »Und was ist mit

Euch?« »Ich werde schon einen Weg finden. Nun ...« Salene wandte sich von ihm ab. »Nein! Es muss noch etwas

anderes geben, wohin wir gehen können.« Sie schaute ihn wieder über die Schulter an. Ihr war anzusehen, wie sehr ihr die Erei­gnisse zu schaffen machten. »Außerdem kann ich ihn fühlen! Er braucht mich!«

Ihn fühlen? War ihre Verbindung zu Sardak so eng, dass sie fühlen konnte, ob er lebte oder ob er tot war? Sardak hatte zuvor etwas Ähnliches angedeutet. Diese Möglichkeit gab Zayls Sorge neue Nahrung, Karybdus könnte das ursprüngliche Opfer durch den sterbenden Bruder ersetzen.

Doch Zayl konnte kein Risiko eingehen. Salene musste mit ihm mitkommen. Da sie den Blick wieder von ihm abgewandt hatte, hob Zayl den Dolch.

»Vergebt mir, Salene«, flüsterte er. Mit dem Heft berührte er ihren Hinterkopf, woraufhin Salene

nach Luft schnappte und dann fiel. Mit einem Satz gelang es dem Nekromanten, sie aufzufangen, bevor sie auf dem Waldboden landete.

»Was hast du gemacht?«, wollte prompt Humbart wissen. Da er um die Gefahr gewusst hatte, die eine Ablenkung für seinen Freund bedeutet hätte, war er während des gesamten Kampfs stumm geblieben, doch jetzt hielt er es für unbedenklich, sich zu

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Wort zu melden. »Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß, du hast irgendetwas mit dem Mädchen gemacht.«

»Ruhe, Humbart. Ich habe keine andere Wahl.« Der Schädel murrte, sagte aber weiter nichts. Als er ihr Gesicht zu sich drehte, waren ihre Augen offen. Zayl

wartete, bis er Gewissheit hatte, dass sie nicht doch noch blinzeln würde, dann flüsterte er ihr zu: »Ihr werdet mit mir kommen, Salene Nesardo. Ihr werdet in die Stadt zurückkehren. Selbst wenn mir etwas zustoßen sollte, werdet Ihr alles unternehmen, um nach Westmarch zurückzukehren und General Torion zu warnen.«

Torion würde ihr zuhören. Und er würde Salene vor jeder Ge­fahr beschützen. Es gab keinen besseren Schutz als die Liebe.

Als er sie losließ, straffte Salene die Schultern. Ihre Augen waren nach wie vor starr, doch sie drehte sich in die Richtung, in der die Stadt lag. Zayl nickte zufrieden, dann machten sie sich auf den Weg. Salene setzte sich in Bewegung, als er den ersten Schritt tat, wobei jede ihrer Bewegungen eine exakte Kopie seiner Handlungen war. Angesichts der Tatsache, dass Karybdus den gleichen Zauber bei ihr angewandt hatte, kamen in ihm Schuld­gefühle auf, auch wenn Salene ihm wirklich keine andere Wahl gelassen hatte.

Plötzlich herrschte Totenstille im Wald. Ob das ein gutes oder ein Unheil kündendes Zeichen war, konnte der Zauberkundige nicht sagen. Der Wendigo war für ihn ein so zuverlässiger Ge­fährte geworden wie vor ihm Hauptmann Kentril Dumon in Ureh. Der Waldbewohner hatte mehr als einmal sein Leben für Zayl aufs Spiel gesetzt – und auch für Salene und Sardak.

Das machte ihn umso entschlossener, die Hauptstadt zu errei­chen, ganz gleich, welches Risiko er damit für sich selbst einging.

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Er zog es gar nicht erst in Erwägung, den Tunnel zu benutzen, der zurück in die Gruft des Hauses Nesardo führte. Selbst wenn er davon ausging, dass der Weg durch die Höhle überhaupt noch existierte, würde er Gefahr laufen, wieder von den Anhängern Astroghas angegriffen zu werden. Zwar glaubte er, dass die Ma­gie verschwunden war, die sie zum Leben erweckt hatte, doch er konnte nicht Salenes Leben aufs Spiel setzen.

Nein, sie würden allein schon Salene zuliebe den Weg durch das Stadttor nehmen müssen.

Ein Heulen beendete die Stille. Als es verstummte, setzte ein weiteres ein, dann noch eins ...

»Was ist denn das?« »Humbart, du sollst ruhig sein. Ich ...« Erst da wurde Zayl bewusst, dass der Tag zwar der Nacht ge­

wichen war, dass aber immer noch ein Licht vom Himmel auf ihn herabschien.

Der Rathmaner sah auf und betrachtete den Mond ... Doch ei­nen solchen Mond hatte er noch nie zu Gesicht bekommen. Es war ein Vollmond, obwohl dies nicht die Zeit für einen Vollmond war. Zudem wirkte er viel größer und näher als sonst.

Am oberen Rand hatte ein fast schon bedrohlich wirkender Schatten begonnen, sich über die weiße Scheibe auszudehnen.

Ein Schatten, von dem acht Gliedmaßen herabhingen. »Odyssians Keil!«, rief der Nekromant aus. Er beschleunigte

sein Tempo, bis er fast rannte. Salene, die unter seinem Zauber stand, folgte ihm gehorsam.

»Was immer es ist, es kann also nichts Gutes sein«, beklagte sich Humbart. »Ich wünschte, ich könnte dir noch ein Paar zu­sätzlicher Beine leihen ...«

Zayl antwortete nicht. Die Wölfe heulten weiter, und immer

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mehr ihrer Artgenossen stimmten in den klagenden Gesang ein. Zayl konnte auch die Rufe von Eulen und anderen Nachtvögeln hören. Die Bewohner des Waldes hatten die unnatürliche Veränderung bemerkt, die den Mond heimsuchte.

Sein Blick wanderte immer wieder über seine Schulter, wäh­rend er weiterlief, doch er konnte keine Verfolger bemerken. Es war denkbar, dass der Wendigo alle Kreaturen getötet hatte – und dabei zweifellos selbst umgekommen war –, oder aber die überlebenden Ungeheuer hatten die Fährte verloren und irrten nun durch den Wald. Das waren die Möglichkeiten, die für Zayl mit einem Funken Hoffnung verbunden waren.

Die dritte Möglichkeit war die, vor der er sich am meisten fürchtete. Es war nämlich auch denkbar, dass Jitans Diener zu ihrem Meister zurückgekehrt waren, da Zayl und Salene nicht länger benötigt wurden – weder vom Edelmann noch von Karyb­dus. Sollte Sardaks Blut für ihre schändliche Aufgabe genügen, dann ... dann hatte Zayl den Triumph der beiden durch seine Flucht möglich gemacht.

Abrupt blieb er stehen. Salene machte es ihm automatisch nach.

Der Nekromant tat einen Schritt in die Richtung, in der Ka­rybdus zu finden war. Auch dies tat die Edelfrau ihm gleich.

So ging es nicht. Er richtete seine verstümmelte Hand auf sie und sprach: »Salene, hört mir zu! Ihr werdet ohne mich weiter­gehen. Der Zauber, den ich ...«

Er hielt inne, da er einen Zweig knacken hörte. Der Nekro­mant wirbelte herum und erwartete, die dämonischen Verfolger vor sich stehen zu sehen oder – wie durch ein Wunder – den Wendigo.

Stattdessen aber hörte er ein Pferd schnauben.

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Und plötzlich stürmten von allen Seiten Reiter in Rüstungen auf ihn zu, die Waffen gezogen und auf den Rathmaner gerichtet. Sie ritten in einem engen Kreis um ihn herum, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Einer der Reiter kam Salene zu nahe. Aus Angst, sie könnte verletzt werden, wollte Zayl sie an sich ziehen.

»Nehmt Eure dreckigen Dämonenhände von ihr, Nekromant! Und lasst Euren Dolch fallen.«

Während die anderen Soldaten ihre Pferde anhielten, kam ein Offizier näher, der einen mit Federn besetzten Helm trug. Zayl hatte den Mann noch nie gesehen, doch die Verachtung in sei­nem Tonfall grenzte an eine persönliche Abneigung.

»Das Schicksal ist zweifellos auf meiner Seite«, freute sich der Mann. »Der unauffindbare Zayl. Endlich! Ich kam zu dem Schluss, dass Ihr Euch nicht mehr in der Stadt aufhalten konntet, deshalb erklärte ich mich freiwillig bereit, diesen Suchtrupp per­sönlich anzuführen. Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass das Glück es so gut mit mir meinen könnte.« Der Offizier zog sein Schwert und erweckte den Eindruck, als wolle er den Nekroman­ten enthaupten. »Jetzt können wir Eurem üblen Treiben endlich ein Ende setzen.«

»Hört mich an«, widersprach Zayl. »Das Königreich ist in Ge­fahr! Ihr müsst ...«

»Schweigt, Hund!«, rief einer der anderen Soldaten. Er holte nach dem Zauberkundigen aus und zwang ihn, einen Satz nach hinten zu machen, um nicht verletzt zu werden.

Salene vollzog seine Bewegung nach. Der Anführer der Patrouille fluchte. »Wie könnt Ihr es wagen,

so mit ihr umzuspringen? Nehmt den Zauber von ihr, den Ihr gewirkt habt, wenn Ihr nur einen Funken Hoffnung hegen wollt,

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dass Euch Gnade gewährt wird, Hexenmeister.« Obwohl er daran zweifelte, dass ihm unter welchen Umstän­

den auch immer Gnade gewährt werden könnte, gehorchte Zayl. Welches Schicksal ihn auch erwartete, würde er doch alles tun, um Salene zu schützen.

Eine simple Handbewegung genügte, um den Zauber aufzuhe­ben. Die Edelfrau hustete und kniff die Augen zusammen, dann wurde ihr langsam bewusst, dass nicht nur der Nekromant anwe­send war, sondern auch bewaffnete Reiter. Ihr Blick richtete sich auf den Anführer des Trupps.

»Alec?« »Bitte Hauptmann Mattheus, Mylady.« Mit einem Finger be­

rührte er die Vorderkante seines Helms, um ihr seinen Respekt zu bekunden. »Darf ich Euch sagen, wie erfreut ich bin, dass dieser Unhold Euch allem Anschein nach nichts angetan hat?«

»Wen meint Ihr? Zayl?« »Mylady«, warf der Zauberkundige ein. »Es ist unbedingt

erforderlich, dass Ihr Euch mit diesen Männern zu General Torion begebt und ihm sagt, was wir erlebt haben ...«

»Ihr sollt ruhig sein!«, fauchte der Soldat, der gerade schon einmal nach Zayl geschlagen hatte. Diesmal erwischte er ihn mit der Breitseite seines Schwerts an der Schulter, sodass der Rathmaner einige Schritte nach vorn machen musste, ehe er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Salene reagierte wutentbrannt darauf. »Hört gefälligst damit auf, fuhr sie den Soldaten an, der sich aber nicht davon beein­druckt zeigte. Sie wandte sich Mattheus zu. »Alec ... Hauptmann Mattheus ... Zayl ist mein Freund, und er hat mir gerade das Leben gerettet!«

»Er ist ein Ketzer und eine Bedrohung für das Königreich ...«

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»Ein Ketzer soll er sein? Und Ihr seid plötzlich ein Krieger der Kirche von Zakarum? Und wieso soll er eine Bedrohung darstel­len? Ich verdanke ihm und Sardak ...« Sie stockte. »Armer Sardak ...« Nach einem Moment hatte sie sich gefasst und versteifte sich, als sie fortfuhr: »Wenn Ihr heute Nacht einen Übeltäter fassen wollt, Hauptmann Mattheus, dann solltet Ihr nach Lord Aldric Jitan Ausschau halten! Er wollte mich opfern!«

Wie von Zayl erwartet, blickte der Offizier sehr zweifelnd drein. »Ihr sagt, Lord Aldric Jitan, ein hochrangiges Mitglied des Adelsrats, wollte Euch opfern, Mylady? Und wem, wenn ich das fragen darf?«

»Irgendeinem Spinnendämon! Es ...« Er schnitt ihr das Wort ab. »Ihr steht ganz offensichtlich noch

immer unter irgendeinem Zauber dieses Hexenmeisters! Oder Euer Verstand ist von den Strapazen so mitgenommen, dass Ihr diesen Mann mit Lord Jitan verwechselt.«

»Mit Vernunft ist ihm nicht beizukommen«, sagte Zayl zu Sa­lene. »Am besten wäre es, wenn ...«

»Vernunft?« rief der Hauptmann verächtlich. »Mir ist hier nichts zu Ohren gekommen, was auch nur im entferntesten ver­nünftig klingt!« Überraschend steckte Mattheus sein Schwert weg. »Mir ist klar, dass diese Situation schwieriger ist, als es mir lieb sein könnte. Wir werden Euch beide zum General bringen, damit er Euch diesen Unsinn austreibt – verzeiht, wenn ich das so sage, Lady Nesardo.« Bevor sie protestieren konnte, fuhr er fort: »Was Euch angeht, Nekromant, habt Ihr einen Aufschub erhalten ... aber nur einen vorläufigen. Brennard, binden Sie ihm die Hände auf den Rücken. Yorik, Ihr Pferd bekommt die Lady! Sie reiten mit Samuel zusammen weiter. Sein Pferd ist das Größ­te und Stärkste.«

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»Aye!«, erwiderten die angesprochenen Männer. Brennard, ein bärtiger Veteran mit einer Narbe auf der Nase, näherte sich Zayl, als würde Diablo persönlich vor ihm stehen.

»Nehmt die Arme auf den Rücken«, wies er ihn schroff an. Der Nekromant gehorchte, doch als Brennard die rechte Hand

genauer sehen konnte, begann er zu fluchen. »Hauptmann, die Hand ist bis auf den Knochen verwest. Au­

ßer Knochen sind da nur noch Sehnen zu finden.« »Ja, und? Was erwarten Sie denn von einem dieser Sorte? Es

ist trotz allem eine Hand. Und keine Sorge. Wenn er irgendeinen Trick versucht, hat sich sein Aufschub von selbst erledigt. Habt Ihr verstanden, Meister Zayl?«

In diesem Moment schallte wieder Geheul durch die Nacht. Einige Soldaten sahen sich nervös um.

»Die verdammten Bestien spielen wieder verrückt«, murmelte Yorik, der inzwischen abgesessen war.

»Nur ein Rudel Hunde, das den Mond anheult«, gab der Hauptmann zurück. »Wenn es dafür einen unnatürlichen Grund gibt, dann steht er vor euch.«

Zayl nahm von der Bemerkung keine Notiz, sondern beobach­tete den Mond. Es war das Einzige, was er tun konnte, um seine Sorge zu überspielen. Die Gliedmaßen des finsteren Schattens erstreckten sich inzwischen fast bis zum unteren Rand.

Der Spinnenmond war also ein Artefakt und auch eine Mond­phase. Jitan besaß das eine, und nun war die Phase, die das andere ausmachte, fast erreicht. Zayl konnte nur raten, was geschehen würde, wenn der wirkliche Mond dieser Darstellung glich.

In jedem Fall bedeutete es für die Stadt etwas Verheerendes. »Die Augen so, dass ich sie sehen kann«, befahl der Haupt­

mann. Er und die anderen Soldaten schienen den unheilvollen

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Anblick nicht zu bemerken, den der Mond bot. Zayl konnte nicht erst in die Stadt zurückkehren. Ganz offen­

sichtlich blieb so gut wie keine Zeit mehr. Er musste umkehren, und zwar so bald wie möglich, um Karybdus und den Edelmann an ihrem Vorhaben zu hindern.

Er drehte sich leicht, sodass die Gürteltasche an seiner Seite in Bewegung geriet.

Hauptmann Mattheus’ Blick richtete sich sofort auf diese Ta­sche. »Brennard, sehen Sie nach, was er darin mit sich führt.«

Brennard war nicht sehr erfreut über den Befehl, wollte ihn aber dennoch ausführen. Als seine Finger die Gürteltasche be­rührten, brüllte eine wütende Stimme: »Was glaubst du eigent­lich, wen du da befingerst?«

Der Mann machte einen Satz nach hinten. Einige Pferde schnaubten, und etliche traten nervös auf der Stelle.

»Fasse ich dich etwa an?«, fuhr Humbart fort. »Ja, mache ich das? Ich glaube kaum! Dass ich gar keine Finger habe, tut da nichts zur Sache ...«

Die Pferde begannen zu scheuen, Yorik hatte Mühe, sein Tier zu bändigen.

Zayl warf sich gegen Yorik, obwohl dieser größer und schwe­rer als der Rathmaner war. Der wurde von der Attacke jedoch so überrumpelt, dass er nach hinten taumelte.

Mit einer fließenden Bewegung sprang Zayl in den Sattel und streckte die Skeletthand aus, damit sie den Dolch fangen konnte, der ihm vom Boden entgegengeflogen kam. Fassungslos sah Brennard mit an, was sich vor seinen Augen abspielte. So ge­bannt war er, dass er sich nicht rührte.

Der Einzige, der wirklich reagierte, war Hauptmann Mattheus, der sein Schwert zog und auf Zayl losstürmte. »Samuel, Sie

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kümmern sich um Lady Nesardo. Bringen Sie sie mit den restli­chen Männern zurück in die Stadt. Ihr sechs kommt mit mir! Ich will diesen Hund!«

Salene streckte ihre Hände nach dem Nekromanten aus. »Zayl, nehmt mich mit!«

Doch er schüttelte den Kopf. »Ihr müsst General Torion war­nen! Sagt ihm, heute Nacht wird etwas Schreckliches geschehen! Er muss die Stadtmauern mit Feuer bewachen lassen. Sagt ihm, er soll auf Spinnen achten!«

»Zayl ...« Sollte sie ihm noch etwas zugerufen haben, konnte er sie nicht mehr hören, da er schon zu weit weg war.

Das Pferd, das er gestohlen hatte, war ein exzellenter Sprinter, so wie er es auch vermutet hatte. Doch die Männer, die ihn ver­folgten, verfügten über vergleichbar schnelle Tiere. Zayl verfluch­te den Aspekt des Gleichgewichts, der darauf zu bestehen schien, dass er vor jedem seiner Widersacher die Flucht ergreifen musste. Hauptmann Mattheus und seine Männer waren ihm dabei ein besonderer Dorn im Auge, da sie ihm aus purer Ignoranz auf den Fersen waren. Er strebte danach, ihnen das Leben zu retten, doch sie sahen immer nur das Monster in ihm, während der elegant gekleidete Lord Jitan für sie über jeden Zweifel erhaben war.

Karybdus wird sich über meine Kapriolen sicher amüsieren, dachte Zayl verbittert. Ich bin ihm allenfalls so sehr zur Last gefallen wie ein Floh.

Die Wölfe heulten immer noch. Zayl sah wieder zum Mond und stellte fest, dass der Schatten, der sich über ihn schob, mehr und mehr wie eine riesige Spinne wirkte, die den Trabanten ver­schlingen wollte. Der Rathmaner fürchtete, bereits zu spät zu kommen.

Hauptmann Mattheus und seine Männer folgten ihm mit ge­

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zogenen Schwertern, wobei jeder Reiter einen eigenen Pfad durch den Wald nahm, um den Gejagten einholen zu können. General Torion würde zweifellos den Mann auszeichnen, der ihm den Kopf des Nekromanten brachte.

Zayl ritt immer tiefer in den Wald hinein, konnte seine Ver­folger aber nie wirklich abschütteln. Dabei ging es ihm nicht mal so sehr darum, ihnen einfach nur zu entkommen. Vielmehr be­stand nach wie vor das Risiko, dass Lord Jitans groteske Diener auf der Jagd nach ihm waren, und Zayl fürchtete, der nichtsah­nende Hauptmann könnte mit seinen Leuten zwischen die Fron­ten geraten. Allerdings konnte er auch nichts tun oder sagen, um die Männer zur Umkehr zu bewegen, es sei denn, er lieferte sich ihnen aus, damit sie ihre »Gnade« walten lassen konnten.

Dieser Gedanke ließ Zayl sein Pferd zu noch größerer Eile an­treiben. Ein Blick zum Mond zeigte ihm, dass der Schatten ihn fast völlig überzogen hatte. Er konzentrierte sich auf die dunkle Landschaft.

Plötzlich stutzte er, da ihm auffiel, wie still es ringsum gewor­den war. Nicht nur die Wölfe hatten ihr nervöses Heulen einge­stellt, auch die anderen Tiere waren verstummt.

Er konnte nicht anders und sah wieder hinauf zum Mond. Doch in diesem Moment ließ etwas auf dem Weg vor ihm sein Pferd scheuen. Das Tier bäumte sich auf, und Zayl konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten. Mit den Hufen keilte das Pferd in die Dunkelheit aus, dann machte es so abrupt kehrt, dass der Nekromant den Halt verlor.

Erschrocken wiehernd galoppierte das Tier zurück in Richtung Hauptstadt, während Zayl durch das Gras rollte und erst bei einem dichten Busch liegen blieb.

Noch während er sich aufrichtete, hörte er Hufgetrappel und

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einen Ruf von Hauptmann Mattheus. Die Patrouille hatte ihn fast eingeholt.

Zayl sprang auf und eilte hinter den nächstgelegenen Baum. Er drückte sich gegen den Stamm und vertraute darauf, dass seine schwarze Kleidung und vor allem sein Mantel ihn mit der nächtlichen Landschaft eins werden ließen.

Einer der Männer ritt vorüber – nicht der Hauptmann, sondern ein aufmerksam um sich blickender Soldat, der fast so hünenhaft war wie der Wendigo. Kaum hatte er das Versteck des Nekroman­ten passiert, ließ er sein Pferd langsamer werden. Er sah über die Schulter und richtete seinen Blick genau auf seine Beute.

Doch er entdeckte Zayl nicht. So lange der stillstand, hatte er eine gute Chance, unbemerkt zu bleiben.

Dann endlich wandte sich der Soldat ab und suchte den Weg vor sich ab, während er langsam weiterritt. Pferd und Reiter verschwanden allmählich im Wald.

Als Zayl seinen geschützten Platz am Baum verließ, meldete sich Humbart leise zu Wort. »Was ist los, Jüngelchen? Ver­dammt, wie ich das hasse, hier festzustecken ...«

»Ruhig, Humbart! Wir sind noch tiefer in den Wald vorgedrungen. Ich sage es dir, wenn irgendetwas passiert.« Nach einer kurzen Pause fügte er an: »Und danke für deine Wortmeldung. Sie kam genau zum richtigen Zeitpunkt.«

»Nicht der Rede wert. Aber sei lieber vorsichtig. Irgendetwas stimmt hier nicht ...«

Der Schädel bezog sich damit nicht auf den Mond, sondern auf das gleiche Unbehagen, das auch Zayl verspürte. Etwas hielt sich ganz in der Nähe auf und näherte sich seinem Standort. Es schien sich nicht um Lord Jitans Gefolgsleute zu handeln, und dennoch ...

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»Halt! Bleibt stehen!« Hauptmann Mattheus und ein weiterer Soldat kamen in

Sichtweite geritten. Zayl fluchte stumm. Was immer es war, das er wahrgenommen hatte, es hatte ihn von seinem anderen Pro­blem abgelenkt.

Er wollte in die andere Richtung davonlaufen, doch auch von dort näherte sich ihm ein Reiter. Der Nekromant hob seinen Dolch, doch bevor er irgendeinen Zauber wirken konnte, bekam er einen heftigen Schlag in den Rücken ab.

Er landete mit dem Gesicht voran auf dem Boden. Ehe er sich aufrichten konnte, wurde er vom schweren Stiefel einer Rüstung zurück in den Dreck gedrückt.

Metallisches Scheppern kündigte an, dass sich ihm noch je­mand näherte. Sekunden später hörte er Hauptmann Mattheus sagen: »Na, endlich! Bringen wir es hinter uns! Dreht ihn auf den Rücken, damit es so aussieht, als hätte er sich zur Wehr ge­setzt und getötet werden müssen.«

»Aye, Hauptmann.« Der Soldat, der den Rathmaner niederge­schlagen hatte, drehte ihn nun auf den Rücken. Links von Zayl stand Mattheus und grinste breit.

»Abschaum! Der General wird sich sehr über die Todesnach­richt freuen.«

Zayl versuchte, seinen Dolch zu rufen, doch eine andere Kraft hielt ihn zurück. Er sah in die Richtung, in die die Waffe geflo­gen war, und stellte fest, dass einer der Soldaten seinen Stiefel darauf platziert hatte.

»Genug von diesen Spielchen!«, murmelte Torions Unterge­bener, dann sagte er zu dem Soldaten: »Erledigen Sie ihn! So­fort!«

Der andere Mann hielt ein scharfes Schwert über Zayls Brust

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und hob die Arme so hoch, wie er konnte, damit er die Spitze der Klinge genau durch das Herz des Nekromanten treiben konnte.

Zayl versuchte, einen Zauber zu wirken, aber ihm fehlte es an Atemluft und an der nötigen Konzentration. Da keine Hoffnung auf Rettung mehr bestand, bereitete er sich auf die Reise vor, die ihn auf die nächste Existenzebene bringen würde. Der Nekro­mant betete, dass Rathma und Trag’Oul seine Anstrengungen in dieser Welt für würdig erachten würden.

Dann jedoch sah Hauptmann Mattheus an Zayl vorbei und fragte: »Was ist denn das?«

Im nächsten Augenblick schrie einer der Soldaten auf. Ein Pferd wieherte. Etwas huschte an Zayls Kopf vorbei. Es war zu klein, um einer von Jitans verwandelten Dienern zu sein, doch die Aura war eine ähnliche.

»Weg damit! Runter von mir!«, hörte er einen weiteren Sol­daten aufschreien.

Jemand fluchte, das Scharren von Hufen war zu hören, als wollte einer der Soldaten davonpreschen, dann folgte ein erstick­ter Laut eines Pferdes, und dann ein weiterer Aufschrei eines Menschen.

Der Soldat, der sich vor Zayl aufgebaut hatte, zögerte und sah in die gleiche Richtung wie sein Hauptmann.

Der Nekromant trat mit aller Kraft gegen die Beine des Man­nes, der daraufhin den Halt verlor und nach hinten stürzte.

Hauptmann Mattheus sah das und schien zu vergessen, dass sein Trupp angegriffen wurde. Stattdessen schlug er nach Zayl, doch seine Schwertspitze bohrte sich lediglich an der Stelle in die Erde, an der sich eben noch die Kehle des fahlen Zauberkundigen befunden hatte.

Zwei weitere düstere Schemen huschten an dem Nekromanten

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vorbei, der sich erhob und genug sah, um zu wissen, welche Be­drohung auf sie alle wartete. Ein kurzer Blick zum Mond – der von dem Schatten völlig überzogen war – bestätigte Zayls schlimmste Befürchtungen.

Der Mann, den er zu Fall gebracht hatte, stieß einen Schrei aus, und als Zayl sich nach ihm umdrehte, bot sich ihm ein gräss­liches Bild. Fast das gesamte Gesicht des Soldaten war von einer schwarzen, pelzigen Kreatur bedeckt, die acht Beine, unmensch­lich blickende Augen und gefährliche Fangzähne hatte.

Es waren die gleichen Parasiten wie die, die er auf den Köpfen der mutierten Diener gesehen hatte.

Allen Anstrengungen zum Trotz schaffte es der Soldat nicht, sich von der Spinne zu befreien. Hauptmann Mattheus schritt überraschend ein und erstach die Kreatur, tötete damit zugleich aber auch seinen Soldaten.

»Verflucht! Verflucht!« Der wütende Offizier wirbelte zu Zayl herum. »Ruft sie zurück, Hexenmeister! Ruft sie zurück, dann verschone ich Euer Leben. Das ist Eure letzte Chance!«

»Ich habe keine Kontrolle über sie, Hauptmann! Sie dienen Lord Jitan ... jedenfalls derzeit.«

Torions Untergebener wollte ihm das nicht abnehmen und be­gann, mit seinem Schwert nach Zayl zu schlagen, während ringsum seine Männer vergeblich um ihr Überleben kämpften. Sie lagen oder knieten auf dem Boden und zerrten verzweifelt an den Monstern auf ihren Köpfen. Die meisten Pferde waren da­vongelaufen, doch zwei von ihnen lagen reglos auf dem Boden, auf dem Kopf jeweils einen der Parasiten.

Plötzlich wurde einer der angegriffenen Soldaten ruhig. Er hatte sein Aussehen nicht verändert, was Zayl überraschte, da er von einer Verwandlung wie bei den Gefolgsleuten des Edelmanns

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ausgegangen war. Stattdessen erhob sich der Mann, in dessen Kopf sich die Spinnenbeine gebohrt hatten, und drehte sich lang­sam zu Zayl und Mattheus um.

»Es wäre klug von Euch, die Flucht anzutreten, Hauptmann«, drängte der Nekromant. »Rennt so schnell Ihr nur könnt zurück nach Westmarch. Rennt, als sei das Erzböse selbst hinter Euch her – denn genau das ist der Fall!«

Hauptmann Mattheus erwies sich jedoch als halsstarriger Mann. »Versucht nicht, mich einzuschüchtern, Hexenmeister! Eine Klinge durch Euer schwarzes Herz genügt, um dem Zauber ein Ende zu setzen und meine Männer zu befreien!«

Wieder musste Zayl dem Schwert ausweichen. Der Soldat hol­te zum nächsten Hieb aus, da landete eine Spinne auf seiner Schulter. Der Hauptmann versuchte, sie abzuschütteln, hätte sich die Mühe aber sparen können.

Eine zweite sprang ihm in den Rücken. »Fort mit euch, verdammt!«, rief er aus. Bei seinem Bemühen,

die Kreatur auf seinem Rücken loszuwerden, schlug er sich den Helm vom Kopf.

Zayl erkannte sofort die tödliche Gefahr für den Mann. »Hauptmann! Euer Helm! Setzt ihn auf, sonst ...«

Anstatt auf den Rat zu hören, holte Mattheus ein weiteres Mal nach dem Zauberkundigen aus. Gleichzeitig sprang die erste Spinne von der Schulter auf seinen Kopf.

Der Offizier schrie gellend auf, als sich die nadelspitzen Glied­maßen durch Fleisch und Knochen bohrten. Er unternahm noch einen Versuch, den Angreifer abzuschütteln, doch dann sank er auf die Knie.

Zayl wusste, es war zu spät, um den Mann noch zu retten. Während er zwei Spinnen wegschleuderte, die sich an seinem

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Mantel festzuklammern versuchten, wollte er die Flucht ergrei­fen. Doch dann sah er sich einer neuen Bedrohung gegenüber.

Die Soldaten, die nun alle von einem der Parasiten gelenkt wurden, versperrten ihm den Weg. Ihre Augen starrten den Rathmaner ausdruckslos an, jeder von ihnen hielt seine Waffe in der Hand.

Zayl zog seinen Dolch und holte mit der leuchtenden Waffe nach den Männern aus, die wie erhofft vor der Klinge zurückwi­chen.

Doch plötzlich erhielt er einen so heftigen Schlag auf seinen Arm, dass der Dolch seinen Finger entglitt und das Leuchten nachließ.

Jemand packte ihn von hinten, und dann hörte er die Stimme von Hauptmann Mattheus direkt an seinem Ohr.

»Hört auf, Euch zu wehren, Hexenmeister. Ihr zögert das Un­vermeidliche nur hinaus.«

Die Stimme des Hauptmanns – aber Lord Aldric Jitans Worte ...

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ACHTZEHN

Es war für Salene kein Problem, zu General Torion zu gelangen. Der Mann, der den nach Westmarch zurückkehrenden Trupp anführte, brachte sie auf direktem Weg zu seinem Kommandan­ten, wobei er mehrere Wachposten umging.

Nein, Salene hatte keine Schwierigkeiten, zu Torion zu gelan­gen ... aber ihn vom Wahrheitsgehalt ihrer Schilderung zu über­zeugen, war eine ganz andere Sache.

»Lord Jitan?«, wiederholte der General leise. Er wollte eine Hand auf ihre Schulter legen, entschied sich dann aber dagegen und lehnte sich stattdessen gegen die Schreibtischkante, während er die Edelfrau nachdenklich ansah. »Lasst uns einen Priester holen, Salene. Ganz offensichtlich steht Ihr noch unter einem Zauber dieses Finsterlings. Die einzige Bedrohung für die Sicher­heit von Westmarch geht von ihm aus.«

»Aber Jitan ...« »Zwar kann ich den arroganten Mistkerl nicht ausstehen –

und das nicht nur, weil auch er um Eure Hand anhält –, aber es gibt keinen Beweis für Eure Worte. Eine bloße Aussage des einen Edelmanns über einen anderen genügt nicht mehr. Wenn es noch so wäre, würde sich die gesamte Aristokratie in den Zellen ge­genseitig im Weg stehen.«

Salene stellte sich dicht vor ihn und legte eine Hand auf seine Brust. »Torion ... sorgt wenigstens dafür, dass die Wachen auf den äußersten Mauern verdoppelt werden. Zayl sagte etwas über Spinnen ...«

Wieder fiel er der Edelfrau ins Wort. »Erstens glaube ich

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kaum, dass wir uns über Spinnen Gedanken machen müssen, Salene. Wären wir hier in Lut Gholein oder in Kehjistan, der Heimat dieses Nekromanten, könnte ein Schwarm Giftspinner für die Bauernhöfe ein Grund zur Sorge sein. Aber die wenigen giftigen Spinnen in unserem Reich sind wohl kaum eine Panik wert...«

»Eine Giftspinne entschied über die Thronfolge, Torion«, gab sie zu bedenken.

»Purer Zufall, doch darum geht es nicht. Selbst wenn ich Euch würde beruhigen wollen, wäre ich dazu nicht in der Lage. Es sind nicht nur die Patrouillen, die nach Eurem verdammten Hexen­meister Ausschau halten. Angesichts der für morgen früh anste­henden Machtdemonstration habe ich bereits über die Hälfte meiner Männer, die dort normalerweise ihren Dienst verrichten, von den Stadtmauern abgezogen. Der König möchte, dass eine ausgeruhte, kraftvolle Streitmacht anwesend ist, wenn er sich dem Haufen Bastarde vorstellt, die ihm nach der Krone trachten. Wenn sie ...«

Nun war es Lady Nesardo, die ihn unterbrach. Ungläubig frag­te sie: »Die Stadtmauern ... die äußeren Mauern ... sind unbe­wacht?«

»Nur während der morgigen Zusammenkunft. Und in erster Linie gilt das für die Mauern, die zu den Wäldern hin liegen. Bis auf ein paar Wendigos und vielleicht eine Diebesbande ist von dort auch nichts zu befürchten.«

»Die Stadtmauern ...« Sie versuchte nachzudenken. Justinian hat darum gebeten?«

»Eine ungewöhnliche Entscheidung, die aber umsetzbar ist. Er hat damit Recht, dass er Stärke demonstrieren muss. Es ist die einzige Lösung, um rechtzeitig genügend Männer zusammenzu­

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holen, denen er vertrauen kann.« Er atmete schwer aus. »Salene, in mancher Hinsicht könnte man glauben, Cornelius sei wieder­geboren. Das Jüngelchen hat so seine Marotten, aber es macht sich wirklich.«

Die Edelfrau konnte noch immer nicht fassen, was sie da hör­te. »Justinian ...«, murmelte sie. »Justinian hat das angeordnet ...«

Plötzlich stand Torion auf und sah an ihr vorbei. »Apropos Ju­stinian ... dort kommt Edmun Fairweather.«

Salene drehte sich um und wäre fast mit dem Adjutanten des Königs zusammengestoßen. Edmun Fairweather machte einen Schritt nach hinten, lächelte höflich und verbeugte sich. »Die reizende Lady Nesardo! Das ist die perfekte Gelegenheit. Der König sprach gerade erst von Euch.«

»Und wir sprachen über Justinian«, gab Torion zurück. »Was kann ich für Euch tun, Edmun?«

»Nun, genaugenommen, General, steht der Grund für meinen Besuch genau zwischen uns. Um den Adligen zu zeigen, welchen Rückhalt er genießt, möchte er mit der wichtigsten Aristokratin von allen sprechen, nämlich der großartigen Lady hier. Ich habe die ganze Stadt nach ihr abgesucht.«

Seine Worte waren so lächerlich, dass Salene es ihm beinahe auf den Kopf zugesagt hätte, doch im letzten Moment hielt sie sich zurück. Außerdem kam ihr in den Sinn, dass Justinian leich­ter als der General davon zu überzeugen sei, die Wachen auf den Stadtmauern zu verstärken – vor allem, wenn er so sehr an ihrer Unterstützung interessiert war.

Allerdings wollte sie nicht mit Edmun allein unterwegs sein, da sie wenig Vertrauen in dessen Tugendhaftigkeit hatte. »Es wäre mir eine Ehre, mit dem König sprechen zu dürfen.« Sie

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warf Torion einen scheuen Blick zu. »Aber ich bestehe darauf, dass der General uns begleitet.«

»Das werde ich natürlich tun«, sagte Torion, ehe Edmun etwas einwenden konnte.

Salene wusste, warum sich der Offizier so schnell einverstan­den erklärte. Torion glaubte, sie so davon abhalten zu können, Zayl zu verteidigen und ihre Schreckensgeschichte von irgendei­nem Spinnendämon zu verbreiten. Doch sie war fest ent­schlossen, den König bei der erstbesten Gelegenheit zu warnen.

Sie konnte nur hoffen, dass Justinian ihr auch Gehör schenken würde.

Lady Nesardo hatte den Palast schon mindestens ein Jahr vor Cornelius’ Tod nicht mehr besucht. Und über ein weiteres Jahr war es her, dass sie zum letzten Mal mit Justinian gesprochen hatte. Daher wurde das Bild, das sie von dem jungen Monarchen hatte – nämlich das eines schüchternen, unsicheren Träumers –, von der Wirklichkeit förmlich zerschlagen.

Justinian, der von Boten informiert worden war, empfing sie im Thronsaal. Nach allem, was sie von Torion gehört hatte, war dem Thronfolger der Saal, den er so lange Zeit gemieden hatte, inzwischen viel mehr ans Herz gewachsen als seine früheren Lieblingszimmer im Palast – die Küche und sein eigenes Quar­tier. Als die Ankunft der drei gemeldet wurde, trafen sie den König an, wie er sich auf dem Thron entspannte, in einer Hand ein Pergament, in der anderen einen Kelch. Auf Salene wirkte er so sehr wie ein Musterbeispiel für Selbstvertrauen, dass sie sich fast schon zu fragen begann, ob er vielleicht einfach nur eine Rolle spielte.

Justinian stellte sofort den Kelch auf einen kleinen, eleganten Tisch neben dem Thron, hielt aber das Dokument weiter fest,

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während er dem General die Hand schüttelte. »Eure Gesellschaft ist mir stets ein Vergnügen, Torion.« Seine

Miene hellte sich auf, als er sah, wer den General begleitete. »Und Lady Nesardo! Habe ich Euch jemals gesagt, wie verliebt ich einmal in Euch war?«

In Anbetracht der Tatsache, dass er nicht älter war als sie, bedeutete dies, dass Salene unter Umständen Königin hätte werden können. Hätte ihr Vater zu jener Zeit noch gelebt, wäre es eine schlechte Entscheidung gewesen, Riordan zu heiraten, um das Familienvermögen zusammenzuhalten, wenn sie zugleich Aussicht auf den Thron gehabt hätte.

Dass Salene nie den Wunsch verspürt hatte, Königin zu wer­den, wäre dabei völlig unwichtig gewesen.

Obwohl sie kein Kleid trug, tat sie, was das Protokoll von ihr verlangte, und machte einen Knicks. »Euer Majestät ehrt mich.«

»Nein, meine liebe Salene! Ihr ehrt mich«, widersprach König Justinian. Dann sah er zu Edmun. »Ihr dürft gehen.«

Der Gefolgsmann verbeugte sich tief vor ihm. »Ihr müsst nur flüstern, und schon stehe ich Euch zur Verfügung.«

»Ja, natürlich.« Während Edmun hinausging, reichte der Herrscher über Westmarch das Pergament an Salenes Begleiter weiter. »Ich habe es mir angesehen, Torion, und es ist gut. Aber ich möchte noch etwas mehr.«

Dann besprach er mit ihm im Detail das anstehende Pro­gramm zu seiner Thronbesteigung. Salene versuchte, ihm zuzu­hören, doch während Justinian redete, bekam die Edelfrau mit einem Mal den Eindruck, jemanden flüstern zu hören. Verstoh­len blickte sie sich um, ob sie irgendwo Edmun oder einen Wachmann entdecken konnte, doch da war niemand.

Je mehr sie sich aber auf das Flüstern konzentrierte, desto

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deutlicher nahm sie es wahr. Es war ... Es klang, dass würde jemand Wort für Wort, was Justinian

sagte, wiederholen ... Nein!, korrigierte sie sich. Justinian wie­derholte Wort für Wort, was ihm souffliert wurde!

Noch während ihr diese Tatsache bewusst wurde, verstummte die Stimme. Salene konnte sich nicht des unangenehmen Gefühls erwehren, dass jemand sie anstarrte, aber es war weder Torion noch der König.

Doch einen Moment später sah Justinian sie aufmerksam an. Er runzelte die Stirn, dann sagte er zum General, ohne den Blick von Salene abzuwenden: »Torion, da fällt mir ein, dass es eine Angelegenheit gibt, die sofortiges Handeln erfordert. Lord Ver­milion meldet, dass sein Sohn verschwunden ist. Vermutlich ist er in einem Bordell, vielleicht aber auch an einem gefährlicheren Ort. Das Ganze ist eine delikate Angelegenheit, und Ihr müsst dafür sorgen, dass er nach Hause zurückkehrt, ohne dass es für seinen Vater zu einem Eklat kommt. Ihr wisst, wie sehr wir Vermilions Unterstützung benötigen ...«

»Das ist mir bekannt, Euer Majestät. Ich werde mich umge­hend darum kümmern.«

Salene hatte nicht erwartet, dass er Torion wegschicken wür­de, erst recht nicht so schnell. Sie wollte, dass der General blieb, fand aber keinen passenden Vorwand. Er küsste ihren Handrük­ken, lehnte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Seid bitte vorsich­tig, was Ihr sagt ...«

Justinian glaubte, es handele sich um Liebesgeflüster zwischen den beiden. »Ich werde gut auf sie aufpassen, Torion. Sie wird wieder in Euren Armen liegen, noch bevor Ihr sie vermissen werdet.«

Bei jedem anderen hätte der General an einer solchen Bemer­

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kung Anstoß genommen. Seinem König gegenüber verbeugte sich der Kommandant stattdessen nur und erwiderte: »Nichts wäre mir lieber. Guten Abend, Euer Majestät.«

Lady Nesardos Blick folgte Torion, bis er den Thronsaal ver­lassen hatte. Dann wurde ihr bewusst, wie ihr Verhalten wirken musste, also richtete sie ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf den Monarchen – der rechts von sich in die Luft starrte.

Abrupt schaute er wieder zu ihr. Sein Lächeln hatte etwas Aufgesetztes, was der Edelfrau großes Unbehagen bereitete.

»Ich hoffe, Ihr fühlt Euch sicher, wenn Ihr mit mir allein seid, Mylady«, sagte er.

»Ihr seid der König.« »Eine sehr diplomatische Antwort«, meinte er amüsiert. Erneut hörte sie Geflüster, das aber diesmal nicht zu verstehen

war. Salene zog die Brauen zusammen, da sie versuchte, etwas von dem mitzubekommen, was geredet wurde.

Sofort wurde Justinian aufmerksam. »Ihr wirkt ... ein wenig in Gedanken, Lady Nesardo. Seid Ihr krank? Fühlt Ihr Euch unsi­cher auf den Beinen? Hört Ihr vielleicht Stimmen?«

Unwillkürlich machte sie einen Schritt nach hinten. »Euer Majestät, wenn Ihr mich entschuldigen würdet ...«

Der Gesichtsausdruck des Königs wandelte sich zu einer Par­odie guter Laune. »Meint Ihr mich ... oder redet Ihr mit meinem Vater?«

»Mit Eurem ... Eurem Vater!« »Oh, könnt Ihr ihn denn nicht sehen? Er steht gleich neben

mir! Ich dachte, wenn Ihr ihn hören könnt, würdet Ihr ihn si­cherlich auch sehen.« Er schaute abermals in die Luft. »Sie kann dich nicht sehen, Vater.«

Salene blinzelte. Wenn sie sich genügend konzentrierte, konn­

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te sie fast glauben, eine undeutliche Gestalt zu sehen, die als Mensch hätte durchgehen können.

»Das ... ist das König Cornelius?« Justinian IV. klatschte in die Hände. »Ja, ja, er ist es! Er kam

zu mir, als ich ihn am nötigsten hatte, Lady Salene. Ich war so voller Angst und Zweifel, ich hatte doch niemals geplant, der Herrscher zu werden. Das war die Bestimmung meines Bruders. Ich sollte eigentlich nur mein Leben leben und nichts tun. Und dadurch auch niemandem schaden!«

»Dann starb Euer Bruder ...« »Ihr könnt mir glauben, dass ich völlig in Tränen aufgelöst

war, noch mehr als Vater. Aber selbst in dieser schrecklichen Zeit dachte ich, Vater würde ewig leben. Er war von uns allen immer der Zäheste ...« Traurig schüttelte er den Kopf. »Aber er war nicht zäh genug, wie ich erkennen musste.«

Das Flüstern setzte wieder ein. Obwohl Salene auch jetzt nichts verstehen konnte, nahm sie an, dass es um sie ging.

»Du hast Recht, Vater«, sagte der neue Monarch und nickte bestätigend wie ein kleiner Junge. »Das sollte sie. Ich glaube, sie würde sich sehr, sehr geehrt fühlen.«

Geehrt? Aus einem unerfindlichen Grund zweifelte sie daran, dass er ihr wirklich etwas anbieten würde, was für sie eine »Eh­re« sein könnte. Salene wurde bewusst, welch entsetzlicher Feh­ler es gewesen war, herzukommen. Doch wer hätte sich träumen lassen, Justinian könnte von etwas heimgesucht worden sein, das sich als sein Vater ausgab? Zugegeben, Torions Bemerkungen über den Wandel, den der König durchgemacht hatte, wären ein Grund gewesen, hellhörig zu werden. Doch bei allem, was sich bislang abgespielt hatte, hätte Salene nie mit so etwas gerechnet.

Justinian verbeugte sich vor ihr. »Lady Nesardo, ich gewähre

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Euch hiermit das Privileg, heute Abend mein Gast zu sein ... und morgen Abend vielleicht auch, wenn es nötig sein sollte.«

»Euer Gast? Euer Majestät, ich glaube nicht, dass ...« »... Ihr mein Angebot ablehnen könnt? Aber natürlich nicht.«

Er sah zu dem Schemen. »Das ist richtig so, nicht wahr, Vater? So dachte ich es mir auch. Lerne ich gut?«

Wieder wurde geflüstert, doch Salenes Versuche, sich stärker zu konzentrieren, um den Schemen des verstorbenen Königs besser sehen und hören zu können, waren vergebens. Sie bezwei­felte, dass das nur Zufall war. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Die Ratschläge, die sich Justinian geben ließ, schienen nicht zu dem alten König zu passen, den sie noch gekannt hatte.

Auch wenn sie nichts mehr verstehen konnte, fiel ihr auf, dass der Schemen etwas klarer konfluiert war. Salene nahm verwun­dert zur Kenntnis, was sie dort sah. Es schien Cornelius zu sein, der Umriss seines Bartes, seiner Nase und anderer Merkmale war deutlich genug, um sie glauben lassen zu können, tatsächlich den früheren König vor sich zu haben.

Doch je länger sie sich konzentrierte, desto stärker nahm Sale-ne etwas anderes wahr. Der Geist war von einer Aura umgeben, die eine ganz andere Ausstrahlung hatte und so wirkte, als sei sie Cornelius gegen seinen Willen aufgezwungen worden.

War das ein Zauber? Salene wünschte, Zayl könnte jetzt bei ihr sein. Er würde wis­

sen, was das alles zu bedeuten hatte. Er würde wissen, wie sich die Fragen beantworten ließen, die das Beobachtete bei ihr auslö­ste ...

Doch Zayl hatte großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten geäu­ßert, also konzentrierte sie sich diesmal allein auf die Aura. Sie hatte etwas erschreckend Bekanntes an sich, auch wenn Salene

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nicht verstand, wie das möglich sein konnte. Je länger sie sich jedoch der Aura widmete, desto mehr bekam sie das Gefühl, die Herkunft zu erkennen.

Vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild von Karybdus auf. Es war sein Zauber! Justinian wurde von einem Geist instruiert, der unter dem

Einfluss des Nekromanten stand. »Justinian ...«, setzte sie an. »Schweigt, Mylady«, wies der junge König sie an und gestiku­

lierte mit einer Hand. »Nicht jetzt.« Salenes Stimme versagte. Sie machte den Mund auf, doch kein

Laut kam über ihre Lippen. Der Herrscher von Westmarch sah an ihr vorbei und klatschte

in die Hände. Sie blickte über die Schulter und entdeckte Edmun Fairweather, der bereits dastand und wartete.

»Euer Majestät.« »Zeit, den Palast zu schließen.« Der schlaksige Adjutant verbeugte sich, sein Gesichtsausdruck

war von einem gierigen Lächeln geprägt. »Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.«

Als er ging, bemerkte Salene, dass der Mann nicht Justinian ansah ... sondern Cornelius! Sie unterdrückte einen leisen Auf­schrei, während sie sich fragte, wieso der Diener den Geist so mühelos wahrnehmen konnte.

Justinian packte sie am Arm und drehte sie zu sich herum. »Wie ich es mir gedacht habe«, erklärte er lächelnd, »besteht mein Vater darauf, dass Ihr in meiner Nähe bleibt. Er glaubt, Ihr könntet sonst irgendeine Dummheit begehen, und ich möchte Euch nicht wehtun, wenn Ihr das versucht.« Nachdem er sie einen Moment lang beobachtet hatte, wie sie vergeblich versuch­

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te, ihm etwas zu sagen, machte er mit seiner freien Hand eine Geste. »Ihr dürft wieder sprechen.«

»Euer Majestät! Das ist ein schrecklicher Irrtum! Euer Vater benimmt sich nicht so, wie er es sollte. Er wird von einem Ne­kromanten namens Karybdus kontrolliert!«

Der König wurde ernst. »Karybdus brachte meinen Vater zu mir zurück. Er kam zu mir, als ich ihn am nötigsten hatte. Ihr werdet nicht schlecht über einen guten Mann reden!« Mit diesen Worten versetzte er ihr einen Stoß, der sie in Richtung Podium taumeln ließ. »Setzt Euch dorthin.«

Seine Worte waren keine bloße Aufforderung, sondern ein Be­fehl, dem sich Salene nicht widersetzen konnte. Gegen ihren Willen setzte ihr Körper sich auf das Podium.

Salene hatte noch nie davon gehört, dass es in der Königsfami­lie irgendwelche magischen Fähigkeiten gab, sodass sie annahm, Karybdus müsse das bewirkt haben, möglicherweise unter Mit­hilfe von Aldric Jitan. Ganz gleich jedoch, woher diese Kräfte stammten, Justinian genoss es sichtlich, über sie zu verfügen.

Der Wutausbruch des Königs verschwand so schnell, wie er gekommen war. Justinian ging zu dem kleinen Tisch und trank einen großen Schluck Wein, dann setzte er sich zu Lady Nesardo und verhielt sich wie ein kleiner Junge, der ein Geheimnis ein­fach nicht für sich behalten konnte.

»Heute Nacht beginnt es. Sie werden nie wieder mein Anrecht auf den Thron anzweifeln. Wenn es vorüber ist, wird jeder sehen, dass ich der wahre König bin. Niemand wird mich je wieder ›Ju­stinian den Großäugigen‹ nennen!«

»Wie ... wie meint Ihr das, Euer Majestät?« Salene wurde von der fürchterlichen Vorahnung erfüllt, die Antwort bereits zu kennen.

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»Es war so unglaublich geschickt! Die Adligen sind alle in der Hauptstadt. Auf den äußeren Stadtmauern stehen kaum noch Wachposten – übrigens, das war ein Vorschlag meines Vaters! Sobald die Stadt angegriffen wird, warte ich auf den richtigen Moment, um ihr zu Hilfe zu kommen. Ich werde die Streitmacht befehligen, die Torion für mich zusammengeholt hat – aber erst wenn klar ist, dass keiner dieser Möchtegern-Thronräuber irgen­detwas tun kann!« Er grinste breit. »Ich werde derjenige sein, der Westmarch vor den Spinnen rettet. Ich!«

Er wusste es. Er wusste alles, und doch begnügte sich Justinian damit, dazusitzen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Er saß da und trank seinen Kelch leer, während Heerscharen starben ... oder auf ein noch schlimmeres Schicksal zusteuerten.

Und es schien, als könnte Salene auch nicht das Geringste da­gegen unternehmen ...

Zayl wurde überraschend behutsam auf den Steinboden gesetzt. Langsam hob der Nekromant den Kopf und sah das Stiefelpaar, das zweifellos dem legendären Karybdus gehörte.

Doch Karybdus schaute ihn noch nicht an, sondern betrachtete die besessenen Soldaten. Dass er einen Anflug von Frustration bei ihrem Anblick verspürte, war etwas, das nur Zayl wahrneh­men konnte. Karybdus streckte die Hand aus. Einer der Männer gab ihm Zayls Dolch und die arg ramponierte Gürteltasche, in der der Schädel von Humbart Wessel steckte.

Karybdus hob die Tasche auf Augenhöhe und fühlte, was sich darin befand. »Belebt. Amüsant, aber nutzlos.«

»Ihr findet mich ›amüsant‹?«, gab die hohle Stimme des Söld­ners zurück. »Hätte ich einen Unterkiefer, würde ich Euch die Nase abbeißen. Möchte mal wissen, ob Ihr das auch noch interes­

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sant fandet!« Der Nekromant verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

»Schweigt!« Humbarts Flüche endete wie abgeschnitten. Karybdus betrachtete Zayls Klinge genauer. »Sehr gut ausge­

richtet«, lobte er. »Und ein besonders gut gearbeitetes Stück.« Zayl erwiderte nichts darauf. Zufrieden blickte Karybdus die Soldaten an. »Eure Aufgabe ist

erfüllt. Ihr könnt gehen.« Die Soldaten bewegten sich nicht von der Stelle. »Wenn Ihr gestattet, Hexenmeister ...«, meldete sich eine voll­

tönende Stimme zu Wort, die in gewisser Weise vertraut wirkte. »Geht! Ich werde euch rufen, wenn ich euch brauche.«

Wie Marionetten drehten sich die Männer um und gingen fort. Zayl richtete sich auf und erkannte Lord Aldric Jitan wieder, doch so hatte er ihn noch nie gesehen. Jitan stand am Altar, auf dem der reglose, bleiche Sardak Nesardo lag. In einer Hand hielt er den Spinnenmond, die andere umklammerte fest den blutigen Opferdolch.

Aldric erschien Zayl doppelt so groß wie bei ihrer letzten Be­gegnung, sein Haar stand hoch, als sei es elektrisiert. Seine Au­gen hatten ein karmesinrotes Leuchten angenommen, seine Haut war von der Farbe der Elfenbeinbestandteile des Artefakts. Zayls höhere Sinne nahmen eine schwarze Aura rund um den Mann wahr, die nicht menschlichen Ursprungs war.

Lord Jitan lächelte den Gefangenen an und stieß den Dolch hochmütig in Sardaks Brust. Erst da erkannte Zayl, wie grausam man den Leib von Salenes Bruder zugerichtet hatte. Nicht nur, dass man ihm das Blut entzog, ihm war auch das Herz herausge­schnitten worden. Dabei hatten der Edelmann und sein Gefährte

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die anderen inneren Organe so achtlos beiseite geschoben, als wären sie Abfall.

Überraschend wurde Zayl von dem Wunsch erfüllt, den Edel­mann in Grund und Boden zu prügeln, doch es gelang ihm, diese Regung größtenteils zu unterdrücken. Aber so, wie Zayl zuvor gemerkt hatte, dass Karybdus frustriert gewesen war, fiel dem älteren Nekromanten nun auf, was in ihm vorging.

»Eine unziemliche Regung. Ihr lasst es zu, dass sich persönli­che Gefühle auf Euer Handeln auswirken. Das führt Euch weg vom richtigen Weg des Gleichgewichts.«

»Wenigstens habe ich noch nicht ganz vergessen, welchem Ziel ich mich verschrieben habe.«

Karybdus rümpfte die Nase. »Ich ebenfalls nicht. Ich bin ent­schlossener denn je, das Gleichgewicht herzustellen und zu wah­ren. Ich habe ein Opfer nach dem anderen gebracht, um das si­cherzustellen.«

Der jüngere Rathmaner wagte es, sich hinzusetzen. Er zeigte auf das Blutbad auf dem Altar und auf die abscheulichen Kreatu­ren, die einst Menschen gewesen waren. »Ist das Eure Vorstel­lung von Opfern, Karybdus? Was ist aus Euch geworden? Ihr müsst dem Lebenslass zum Opfer gefallen sein ...«

Seine Worte brachten sein Gegenüber zum Lachen. »Das glaubt Ihr wirklich? Dass ich, der ich seit so langer Zeit gegen Dämonen und finstere Zauberkundige gekämpft habe, zu viel Böses in mich aufgenommen habe und damit selbst zu etwas Bösem geworden bin? Vielleicht würde das einem anderen wider­fahren, aber nicht mir. Ich bin Karybdus, oder etwa nicht?«

Zayl wollte sich erheben, doch eine unsichtbare Kraft zwang ihn, in einer knienden Position zu bleiben. Er sah zu Aldric, der wie ein kleines Kind strahlte, dem man ein neues Spielzeug ge­

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schenkt hatte. Ein sehr mächtiges und sehr tödliches Spielzeug ... eines, das Folgen nach sich zog, die dem Edelmann ganz sicher nicht klar waren.

»Wenn es das nicht war, was dann? Was hat sich geändert?« Der grauhaarige Nekromant kam näher. »Nichts hat sich ge­

ändert, junger Zayl. Ich glaube noch immer an das, was ich vom ersten Tag an geglaubt habe. Nichts ist wichtiger als das Gleich­gewicht, und ich tue, was zu seiner Wahrung getan werden muss. Gerade Ihr solltet das zu schätzen wissen.« Er richtete sich auf und drückte die Schultern durch. »Als ich Eure Gegenwart das erste Mal wahrnahm und erkannte, dass es sich um Euch handelt, überlegte ich für einen kurzen Moment, ob ich Euch anbieten sollte, dass Ihr Euch meinem Kreuzzug anschließt. Doch fast augenblicklich wurde mir klar, dass Ihr geblendet worden seid. Dass Ihr Euch in den gleichen schrecklichen Fehler verrannt habt wie so viele unserer Schwestern und Brüder.«

»Und welcher Fehler soll das sein?«, fragte Zayl, während er nach einem Weg suchte, sich dem Zauber zu entziehen und die­sem Schauspiel ein Ende zu setzen, bevor es tatsächlich zu spät war.

»Dass das Gleichgewicht zwei Seiten hat. Zwei Seiten, die im­mer existieren müssen.« Karybdus nahm den Tonfall eines Leh­rers an. »Wie könnte man es sonst auch als Gleichgewicht be­zeichnen?«

»Ja, zwei Seiten. Gut und Böse. Ihr predigt nichts, was ich nicht längst wüsste.«

»Dann lasst mich Euch dieses sagen ...« Lord Jitan mischte sich ein: »Muss das jetzt sein? Die nächste

Phase ...« Der Zauberkundige drehte sich zu dem Edelmann um. »Die

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nächste Phase ist immer noch einige Minuten entfernt, Mylord. Und ich möchte, dass Zayl – der es wirklich verdient hat – ver­steht, warum ich tue, was ich tun muss. Immerhin hat er für das Gleichgewicht sogar seine eigenen Eltern sterben lassen.«

Lord Jitan riss verblüfft den Mund auf. »Tatsächlich?« Zayl fühlte sich, als hätte Karybdus ihm mit dem Opferdolch

das Herz aus dem Leib geschnitten. Er schüttelte nachdrücklich den Kopf und schrie: »Das habe ich nicht getan!«

»Ihr wisst, es war so. Ihr wisst, dass alle es verstanden haben.« Karybdus zwang sein Gegenüber, ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich kannte die beiden, müsst Ihr wissen. Wir kämpften Seite an Sei­te, bevor Ihr geboren wurdet. Ich kann ohne zu zögern sagen, dass sie sehr stolz auf Eure Entscheidung waren ... zumindest nachdem der Schmerz aufgehört hatte und sie auf die nächste Existenzebene übergewechselt waren.«

»Hört auf! Hört auf mit Euren Lügen!« Doch der ältere Rathmaner fuhr unverdrossen fort. »Wenn es

das Gute gibt, dann muss es auch das Böse geben, um das Gute aufzuwiegen. Euer Handeln ist ein Beispiel dafür. Ihr musstet tun, was zu ihrem Tod führte, weil es die korrekte Verhaltensweise war. Allzu oft kommt es aber vor, dass unsereins heutzutage ge­gen die Diener der Hölle kämpft. Denkt gut nach, Zayl. All das geschieht nur zu Gunsten der Seite des Guten! Das Ungleichge­wicht wird dadurch immer größer. Es muss endlich etwas unter­nommen werden, um die Welt wieder ins Gleichgewicht zu rü­cken.«

Nun verstand er, was Karybdus meinte. Er verstand es, und er verabscheute es. Jahrhundertelang hatten die Rathmaner gegen die Dinge und Mächte des Erzbösen gekämpft, das die Ebene der Sterblichen völlig seinem Willen unterwerfen wollte. Aus Zayls

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Sicht konnte niemals genug dagegen unternommen werden. Eine Welt, die vom Erzbösen regiert wurde, war eine Welt, die aus dem Gleichgewicht geraten und damit verloren war.

Doch Karybdus, dessen Siege über die Dunkelheit zahllos wa­ren, glaubte nun, er und die anderen hätten zu viel des Guten getan. Offenbar war er der Ansicht, die Waagschale der Welt habe sich zu sehr dem Licht zugeneigt, was nach Rathmas Prinzi­pien für die Menschheit Stagnation und einen Bewusstseinsver­lust nach sich ziehen konnte, der auf seine Art genauso schreck­lich war wie ein Sieg des Erzbösen.

Im Laufe der Jahrhunderte war unter den Rathmanern viel darüber diskutiert worden, wo die Grenzen lagen, wenn es um die Einmischung in die Angelegenheit der Welt ging. Doch Zayl konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals irgendjemand et­was so Wahnsinniges vorgeschlagen hatte wie das, was Karybdus bereits in die Tat umsetzte.

»Was ich tat ...«, murmelte er. »Was geschah ... lässt sich in keiner Weise mit Euren Taten vergleichen, Karybdus.«

»Eure Eltern würden das vielleicht anders sehen.« Ohne zu erfassen, was er da tat, sprang Zayl plötzlich auf.

»Meine Eltern starben, weil ich einen Fehler begangen habe. Ich bin derjenige, der das Schiff zerstörte und alle an Bord umbrach­te! Dafür trage ich die Schuld, so wie ich es schon immer ge­macht habe.«

Seine Skeletthand bekam den erschrockenen Karybdus an der Kehle zu fassen. Der andere Nekromant schnappte nach Luft und versuchte, die fleischlosen Finger von seinem Hals zu lösen. »Mylord«, keuchte er. »Würdet Ihr ...«

Eine erdrückende Macht löste Zayls Finger von der Kehle sei­nes Widersachers, die dann den jungen Nekromanten wieder zu

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Boden presste. So sehr er sich auch anstrengte, konnte Zayl nicht mal einen Finger rühren.

Karybdus rieb sich den Hals. »Es ist zu schade, dass Ihr nicht Vernunft annehmen könnt.« Er griff nach Zayls Dolch. »Ich bedauere zutiefst, was ich tun muss. Ich habe den größten Re­spekt vor Euren Fähigkeiten, Zayl, auch wenn sie fehlgeleitet sind.«

»Eure ... sind ... fehlgeleitet ...«, brachte der jüngere Nekro­mant heraus.

»Er ist bemerkenswert willensstark«, merkte Lord Jitan an. »Ja. Wenn er tot ist, werde ich mir niemals die Mühe machen,

seinen Schatten zu beschwören. Der wäre einfach zu starrsin­nig.« Karybdus schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich muss schon sagen, dass meine Glaubensgenossen als Diener denkbar ungeeignet sind. Seine Eltern waren nicht anders, nachdem ich sie aufgezogen hatte. Ich sah mich gezwungen, sie schon bald wieder zurückzuschicken. Wirklich eine Schande.«

Zayl ließ ein wütendes Röcheln verlauten, als er diese Offen­barung hörte. Mehr brachte er unter dem unerbittlichen Druck, den der mächtige Edelmann auf ihn gelegt hatte, nicht über die Lippen.

Der ältere Nekromant beugte sich über ihn. »Habt keine Angst, Ihr werdet schon bald Eure Schuldgefühle und Eure ei­gentlichen Absichten mit ihnen besprechen können. Lebt wohl.«

Zayl machte sich auf das Ende gefasst. Wenn er von seinem ei­genen Dolch zu Tode kam, gab es keine Hoffnung auf Auferste­hung, selbst wenn ein vertrauenswürdiger Nekromant ihn schnell fände.

Plötzlich wurde es dunkel in der Kammer. Es war aber nicht einfach nur ein Schatten, der sich über den Raum legte, denn es

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war keine Schwärze, sondern ein tiefes Karmesinrot, das sich dort ausgebreitet hatte.

Aldric stieß verblüfft einen Fluch aus, Karybdus rang nach Atem. Zayl konnte fühlen, wie der Nekromant den Dolch zu­rückzog.

»Das ist es, nicht wahr?«, rief der Edelmann. »Die zweite Mondphase!«

»Ja.« Karybdus’ Schritte entfernten sich. »Der Zyklus des Spinnenmondes befindet sich auf seinem Höhepunkt. Es wird Zeit für Euch, alle von Astroghas Gaben zu empfangen.«

»Nicht ...«, keuchte Zayl, der Aldric warnen wollte. »Nicht ... was ... es ... zu ... sein ... scheint!«

Lord Jitan hörte ihn aber nicht, sondern stellte sich grinsend vor dem Altar in Pose. Auf der anderen Seite stand Karybdus und schob Zayls Waffe in seinen Gürtel, dann zog er die Opfer-klinge. Er hielt den Dolch, dessen Spitze mit Sardaks kaltem Lebenssaft bedeckt war, dem Edelmann entgegen.

»Lasst mich damit den Mittelpunkt dieses Musters berühren«, erklärte der Rathmaner ihm. »Dann haltet Ihr das Artefakt genau über Euren Kopf. Achtet darauf, dass es beinahe Euren Schädel berührt.«

Zayl wollte den Mann weiter warnen, doch es gelang ihm nicht. Hilflos musste er zusehen, wie Jitan gehorchte.

In dem Augenblick, da das Blut damit in Berührung kam, reg­te sich das Spinnenmuster, als würde es leben. Gleichzeitig er­füllte ein Knistern und Krachen wie Blitz und Donner die Kam­mer. Draußen heulte der Wind.

Durch einen engen Spalt in der Decke fiel das Licht des Mon­des in die Kammer – und traf an der Stelle auf das Artefakt, an der es mit dem Blut in Berührung gekommen war.

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Die elektrisierende Aura rund um Jitan verstärkte sich um ein Hundertfaches, und er stand da wie eine Todesfee. Sein Gesicht war vor Freude zu etwas Monströsem verzerrt. Ringsum ver­beugten sich die verwandelten Diener, bis ihre abscheulichen Köpfe den Boden berührten. Ihr Fauchen klang fast so, als wür­den sie irgendwelche Worte sprechen ... nein, nicht irgendwelche Worte, sondern nur ein Wort, und das immer wieder.

Astrogha. »Unglaublich!«, rief Lord Jitan begeistert. »Ich spüre, wie die

Macht durch meinen Körper strömt! Ich kann fühlen, wo sich jede einzelne Spinne befindet! Ich fühle, wie sie aus den Schatten kommen, um auf die Stadt zuzumarschieren. Ich fühle ...«

Plötzlich verstummte der Lord. Die Sphäre, die er über seinem Kopf hielt, war ... aufgerissen! Acht lange, abscheuliche Gliedmaßen, die exakt dem Bild auf

der Hülle entsprachen und die in blutroten Krallen ausliefen, streckten sich nach unten und legten sich um den Kopf des Edel­manns.

»Hexenmeister! Karybdus! Was soll das bedeuten? Irgendet­was stimmt hier nicht! Helft mir!«

Karybdus machte aber nur einen Schritt nach hinten und beo­bachtete das Schauspiel. »Es ist alles in Ordnung. Alles ist so, wie es sein soll. Es tut mir sehr Leid, dass es geschehen muss, aber das muss es nun einmal.«

»Aber ...« Weiter kam Lord Jitan nicht. Die Gliedmaßen der Spinne bohrten sich mit brutaler Gewalt

in seinen Kopf. Der Mann schrie sekundenlang, dann wurde aus dem Schrei

ein klägliches Schluchzen. Blut spritzte aus den Wunden, und obwohl der Tod längst eingetreten war, fiel Jitan nicht zu Boden,

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sondern blieb aufrecht stehen, genau wie die Soldaten im Wald. In der Kammer knisterten noch immer die Energien, die nicht

von dieser Welt waren. Zayl spürte, dass der Druck ein wenig nachließ, doch es reichte noch nicht aus, damit er sich aufrichten konnte.

Karybdus kam um den Altar herum und ging mit dem Opfer­dolch in der Hand auf Aldric Jitan zu. Die Spinne, die noch im­mer aus der Sphäre hervorkam, war um einiges größer als die vorangegangenen Kreaturen. Auf ihrem gedrungenen Kopf fan­den sich acht Gruppen mit jeweils acht glühenden Augen. Aus dem Maul ragten Beißzangen anstelle von Fangzähnen hervor.

Karybdus’ eigene Spinne kam unter dem Mantel des Nekro­manten hervor und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Zayl bemerkte sofort die Ähnlichkeit zwischen beiden Geschöpfen, selbst wenn das seinem Gegner vielleicht nicht auffiel.

»Zarakowa ilan tora Astroghath!«, sprach der grauhaarige Rathmane. Mit dem Dolch zeichnete er ein Symbol mit acht Seiten, dann fügte er an: »Istarian dormu Astroghath!«

Unmengen von Energie tänzelten um den Edelmann herum, während die große Spinne ihre Position einnahm. Anders als die kleineren Exemplare saß sie nicht einfach auf dem Kopf, sondern legte sich um einen großen Teil von Aldrics Schädel.

Über Aldrics verzerrte Lippen kam ein entsetzliches Gelächter, das kein Mensch jemals hätte zustande bringen können.

»Ich bin auf diese Ebene der Sterblichen zurückgekehrt!«, fauchte eine grässliche Stimme, die mit der des Edelmanns nichts mehr gemein hatte. »Ich bin aus dem schrecklichen Gefängnis befreit worden!«

Karybdus kniete vor der Gestalt nieder. »Willkommen, My­lord Astrogha ... willkommen.«

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Doch das Ding in dem Leib, der bis vor wenigen Augenblicken noch Aldric Jitan gehört hatte, würdigte Karybdus keines Blickes. Sowohl die Augen des Toten als auch die des Spinnenwesens richteten sich stattdessen auf Zayl und betrachteten ihn begierig.

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NEUNZEHN

Obwohl ihre Anzahl sich halbiert hatte, waren die Wachen an den Toren, die zum Wald hin zeigten, sorglos. Aus dieser Rich­tung war wenig zu befürchten, wenn man von ein paar plün­dernden Wendigos und anderen Tieren absah. Allerdings hätten sie darüber wohl anders gedacht, wären sie mit Hauptmann Mattheus im Wald auf Patrouille gewesen. Seit der Rückkehr einiger seiner Mannen, die Lady Nesardo in die Stadt brachten, war vom restlichen Trupp nichts mehr zu sehen gewesen.

Umso größer war die Erleichterung – unter die sich auch ein wenig Besorgnis mischte –, als ein Wachposten auf der Mauer einen einsamen Reiter ausmachte, der sich dem Tor näherte. Der mit Federn besetzte Helm verriet schon früh, um wen es sich handelte, noch bevor sein Gesicht im Schein der Fackeln zu er­kennen war.

»Es ist Hauptmann Mattheus«, rief der Mann von der Mauer herab. »Öffnet das Tor, es ist der Hauptmann!«

Andere eilten los, um genau das zu tun. Da nur noch wenige Soldaten anwesend waren, mussten zwei Männer die Stadtmauer verlassen, um das große Holztor zu öffnen, das das erste Hinder­nis für jeden darstellte, der in die Stadt gelangen wollte.

General Torions Adjutant kam stumm durch das Tor geritten. Einer der Soldaten lief zu ihm, um ihm die Zügel des Pferds ab­zunehmen. »Sir«, sagte er, als er den Kopf des Tiers betrachtete. »Was fehlt dem Tier? Ist es verletzt, dass der Schädel so verbun­den werden musste?«

Der Mantel des Offiziers bedeckte den größten Teil von Kopf

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und Hals. Der Soldat, der die Frage gestellt hatte, wunderte sich, dass das Tier unter so viel Stoff überhaupt noch etwas sehen konnte.

»Eine Verletzung«, antwortete der Reiter, der immer noch die Zügel in den Händen hielt. »Löscht die Fackeln und Lampen.«

Die Männer in seiner unmittelbaren Nähe reagierten ver­blüfft. Schließlich fragte der, der ihm die Zügel hatte abnehmen wollen: »Verzeiht, Sir, aber habt Ihr gesagt, wir sollen die Fak­keln und Lampen löschen?«

Der Rand des Helms verdeckte die Augen des Hauptmanns. »Löscht die Fackeln und Lampen. Löscht alle Feuer!«

»Wer sagt, wir sollen hier alle Feuer ausmachen?«, fragte ein anderer Soldat, der sich der Gruppe näherte. Seine Rüstung be­fand sich in besserem Zustand, und seine Abzeichen ließen er­kennen, dass er der Kommandant der Wache war. »Oh, Haupt­mann Mattheus, Sir.« Er salutierte, dann fügte er an: »Habt Ihr diesen Befehl gegeben?«

»Löscht die Fackeln und Lampen«, wiederholte der Reiter. »Alle Feuer.«

»Droht uns ein Angriff?« Nach einer kurzen Pause kam die Antwort. »Ja, ein Angriff.

Löscht alle Feuer. Rasch.« Der Kommandant wandte sich den anderen Soldaten zu. »Ihr

habt ihn gehört! Stefan, kümmern Sie sich um die Fackeln auf der Mauer. Sie da! Die Lampen! Rasch!«

Alec Mattheus sah zu, wie die Männer seinen Befehl ausführ­ten, und nickte jedes Mal, wenn ein Licht gelöscht wurde.

Als keine Fackel mehr brannte, fragte der Kommandant: »Noch weitere Befehle, Hauptmann?«

Der Adjutant sah auf die Kopfbedeckung seines Gegenübers.

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»Nehmt die Helme ab, werft sie zur Seite.« »Wie bitte, Sir? Ist das wirklich ein Befehl?« Der Reiter nickte einmal. »Ein Befehl.« Mit einem Schulterzucken bedeutete der Offizier seinen Leu­

ten, die Anweisung zu befolgen. Nur Mattheus behielt seinen Helm auf.

Als die Männer gehorcht hatten, trieb der Hauptmann völlig abrupt sein Pferd an und ritt los. Die Wachleute sahen ihm ver­wirrt nach, dann rief der Kommandant ihm nach: »Noch weitere Befehle, Sir?«

»Bleibt auf eurem Posten«, antwortete Mattheus, kurz bevor die Dunkelheit ihn verschluckte.

Der Hauptmann wandte sich seinen Leuten zu. »Schließt so­fort das Tor! Ihr habt gehört, dass ein Angriff bevorsteht.«

In der Finsternis war es schwierig, sich zu orientieren, schließ­lich jedoch war das Tor wieder gesichert. Der Kommandant, der in den ersten Monaten seiner Karriere direkt unter General Tori­on gedient hatte, ging die Befehle durch, die er erhalten hatte. Er wusste, dass Alec Mattheus beim General größten Respekt ge­noss – sonst hätte Torion ihn auch nicht zu seinem Adjutanten ernannt –, doch bei genauerem Nachdenken ergab keiner der Befehle einen Sinn. Aus bloßem Respekt hatten der Komman­dant und die anderen genau das getan, was Mattheus von ihnen verlangt hatte.

Dennoch ... »Zum Teufel mit den Befehlen, auch wenn sie von ihm kom­

men«, brummte der Offizier. »Sucht meinen Helm! Stefan, las­sen Sie die Fackeln wieder anzünden!«

»Aber Hauptmann Mattheus sagte doch ...« »Ich übernehme die Verantwortung. Sie haben mich gehört.

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Gerard, Sie begeben sich nach da drüben und ... warum zum Teufel sind Sie so nervös?«

Der andere Soldat spähte in die Dunkelheit hinter ihm. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Ich kann keinen Mann gebrauchen, der sich vor einem Schat­ten fürchtet, wenn sich da draußen ein Angriff zusammenbraut! Boromir, Sie übernehmen seinen Platz und ...«

Etwas von der Größe einer Katze huschte an dem Mann vor­bei, mit dem der Kommandant gesprochen hatte. Bevor er den Schemen genauer betrachten konnte, sah er einen zweiten, der sich Gerard näherte.

»Da ist etwas auf meinem Rücken!«, rief Stefan plötzlich. Im gleichen Moment huschten Dutzende und Aberdutzende

von schwarzen Schemen aus der Nacht heran – Scheinen, die offenbar die äußere Stadtmauer überwunden hatten, ohne dass es einem von ihnen aufgefallen wäre.

Auch andere Männer stießen Schreie aus. Der Offizier zog sein Schwert, als gleich drei der Schemen auf ihn zukamen. Einen davon konnte er durchbohren, doch die beiden anderen teilten sich auf und huschten von entgegengesetzten Seiten auf ihn zu. Er wusste, es war egal, welchen der beiden Angreifer er sich zuerst vornahm – der jeweils andere würde für ihn immer zu schnell sein, um auch noch ihn erledigen zu können.

Seine Augen passten sich endlich so weit an die Finsternis an, dass er die Kreaturen erkennen konnte.

Spinnen ... ein Meer von riesigen Spinnen ...

Die Schreie verstummten, kaum dass sie zu hören gewesen wa­ren. Für die Kreatur, die Alec Mattheus kontrollierte, erschienen sie wie Musik. Die Spinne, die auf seinem Kopf kauerte und un­

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ter dem Helm vor allen Blicken verborgen geblieben war, veranlasste ihren Wirtskörper dazu, die Mundwinkel für einen Moment hochzuziehen, um ein Lächeln zu zeigen.

Der Weg in die Stadt war für die anderen geebnet worden. Schon bald würden sie alle einen Wirt haben, und dann wür­

den Astroghas Kinder zu neuer Blüte gelangen ...

»Um ihn müsst Ihr Euch nicht bemühen, Mylord«, sagte Karyb­dus. »Sein Tod ist längst überfällig. Ich werde ihn Euch zu Ehren töten.«

»Nein.« Die Stimme klang jetzt so rau, dass sich jeder Nerv in Zayls Körper sträubte. Der besessene Aldric warf die leere Hülle, die vom Spinnenmond verblieben war, so achtlos zur Seite, als sei sie wertloser Müll, und bewegte sich auf den gefangenen Nekro­manten zu. Im Gegensatz zu den anderen Spinnen besaß diese die völlige Kontrolle über ihren Wirt. Wenn sich Lord Jitans Mund bewegte, erinnerte das durchaus an das Verhalten eines lebendigen Menschen. »Nein, er muss erhalten bleiben.«

Irritiert erwiderte Karybdus: »Wie Ihr wünscht, Lord Astrogha, wie Ihr wünscht.«

»Meine Kinder, sie gehen zur Stadt der Menschen«, sagte Astrogha zu den beiden Männern. »Sie werden dort trinken von ihren Wirten, und sie werden eins werden. Meine Macht wird wieder erstarken. Ein Gott werde ich wieder sein.«

»Du warst nie ein Gott«, presste Zayl hervor und warf der makabren Gestalt einen zornigen Blick zu. »Nur ein niederer Dämon, Astrogha! Und das wirst du auch immer nur sein. Ein Handlanger für Diablo, den wahren Herrn des Schreckens.«

Der Spinnenleib pulsierte. Jitan verzog voller Zorn das Ge­sicht, während er eine Hand hob und über der Innenfläche einen

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dunklen Flammenball entstehen ließ. Doch die Flamme wurde gleich wieder erstickt, als der Edelmann die Faust ballte. Durch seinen Wirt lächelte Astrogha abermals. »Meinem Herrn Diablo würde ich diesen Titel niemals streitig machen wollen. Sein Va­sall bin ich, aber in seinem Namen zu herrschen wird ihn nicht stören! Dieses Königreich der Menschen wird nach meinem Ab­bild neu geschaffen werden, aber es wird dem Verlangen des großen Diablo dienen ...«

Zayl sah den anderen Nekromanten an. »Karybdus! Seht Ihr nicht, welchen Irrsinn Ihr da entfesselt? Ist es wirklich das, was Ihr wollt?«

»Es ist exakt das, was ich will. Es ist das, was diese Welt braucht.«

»Das wird das Gleichgewicht zur Finsternis hin ausschlagen lassen!«

Der Rathmaner schüttelte den Kopf. »Nein, das wird es nicht. Das Gleichgewicht wird gewahrt bleiben.«

Zayl betrachtete ihn fassungslos und fragte sich, wie Karybdus das wirklich glauben konnte, ganz gleich, wie sehr der Wahnsinn ihn im Griff hatte.

»Genug geredet«, warf Astrogha mit heiserer Stimme ein und kehrte zum Altar zurück. »Es ist noch nicht vollbracht. Mehr Zeit ist nötig.«

»Die Zeit wird genau ausreichen«, versicherte Karybdus dem Dämon, während er den Blick senkte.

In den Augen des Nekromanten sah Zayl plötzlich, was Astrogha nicht erkannte. Karybdus wollte tatsächlich das Gleich­gewicht wahren. Er beabsichtigte, den Dämon zu hintergehen ... aber wann würde das geschehen? Sicherlich würden bis dahin unzählige Menschen den Dienern dieses falschen Gottes zum

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Opfer gefallen sein. Zayl fühlte sich versucht, es Astrogha zu sagen, doch er be­

zweifelte, dass der Dämon ihm überhaupt zuhören würde. So wie viele andere seiner höllischen Art war auch dieser Spinnendämon eitel bis zum Äußersten. Dass jemand in der Lage sein sollte, ihn zu überlisten, war für ihn so unvorstellbar, dass er den Gedanken nicht einmal im Ansatz begriffen hätte. Aber wenn es jemanden gab, der ihn überlisten konnte, dann war es Karybdus.

Der besessene Edelmann widmete sich wieder dem zerfleisch­ten Leichnam von Sardak. Astrogha tauchte einen Finger in den gerinnenden Lebenssaft und führte ihn an Aldrics Mund, um zu kosten. »So lange ist es her, dass ich solchen Nektar gekostet habe! So lange, dass ich in dieser verfluchten Blase gefangen war!« Von Wut erfasst schob der Edelmann den Leichnam zur Seite. »Eine Ungerechtigkeit, das war es! Ein Verbrechen, das war es!«

»Sie verstanden es nicht«, murmelte Karybdus, um die Krea­tur zu beschwichtigen.

»Verstanden haben sie es nicht!«, stimmte Astrogha ihm zu. »Gab viel Macht, viel Wissen ... und wollte nur ein paar Seelen und Blut! Wenig im Vergleich zur Habgier der Sterblichen.« Er sah Zayl an. »Aber andere, sie waren eifersüchtig auf mich! Ha­ben mich verraten, und dann schufen sie das.« Der Dämon deute­te auf die weggeworfene Sphäre. »Hier, wo die Ebenen einander am nächsten sind, wo es am leichtesten ist, meine Größe zu bin­den.«

Als Astrogha sich das nächste Mal manifestierte, warteten die Hexenmeister bereits auf ihn. Es kostete sie ihr eigenes Leben, um ihn in dieses Gefängnis zu bannen und es zu versiegeln.

Doch Astroghas Anhänger brachten bereits an sich, was wegen

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seines Aussehens schon bald als Spinnenmond bezeichnet wurde. Nach umfangreichen Berechnungen kamen sie zu dem Schluss, dass sich über Jahrhunderte hinweg zu bestimmten Zeitpunkten die Ebenen der Welt der Sterblichen und der Hölle genau auf jene Weise berührten, die es erlaubte, die Macht der Hölle zu benutzen, um ihren Gott wieder zu befreien. Doch sie benötigten auch etwas, das den Dämon bereits zum Teil mit ihrem Reich verband.

Das Blut seiner Kinder. Es war Dämonen und Sterblichen möglich, sich zu paaren, was

üblicherweise zum Entsetzen der Sterblichen ausging. Es gab nur wenige Kinder aus diesen Verbindungen, die bis ins Erwachse­nenalter überlebten. Wenn sie nicht schon bei der Geburt star­ben, wurden sie im Allgemeinen kurz danach von denjenigen getötet, die wussten, was diese Kinder wirklich waren. Aber trotz des ihnen eigenen Aussehens erschienen Astroghas Nachkom­men menschlicher als die meisten anderen, und viele von ihnen waren sogar ausgesprochene Schönheiten. Deshalb überlebten sie, während andere ihr Leben lassen mussten. Für die Diener der Spinne stellte das eine Belohnung dar ... jedenfalls für einige Generationen, bis durch die Vermischung des normalen Bluts von Sterblichen mit dem von Astroghas Linie die Verbindung zum Dämon kaum noch existent war.

Die unerschrockenen Priester gingen den einzigen Weg, den sie nehmen konnten. Sobald jemand entdeckt wurde, der auch nur den Hauch einer Verbindung zu diesem Erbe aufwies, wurde er heimlich entführt und auf einem Altar getötet. Durch kompli­zierte Zauber wurden das Blut und das Herz des jeweiligen Op­fers für alle Ewigkeit konserviert. Andere Zauber kamen zum Einsatz, um das Blut in der Hoffnung zu raffinieren, es, wenn die

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nächste Phase erreicht war, als reines Blut von Astrogha benut­zen zu können.

Ein solches Abschlachten konnte aber nicht auf Dauer unbe­merkt bleiben. Es gab solche – insbesondere die Söhne von Rak­kis –, die entdeckten, dass die Anhänger des Kults mitten unter ihnen lebten. Mit der fragwürdigen Hilfe von Hexenmeistern wie den Vizjerei machten die Söhne von Rakkis den verborgenen Tempel ausfindig, der zu jener Zeit unter einer Kirche gelegen war. Der Standort hatte als ein Nexus verschiedener Kräfte ge­dient, der sogar bis in die Hölle reichte und damit für die Zwecke der Anhänger des Kults wie geschaffen war. Soldaten und Zau­berkundige setzten dem ein Ende, befreiten die Opfer und töteten nahezu alle von Astroghas Anhängern.

Die wenigen Überlebenden flohen übers Meer, wo sie geduldig auf den Augenblick ihrer Bestimmung warteten. Sie nahmen die konservierten Herzen ebenso mit wie einen Teil des raffinierten Bluts. Als der Mond schließlich die richtige Position erreichte, wirkten sie den Zauber, stellten aber zu spät fest, dass ihr Plan einen Schwachpunkt aufwies. Das trotz allem noch immer ver­dünnte Blut erfüllte nicht ganz seine Aufgabe, denn es befreite Astrogha zwar, machte ihn aber zu einem Geist seiner selbst, der zu schwach war, um gegen die Vizjerei zu kämpfen, denen seine Rückkehr nicht entgangen war.

»Gezwungen zur Flucht wurde ich, mit der Hoffnung, das wahre Blut meiner Kinder würde mich wieder besser an diese Welt binden«, zischte die Spinne. »Riechen konnte ich es sogar von der anderen Seite der Zwillingsmeere ...«

Die Söhne von Rakkis waren nicht mehr – ihr Untergang stell­te sogar für den Dämon ein Mysterium dar –, doch nun war Westmarch als Königreich aufgeblüht. Die überlebenden Anhän­

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ger versteckten den geschwächten Dämon in den Ruinen der Bergfestung seiner ehemaligen Feinde, dann begaben sie sich auf die Suche nach denjenigen, die von seinem Blut waren.

Doch die Vizjerei waren ihnen schneller auf der Spur, als selbst Astrogha es für möglich gehalten hätte. Die meisten seiner menschlichen Marionetten wurden getötet, und die Hexenmei­ster setzten die letzte ihnen noch verbliebene Kraft gegen den Dämon ein. Sie schafften es nicht mehr, ihn zu vernichten, doch es gelang ihnen, ihn wieder in der Sphäre einzuschließen. Seine Bewachung legten sie in die Hände eines aus ihren Reihen, der bereits getötet worden war, dann kamen sie an diesen Ort, an dem Zayl nun gefangen gehalten wurde, mit der Absicht, die Stätte zu zerstören.

»Errichtet wurde dies hier, um die Verbindung zwischen den Ebenen zu verstärken«, erläuterte Karybdus. »Eine Zerstörung hätte eine Schwächung der Verbindung in einem solchen Maß bedeutet, dass nicht einmal mehr reines Blut genügt hätte, um ihn zu befreien. Doch aus irgendeinem Grund versagten sie.« Der ältere Nekromant schüttelte den Kopf. »Es hat damit zu tun, dass ich hier drei Leichname fand.«

»Meine Rache wirkt manchmal langsam, aber sie wirkt«, spot­tete Astrogha und kostete wieder von Sardaks Blut. »Sie drangen hier ein, doch sie wurden von den kleinsten, aber tödlichsten meiner Kinder gebissen. Ihren qualvollen Tod fühlte ich sogar in meinem verfluchten Limbus ...«

Karybdus sah zur Decke. »Herr, der Zeitpunkt der nächsten Phase ist fast gekommen. Ihr solltet die Vorbereitungen treffen.«

»Ja, das stimmt.« Astrogha streckte eine blutgetränkte Hand aus und richtete sie auf ... Zayl. »Komm zu mir, mein Auser­wählter ...«

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Beide Rathmaner sahen einander ratlos an, aber Zayl fasste sich als Erster wieder. Er erinnerte sich an seine schreckliche Reise in die Unterwelt und an seine Begegnung mit dem untoten Priester im unterirdischen Tempel.

»Du warst das!«, rief er aus. »Du hast mich aus der Gefäng­niszelle geholt, und du hast die untoten Gläubigen im verborge­nen Tempel gelenkt ...«

Karybdus sah ihn an, als hätte er sich dem Dämon für einen ganz besonderen Wahnsinn angeschlossen. »Was redet Ihr da? Ich ließ die Toten von Astrogha unter dem Haus Nesardo aufer­stehen ... und von welcher Gefängniszelle sprecht Ihr?«

»Ihr wisst gar nicht, was sich alles abspielt?«, fragte Zayl ihn verwundert. »Das hatte ich aber doch erwartet. Ihr weckt die Toten, aber Astrogha lenkt sie anschließend. Sie haben vor mir niedergekniet, Karybdus! Sie nannten mich ›Meister‹! Bis zu diesem Moment war mir der Grund dafür nicht klar.«

»Ihr erfindet wirre Geschichten! Astrogha war in der Sphäre gefangen, er konnte von dort keinen Einfluss auf diese Ebene haben.«

Zayl grinste spöttisch. »Aber so dicht vor der richtigen Phase und da beide Ebenen sich schon so weit angenähert hatten ... da konnte er verschiedene Dinge sehr wohl tun. Und ohne es zu erkennen, habt Ihr ihm durch Eure Bemühungen dabei auch noch geholfen.«

»Dafür sollt Ihr auch belohnt werden«, versprach ihm der Dä­mon durch Lord Jitan. »Sobald dieses bessere Werkzeug mir ge­hört und mein ganzes ruhmreiches Selbst es übernommen hat ...«

»Aber das Werkzeug, das ich Euch gab, ist perfekt, Herr«, be­teuerte der grauhaarige Rathmane. »Er ist vom Blut, er besitzt die Veranlagung zur Hexerei! Er ist ...«

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»Er ist nicht dieser dort.« Aldric leckte sich über die Lippen. »Dieser ist viel besser. Lange Zeit habe ich ihn studiert. Voll­kommen ist er.«

»Aber er ist nicht vom Blut!« »Dafür ist das auch nicht nötig.« Astrogha wandte sich wieder

Zayl zu. »Kommt ...« Gegen seinen Willen stand Zayl auf. Karybdus gab sich alle

Mühe, seine Gefühle zu verbergen, doch Zayl wusste, wie er die Miene von jemandem aus seinen eigenen Reihen deuten musste. Daher erkannte er, dass Karybdus zunehmend konsterniert war. Welchen Plan er auch verfolgt haben mochte, um die Ebene der Sterblichen ein für alle Mal von dem Dämon zu befreien – die Situation war nun ungleich schwieriger für ihn geworden, da Astrogha sich für Zayl als seinen Wirtskörper entschieden hatte. Ein erfahrener Nekromant mit all seinem arkanen Wissen würde die Spinne zu einer noch perfekteren Kreatur machen. Alles, was Zayl wusste und konnte, würde Astrogha zur Verfügung stehen.

Für den Ruf, der Karybdus vorauseilte, hatte der Nekromant geradezu kläglich versagt.

Doch die Fehlleistung seines Rivalen war für Zayl kein Grund zur Freude. Während er sich hilflos der makabren Figur näherte, versuchte er verzweifelt, einen Weg zu finden, um sich davor zu schützen, von Astrogha übernommen zu werden. Wenn sich erst einmal die Spinnenbeine in seinen Schädel bohrten, würde der Rathmaner als eigenständiges Wesen aufhören zu existieren.

Doch Zayl wollte einfach nichts einfallen. Sonderbar war dabei nur, dass er zwar um seine Seele fürchtete, dass seine größere Sorge aber den Unschuldigen von Westmarch galt – und allen voran Salene Nesardo.

Der besessene Lord Jitan packte ihn an den Schultern und hielt

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ihn fest. Von einem widerwärtigen schmatzenden Geräusch begleitet

zog die riesige Spinne auf dem Kopf des Edelmanns ihre Beine aus dem Schädel. Blut und andere Flüssigkeiten tropften von den Gliedmaßen und aus den klaffenden Löchern in Aldrics Kopf.

Astrogha kauerte sich kurz zusammen und sprang dann auf Zayls Kopf, der von der Kapuze seines Mantels bedeckt war.

Der Rathmaner versuchte, die teuflische Kreatur abzuschüt­teln, doch der Dämon krallte sich an ihm fest. Mit einem Bein schob er ihm die Kapuze vom Kopf, die für Zayl den einzigen Schutzschild bedeutete.

Gleichzeitig begann Aldric Jitan am ganzen Leib zu zittern. Sein Griff lockerte sich, die Augen verdrehten sich nach hinten, und dann sackte der Leichnam des ehrgeizigen Aristokraten in sich zusammen.

Aus den Augenwinkeln sah Zayl, dass Karybdus seine Position veränderte, ansonsten aber nichts unternahm, sondern einfach nur das Geschehen beobachtete. Sollte er wirklich beabsichtigen, den Dämon daran zu hindern, das zu nutzen, was Zayl ihm bot, schien er darauf zu warten, bis der jüngere Nekromant erst tot war.

Der wie erstarrt dastehende Zauberkundige spürte, wie die Spitzen der Spinnenbeine über seine Kopfhaut strichen. In sei­nem Schädel dröhnte Astroghas Stimme. Ja, perfekt bist du ... eins wir sein werden ... und alle sie meine Kinder sein werden ...

Dann spürte Zayl nur noch Schmerz ...

Die Spinnen kamen von allen Seiten. Zuerst überrannten sie die unbewachte Mauer, doch dann öff­

neten die Wachposten, die inzwischen zu Wirten für Astroghas

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Kinder geworden waren, die Stadttore, um dem Schwarm noch schnelleren Einlass zu gewähren.

Das Meer aus Spinnen ergoss sich in die ersten Gebäude und drang durch Ritzen, die viel schmäler waren als ihre Leiber. Au­genblicke später ertönten aus den Häusern Entsetzensschreie, die schon nach Sekunden wieder verstummten.

Während einige der Kinder bereits ihre Wirte gefunden hat­ten, bewegte sich die Masse weiter. Diese Stadt der Menschen war riesig, und für die meisten aus dem Schwarm würde sich ein Wirt finden.

Und diejenigen, die hier nicht fündig wurden, würden einfach in die nächste Stadt der Menschen weiterziehen.

General Torion überlegte ernsthaft, ob er zum Palast zurückrei­ten und Salene aus der Gesellschaft des Königs holen sollte, doch letztlich entschied er sich dagegen. Bei Justinian war sie zumin­dest in Sicherheit, außerdem hätte der junge König an seiner Rückkehr Anstoß nehmen können – und das wollte Torion in einer so kritischen Zeit möglichst vermeiden.

Nachdem er der Bitte seines Herrn nachgekommen war, warte­ten auf den Kommandanten keine dringenden Aufgaben mehr, doch er wollte auch noch nicht in sein Quartier zurückkehren. Die Angelegenheiten dieses Tages hatten ihn so sehr in Anspruch genommen, dass an Entspannung noch nicht zu denken war.

Er beschloss, seine Runde durch die Stadt zu machen. Die war zwar schon seit längerem nicht mehr erforderlich, weil gute und zuverlässige Männer wie Hauptmann Mattheus sie üblicherweise für ihn erledigten, doch die gewohnte Routine würde ihm helfen, die angestaute Anspannung abzubauen.

Zunächst wollte er zu den Stadttoren im Westen reiten, ent­

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schied sich dann aber für die am nordöstlichen Rand von Westmarch, da sie den Wäldern und den Bergen zugewandt und derzeit am schwächsten besetzt waren. Dies würde eine gute Gelegenheit sein, den verbliebenen Männern eine Lektion zu erteilen, dass sie am ruhigsten Abschnitt der Stadtmauern stets wachsam sein mussten, vor allem wenn sie nicht so zahlreich vertreten waren wie üblich.

Diensthabende Wachleute an verschiedenen Stellen der Stadt salutierten zackig vor ihm, als er vorüberritt. So wie sie trug auch Torion einen Helm. Das unhandliche Ding gefiel ihm überhaupt nicht, doch es hatte wieder zu regnen begonnen, und das Visier sorgte besser als jede Kapuze dafür, dass ihm das Wasser nicht in die Augen lief.

Als er sich dem Stadttor im Nordosten näherte, fiel Torion so­fort auf, dass etwas nicht stimmte. Zum einen wirkte der Bereich viel dunkler, als er hätte sein sollen. Das Wetter mochte noch so schlecht sein, ein paar Öllampen brannten dort immer in der Nacht. Und zum anderen fielen ihm sonderbare Bewegungen in der Dunkelheit auf, so als würden die Schatten leben.

Dann hörte er den ersten Schrei. »Bei Rakkis!« Der General zog sein Schwert und trieb sein

Pferd zur Eile an. Sein sonst so gehorsames Reittier weigerte sich aber, auch nur einen Huf nach vorn zu setzen, ganz gleich, was Torion tat. Vielmehr wich es sogar vor dem zurück, was vor ihm zu lauern schien.

Wieder war ein Aufschrei zu hören. Etwas bewegte sich im Schatten, etwas von der Größe einer Katze ... aber mit zu vielen Beinen.

Wovor hatte Salene ihn gewarnt? Vor Spinnen? »Unmöglich«, murmelte er. »Völlig unmöglich ...«

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Dennoch wollte er kein unnötiges Risiko eingehen, denn dass irgendetwas nicht stimmte, daran gab es keinen Zweifel.

Er blickte über die Schulter zu der Stelle, an der er die letzten Wachposten gesehen hatte. »Alarm! Alarm! Mögliche Eindring­linge an den Toren! Eindringl...«

In diesem Moment fiel etwas Schweres auf den Kopf seines Pferdes. Noch während es verängstigt zu wiehern begann, lande­te ein weiteres Objekt auf Torions Arm. Er sah eine Vielzahl von Beinen und mindestens so viele Augen.

Mit dem Schwert schnitt er der Kreatur in den Rücken, die daraufhin fauchend vom Arm rutschte. Im gleichen Moment ließen sich zwei weitere Monster auf seinen Schultern nieder.

Während Torion weiter »Alarm!« rief, schlug er eines der Tie­re weg.

Zwar hörte er in der Straße Soldaten antworten, doch der erste Mann, den er sah, kam vom Stadttor her auf ihn zu. Torion er­kannte den Unteroffizier, wunderte sich aber über den ungelen­ken Gang des Mannes.

Dieser Umstand signalisierte dem General, dass hier irgendet­was nicht stimmte. »Sie da!«, rief er und tötete die andere Krea­tur. »Was ist hier los? Wo sind die anderen Männer?«

Der Soldat antwortete nicht, sondern kam nur immer näher. Hinter ihm schälten sich zwei weitere Wachleute aus der Dun­kelheit. Auch sie bewegten sich seltsam hölzern.

Torion wollte sein Pferd umkehren lassen, doch nun stand das Tier wie eine Statue da. Ihm fiel auf, dass eine der Spinnen auf seinem Kopf saß. Wütend schlug er die Kreatur weg ... doch die meisten der acht Beine blieben tief in den Schädel des Pferdes gebohrt.

Torion blieb nur ein kurzer Augenblick, um das schreckliche

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Bild zu erfassen, das sich ihm bot, dann brach das Pferd zusam­men. Der General wollte zur Seite springen, schaffte es aber nicht mehr.

Mit einem dumpfen Gepolter schlug er auf der Straße auf, Schmerz schoss durch sein linkes Bein. Als er es zu bewegen versuchte, musste er erkennen, dass es unter dem Pferd begraben war.

Eine weitere Spinne war mit einem Satz auf seiner Brust. Er wollte sie wegschlagen, doch sie klammerte sich an seinem Hand­schuh fest. Er war heilfroh, dass die Kreatur sich noch nicht hatte durchbeißen können, da er überzeugt davon war, dass die Fang­zähne ein starkes Gift verströmten.

Immer mehr Spinnen krochen auf seinen Körper. Warum kei­ne von ihnen zubiss, wusste der General nicht, doch er vermute­te, dass die Antwort auf dieses Rätsel ihm nicht gefallen hätte.

Neben ihm baute sich eine Gestalt auf. Es war der Unteroffi­zier, der mit seiner freien Hand nach Torions Kopf griff.

Nein, nicht nach seinem Kopf ... sondern nach seinem Helm. Der General zuckte zur Seite. Als der Soldat einen zweiten

Versuch unternahm, sah Torion, dass der Helm des Mannes leicht schief saß.

Darunter bewegte sich etwas. Mit aller Kraft, die er in seiner misslichen Lage aufbringen

konnte, rammte Torion dem Mann seine Klinge in den Hals. Dabei fiel ihm der Helm vom Kopf.

Wie bei seinem Pferd kauerte auch bei dem Unteroffizier eine Spinne auf dem Kopf. Was sie dort zu suchen hatte, war Torion längst klar.

Er versuchte, sich von der Stelle zu bewegen, während der To­te umkippte, doch sein Bein steckte nach wie vor unter dem Pferd

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fest. Torion fluchte, da ihm klar wurde, dass es allmählich keinen Ausweg mehr für ihn gab.

Dann plötzlich sah er einen Lichtschein, gefolgt von besorgten, aber entschlossenen Rufen. Die Spinnen auf seinem Leib zogen sich rasch zurück, kaum dass sich ihnen eine Fackel näherte.

»Wir haben Sie, Sir!«, rief ein Soldat und packte ihn an den Armen.

»Behaltet die Helme auf!«, warnte er seine Retter. »Und ach­tet auf die Schatten! Lasst die Spinnen nicht an euch heran!«

Noch während er das sagte, ließ ihn der Aufschrei eines Man­nes erkennen, dass seine Warnung zu spät gekommen war.

Er hörte Kampflärm, und als ihm auf die Beine geholfen wur­de, sah er, dass zwei Soldaten sich eine Auseinandersetzung mit ein paar besessenen Wachleuten von den Toren lieferten. Letzte­re bewegten sich noch immer ungelenk, schafften es aber, nicht nur die Hiebe abzuwehren, sondern wieder und wieder selbst anzugreifen.

Torion zählte die Männer, die bei ihm waren. Sieben, denen er noch vertrauen konnte. Ein Blick zu den Schatten warnte ihn, dass diese Zahl nicht einmal annähernd genügen würde.

»Rückzug! Rückzug! Haltet ihnen die Fackeln und Lampen entgegen! Schnell!«

Die meisten von ihnen befolgten die Anweisung schnell ge­nug, doch der besessene Soldat, der gegen einen der Männer kämpfte, holte plötzlich aus und schlug ihm den Helm vom Kopf. Sofort wurde er von einer Spinne angesprungen, die deutlich hörbar ihre Gliedmaßen in seinen Schädel bohrte. Der Soldat sank kurz auf die Knie, und als er wieder aufstand, hatte er den gleichen glasigen Blick wie sein Gegner.

»Bewegt euch, verdammt!«, rief Torion, der unablässig die

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Umgebung im Auge behielt. »Räumt diese Gebäude! Sofort!« Doch die Schreie, die ihm entgegenschallten, ließen keinen

Zweifel daran, dass seine Aufforderung zu spät gekommen war. Fluchend wich er weiter zurück, dann hielt er plötzlich inne und betrachtete das Fenster, in dessen Nähe er stand.

»Sie da!«, rief er einem verängstigten Soldaten zu. »Ihre Lam­pe! Schnell, Mann!«

General Torion riss ihm die Lampe förmlich aus den Händen, dann schleuderte er sie gegen das Fenster. Das Messinggehäuse zerschmetterte das Glas, brach dabei auseinander und ließ das brennende Öl umherspritzen.

Flammen stiegen im Haus auf, die auch auf die Vorhänge übergriffen. Im Schein des Feuers war es zum ersten Mal mög­lich, die Spinnen deutlich zu sehen. Torion war dieser Art noch nie zuvor begegnet, doch sie erinnerten an die sagenumwobenen Giftspinner. Was ihn anging, waren sie aber nichts weiter als groteske Dämonen, und wenn die Flammen sie so zurücktrieben, wie es den Anschein hatte, dann wollte er so viel Feuer wie nur möglich sehen.

Und wenn ganz Westmarch niederbrennen musste. »Die andere Lampe! Dort ins Haus!« Auf dessen Bewohner

konnte er keine Rücksicht mehr nehmen, da sie inzwischen längst tot sein mussten oder ihnen noch Schlimmeres widerfah­ren war.

Zu beiden Seiten der Straße stiegen nun Flammen auf. Einige der Schreckensgestalten wurden von dem Feuer erfasst, die übri­gen zogen sich hastig zurück.

Torion betete, der unablässige Regen möge die Brände nicht löschen und damit seine Hoffnung zunichte machen. Sein Plan schien zu funktionieren, da der Strom der monströsen Spinnen

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abebbte. Stattdessen liefen die Kreaturen umher, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten.

Plötzlich stöhnte einer seiner Soldaten auf und fiel vornüber. Hinter ihm stand scheinbar nur ein weiterer Soldat, doch als der Mann aufsah, bemerkte Torion, dass der Helm nicht richtig saß, so als sollte etwas darunter verborgen bleiben.

Ehe ihn jemand aufhalten konnte, zerrte er dem bewusstlosen Mann den Helm vom Kopf, auf den prompt eine wartende Spin­ne sprang, die augenblicklich ihre Gliedmaßen in den Schädel stach.

In diesem Moment wurde Torion bewusst, dass die Stadt in einer viel größeren Gefahr schwebte, als er bislang angenommen hatte. Dieser Soldat war nicht aus der Richtung des Stadttors gekommen, sondern aus dem Stadtinneren!

Der General stürmte auf die beiden los, zerfetzte dem stehen­den Mann die Kehle, ehe der sich dagegen wehren konnte, und jagte seine Klinge dann durch den Parasiten und durch den Schä­del desjenigen, der noch am Boden lag. Ein anderer Soldat erle­digte die Spinne, die unter dem Helm des anderen Wachmanns verborgen war.

Torion zog seine Klinge aus dem Toten und betrachtete die Woge aus Spinnen, die sich ihnen wieder näherte. »Rückzug! Rückzug, verdammt! Ich will, dass jeder Mann seinen Helm fest auf den Kopf drückt! Wer das nicht macht, riskiert eine Hinrich­tung! Klar?«

Er wartete nicht auf ihre Bestätigung. Der Regen war immer noch schwach genug, dass die Fackeln etwas bewirken konnten, doch in diesem Teil der Stadt war der Kampf längst verloren. Torion fluchte, da er wusste, dass die dringend benötigte Ver­stärkung sich viel tiefer im Stadtzentrum aufhielt, weil der König

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persönlich das so befohlen hatte. Der König! Torion packte einen der Männer. »Nehmen Sie

sich ein Pferd und reiten Sie zum Palast! Sagen Sie dem König, dass die ganze Stadt in Gefahr ist. Sagen Sie ihm, wir brauchen jeden verfügbaren Mann, vor allem jene Leute, die er für die morgige Versammlung angefordert hat! Wir werden uns so lan­ge nach Kräften zur Wehr setzen.«

Während der Bote davoneilte, drangen aus einem anderen Teil der Stadt Schreie an sein Ohr.

»Sie sind überall«, flüsterte der Kämpfer. »Überall ...« Vor allem aber schienen die Spinnen aus der Richtung zu

kommen, vor der Salene ihn hatte warnen wollen. Fast bereute er, dass er dem Boten nicht aufgetragen hatte, Salene zu ihm zu bringen, damit sie ihm mehr über diese heimtückische Invasion sagen konnte. Doch dann stellte er sich unwillkürlich vor, wie die Edelfrau einer der Spinnen zum Opfer fiel. Nein, er würde nie­mals riskieren, dass ihr so etwas zustieß. Am besten sollte sie dort bleiben, wo sie war. Im Palast würde sie in Sicherheit sein.

Und wenn Justinian erst einmal erfahren hatte, was sich in der Stadt abspielte, würde unverzüglich Hilfe auf den Weg gebracht werden ...

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ZWANZIG

Der erste, weit entfernte Schrei ließ Salene vor Schreck aufsprin­gen. Wenn sie so etwas hier in der Burg hören konnte, dann verhieß es für die Stadt nichts Gutes.

Justinian nahm ihre Hand, und obwohl ein Teil von ihr ver­suchte, jene Kraft zu rufen, die sie gegen Torion eingesetzt hatte, geschah nichts. Der König zog sie zurück auf das Podium, damit sie wieder neben ihm Platz nahm.

»Ihr solltet Euch wirklich beruhigen! Wir müssen nur warten, bis der richtige Moment gekommen ist. Dann wird alles gut wer­den. Ihr werdet sehen ...«

»Alles wird gut werden? Aber Euer Majestät, was ist mit all den Menschen, die leiden müssen? Was ist mit den Unschuldi­gen, die sterben müssen?«

Einen Moment lang wirkte er wieder wie der unsichere Justin­ian, den sie kannte. Seine Hand zitterte, und er sah rasch zur Seite, wo es den Geist von Cornelius umhertrieb – Cornelius, der nicht mit der eigenen Weisheit sprach, sondern nur sagte, was Karybdus ihn sagen ließ.

Wieder wurde geflüstert, und auch diesmal konnte Lady Ne­sardo nichts davon verstehen. Der ängstliche Ausdruck ver­schwand schnell wieder vom Gesicht des jungen Monarchen, der schnaubend ausatmete und Salene anschaute. »Habt Ihr das ge­sehen? Für einen Moment habt Ihr sogar mich in Verwirrung gestürzt. Es ist so, wie ich sagte: Es wird alles gut werden. Vater sagt das, und er weiß solche Dinge. Er weiß es immer.«

Salene hatte versucht, ihm die Wahrheit über den Geist des

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verstorbenen Königs zu erklären, doch Justinian hatte ihr nicht geglaubt. Trotzdem wagte sie einen weiteren Anlauf: »Euer Ma­jestät, ich glaube Euch, wenn Ihr sagt, dass es sich um Euren geehrten Vater handelt. Aber ich sage Euch noch einmal, dass er unter einem Zauber steht. Er spricht die Lügen des Nekromanten Karybdus. Euer Vater hätte niemals ein solches Blutbad zugelas­sen, ganz egal, aus welchem Grund! Er liebte sein Volk, er be­schützte es! Und nun wird Cornelius gezwungen, Dinge gegen seinen Willen zu sagen ...«

»Muss ich Euch denn wirklich wieder zum Schweigen bringen, Lady Nesardo? Ihr wisst, wie viel Ihr mir bedeutet, aber dass Ihr so über meinen Vater redet! Ihr beschuldigt ihn, nicht mehr als eine Marionette zu sein. Und dass Ihr auch so über den guten Karybdus sprecht!«

Sie gab es auf. Justinian konnte oder wollte nicht glauben, dass jemand seinem Vater vorschreiben könnte, was er zu tun hatte – auch nicht im Leben nach dem Tod. Schlimmer noch war aber, dass er den Nekromanten für einen vertrauenswürdigen Berater hielt! Wie lange hatte Karybdus diese Inszenierung wohl geplant?

Noch mehr Schreie drangen durch die dicken Mauern des Palastes. Der König trank von seinem Wein, dann bot er auch ihr etwas an.

Aus einer anderen Richtung und deutlich näher gelegen war ein Streit zu vernehmen. Justinian legte neugierig den Kopf schief. Auch Salene versuchte, etwas zu verstehen. Der frustrier­te Tonfall des einen entsprach der Stimmung, in der sie sich be­fand. Vermutlich wollte jemand den König warnen, wurde aber nicht zu ihm durchgelassen.

Augenblicke später betrat Edmun Fairweather den Thronsaal. Vom arglosen Diener hatte er sich in den Augen der Edelfrau zu

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einem Widersacher gewandelt, der so teuflisch war wie Lord Jitan oder Karybdus. Möglicherweise hatte er sich freiwillig zu einem Teil des Schreckens gemacht, der sich ringsum in der Stadt ab­spielte.

»Was war das für ein Lärm, Edmun?«, wollte der König wissen. »Ein Wachsoldat, wie nicht anders zu erwarten. Er sagte, Ge­

neral Torion habe ihn geschickt, aber ich ließ ihn wissen, dass Ihr derzeit nicht gestört werden dürft. Er machte viel Aufhebens, bis ich ihn schließlich festnehmen und für diese Nacht in eine Zelle sperren lassen musste. Natürlich die Erlaubnis Eurer Majestät vorausgesetzt.«

Justinian dachte nach. »Nun, wenn es so sein muss. Sorgt aber dafür, dass er es bequem hat und aus der Küche etwas Gutes zu essen bekommt. Der Mann kam immerhin nur seiner Pflicht nach. Er wusste es nicht besser.«

»Wie Ihr wünscht, Euer Majestät.« Lady Nesardo konnte sich nicht länger zurückhalten. »Edmun

Fairweather«, sagte sie. »Ich verstehe, warum der König sich so verhält, aber was ist mit Euch? Ihr müsst doch erkennen, was da draußen geschieht. Wollt Ihr wirklich untätig dastehen und zu­schauen, wie dieser Horror um sich greift?«

Seine Miene blieb ausdruckslos, nur seine Augen flackerten gefährlich. »Ich lebe nur, um meinem Herrn zu dienen. Er be­fiehlt, ich gehorche.«

»Und in Eurer Loyalität seid Ihr ganz hervorragend, mein lie­ber Edmun«, gab Justinian strahlend zurück.

Der Diener verbeugte sich tief, dann verließ er den Saal. Salene legte die Stirn in Falten. Als Edmun von seiner Loyalität

gegenüber seinem Herrn gesprochen hatte, war es ihr vorgekom­men, als würde er nicht den König meinen.

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Aber wen sonst? Vielleicht Aldric Jitan. Karybdus war eher unwahrscheinlich, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass er einem Nekromanten treu ergeben sein sollte.

Sie verzog mürrisch den Mund. Ihre Überlegungen führten zu nichts. Sie musste etwas unternehmen.

Nur was? Und wie? Als sie hatte gehen wollen, war es Justin­ian mühelos gelungen, sie daran zu hindern. Er schien in der Lage zu sein, mit Magie umzugehen, während ihre eigenen Kräf­te – die ohnehin sehr willkürlich in Erscheinung traten, sie nun offenbar völlig im Stich gelassen hatten. Sie war davon über­zeugt, dass es auf irgendeine Weise mit dem König zusammen­hing – bloß wie?

»Ich wollte Euch das schon zuvor gefragt haben, Euer Maje­stät«, sagte sie schließlich, wobei sie immer daran dachte, dass Cornelius ständig mithörte. »Ist diese magische Begabung etwas, das in Eurer Familie häufig vorkommt? Mir sind nie Berichte darüber zu Ohren gekommen.«

Die Hoffnung der Edelfrau wurde nicht enttäuscht, denn Justinian war durchaus bereit, mit ihr über sich selbst zu reden. Vielleicht glaubte er sogar, sie habe Interesse an ihm. Es gefiel ihr nicht, mit dem König ein Spielchen zu treiben, doch ihr blieb keine andere Wahl.

»Nein, nein, keineswegs. Das ist etwas ganz Eigenes, ein be­sonderes Geschenk, das mir zuteil geworden ist.« Er hob seine Hand und führte sie an den Hals. Salene fiel zum ersten Mal auf, dass er eine schwarze Kette trug. »Möchtet Ihr ...«

Salene hörte das Flüstern, das den König mitten im Satz inne­halten ließ. Sie konnte sich gut vorstellen, welchen Inhalt die Botschaft hatte. Rasch hob Justinian seine Hand weiter an und legte sie gegen seine Wange. Er tat so, als sei es von vornherein

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seine Absicht gewesen, sich zu kratzen. Dann sprach er weiter: »Ich glaube, ich bin der Erste, der dieses Talent vorweisen kann. Vielleicht kommt es von der Seite meiner Mutter. Sie stammte von königlichem Geblüt aus Lut Gholein ab, müsst Ihr wissen. Dort spielen sich alle möglichen mystischen Dinge ab, wie ich gehört habe. Ja, von dort kommt meine Begabung.«

Justinian schien zufrieden, während sie von seinen Ausfüh­rungen keineswegs überzeugt worden war. Salene nickte aber, als würde sie ihm jedes Wort glauben, während sie in Gedanken mit der Kette und dem Anhänger beschäftigt war. Sie wusste nicht, was das Objekt darstellte, doch sie war sich sicher, dass es nicht nur für die magischen Kräfte des Königs, sondern auch für den Verlust ihrer eigenen Fähigkeiten verantwortlich war.

Weitere Schreie waren zu hören, die nun fast unablässig durch die Stadt hallten. Salenes Hand zitterte, während sie sagte: »Euer Majestät, ich glaube, ich möchte jetzt doch etwas Wein.«

»Aber selbstverständlich!« Der König nahm einen zweiten Kelch vom Tisch, schenkte ein und reichte ihn ihr dann.

Gleichzeitig griff Salene nach dem Kelch, sodass sie mit seinen Händen zusammenstieß. Das Gefäß fiel zu Boden, der Wein verteilte sich ringsum. Instinktiv beugte sich der König ein Stück weit vor, um nach dem Kelch zu greifen.

In diesem Moment machte Lady Nesardo einen Satz nach vorn, bekam die Kette zu fassen und riss sie ihm vom Hals.

»Was ...«, war alles, was der junge Monarch sagen konnte, während Salene zurückwich, um nicht länger in seiner Reichwei­te zu sein.

Was Salene in der Hand hielt, war ein dreieckiges Bronzeme­daillon, in das ein Auge eingraviert war, das von Zähnen umge­ben zu sein schien. Das Medaillon strahlte die gleichen dunklen

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Energien aus, die Salene immer dann wahrnahm, wenn sie in den alten Verliesen ihres Hauses unterwegs war. Dieses Artefakt war eindeutig nicht zu dem Zweck geschaffen worden, etwas Gutes zu bewirken.

»Gebt das her!«, herrschte Justinian sie an und versuchte, sie zu fassen zu bekommen. »Ich brauche das!«

Seine Arme kamen näher und näher ... Und plötzlich stand Salene hinter ihm. Wie sie das angestellt hatte, war ihr nicht klar. Justinian dreh­

te sich hastig zu ihr um, sein Gesicht hatte einen gehetzten Aus­druck. Immer stärker erinnerte er sie an den Sohn von Cornelius, wie sie ihn eigentlich kannte – ängstlich und unsicher.

»Ihr werdet alles ruinieren! Es war so gut geplant!« Ein zwei­tes Mal wollte er sie packen, doch auch diesmal verschwand sie und tauchte an anderer Stelle wieder auf, nun in der Nähe der Tür. Bei diesem Sprung war ihr aber auch aufgefallen, wie das Medaillon kurz aufblitzte, als sie sich wünschte, sich vor Justin­ian in Sicherheit zu bringen.

Außerdem spürte sie, wie die Magie wieder durch ihren Kör­per strömte. Das Medaillon war allem Anschein nach ein sehr komplexes Objekt. Justinian, der keinerlei oder allenfalls eine geringe magische Veranlagung besaß, wurde von dem Medaillon gerade eben mit genügend Magie versorgt, um ihm das Gefühl zu geben, er sei unbesiegbar. Doch im Vergleich zu dem, was Karybdus und Aldric Jitan aufbieten konnten, war Justinians Geschick geradezu lächerlich gering.

Für jemanden wie Salene hingegen, die latente magische Kräf­te besaß, konnte das Medaillon weitaus mehr bewirken. Es ver­stärkte ihre Fähigkeiten in einem Maß, dass sie ihre Zauber so gezielt einsetzen konnte wie noch nie zuvor.

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Das bedeutete, dass sie nun vielleicht doch noch eine Chance bekam, etwas zu unternehmen – aber nur, wenn ihr die Flucht aus dem Palast gelang.

Plötzlich packte sie jemand von hinten und nahm sie in einen unerbittlichen Würgegriff. Sie spürte heißen Atem in ihrem Nacken, dann hörte sie Edmun Fairweather fragen: »Und was wollt Ihr unternehmen, Mylady?«

Justinian klatschte begeistert in die Hände. »Gelobt seid Ihr, dass Ihr hier seid, Edmun! Sie hat das Medaillon an sich geris­sen!«

»Das sehe ich, Euer Majestät ...« Im Flüsterton fügte er an, was nur Salene hören sollte: »Aber mein Herr Astrogha wird das nicht zulassen.«

Mit einer Hand presste er sie gegen seine Brust, die andere nahm er nach hinten.

Der König hatte einen panischen Gesichtsausdruck. »Edmun, das ist nicht nötig. Nehmt ihr einfach nur das Medaillon ab ...«

Salene wollte gar nicht abwarten, was ihr Angreifer mit ihr vorhatte, sondern versuchte, das zu tun, was sie versehentlich Zayl angetan hatte. Sie legte ihre Hand auf die von Edmun und lenkte ihre ganze Wut in diese Berührung.

Die Edelfrau war davon ausgegangen, seine Hand zu versen­gen, damit sie sich aus seinem Griff befreien konnte. Doch was dann geschah, konnte sie kaum fassen. Es war ein Geräusch zu hören, als würde ein Feuer entfacht ... und dann stieß der Mann hinter ihr einen gellenden Schrei aus.

Salene riss sich los und wurde von einem heißen Luftschwall getroffen, der sie stolpern ließ. Nach ein paar Schritten hatte sie sich gefangen, und als sie sich umdrehte, bemerkte sie die Wir­kung ihrer Attacke.

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Edmun Fairweather war zur lebenden Fackel geworden! Er war von Kopf bis Fuß von Flammen eingehüllt, die aber auf nichts anderes übersprangen und nicht einmal den Boden unter seinen Füßen ansengten. Das Feuer hatte sich so schnell auf dem Körper ausgebreitet, dass der Adjutant des Königs bei vollem Bewusstsein miterlebte, wie die Flammen ihn verzehrten.

Edmun schrie und schrie, und plötzlich ließ er etwas fallen. Zu Salenes Entsetzen war es ein Dolch, der dem sehr ähnlich sah, mit dem Lord Jitan sie hatte töten wollen.

Mein Herr Astrogha, hatte Edmun geflüstert. Dass der Ein­fluss der Spinne so weit reichte, verblüffte sie und warf die Frage auf, wie lange er wohl schon dem Dämon gedient hatte.

Wichtig war jetzt aber vor allem, dass er ihm nicht länger diente. Der heimtückische Adjutant machte zwei Schritte auf sie zu, dann sank er mit einem schwachen Stöhnen zu Boden. Die Flammen zehrten weiter an seinem zuckenden Leib, während der Teppich darunter nicht einmal Spuren von Ruß aufwies.

Mit einem erstickten Laut ließ sich Justinian auf den Thron sinken. Er saß da und schüttelte unablässig den Kopf. »Vater ... Vater ...«, rief der Herrscher von Westmarch schließlich. »Was soll ich tun?«

Als Salene das hörte, wandte sie sich dem Schemen zu. Sie würde nicht zulassen, dass Karybdus noch länger über das Ge­spenst von Cornelius Einfluss auf den neuen Monarchen ausübte.

Doch während der Geist des alten Königs im Raum verharrte, war die Aura, die Salene an den Nekromanten erinnert hatte, mit einem Mal verschwunden. Cornelius schien sich von Karybdus’ Einfluss befreit zu haben. Salene konnte nur vermuten, dass es mit dem Medaillon zusammenhing, das sie Justinian abgenom­men hatte. Als sie dann Justinians Mienenspiel beobachtete, war

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sie nahezu davon überzeugt, dass Cornelius nicht mehr dem Willen des Nekromanten ausgeliefert war.

»Was habe ich getan?« Der Sohn erblasste und schüttelte vor Entsetzen den Kopf. »Aber ich wollte niemals ... ich tat es nur, weil ich dachte, du wärst stolz auf mich ...«

»Euer Majestät!«, unterbrach ihn Lady Nesardo, die diesmal auch seinen Vater meinte. »Lord Torion hat einen Boten ge­schickt. Ihr müsst umgehend mit ihm reden! Die Stadt wird von Kreaturen überrannt ...« Sie fuhr fort und erklärte in aller Eile die Situation.

»Ja, natürlich«, erwiderte Justinian, als sie geendet hatte. Seine Finger tippten nervös auf die Armlehne seines Throns. »Die Män­ner für die Machtdemonstration ... sie sollten ihnen helfen! Wir müssen die betroffenen Gebiete räumen ... Wachen! Wachen!«

Der König musste noch um einiges lauter rufen, ehe die Solda­ten von ihm Notiz nahmen. Offenbar hatte Edmun Fairweather die Männer weit genug fortgeschickt. Nervös erteilte der Monarch eine Reihe von Befehlen, wobei er immer wieder zum Geist seines Vaters schaute. Zum Glück konnten nur Salene und er ihn sehen.

Als er den Soldaten gesagt hatte, was zu sagen war, schaute er wieder zu seinem Vater. »Ja, das sollte er!«

»Was ist, Euer Majestät?« »Torion! Der General muss wissen, dass Hilfe unterwegs ist.

Er muss wissen, dass er durchhalten soll. Verdammt, wo ist der Bote?«

Salene berührte das Medaillon, ein kühner Gedanke ging ihr durch den Kopf. »Es könnte einen anderen Weg geben, einen schnelleren ...«

Erfreulicherweise verstand er sofort, was sie meinte, fürchtete

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aber zugleich auch um ihr Wohlergehen. »Das kann nicht Euer Ernst sein, Lady Salene! Es ist besser, sich dieses üblen Dings sofort zu entledigen. Ihr habt gesehen, welchen Narren es aus mir machte ...«

»Mir bleibt keine andere Wahl, Euer Majestät. Uns bleibt kei­ne andere Wahl.«

»Ich untersage es Euch!« Salene beachtete seinen Widerspruch nicht, schloss die Augen

und drückte das Medaillon an ihre Brust. Sie versuchte, die Kälte zu ignorieren, die von dem Anhänger ausging. Im Geiste sah sie Torion vor sich. Sie wusste nicht, wie sie sich zu ihm begeben sollte, sondern hoffte einfach nur, dass der natürliche Instinkt, der ihre Fähigkeiten geweckt hatte, sie in die Lage versetzte, sie ...

Im nächsten Moment stand sie unter freiem Himmel im Re­gen.

Rufe drangen an ihre Ohren, während sie sich auf ihre Umge­bung konzentrierte. Feuer brannten, manche heftiger, andere schwächer, da der unablässige Regen die Flammen löschte. Ein Aufschrei traf sie bis ins Mark.

Dann sah sie den General. Torion stand vor einer Kulisse aus Flammen und rief den Bo­

genschützen Befehle zu, die um ihre Pfeile Stoffstreifen gewik­kelt hatten. Salene vermutete, dass der Stoff zuvor in Öl getränkt worden war.

Hinter ihr war plötzlich ein leises Fauchen zu hören. Ohne zu zögern drehte sich die Edelfrau um und streckte ihre Hand aus. Ein Feuerball schoss aus der Handfläche hervor und traf eine große, schwarze Kreatur, die ihr auf den Kopf hatte springen wollen.

Kreischend fiel die Spinne zu Boden und rollte die Beine zu­

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sammen, während der Leib verbrannte. »Salene!« Torion kam zu ihr gerannt. »Ihr seid es wirklich!

Verdammt, Frau, was zum Teufel sucht Ihr denn hier? Ihr müsst sofort ...«

»Schweigt, Torion! Ihr müsst mir zuhören!« Als er endlich den Mund hielt, erzählte sie ihm in aller Eile, was sich zugetra­gen hatte.

»Verdammt, ich hätte es wissen sollen! Es wäre ja auch zu schön gewesen, dass der Junge sich in den Griff bekommt!«

»Es wäre nicht abzuwenden gewesen«, erklärte Salene. »Nicht, so lange Edmun, Lord Jitan und Karybdus zusammen gegen ihn arbeiteten.«

»Na, wenigstens sind wir diesen Meister Fairweather los ...« Ihre Unterhaltung wurde von erneuten Schreien unterbro­

chen. Ein Strom Spinnen kam links von den Verteidigern aus den Schatten hervor. Zwei Männer wurden von der Menge über­rascht und überrannt. Entsprechend Torions Anweisung hatten sie ihre Helme festgebunden, damit sie ihnen nicht vom Kopf gestoßen werden konnten. Als die Spinnen keine Möglichkeit fanden, die Helme zu überwinden, begannen sie kurzerhand, die Männer zu beißen.

Das Gift zeigte sofort Wirkung, da die Männer zu schreien und heftig zu zucken begannen. Einen Atemzug später waren sie tot.

General Torion stieß einen Fluch aus. »Schafft die Fackeln dort hinüber und holt ein weiteres Fass Öl herbei! Wir verlieren sonst diesen Abschnitt, und dabei sind wir schon kurz vor dem Palast!«

Sie hatten die Wahl, die Hauptstadt niederzubrennen oder den Spinnen zum Opfer zu fallen. Salene verstand, welch tragische Entscheidungen Torion treffen musste.

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Dann plötzlich richtete sich ihr Blick auf die Ölfässer. Sie sah auf Karybdus’ Amulett und dann noch einmal zu den Fässern.

»Torion, bringt Eure Leute von dem Fass weg ... und auch von dem gleich daneben!«

Ein verständnisloser Blick zu ihr war seine erste Reaktion, doch dann befolgte er ihre Anweisung auf der Stelle. Der General befahl seinen Männern, auf sicheren Abstand zu den Fässern zu gehen, dann nickte er Salene zu.

Sich nicht wirklich darüber im Klaren, was sie zu bewirken er­hoffte, konzentrierte sie sich auf beide Behältnisse. Gleichzeitig hielt sie das Medaillon fest umschlossen.

Wie von einem Katapult abgefeuert, schossen die Fässer in die Luft und steuerten genau auf die Flächen zu, auf denen sich die meisten der makabren Kreaturen aufhielten.

Kurz bevor sie aufschlugen, zeigte Salene auf jedes Fass, und so­fort jagten Feuerkugeln aus ihren Handflächen mit solcher Schnel­ligkeit auf ihre Ziele zu, dass sie nicht zu blinzeln wagte, da sie fürchtete, sie könnte den Ausgang des Geschehens verpassen.

Fast im gleichen Moment erfolgten zwei schwere Explosionen, und dann ging ein feuriger Regen auf die teuflischen Spinnen nieder. Die wurden so schnell bei lebendigem Leib verbrannt wie das eine Geschöpf, das Salene hatte angreifen wollen. Das schrille Fauchen der in der Flammenhölle sterbenden Kreaturen veranlasste viele der Männer, sich die Ohren zuzuhalten.

Nach Luft ringend beugte sich Salene vor. Diese Anstrengung hatte ihr die letzten Kräfte geraubt. Offensichtlich waren ihren Fähigkeiten Grenzen gesetzt, selbst wenn sie sich des Medaillons bediente.

Torion bemerkte ihren Schwächeanfall. »Salene? Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«

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»Mir ... geht es gut. Ich ... ich muss mich nur ausruhen«, ant­wortete sie, während sie gegen ihn sank.

»Kein Wunder, nach einer solchen Demonstration. Wie habt Ihr ...«

Sie schüttelte den Kopf, um ihm zu zeigen, dass sie nicht mit ihm darüber reden würde.

Der Kommandant nickte verstehend und sah zu einem seiner Männer. »Wasser für die Lady, und zwar schnell!«

»Torion«, flüsterte die Frau mit den scharlachroten Zöpfen. »Habe ich ... sie aufhalten können?«

Er betrachtete das Inferno. Einige Spinnen hatten überlebt, irrten aber desorientiert umher. Der Rest war nichts weiter als eine verkohlte Masse. »Ihr habt uns eine Atempause verschafft, Salene. Das ist Euch gelungen.«

»Aber nicht mehr als eine Atempause, oder?« »Das hängt davon ab, ob noch mehr von ihnen kommen«,

räumte er ein. Eines musste sie noch tun, etwas, das eigentlich zuallererst

hätte geschehen sollen. »Ich muss zu ihm«, sagte sie. »Zu wem?« General Torion half ihr, sich aufzurichten. Im

Schein der Flammen leuchteten seine Augen. »Ihr meint doch nicht diesen teuflischen Hexenmeister ...«

»Sein Name ist Zayl.« Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter. »Einfach nur Zayl.«

»Salene, das verbiete ich Euch!« Sie hob ihre Hand, woraufhin er instinktiv zurückwich und

dann das Gesicht verzog. »Ihr könnt mir nichts verbieten, Torion. Ich muss zu ihm. Er

ist unsere einzige Hoffnung.«

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»Dann begleite ich Euch.« Die Edelfrau machte einen Schritt zur Seite. Ihr Körper schrie

noch immer förmlich danach, sich ausruhen zu dürfen, doch diesen Luxus konnte sie sich jetzt nicht gönnen. »Ihr werdet hier gebraucht. Westmarch zählt auf Euch, Torion ...«

»Salene!« Er kam auf sie zu, doch Lady Nesardo umschloss wieder das Medaillon und dachte an Zayl. Sie sah sein mutiges, fahles Gesicht, seine nachdenklich dreinblickenden Augen, eben­so das flüchtige Lächeln, das sie hatte beobachten können. Sie stellte sich sogar seine rechte Hand vor, die nicht länger unter einem Handschuh verborgen war. Sie verspürte keine Abscheu mehr, sondern Verständnis.

Ein schreckliches Ziehen erfasste ihren Magen, die Luft wurde ihr formlich aus den Lungen gepresst ...

Dann schlug Salene auf harter, nasser Erde auf. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass ihr das Medaillon aus der Hand ge­schleudert wurde. Noch während sie nach links wegrollte, hörte die benommene Edelfrau ein Geräusch, als würde jemand einen Stein in einen See werfen.

Einige Sekunden lang rollte sie weiter, ohne etwas dagegen tun zu können. Dann endlich bekam sie einen Busch zu fassen, dessen Geäst sie ins Gesicht traf. Während ihre Beine herumge­wirbelt wurden, wurde sie endlich aufgehalten.

Eine Weile konnte sie nichts anderes tun, als nur so tief wie möglich durchzuatmen. Der kalte Untergrund, der kühle Regen ... als das kümmerte sie nicht. Ihr Kopf fühlte sich an, als würden hundert Pferde mitsamt Reitern unentwegt darüber hinwegga­loppieren.

Ein grelles Licht irgendwo vor ihr brachte sie dazu, sich auf den hellen Punkt zu konzentrieren. Dadurch ließ das Pochen in

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ihrem Kopf allmählich nach, und auch ihr Atem ging schließlich wieder gleichmäßiger.

Als sich alles zu normalisieren begann, erinnerte sich Salene an Zayl.

Die Angst um ihn verlieh ihr die Kraft, die nötig war, um sich aufzurichten. Ihr nasses Haar klebte an Kopf und Schultern. Während sie ein paar Strähnen zur Seite strich, sah sie sich um. Obwohl es regnete und Nebel herrschte, war es hell genug, um sie ihre unmittelbare Umgebung erkennen zu lassen.

Was sie jedoch nicht entdecken konnte, war das Medaillon. Wo es gelandet sein könnte, wurde ihr auf schmerzliche Weise klar. Unweit von ihr entfernt bahnte sich ein vom Regen ange­schwollener Strom seinen Weg durch die Landschaft. Sie erin­nerte sich an das Geräusch, das sie gehört hatte und das nun einen Sinn ergab.

Sie hatte die Wahl, kostbare Zeit für die Suche nach dem An­hänger zu vergeuden oder sich sofort zu Zayl zu begeben. Salene wusste nicht einmal, wo sie war, und sie vermutete, die Grenzen ihres Zaubers erreicht zu haben.

Das warf eine andere Frage auf: Konnte sie Zayl überhaupt er­reichen? Selbst mit der Macht des Medaillons hatte sie sich nur mitten in den riesigen Wald zu befördern vermocht. Wie sollte sie da darauf vertrauen können, im nächsten Anlauf mehr zu erreichen? Bevor sie Justinian das Medaillon abgenommen hatte, war sie nie auf die Idee gekommen, einen solchen Zauber über­haupt zu versuchen.

Hör auf!, ermahnte sich Salene. Sardak ist tot, Torion und die ganze Stadt sind in Gefahr, und Zayl ist vielleicht nur Augenbli­cke von seinem Tod entfernt. Sonderbar daran war, dass sie sich vor allem anderen um Zayl sorgte.

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»Nur ein Versuch«, murmelte die völlig durchnässte Frau. »Wenn ich es nicht sofort finde, muss ich es aus eigener Kraft versuchen.«

Auf dem rutschigen Untergrund glitt sie zwar immer wieder mit ihren Stiefeln aus, dennoch begab sie sich zu dem reißenden Strom.

Der wirkte mindestens doppelt so breit wie gewöhnlich, und angesichts des Tempos, mit dem das Wasser an ihr vorbeirausch­te, fragte sich Salene, ob das kleine, leichte Medaillon nicht viel­leicht schon weit fortgerissen worden war.

Dennoch musste sie wenigstens nachsehen. Vorsichtig stellte sie erst einen Fuß, dann den anderen ins Wasser. Sie betrachtete das Flussbett, froh darüber, dass das Licht von oben sie zumin­dest ein wenig erkennen ließ ...

Doch plötzlich begann sie sich über dieses Licht zu wundern und schaute auf. Ein Schatten in Form einer Spinne bedeckte fast die komplette Mondscheibe.

»Nein ... nein ...!« Dass die entsetzliche Kreatur so weit her­vorgetreten war, bedeutete, dass ihr praktisch keine Zeit mehr blieb. Karybdus und Aldric hatten auf genau diesen Augenblick gewartet.

Hektisch beugte sie sich vor. Hier und da konnte sie das Fluss­bett sehen, entdeckte aber nichts außer Steinen und Moos. Sie begann zu zittern.

Dann tauchte links von ihr zwischen den Bäumen ein weiteres Licht auf, das sie an den tröstenden Schein erinnerte, den sie zuerst wahrgenommen hatte. Aus der gleichen Richtung schie­nen auch unterschwellige, aber fesselnde Klänge zu kommen, womöglich Musik. Salene betrachtete das Licht, und dann merkte sie, dass es eine strahlende Gestalt umgab, die eine weite Kapuze

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und ein silbernes Gewand zu tragen schien. Einen Moment lang glaubte die Edelfrau sogar, flammende Flügel zu sehen ... doch als sie genauer hinschaute, war davon nichts mehr zu erkennen.

»Wer ist da?«, rief sie, da ihr die Vorstellung missfiel, mitten im Wald einem Fremden zu begegnen.

Die Gestalt antwortete nicht, kam aber stetig näher. Salene hatte das Gefühl, dass es sich um einen Mann handelte, der deut­lich größer war als sie oder Zayl. Die Edelfrau legte den Kopf schief. Die Klänge, die aus der Richtung des Fremden an ihre Ohren drangen, berührten sie so, wie noch kein Lied es zuvor vermocht hatte.

»Kommt nicht näher! Sagt mir erst, wer Ihr seid!« Noch immer kam keine Antwort. Salene versteifte sich. Sie

bezweifelte, mehr als die Flamme einer Kerze beschwören zu können, von einem Feuerball ganz zu schweigen, den sie auf den Fremden hätte schleudern können. Dennoch hatte sie nicht die Absicht, einfach nur dazustehen, während sich ihr womöglich eine Gefahr näherte.

»Das ist meine letzte Warnung!«, rief sie und hob eine Hand, um bereit zu sein. Wenn es ihr wenigstens gelingen würde, ihm Angst zu machen ...

Das Licht hinter der Gestalt verschwand so plötzlich, dass Sa­lene einige Male zwinkern musste, um ihre Augen den neuen Verhältnissen anzupassen.

Als sie wieder hinsah, stellte sie fest, dass sich ihr kein Mensch näherte, sondern ...

... ein Wendigo. Ein Blick auf das Fell, die Narben und vor allem in die Augen

genügte, und Salene wusste, dass es sich um jenen Wendigo handelte, der sie aus dem Tempel getragen hatte.

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EINUNDZWANZIG

Karybdus hätte nicht mehr als ein Jahrhundert lang überlebt, wäre er nicht willens oder fähig gewesen, sich auf eine veränderte Situation einzustellen. Er hatte eindeutig den Einfluss unter­schätzt, den Astrogha von seinem Dämonengefängnis aus auf die Ebene der Sterblichen ausübte. Es war ein Fehler, der aus Nach­lässigkeit heraus entstanden war, der Karybdus aber nicht vor unüberwindbare Hindernisse gestellt hätte. Der Nekromant wäg­te stets im Voraus andere Optionen ab, daher wusste er längst, was zu tun war.

Wenn Astrogha Zayls Körper begehrte, dann sollte er ihn auch bekommen ... jedenfalls vorübergehend. Niemand wusste besser um die Stärken und Schwächen eines Nekromanten als eben ein Nekromant, und diese Tatsache würde Karybdus sich zunutze machen. Er hatte Aldric Jitan bereits mit einer ganzen Reihe unterschwelliger Zauber belegt, die es ihm erlaubt hätten, Astrogha auszutreiben, sobald sich die Welt im Gleichgewicht befand. Variationen dieser Zauber konnte er auch auf Zayl an­wenden. Die schützende Magie, die der jüngere Nekromant an sich gewirkt hatte, würde diese zusätzlichen Vorkehrungen per­fekt übertünchen.

Doch er musste rasch handeln. Für die Augen eines Sterbli­chen – ausgenommen natürlich ein erfahrener Zauberkundiger wie er selbst – war nichts von den Vorbereitungen zu sehen, die der Dämon traf, um Zayls Körper übernehmen zu können. Dass der Dämon bei Zayl auf viel größeren Widerstand als erwartet stieß, registrierte Karybdus mit Anerkennung, auch wenn die

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Anstrengungen des jüngeren Nekromanten letztlich vergebens sein würden. Es war aber ein Beweis für die Qualität der Ausbil­dung, die den Rathmanern zuteil wurde – und es verschaffte ihm etwas Zeit, die er für seine eigenen Zauber benötigte.

Die so genannten Kinder von Astrogha ließen sich problemlos täuschen, da sie kaum mehr als schwache Manifestationen ihres Meisters waren. Karybdus konzentrierte sich. Er würde nicht lange benötigen, um seine Arbeit abzuschließen.

Aus dem Gürtel zog er Zayls Dolch, der für seinen Plan un­verzichtbar war. Eine weitere Variation des Lebenslasses würde im entscheidenden Moment dafür sorgen, dass der Spinnendä­mon seinen »besseren« Wirtskörper als noch zerbrechlicher emp­finden würde als den, den er dafür aufgegeben hatte.

Doch während der Nekromant heimlich mit seinen Zaubern begann, entging ihm, dass neben ihm die schwarze Gürteltasche lag. Hätte er sie bemerkt, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass sich Augenhöhlen gegen den Stoff drückten – Augenhöhlen, die auf ihn gerichtet waren.

Die Beine pressten mit solcher Kraft gegen Zayls Schädel, dass sie jeden Moment den Knochen durchbrechen mussten. Schlim­mer war aber noch das Wissen, was dann geschehen würde. Jedes der Beine würde sich in den Kopf bohren und sich tief in seinem Gehirn verankern. Dort würden sie mit seinem Verstand ver­schmelzen. Sobald dieser Punkt erreicht war, würde es nur noch Astrogha geben – Zayl würde von da an nicht mehr existieren.

Doch damit hätte es noch kein Ende. Astrogha verfügte fortan über das Wissen des Nekromanten und über seine Fähigkeiten, um die eigenen dämonischen Kräfte zu verstärken. Die Geheim­nisse der Rathmaner würden Teil des Wissens der Spinne werden

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... und für die Ebene der Sterblichen bedeutete das eine kaum mehr abschätzbare Gefahr.

Wie konnte Karybdus nur zulassen, dass es so weit kam? Zayl glaubte längst nicht mehr, dass der ältere Nekromant seinen zahlreichen Schlachten gegen die Finsternis zum Opfer gefallen war. Nein, der legendäre Zauberkundige hatte schlicht den Verstand verloren. Diese Erkenntnis stellte für Zayl allerdings keinerlei Trost dar.

Astroghas gehässige Stimme erfüllte wieder seinen Geist. Un­terwerfe dich meinem Willen, Zayl, und du wirst ein Gott wer­den ...

Ich werde gar nichts werden, gab der Nekromant zurück. Nimm, was du dir nehmen musst, aber ich werde mich dir nicht unterwerfen!

Er verstand nicht, warum der Dämon ihn nicht einfach über­nahm, so wie er es bei Lord Jitan getan hatte. Zayls Schädel war sicherlich nicht dicker als der des Edelmanns.

Oder steckte mehr dahinter? Musste sich der Nekromant dem Dämon womöglich wegen seines Wissens und seiner Gaben un­terwerfen? Vielleicht ging Astrogha das Risiko ein, all das zu verlieren, wonach er strebte, wenn er aus Zayl genauso einen leeren Wirt machte wie zuvor aus Jitan.

Vielleicht hatte Zayl tatsächlich noch einen Trumpf im Ärmel! Jetzt verstand er auch, warum die Spinne hinter Karybdus’ Rük­ken versucht hatte, Zayl für sich zu gewinnen, noch bevor er befreit worden war. Nachdem er mehr als einmal Hexenmeistern unterlegen war, wollte Astrogha sicherstellen, dass er zukünftig nicht mehr besiegt werden konnte.

Zayl wollte lieber so enden wie Aldric Jitan, als den grässlichen Wunsch des Dämons zu erfüllen. Er stählte seinen Willen und

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spürte Astroghas Wut, als der bemerkte, dass der Rathmaner ihm nicht so leicht zum Opfer fallen würde.

Gleichzeitig hoffte der Nekromant, dass sein teuflischer Wi­dersacher die Geduld verlor und ihn tötete, bevor Zayl wieder schwach wurde. Wenn sein Wille ihn verließ und Astrogha das bemerkte, würde der Dämon zweifellos siegen.

Alles, was du dir erträumst, kannst du haben, murmelte die Spinne. Reichtum, Sklaven, Macht ... ein Imperium ...

Du meinst, du wirst das alles haben. Ich werde dir nicht antun, was ich diesem Narren angetan ha­

be!, versuchte Astrogha ihn zu beschwichtigen. Erinnerst du dich an meine Anhänger, die dich Meister nannten? Teile mit mir deine Geheimnisse, und ich werde meine mit dir teilen ...

Nicht die Worte waren verlockend, da sie nur Floskeln waren. Doch jede Silbe war mit einer fremden Art von Magie unterlegt, die sich auf unterschwellige Weise in den nichtsahnenden Verstand einschlich, wie sich ein Wurm seinen Weg durch einen verwesenden Leichnam bahnte. Allein Astrogha zuzuhören, bedeutete, dass man diese Magie in seine Gedanken eindringen ließ ... es sei denn, man besaß das Geschick, solche Tricks abzu­wehren, so wie es bei Zayl der Fall war.

Doch selbst für ihn gab es Grenzen, und denen näherte sich der Rathmaner schneller, als ihm lieb war.

So sehr sich Zayl auch anstrengte, ihm fiel nichts ein, was er tun konnte – abgesehen davon, dass er unentwegt betete, eher zu sterben als übernommen zu werden. Niemand konnte ihm noch helfen, denn außer Humbart war da keiner, und der konnte sich mangels Skelett nicht von der Stelle bewegen.

Sollte er hier sterben müssen, dann gab es nur eine Sache, die Zayl trösten konnte. Er hatte Salene zurück in die Stadt ge­

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schickt. Sie würde von dort entkommen können. Wenn er in allem anderen versagt hatte, dann doch wenigstens nicht in die­sem Punkt.

Ganz gewiss war sie in Sicherheit.

Im Laufe seiner Karriere hatte er viele Kämpfe ausgetragen, doch in diesem Moment hätte General Torion jede dieser Schlachten gegen die schlimmste Konfrontation seines Lebens eingetauscht. Das Beste, was er über die Situation sagen konnte, war die Fest­stellung, dass seine Leute für den Augenblick die Stellung hiel­ten. Einige Verstärkungen waren inzwischen eingetroffen, doch nach den Meldungen aus anderen Teilen der Hauptstadt zu urtei­len, würden selbst die Truppen, die Justinian losgeschickt hatte, zahlenmäßig nicht sonderlich groß ausfallen. Die meisten Solda­ten, auf die Torion gezählt hatte, wurden bereits an anderen Stellen benötigt. Es schien, als würden die Spinnen die Stadt­mauern an allen Stellen überrennen.

Das war jedoch nicht einmal das Schlimmste. Besorgniserregen­der waren die Meldungen, dass sowohl viele Soldaten als auch zahlreiche unschuldige Bürger als lebende Tote durch die Haupt­stadt wandelten, gelenkt von den abscheulichen Spinnen auf ihren Köpfen. Viele Stellungen waren gefallen, da die Soldaten nicht das schreckliche Schicksal jener Kameraden ins Kalkül zo­gen, die auf einen ausreichenden Kopfschutz verzichtet hatten. Zum Glück hatte sich inzwischen herumgesprochen – nicht zu­letzt dank Torions Bemühungen –, wie man sich vor der drohen­den Gefahr schützen konnte.

Doch der Strom der Spinnen riss einfach nicht ab. Für jede Einzelne, die durch ein Schwert oder in den Flammen starb, schienen Dutzende oder sogar Hunderte nachzurücken.

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Woher kommen sie bloß alle?, wunderte sich der erfahrene Kommandant, während er mithalf, ein Fass Öl in Position zu rollen. Mindestens ein Fünftel der Hauptstadt stand in Flammen oder war bereits niedergebrannt. Es wäre sogar noch mehr gewe­sen, hätte der Regen nicht wieder an Heftigkeit zugenommen. Jedes Feuer musste durch Öl oder andere brennbare Stoffe weiter geschürt werden, doch allmählich wurde es schwierig, entspre­chende Vorräte aufzutreiben. Mehrere Lagerbestände waren erst vor kurzem geräumt und an einen unbekannten Ort gebracht worden. Die entsprechende Anweisung hatte Edmun Fairweather unterzeichnet. Torion verfluchte den Toten ohne Unterlass und hoffte, dass sein Flammentod lang und qualvoll gewesen war. Aber selbst das wäre aus der Sicht des Generals noch zu harmlos gewesen.

Er gab das Fass an einen anderen Soldaten weiter und hielt ei­nen Augenblick inne, um zu Atem zu kommen. Justinian, der nun wieder er selbst war, hatte die Koordination des Widerstands größtenteils dem weitaus erfahreneren Kommandanten übertra­gen. Es war keine Eitelkeit, wenn General Torion die Ansicht vertrat, dass ohne ihn die Bemühungen, so viele Menschen wie möglich vor diesem Alptraum zu bewahren, nicht annähernd so organisiert abgelaufen wären. Natürlich hatte er auch das Glück, dass viele seiner erstklassigen Offiziere bislang überlebt hatten. Überall dort, wo es möglich war, hatte er einem von ihnen die Befehlsgewalt übertragen. Er bedauerte nur, dass bislang nie­mand etwas von Alec Mattheus gesehen hatte. Stunden zuvor, als alle nur daran interessiert waren, Zayl festzunehmen, hatte er gehört, dass der Hauptmann mit einem Trupp die Stadt verlassen wollte, um den Nekromanten zu fangen.

Torion war sich sicher, dass der Mann, den er lange Zeit als

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seinen Nachfolger betrachtet hatte, wahrscheinlich dort draußen im Kampf gegen die achtbeinigen Teufel umgekommen war.

Er atmete tief durch und sah sich um. Eine Reihe von Bogen­schützen war permanent damit beschäftigt, ölgetränkte, bren­nende Pfeile abzufeuern. Beschützt wurden sie dabei von Solda­ten, die mit Schwertern, Spießen und natürlich Fackeln bewaff­net waren. Im Norden ...

Torion stutzte. Aus nördlicher Richtung näherte sich ein Sol­dat, der ganz nach dem vermissten Hauptmann Mattheus aussah.

Der erschöpfte Kommandant begann zu grinsen und ging dem Hauptmann entgegen. Alec salutierte seinem Vorgesetzten ver­halten. Seine Miene war ernst, in der Hand hielt er eine arg ram­ponierte Klinge.

»Alec, Junge!«, rief Torion ohne Rücksicht auf das militärische Protokoll. Dafür war er viel zu froh, seinen Adjutanten zu sehen. Selbst kinderlos, war Mattheus für ihn fast wie ein Sohn. »Wo zum Teufel haben Sie gesteckt? Geht es Ihnen gut?«

Nach kurzem Schweigen erwiderte der Mann: »Ja, es geht mir gut.«

Sein Tonfall hatte etwas Monotones, doch das überraschte To­rion nicht. Alle Soldaten waren erschöpft, und Alec sah aus, als hätte man ihn durch die Straßen geschleift.

»Nun, ich bin froh, Sie zu sehen, Junge!« Der General sah über die Schulter zu den Männern, die mit den Fässern beschäf­tigt waren. »Vielleicht können Sie hier das Kommando über­nehmen, während ich mich darum kümmere, wie die anderen ...«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Torion, dass der Hauptmann nach ihm griff, als wolle er ihm den Helm vom Kopf reißen.

Obwohl seine Reflexe in zahlreichen Schlachten geschult wor­den waren, konnte er sich nur mit Mühe vor dem Angriff in

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Sicherheit bringen. Fassungslos starrte er den Hauptmann an. Es war offensichtlich, was mit ihm geschehen war, doch Torion wollte es zuerst nicht wahrhaben.

Ein Blick darauf, wie Alec den Helm trug, genügte jedoch. Dass der etwas zu hoch auf seinem Kopf saß, wäre Torion bei jedem anderen Mann sicher früher aufgefallen, nur nicht bei Hauptmann Mattheus.

Er konnte nicht länger leugnen, dass der Mann, der da vor ihm stand, nichts mehr mit seinem Adjutanten gemein hatte.

Als der General sein Schwert zog, ging der Hauptmann bereits zum Angriff über und stach nach ihm. Torion stieß einen Schmerzenslaut aus, als ihn die Spitze der Klinge am Hals traf, wo sie nur knapp die Schlagader verfehlte.

Den nächsten Hieb konnte er abwehren, doch voller Sorge bemerkte er, dass sein Gegenüber mehr und mehr den Kampfstil anwandte, den er von Alec kannte. Er war sich darüber im Kla­ren, wie gut sein Adjutant mit der Klinge umgehen konnte, also blieb ihm keine andere Wahl, als selbst in die Offensive zu ge­hen.

Der Kommandant fand eine Lücke in der Abwehr des Haupt­manns und durchschnitt ihm mit dem Schwert die Kehle. Aus der klaffenden Wunde quoll eine dickliche, halb geronnene Masse, die Blut sein musste ... doch Torions Widersacher ließ sich davon nicht aufhalten.

Fluchend stolperte der General rückwärts, um noch gerade e­ben einem Schwerthieb auszuweichen, der auf seinen Kopf zielte. Ihm wurde klar, dass sein Widersacher immer noch danach streb­te, ihm den Helm vom Kopf zu schlagen, gleichzeitig fragte er sich, wie er etwas töten sollte, das bereits tot war. Die Spinne auf dem Kopf von Alec Mattheus übte eindeutig mehr Macht über

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den Körper aus als die meisten anderen dieser Kreaturen. Torion biss die Zähne zusammen und zielte diesmal nicht auf

Alecs Körper, sondern auf dessen Helm. Schon zu Lebzeiten war der Hauptmann nicht ganz so gut

gewesen wie sein Vorgesetzter, und so gelang dem General das, was Mattheus nicht geschafft hatte. Die Klinge traf den Helm, der hochgeschleudert wurde und scheppernd auf dem Pflaster landete.

»Bei Rakkis!«, brummte Torion, als er seinen wirklichen Geg­ner zu Gesicht bekam. Die Spinne fauchte, und Alec reagierte mit einer so heftigen Serie von Hieben und Stichen, dass der Kom­mandant einen Moment lang in die Defensive getrieben wurde. Seine Kraft ließ mit jedem Treffer etwas mehr nach.

Nein, das werde ich nicht zulassen! Er sah dem Mann in die Augen, den er als seinen Nachfolger und Ziehsohn angesehen hatte, betete rasch für Alecs Seele, und dann stach er zu.

Seine Klinge schnitt die Spinne in zwei Teile, aus dem Leib tropfte ein übelriechender, grünlicher Schleim.

Der Hauptmann verzog das Gesicht, wilde Zuckungen jagten durch seinen Körper. Schließlich sackte er zusammen, das Schwert immer noch fest umklammert.

General Torion rang nach Luft, während er den Leichnam be­trachtete. Dieses Opfer berührte ihn stärker als alle anderen To­ten. Er schaute zu seinen Männern, die von einigen Bürgern im Kampf gegen das Böse unterstützt wurden.

Obwohl er diese Konfrontation gewonnen hatte, wusste der Kommandant von Westmarch, dass ein Wunder nötig war, wenn die Verteidiger mehr erreichen wollten, als lediglich ihre Position zu halten. Sie waren alle nur gewöhnliche Sterbliche, während der Strom der dämonischen Spinnen nicht abreißen wollte.

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Torion erkannte, dass ihr Überleben einzig und allein von Zayl gesichert werden konnte, dem Mann, den er zur Strecke hatte bringen wollen. Ihr Überleben hing ab von dem Nekromanten und – auch das wurde Torion plötzlich klar – nicht minder von Salene.

Du zögerst das Unausweichliche nur hinaus!, zischte Astrogha in seinem Kopf. Wir werden eins sein ...

Zayl fühlte, wie sein Wille schwächer wurde, und er wusste, dass der Dämon es ebenfalls spürte.

Wenn wir eins sind, werde ich dir das Vergnügen überlassen, langsam den Grauen zu töten, der mich für so dumm hält ...

Er meinte Karybdus. Also war Astrogha doch nicht so einfäl­tig. Er wusste, Karybdus war nach wie vor ein Rathmane, und damit stellte er für den Dämon eine Gefahr dar.

Aber war ihm auch bewusst, wie verschlagen der Nekromant war? Zayl war sich dessen nicht so sicher, doch es änderte nichts daran, dass die Ebene der Sterblichen würde leiden müssen.

Dann tat die Spinne plötzlich etwas, was Zayl einen Schock versetzte. Obwohl sie sich mit ihm ein geistiges Kräftemessen lieferte, begann sie zugleich, eine klebrige Substanz auszuspeien ... eine Art Spinngewebe. Echte Spinnen gingen nicht so vor, wenn sie ihr Netz bauten, aber Astroghas Gestalt hatte lediglich äußerlich Ähnlichkeit mit jenen Kreaturen, mehr nicht. Der Dämon spie weiter, und das magische Spinngewebe legte sich von selbst um seine Füße und Beine und wickelte ihn dann immer weiter ein.

Astrogha machte sich bereit für den Augenblick, da der Wirt endlich aufgab. Der Dämon wollte seine wahre, höllische Gestalt annehmen, und er würde sie aus Zayls Körper entstehen lassen.

Daran konnte der gefangene Nekromant nichts ändern.

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Karybdus beobachtete ungerührt das Spinnen. Der gesamte Zyk­lus dieser seltenen Konstellation würde bald vorüber sein, doch Astrogha würde seine Verwandlung bis dahin längst abgeschlos­sen haben. Heimlich schob er wieder Zayls Dolch in seinen Gür­tel. Alles war bereit. Astrogha würde für einen kurzen Moment auf die Ebene der Sterblichen zurückkehren können, um das zu leisten, was für das Gleichgewicht erforderlich war ... und dann würde Karybdus ihn für alle Zeit in die Hölle verbannen.

Er bewegte sich auf einem schmalen Grat. Jedes Ereignis wie die Entfesselung des Dämons in Westmarch durfte nur bis zu einem bestimmten Punkt voranschreiten. So etwas durfte man nicht außer Kontrolle geraten lassen ... aber ihm war »so etwas« auch noch nie widerfahren.

Danach wurde es Zeit, weiterzuziehen und herauszufinden, was als Nächstes zu tun war. Karybdus vermutete, dass noch viel Arbeit vor ihm lag, ehe das Gleichgewicht wahrhaftig wiederher­gestellt war. Zu viele Generationen lang hatten Rathmaner ein­fach nur gegen das Böse gekämpft. Vermutlich würde er noch einmal hundert Jahre brauchen, um wieder alles ins Lot zu brin­gen.

Aber er war ja auch Karybdus, von daher wusste er, es würde ihm gelingen, ganz gleich welche Opfer auf dem Weg dorthin gebracht werden mussten – selbst wenn es sich um Zayl, Lord Jitan und die unschuldigen Bewohner von Westmarch handelte.

Der Wendigo hatte Salene mit atemberaubendem Tempo durch den Wald getragen. Mit der Frau auf seinen Armen wich er Äs­ten aus und überwand mühelos Gräben. Als der Wald dem Ge­birge wich, erwies er sich als ein ebenso guter Kletterer, der auf

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dem Weg etliche von Astroghas monströsen Dienern umging, deren Positionen das Tier zu kennen schien.

Salene verstand noch immer nicht, was die Vision bedeuten sollte, die sie unmittelbar vor der erschreckenden Rückkehr des Wendigos erlebt hatte. Die Edelfrau konnte es sich nur so erklä­ren, dass ihre Erschöpfung und ihr riskanter Umgang mit ihren magischen Fähigkeiten ihre Sinne für einen Moment verwirrt hatten. Außerdem war es im Augenblick viel wichtiger, Zayl zu finden, bevor alles zu spät war.

Genau das schien der Waldbewohner ebenfalls zu wollen. Auch wenn seine Grunzlaute für Salene keinen Sinn ergaben, vermutete sie, dass der Nekromant auf irgendeine Weise mit dem Wendigo Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt hatte, wie er Salene finden konnte. Anders vermochte sie sich nicht zu erklä­ren, dass er ausgerechnet zur rechten Zeit am rechten Ort auf­tauchte.

Das gab ihrer Hoffnung Auftrieb, wenn auch nicht allzu sehr. Doch jetzt, da sie sich dem Ort näherten, an dem sie fast geop­

fert worden wäre, wuchs Salenes Angst. Neben Lord Jitans mu­tierten Dienern hatte sie auch gut ein halbes Dutzend Männer gesehen ... sofern man sie überhaupt noch so bezeichnen konnte. Sie bewegten sich, als würden sie schlafwandeln, und jeder von ihnen trug etwas Eigenartiges auf dem Kopf. Soweit sie es in dem Licht erkennen konnte, das aus dem Inneren drang, waren ihre Gesichter schlaff und leblos.

Das Schlimmste aber war, dass sie einige von ihnen als Alec Mattheus’ Männer wiedererkannte, die dem Hauptmann auf der Suche nach dem Nekromanten gefolgt waren.

Die Tatsache, dass sie eindeutig unter dem Einfluss von Zayls Widersachern standen, ließ Salene annehmen, dass der Nekro­

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mant den anderen in die Hände gefallen war. Sogar sie konnte die erschreckenden Kräfte wahrnehmen, die von den alten Ruinen ausgingen, Kräfte, denen der Rathmaner sicher längst ein Ende gesetzt hätte, wäre er Herr der Lage gewesen.

»Er ist dort drin, nicht wahr?«, flüsterte sie dem Wendigo zu. »Sie haben ihn in ihrer Gewalt, oder?«

Das tiefe Knurren der Kreatur war zwar unverständlich wie all ihre Äußerungen, doch der Tonfall ließ die Edelfrau annehmen, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag.

Wenn Zayl in der Gewalt von Jitan und Karybdus war, konnte das zu nichts Gutem führen. Salene war entschlossen, ihn zu retten. Wenn es ihr gelang, Zayl zu befreien, würde der ganz bestimmt einen Weg finden, um diese Wahnsinnigen zu besie­gen.

Die einzige machbar erscheinende Vorgehensweise bestand für Salene darin, den Tempel durch den Vordereingang zu betreten. Zwar hatte der Wendigo ihr den Tunnel gezeigt, der ebenfalls ins Innere führte, doch der wurde von den Menschenspinnen so gut bewacht, dass ihr die Erfolgsaussichten dort noch geringer er­schienen.

Sie hätte sich gern den Eingang in Ruhe genauer angesehen, doch sie war davon überzeugt, dass ihr riesiger Begleiter sie nicht näher heranlassen würde. Es war fast so, als würde er etwas füh­len, was ihr entging.

Salene rekapitulierte, was sie bislang mit und ohne Medaillon an magischen Fähigkeiten gezeigt hatte und überlegte, was sie davon einsetzen sollte, sobald sie den Tempel betreten hatte. Davor lag aber noch das Problem, überhaupt erst den Eingang zu erreichen.

»Wenn wir sie nur irgendwie weglocken könnten ...« Aber die

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Zahl der Bewacher war größer denn je, und wenn Salene blinzel­te, glaubte sie sogar, Spinnen auf dem Hügel zu erkennen – mehr Spinnen, als sie sich hätte vorstellen können.

Der Anblick ließ sie daran denken, was sich in Westmarch ab­spielte. Sie sah den Wendigo an und fragte sich, wie sie beide es hatten bewerkstelligen können, dem immensen Schwarm aus dem Weg zu gehen. Wieder musste sie an die Gestalt denken, die ein Gewand trug und Flügel zu haben schien, doch das hatte wohl kaum etwas mit der Kreatur zu tun, die neben ihr stand.

Sie verdrängte diese Fragen, die sich ohnehin jetzt nicht be­antworten ließen. Der Spinnenmond hing hoch über ihnen am Himmel. Salene spürte, dass er bald verschwinden würde. Wenn das geschah, kam jede Hilfe zu spät.

Während sie die schaurigen Wächter betrachtete, flüsterte sie: »Ich glaube, ich weiß, wie ich einige von ihnen weglocken könn­te, aber ...«

Erst da bemerkte Salene, dass sich der Wendigo nicht mehr neben ihr befand. Wie konnte sich ein solcher Gigant von ihrer Seite entfernen, ohne dass sie es bemerkte? Erschrocken sah sie sich um, da sie fürchtete, dem Waldbewohner könnte etwas zu­gestoßen sein.

Doch im nächsten Moment hörte sie ein lautstarkes Brüllen und einen dumpfen Aufprall, gefolgt von ersticktem Fauchen. Salene erkannte das Geräusch, das bedeutete, dass einer der mon­strösen Wachposten eines brutalen Todes starb.

Sofort strömten die meisten von Aldrics Dienern wie eine Meute vorwärts, gefolgt von den Soldaten und den Spinnen. Einige blieben zurück, doch ihre Zahl war so gering, dass Salene Anlass zur Hoffnung hatte. Wenn sie wiederholen könnte, was sie im Thronsaal vollbracht hatte ...

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»Bitte ...«, betete sie, ohne zu wissen, wen sie damit eigentlich ansprach. »Lass es funktionieren.«

Salene konzentrierte sich auf eine Stelle nahe dem Eingang, an dem sich derzeit keine Wachen befanden.

Plötzlich stand sie genau dort. Eines der verbliebenen Monster wollte sich in ihre Richtung

umdrehen, woraufhin sich Salene in Erinnerung rief, wie es in dem Tempel aussah. Sie wählte einen Platz dicht hinter dem Eingang und hoffte, dass man sie dort nicht sofort entdeckte.

Sie verschwand von ihrer momentanen Position, bevor der Wächter sie sah.

Eine Sekunde später materialisierte sie mitten in einem Alp­traum.

Wie es schien, sollte Zayl jeden Augenblick verzehrt werden!

Sein Wille ließ ihn allmählich im Stich. Zayl wusste, ihm blieben nur noch Sekunden, ehe seine Abwehr zusammenbrach. Dann würde Astrogha in der Lage sein, alles zu übernehmen. Danach dauerte es nur wenige Minuten, bis sich der Dämon vollends manifestiert hatte.

Hätte er noch immer seinen Dolch besessen, wäre die Situati­on eine ganz andere gewesen. Da er bereits so eng mit der Spinne verbunden war, hätte er seine Waffe benutzen können, um sich gegen Astrogha zur Wehr zu setzen.

Doch er hatte seinen Dolch nicht mehr. Karybdus hatte ihn an sich genommen.

Karybdus hörte das Geheul und konzentrierte sich darauf, die Ursache dafür festzustellen. Am äußersten Rand seiner Wahr­nehmung erkannte er, dass der Wendigo dafür verantwortlich

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war. Der Rathmaner fand es sonderbar, dass sich das Tier ausge­rechnet dort aufhielt, wo er es gerade noch wahrnehmen konnte. Karybdus glaubte nicht an Zufälle. Irgendetwas stimmte nicht.

Einen Augenblick später fühlte er eine weitere Präsenz, die ihm ebenfalls vertraut war.

Die Frau. Lady Salene Nesardo. Seine ausdruckslose Miene verbarg, wie überrascht er war. Er

drehte sich schnell in die Richtung um, in der die Frau zu finden sein musste. Doch da war nichts. Stattdessen nahm er sie plötz­lich weiter rechts wahr.

Da jedoch konnte er sie auch nicht sehen. Irritiert überlegte Karybdus, was hier los war. Plötzlich

verstand er ... ... aber einen Sekundenbruchteil zu spät, da ein feuriger Blitz

gegen seine Brust prallte und ihn gegen die Höhlen wand schleu­derte.

Zitternd betrachtete Salene den in Schwarz gekleideten Widersa­cher und betete, dass er sich nicht gleich wieder erhob. Als Ka­rybdus tatsächlich am Boden blieb, wandte sie sich dem grausa­men Spektakel zu, das sich ihren Augen bot.

Sardaks verstümmelter Leichnam lag dort. Als sie sah, was man alles mit ihm angestellt hatte, musste sie sich beinahe über­geben. Sie verstand, dass sein – eigentlich vergiftetes – Blut so benutzt worden war, wie sie es mit ihrem Blut vorhatten.

Schlimmer aber war, was mit Zayl geschah. Zwar lebte er noch, doch er lag da in einen großen Sack eingewickelt, nur der Kopf und die Skeletthand waren noch zum Teil frei geblieben. Auf seinem Haupt saß eine Spinne, die so abscheulich war, dass sie nicht auf der Ebene der Sterblichen geboren sein konnte. Mit

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ihren Beinen hielt sie den Kopf des Nekromanten fest, während sie weiter Spinngewebe auf seinen Leib spie.

Die Augen der Spinne funkelten, und Salene war überzeugt, dass sie die Anwesenheit der Edelfrau längst wahrgenommen hatte. Dennoch widmete sie sich weiter ihrer schrecklichen Ar­beit, als stelle Salenes Ankunft für sie keine Bedrohung dar.

Salene erfasste auch schnell, warum dem so war. Eine Bewe­gung über ihr warnte sie gerade noch rechtzeitig vor dem An­griff. Schnell zeigte sie auf einen von Aldrics Dienern, der sich auf sie hatte herablassen wollen.

Während der Angreifer als Flammeninferno neben ihr auf dem Boden landete, fragte sich Lady Nesardo, wo der heimtücki­sche Edelmann sich wohl aufhielt. Als sie an Zayl vorbeischaute, wurde ihr sofort alles klar. Ein Blick auf das, was von Aldric üb­rig geblieben war, gab ihr die Gewissheit, nicht länger warten zu können.

Hinzu kam, dass sich ihr von allen Seiten immer mehr der mutierten Diener näherten. Dadurch wurde ersichtlich, warum die Kreatur auf Zayls Kopf unbeirrt weitergemacht hatte – offen­bar hatte sie längst die anderen herbeigerufen. Denen war jedoch nicht entgangen, was sie mit Karybdus gemacht hatte, und dem­entsprechend zögerten sie mit einem Angriff. Sie würden aber bald zahlenmäßig genug sein, um den Mut zu einer Attacke zu finden. Bis dahin holten sie für die größere Spinne Zeit heraus, damit die ihr tückisches Werk vollenden konnte.

Salene sah wieder zu Zayl. Alle Zauber, die ihr bislang gelun­gen waren, hatten damit zu tun, dass sie sich an einen anderen Ort versetzte oder Feuerbälle schleuderte. Nichts davon konnte dem Nekromanten jetzt helfen. Außerdem zweifelte sie daran, dass sie das Spinnenwesen würde töten können, ohne auch Zayls

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Leben aufs Spiel zu setzen. Doch wenn sie gar nichts unternahm ...

»Mädchen!«, rief plötzlich eine vertraute Stimme. Humbart! »Mylady! Hierher, hier zu mir!«

Zwei Diener machten fauchend einen Satz auf Salene zu, doch anstatt sie mit Feuer abzuwehren, verschwand sie und tauchte gleichneben Humbarts Tasche auf, während die zwei Angreifer verwirrt ins Leere liefen und stürzten. Die anderen zögerten weiter, da sie nicht wussten, wie sie sich an diese neue Heraus­forderung anpassen sollten.

»Gut gemacht«, kommentierte der Schädel. »Netter Trick.« »Keine Ursache. Kann ich irgendetwas für Zayl tun?« »Nur eines: Gebt ihm seinen Dolch zurück. Das wird ihm hel­

fen. Das verspreche ich Euch.« Sie sah sich um. »Aber wo ist der Dolch?« »Der verdammte Karybdus trägt ihn an seinem Gürtel. Ich

habe es gesehen.« »An seinem Gürtel?« Sie sah den Mann an, der noch immer

zusammengesunken auf dem Boden lag. »Es ist wohl seine einzige Chance.« Mehr musste Salene nicht hören. Sie schaute wieder zu Ka­

rybdus und überzeugte sich davon, dass er nicht tot, aber sicher­lich bewusstlos war.

Ein einziger Gedanke genügte, und sie stand neben dem Ne­kromanten. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sich keine der Kreaturen in der Nähe aufhielt, bückte sie sich und schlug seinen Mantel zur Seite.

Da! Salene zog den Elfenbeindolch aus dem Gürtel und ... In diesem Moment schlug Karybdus die Augen auf. »Nein«,

murmelte er. »Ich glaube nicht.«

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Er packte ihr Handgelenk. Salene versuchte sofort, sich an ihre alte Position zurückzuversetzen, doch nichts geschah. Auch der feurige Blitz wollte ihr nicht gelingen.

»Ich habe Eure beiden Fähigkeiten analysiert«, meinte Karyb­dus, als würde er mit einem Schüler reden. »Und ich habe Ge­genmaßnahmen getroffen. Ihr könnt nichts gegen mich ausrich­ten.«

Salene holte wütend mit dem Dolch nach ihm aus, doch er be­kam auch ihr anderes Handgelenk zu fassen.

»Ihr könnt nichts gegen mich ausrichten«, wiederholte er. »Absolut nichts.«

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ZWEIUNDZWANZIG

Salene versuchte sich zu befreien, doch der Griff des Nekroman­ten erwies sich als unüberwindlich. Sie vermied es, ihm in die Augen zu sehen, da sie wusste, was das bewirken konnte. Doch auch so war Salene klar, dass Karybdus ihr früher oder später sämtliche Kraft entziehen würde, wie er es schon einmal mit ihr gemacht hatte. Oder er würde einen anderen diabolischen Zauber anwenden, um ihr ein Ende zu bereiten.

Sie sah auf Zayls Dolch. Wäre sie nur in der Lage gewesen, ihm die Waffe zu geben. Dann hätte ihr Opfer wenigstens einen Sinn gehabt. Humbart hatte behauptet, mit dem Dolch hätte Zayl eine Chance, sich zur Wehr zu setzen.

Könnte sie ihm doch nur irgendwie die Waffe zukommen las­sen ...

Eine unsichtbare Macht riss ihr plötzlich den Dolch aus der Hand. Im ersten Moment glaubte sie, es sei das Werk von Ka­rybdus, doch ein wütendes Knurren ihres Widersachers verriet, dass dies wohl nicht der Fall war.

Der Dolch schwebte in der Luft, als warte er auf etwas. Salene starrte darauf und wünschte sich nichts mehr, als dass er irgend­wie zu Zayl zurückkehrte.

Kaum war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen, schoss die Elfenbeinklinge auf den jüngeren Nekromanten zu, und ihr wurde klar, dass es ihr eigener Wille war, der die Waffe lenkte. Sie war diejenige, die sie zu Zayl fliegen ließ.

»Nein!« Karybdus versuchte, Lady Nesardo so zu drehen, dass sie ihm in die Augen schauen musste. Salene sträubte sich und

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war bemüht, den Blick auf jene Stelle zu konzentrieren, wo Zayl lag.

Ohne Vorwarnung platzte eine riesige Gestalt in den Raum. Der Wendigo, der aus unzähligen Wunden blutete und dessen einer Arm schlaff herabhing, schleppte sieben Diener mit herein, die sich an seinem Leib festklammerten. Jeder Schritt kostete ihn große Anstrengung, doch der Waldbewohner blieb nicht stehen. Als sich einer der Diener seiner unverletzten Hand zu sehr nä­herte, packte er ihn und zerschmetterte ihm den Schädel.

Seine Gegenwart lenkte die anderen Diener von Salene ab. Da sie den Riesen als größte Gefahr für ihren Meister erachteten, stürzten sie sich sofort auf den Wendigo.

Karybdus wurde von dem Tier ebenfalls für einen Moment abgelenkt, und das war alles, was Salene brauchte. Als sie sich ein wenig aufrichtete, sah sie auf Zayls herauslugende Hand. Der Dolch glitt am Spinngewebe entlang nach unten und schob sich in die Skelettklaue.

Salene spürte, dass sich Karybdus’ Griff um ihr Handgelenk lockerte, doch bevor sie reagieren konnte, schlossen sich seine knöchernen Finger enger um ihren Hals.

»Ihr bringt das Gleichgewicht in Gefahr«, sagte er, und die ungeheure Wut, die in ihm kochte, war seinem Tonfall kaum anzuhören. »Es gibt kein größeres Verbrechen – Ihr werdet dafür bestraft werden ...«

Zayl fühlte sich völlig taub. Sein Verstand konnte sich kaum auf etwas konzentrieren, dennoch kämpfte sein Wille nach wie vor gegen Astrogha an, damit dieser nicht Besitz von ihm ergriff.

Plötzlich verspürte er eine wunderbar vertraute Wärme in je­ner Hand, die eigentlich am wenigsten fühlen konnte. Die kno­

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chigen Finger des Nekromanten legten sich um etwas, das in seiner fleischlosen Klaue ruhte.

Plötzlich konnte Zayl wieder Hoffnung schöpfen. Die Worte kamen ihm sofort in den Sinn, Worte in der beson­

deren Sprache, die Trag’Oul Rathma vor Jahrhunderten gelehrt hatte. Worte, die den Elfenbeindolch in seiner Hand hell und machtvoll aufleuchten ließen.

Zayl spürte die plötzliche Abscheu der Spinne. So gut er konn­te drehte der gefangene Zauberkundige den Dolch in die Rich­tung, in der er Astrogha wahrnahm.

Ein Bein zog sich von seinem Schädel zurück. Der Druck auf seinen Geist ließ entsprechend nach. Ermutigt bewegte Zayl die Klinge hin und her. Weitere Beine zogen sich zurück, während einzelne Fäden des Spinngewebes abfielen, als wären sie nur Luft.

Da er Kopf und Arm nun besser bewegen konnte, versuchte Zayl sich aus dem abscheulichen Sack zu befreien. Sein Kopf be­gann unvermittelt zu pochen, und ihm wurde klar, dass Astrogha verzweifelt versuchte, ihn unter seine Kontrolle zu zwingen.

Ich verweigere mich dir, sagte er zu dem Dämon. Du kannst mich töten – aber du wirst mich niemals besitzen!

Der Druck ließ nach. Zayl zögerte, da er fast sicher war, dass es sich lediglich um einen Trick handelte.

Die Spinne löste sich von seinem Kopf und entschwand. Auch wenn er insgeheim jubelte, dass er entkommen war,

machte sich der Nekromant große Sorgen darüber, was Astrogha wohl nun stattdessen vorhatte. Für den Dämon wurde die Zeit, die ihm für seine Wiedergeburt blieb, immer knapper. Astrogha musste etwas anderes planen, wenn er von Zayl abließ.

Wie wild schnitt der sich aus dem dicken Spinngewebe frei, da er jeden Moment damit rechnete, dass Astrogha oder einer von

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dessen Dienern angriff. Doch nichts geschah. Und was war rnit Karybdus? Sicherlich würde sein Widersacher ihm nicht gestat­ten, so leicht davonzukommen.

Noch während er sich aus dem Spinngewebe befreite, bemerk­te Zayl plötzlich andere, beunruhigende Geräusche. Er hörte ein schmerzvolles Brüllen, das nur vom Wendigo stammen konnte, dem irgendwie die Rückkehr gelungen war. Dann ertönte das aufgeregte Zischen und Fauchen der verwandelten Diener – der Menschenspinnen –, die sich offenbar auf den Waldbewohner stürzten. Der Nekromant hörte sogar Humbarts aufgeregte Stimme. Der Schädel rief nach ihm.

»Zayl! Zayl, Jüngelchen! Er hat sie! Dieser Bastard von Ka­rybdus hat sie! Und er ... Heilige Mutter! Verschwinde nur schnell von dort! Er schwillt an!«

Mit Letzterem meinte er irgendetwas in Zayls Nähe, etwas, das dieser selbst gerade erst zur Kenntnis nahm. Er spürte, wie Astrogha die geschwächten Grenzen zwischen den Ebenen nutz­te, um die Macht an sich zu ziehen, die er benötigte, um sein wahres Selbst wiedererstehen zu lassen.

Doch was benutzte der Dämon als Körper? Zayl musste nur noch aufblicken, um es zu sehen. Astrogha

war in Lord Jitans sterbliche Überreste zurückgekehrt, ehe die zu kalt wurden und damit für ihn unbrauchbar. Die Spinne hatte einen Großteil des Körpers mit ihrem Spinngewebe überzogen, und es hatte bereits eine entsetzliche Verwandlung eingesetzt, da der Leichnam des Edelmanns mehr Masse aufwies, als es irgend­einem Menschen jemals möglich wäre. Er konnte es jetzt schon mit einem Wendigo aufnehmen, und dabei war der Prozess noch nicht einmal abgeschlossen.

Zayl murmelte einen Zauber und warf den Dolch, der zwar

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zielstrebig auf den riesigen weißen Sack zuhielt ... dann aber davon abprallte, als sei er auf Stahl getroffen.

Während die Klinge zu dem Nekromanten zurückkehrte, sorg­te ein klagender Aufschrei dafür, dass dieser sich von dem offen­bar unverwundbaren Dämon abwandte.

Der mächtige Wendigo war schließlich doch den Heerscharen von Angreifern unterlegen. Das mutige Tier sank auf die Knie und zerschmetterte noch einmal einen seiner Widersacher, ehe er bäuchlings auf den Steinboden stürzte.

Zayl machte eine knappe Geste, woraufhin die Zähne von Trag’Oul in Scharen materialisierten und vom Zorn des Zauber-kundigen angetrieben die Kreaturen auf dem Wendigo durch­bohrten. Astroghas Kinder wurden fast auf einen Schlag ausge­löscht und lebten nur einen Atemzug länger als ihr tapferes Op­fer.

Aber es gab noch andere Dinge, denen sich Zayl widmen musste. Er sah, wie Karybdus und Salene nahe der gegenüberlie­genden Wand kämpften. Um den anderen Rathmaner herum sammelten sich Kräfte, die Zayl als die Ingredienzien eines ent­setzlichen Zaubers erkannte ... eines Zaubers, den Karybdus ge­gen Lady Nesardo richten wollte.

Zayl presste die Lippen zusammen. Er blickte zu dem toten Wendigo, dann flüsterte er etwas. Er würde nicht zulassen, dass Karybdus Salene oder sonst jemandem je wieder Schaden zufü­gen konnte.

Die Worte waren einfach zu sprechen, doch sie erforderten ei­ne Anstrengung, die Zayl sogar mehr Kräfte stahl als der Kampf gegen Astrogha. Jedoch verspürte er eine finstere Befriedigung, als er den Nebel sah, der über dem Leichnam des Riesen zu wir­beln begann.

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»Karybdus!«, brüllte Zayl. »Karybdus! Da Ihr offenbar nicht länger von Eurer Seele Gebrauch macht, sehe ich keinen Grund, warum Ihr sie noch länger mit Euch herumtragen sollt!«

Wie erhofft konnte der ältere Nekromant nicht anders. Er sah in Zayls Richtung ... und unterbrach damit seinen eigenen Zau­ber.

Über dem Wendigo erhob sich ein skelettiertes Wesen – ein Knochengeist –, das vage an den pelzigen Riesen erinnerte, auf ätherischen Flügeln in die Lüfte. In vielerlei Hinsicht wirkte es wie die Kreatur, von der Zayl in der Gruft angegriffen worden war, doch stellte es weitaus mehr dar.

Mit einem rachsüchtigen Heulen schoss der Geist auf Karyb­dus zu.

Dessen Reflexe waren zwar exzellent, doch nicht einmal er war schnell genug, um noch auszuweichen. Stattdessen zog er Salene in dem Moment vor sich, als der Knochengeist sie beide erreichte.

Anders aber als der Dämon aus der Gruft, attackierte das Ding, das Zayl beschworen hatte, nicht jeden, der sich ihm in den Weg stellte. Diejenigen, die Zayl schützen wollte, hatten nichts zu befürchten. Salene war in Sicherheit, auch wenn Karybdus sie so schamlos als lebenden Schutzschild missbrauchen wollte.

Der Nekromant genoss dagegen keinerlei Schutz. Schneller, als das menschliche Auge es verfolgen konnte, jagte der Geist um Lady Nesardo herum. Dem älteren Nekromanten blieb nicht einmal Zeit, den Mund vor Schreck aufzureißen, als der Kno­chengeist die Klauen in seine Brust bohrte. Im nächsten Augen­blick zog er sie wieder heraus und hielt etwas silbern Schim­merndes in ihnen. Damit kehrte die kreischende Erscheinung zurück zu dem toten Wendigo und ließ sich durch ihn hindurch

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ins Reich der Toten fallen. Mit sich genommen hatte er Karybdus’ Seele. Oder doch nicht? Noch während Salene zu Zayl rannte, richte­

te sich, nachdem es gerade noch so ausgesehen hatte, als würde er zusammenbrechen, der grauhaarige Zauberkundige wieder auf. Mit aschfahler, aber immer noch bedrohlicher Miene keuchte Karybdus: »Etwas ... von seiner Seele ... zu verlieren ... ist nicht so schlimm ... wie Ihr denken mögt ... junger Zayl ... In all den Jahren ... habe ich immer wieder ... ein wenig verloren ... aber ich habe ... es jedes Mal wieder ... ersetzt.« Er richtete eine Hand auf die flüchtende Salene. »Aus denen, die sie nicht länger benötigen ...«

»Salene!«, rief Zayl. »Passt auf!« Da seine eigene Reaktion zu langsam erfolgte, befürchtete er

das Schlimmste für sie. Doch noch während Karybdus mit einer Geste die Klaue von Trag’Oul entstehen ließ, verschwand Salene plötzlich.

Der Knochenspeer traf nur die Wand, vor der sie zuvor ge­standen hatte. Der Aufprall war so gewaltig, dass die Kammer erzitterte und sich Teile aus dem uralten Verputz lösten und zu Boden stürzten. Eine Kettenreaktion setzte ein, und breite Risse liefen schnell bis zu der Stelle über die Decke hin, wo sich der Nekromant aufhielt.

Salene stand plötzlich wieder neben dem abgelenkten Karyb­dus und hielt eine Waffe in der Hand, die Zayl nur zu vertraut war.

Der Opferdolch, der gegen Sardak gerichtet war. »Für meinen Bruder!«, schrie Lady Nesardo. Sie machte einen Satz, um ihm die verruchte Klinge ins Ge­

nick zu jagen, doch im selben Moment sprang Karybdus’ monst­

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röser Schutzgeist unter dem Umhang hervor. Als die Spinne Salene zu beißen versuchte, setzte ihr vermeintliches Opfer sich zur Wehr und durchbohrte die Kreatur. Die Reaktion des Ne­kromanten wirkte dagegen so, als hätte die Edelfrau ihn sehr wohl mit dem Dolch getroffen. Er stieß einen für ihn untypi­schen Aufschrei aus und schob Salene aus dem Weg. Der Schutz­geist fiel in seine Arme, und er kniete sich hin, um in aller Eile zu versuchen, die klaffende Wunde zu heilen.

Eine entsetzte Salene tauchte neben Zayl auf. Sie half ihm auf und sah den Nekromanten mit geröteten Augen an.

»Zayl, ich ...« »Schon gut!« Er zog sie in dem Augenblick zurück, als ein

weiterer Diener sie ansprang. Zayl hielt seinen Dolch hoch, des­sen Licht die Kreatur mitten im Sprung blendete. Sie prallte ge­gen den steinernen Altar, und bevor sie sich erholen konnte, jagte der Nekromant die Klinge durch den Parasiten. Dann nahm er den Dolch an seine Lippen und murmelte etwas. Um sie herum bildete sich hohe Wände aus Knochen, gegen die die anderen Diener vergebens anrannten.

Der Rathmaner atmete tief durch, dann sagte er: »Wir müssen uns Astrogha widmen, bevor es für uns alle zu spät ist.«

Salene betrachtete die ungeheuerliche Verwandlung und schüttelte den Kopf, unfähig ein Wort zu sagen. Zayl verstand genau, was sie fühlte, zumal der Dämon sein Werk fast fertig gestellt hatte. Der Sack war zu einer Größe angeschwollen, die einer Höhe von zwei Wendigos entsprach und mehr als den dop­pelten Umfang dieser Geschöpfe hatte. Darin bewegte sich in einem Lichtschein etwas, das nichts mehr mit Aldric Jitan gemein hatte. Es erinnerte eher an die mutierten Diener, war aber ein­deutig von einer noch viel entsetzlicheren Art. Es hatte acht Bei­

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ne und glich in groben Zügen einer Spinne, doch einiges an der Form wies eindeutig menschlichere Züge auf. Auf dem Leib saß ein riesiger, knollenartiger Kopf, der große Augengruppen auf­wies. Bewegungen an der Vorderseite des Schädels deuteten auf ein Paar Beißzangen hin. Durch das Spinngewebe drang an eini­gen Stellen festes schwarzes Haar hervor – das Fell des Dämons.

Zayl blickte zur Decke. Er spürte, dass sich der Spinnenmond rasch seiner Vollendung näherte, seinem Höhepunkt; danach würde der Schatten wieder weichen. Wenn es aber erst so weit gekommen und nichts unternommen worden war, um Astrogha zu stoppen, konnte der Dämon seine Verwandlung vollenden und sich in seiner wahren Gestalt zeigen – und seine Kräfte würden zur vollen Entfaltung gelangen.

Wenn das geschah, gab es keine Hoffnung mehr für Westmarch – und womöglich ebenso wenig für die Westlichen Königreiche insgesamt.

Doch was konnte Zayl tun? Er war immer wieder gescheitert, wenn er versucht hatte, Karybdus und den Dämon zu überlisten, und dass er Salene hatte retten können, verdankte er zu keinem geringen Teil Sardak, der ihre Opferrolle übernommen hatte.

Aber natürlich!, ging es dem Rathmaner plötzlich durch den Kopf. Die Lösung verbirgt sich im Blut!

Er drehte sich zu Salene um. »Hört mir zu und verzeiht, wor­um ich Euch bitten werde, Mylady! Es gibt vielleicht doch noch Hoffnung, Astrogha auszutreiben, bevor er sich völlig auf dieser Ebene zu manifestieren vermag. Dafür brauchen wir Euer Blut ...«

»Mein was?« »Beruhigt Euch, wir benötigen nicht viel. Sogar weniger als

kürzlich, da ich Riordan beschwören wollte. Es muss nur ausrei­

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chen, um die Dolchspitze zu benetzen. Ihr stammt von Astrogha ab, Euer Blut ist das zweier Reiche ...«

Salene wollte nicht hören, was er da sagte. »Ich stamme von diesem Ding ab?«

»Nur dem Blute nach!«, beteuerte der Rathmane. »Eine ande­re Verbindung gibt es nicht. Euer Erbe ist menschlich, von dieser Ebene. Aber der Umstand, dass es diese eine Verbindung zwi­schen Euch und dem Dämon gibt, ist für ihn nicht nur ein Segen, sondern vermag auch seinen Untergang zu besiegeln. Das, was ihn an diese Ebene bindet, kann auch dazu benutzt werden, um diese Verbindung zu trennen!«

Ein entsetzliches Geräusch erfüllte die Kammer. Es klang, als sei etwas zerrissen worden. Aus dem Sack ragte eine entsetzliche Gliedmaße heraus, die in fünf menschliche Klauenhände auslief und umhertastete.

Lady Nesardos Miene verhärtete. »Was muss ich tun?« »Gebt mir den Dolch ... und Euer Handgelenk.« Beides hielt sie ihm ohne Zögern entgegen. Zayl sah sie ent­

schuldigend an, wischte die Klinge ab und stach anschließend vorsichtig mit der Spitze in ihr Handgelenk.

Gegen die Gesetze der Schwerkraft rann das Blut den Dolch aufwärts. Zayl sah geduldig zu, während die Monstrositäten jenseits der Knochenwand einen Angriff nach dem anderen star­teten und sich Astrogha immer weiter aus seinem Gespinst her­ausschälte.

»Fertig«, erklärte er schließlich. Wieder flüsterte er dem Dolch etwas zu, dann sah er zufrieden, wie Waffe und Blut von einem schwachen, grünlichen Leuchten umhüllt wurden. Schließlich gab er Salene die Waffe zurück.

»Nur Ihr könnt das vollbringen. Seine Blutlinie ... Euer Blut ...

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Eure Hand. Es tut mir Leid, dass es so sein muss.« Wie eine Amazone nahm Salene den Dolch an sich und

erwiderte: »Sagt mir nur, wie ich zustechen muss. Dieser Teufel hat mir schon zu viel genommen.«

»In den Kopf, zwischen die Augen. Es geht nur so. Viel Zeit bleibt uns nicht.«

»Dann sollte ich wohl besser gehen, nicht wahr?« Noch während sie sprach, verschwand sie. Zayl hätte fast noch nach ihr gegriffen, doch er wusste, er

konnte nichts ändern. Sie waren sich beide der Tatsache bewusst, dass Salene vielleicht sogar sterben musste, wenn sie Erfolg hat­te. Doch der Nekromant war entschlossen, das nach Kräften zu verhindern. Mit der eigenen Klinge in der Hand wandte er sich Astrogha zu. Zwei weitere makabre Gliedmaßen hatten sich be­freien können und zerrten nun an dem Spinngewebe, das das Gesicht des Dämons bedeckte.

»Jaaaa!«, fauchte Astrogha. »Ich bin zu meinem Ruhme zurückgekehrt! Meine Kinder werden die Welt verzehren!«

Salene materialisierte hinter ihm und bohrte die Klinge an der von Zayl beschriebenen Stelle in den Schädel des Ungetüms. Als der Dolch ihn traf, heulte der Dämon vor Schmerz auf. Er schüt­telte sich mit aller Gewalt, und Salene stürzte nur deshalb nicht zu Tode, weil sie sich mit aller Kraft am Heft ihrer Waffe fest­klammerte.

Doch entgegen der Berechnungen des Nekromanten starb Astrogha keineswegs. Der Spinnenmond war bereits zu weit fortgeschritten, als dass der Dämon noch auf diese Weise hätte getötet werden können. Er verspürte den Schmerz, mehr aber auch nicht.

Klauenhände griffen nach Lady Nesardo und zerrten an ihrer

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Kleidung. Zayl bemerkte, dass sie zu aufgewühlt war, um sich auf einen Sprung zu konzentrieren, der sie in Sicherheit gebracht hätte.

»Kommt zu mir, Salene!«, rief er ihr zu. »Mit dem Dolch! Schnell!«

Plötzlich wurde die Knochenwand erschüttert, was aber nichts mit den Anstrengungen von Astroghas Kindern zu tun hatte. Vielmehr streckte Karybdus mit schneeweißem, verzerrtem Ge­sicht eine Hand nach seinem Rivalen aus. Die Barriere erzitterte abermals, und diesmal brachen bereits vereinzelt Stücke heraus. »Ich werde ... nicht zulassen ... dass meine Arbeit von Jahren ... zunichte gemacht wird! Dafür habe ich ... den Thronfolger ver­giftet ... diesen aufgeblasenen Edelmann manipuliert ... und den schwachen Geist des neuen Königs beeinflusst ... Ich werde es ... nicht zulassen!«

Die Wand wurde in dem Moment zerschmettert, als Salene zurückkehrte und sich in Zayls Arme fallen ließ.

»Es hat nicht funktioniert, Zayl!« »Ich weiß, aber wir haben noch eine weitere Chance. Den

Dolch, habt Ihr ihn noch?« Zur Antwort hielt sie die Waffe hoch. An der Klinge klebte

nun auch der dunkle Ichor, den Zayl als Lebenssaft eines Dämons erkannte. Trotz der Wucht, mit der Salene die Klinge in den Kopf gerammt hatte, fanden sich nur ein paar Tropfen darauf. Sie würden genügen müssen.

Doch da war immer noch die Gefahr, die von dem anderen Nekromanten ausging.

»Salene, richtet alles gegen Karybdus, wozu Ihr fähig seid! Schnell!«

Seine Aufforderung kam gerade noch rechtzeitig, denn der äl­

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tere Rathmaner war bereits damit beschäftigt, einen Zauber zu wirken. Salene schickte prompt einen Feuerball in seine Rich­tung, doch diesmal war er vorbereitet und lenkte ihn ab. Unbe­rührt davon, dass mehrere von Astroghas Kindern den Flammen zum Opfer fielen, widmete er sich wieder seinem Zauber, musste dafür aber von vorne beginnen. Das war alles, was Zayl hatte erreichen wollen.

Der Dämon hatte unterdessen bis auf eine alle seine Extremi­täten befreit. Hier und da hingen Fetzen von Lord Jitans Klei­dung an ihm, und beim Blick in das Gesicht der Spinne konnte Zayl vage Eigenarten ausmachen, die vor kurzem noch die Züge des Edelmanns geprägt hatten.

Die Spinne war nicht in den Besitz von Zayls Wissen und sei­ner Fertigkeiten gelangt, doch auch Aldric stellte eine Bereiche­rung für Astrogha dar. Die Spinne befand sich jetzt in einer viel besseren Verfassung als beim letzten Mal, da sie den Vizjerei gegenübergetreten war.

Mit zwei Beinen tastete der Dämon nach der Wunde, die ihm Salene zugefügt hatte. Schwarzes Feuer lief über die Stelle, als Astrogha sich selbst heilte.

Ja, es war längst zu spät, um diese teuflische Kreatur zu ver­nichten – doch das war auch nicht länger Zayls Absicht.

Er flüsterte seinen Zauber und zeichnete ein Oval mit drei Kreuzen, dann hielt der Nekromant den Opferdolch und seine eigene Waffe aneinander. Er zeigte mit ihnen nicht auf Astrogha, sondern auf den weggeworfenen Rest seines ehemaligen Gefän­gnisses.

Dies ist der Ort, an dem sich die beiden Reiche am nächsten und wo die Grenzen am schwächsten sind, hielt sich Zayl vor Augen, während er sich konzentrierte. Deshalb schufen die Viz­

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jerei die Sphäre hier, und deshalb versuchten sie anschließend, den Tempel zu zerstören.

Er hörte Salene aufschreien, wagte es aber nicht, sich von ihr ablenken zu lassen. Jetzt oder nie hatte er die Chance!

Die Hülle, die den Spinnenmond dargestellt hatte, öffnete sich wie die Blüte einer Blume ... oder wie ein hungriger Rachen. Die Sphäre wurde größer, gleichzeitig merkte Zayl, wie Wind auf­kam. Wind, der in das Artefakt hineinwehte!

»Wieder bin ich ein Ganzes!«, fauchte die riesige Spinne, die noch nichts davon bemerkt hatte, was sich hinter ihr abspielte. Sie sah den Nekromanten an. »Dein Blut werde ich zuerst trin­ken!«

Vier Gliedmaßen schossen auf den Nekromanten zu, doch der ließ sich nicht einmal davon aus seiner Konzentration reißen.

Die Klauen waren nur noch wenige Zoll von seinem Leib ent­fernt – doch weiter kamen sie auch nicht, sondern kämpften plötzlich gegen eine unsichtbare Kraft an, der sie nichts entge­genzusetzen hatten.

»Was ist das?«, rief Astrogha zornig. »Ich bringe dich in die einzige Welt zurück, über die du jemals

herrschen wirst, Dämon!«, schrie der Nekromant ihn an. »Die einzige Welt, die du verdient hast!«

Die riesige Spinne schaute sich um, und zum ersten Mal mischte sich Angst in Astroghas Stimme. »Nein! Nicht dorthin! Dorthin werde ich nicht gehen! Niemals wieder!«

»Aber das musst du. Dir bleibt keine Wahl.« In der massiv angeschwollenen Hülle lockte eine immense

Leere. Der Wind wurde stärker. Zayls Mantel flatterte wie wild in Richtung des Artefakts, doch der Rathmaner selbst bewegte sich nicht von der Stelle.

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Einer von Jitans verwandelten Dienern wurde von der Wand gezerrt, an der er sich festklammerte und flog an Zayl und dem Dämon vorbei.

Dann war er in der Sphäre verschwunden. Ein weiterer folgte, noch einer ... Astroghas Kinder waren ebenso verdammt wie der Dämon und mussten sein Schicksal teilen.

Dann jedoch geschah etwas, womit der Rathmaner nicht ge­rechnet hatte. Sardaks Leichnam, der neben dem Altar auf dem Boden lag, begann unvermittelt zu zittern, als würde er wieder lebendig. Er rutschte ein Stück weit der Sphäre entgegen, blieb dann aber zwischen Felsbrocken hängen, die von der Decke her­abgestürzt waren.

Auch die Nesardos waren mit Astrogha verbunden, und damit liefen ie Gefahr, ebenfalls in das Artefakt gezogen zu werden.

Aus Sorge um Salene wagte Zayl es, sich einen Moment lang nicht völlig auf den Zauber zu konzentrieren. Zu seinem Entset­zen sah er, dass sie ebenfalls reglos auf dem Boden lag und in Richtung der Sphäre rutschte. Genau wie ihr Bruder blieb sie aber an einem Hindernis hängen.

Der Nekromant wollte zu ihr, doch plötzlich wurde er zu Astrogha gezerrt, der es geschafft hatte, sein Bein zu fassen zu bekommen. Die kleine, aber bösartige Klauenhand zog am Stoff und bohrte sich stellenweise bis auf die Haut durch.

Zayl griff nach seinem Dolch und stach in die Hand, worauf­hin der Dämon fauchend den Griff löste. Stattdessen klammerte sich Astrogha jetzt am Rand der Sphärenöffnung fest und versuch­te, Halt zu finden, Er spie Spinngewebe in Zayls Richtung, doch es landete nur auf dem Altar. Sollte der Dämon gedacht haben, der schwere Stein könnte ihn retten, dann hatte er einen schreck­lichen Fehler gemacht. Denn anstatt Halt zu bieten, löste sich der

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Altar aus seiner Verankerung und jagte dem Dämon mit der Wucht eines Projektils entgegen.

Die Spinne wurde am Torso getroffen, verlor jeglichen Halt und wirbelte wutentbrannt fauchend in die Schwärze.

»Neiiiiin«, schrie sie. »Neiiiiiin ...« Astrogha war verschwunden, doch die Sphäre zog weiter alles

an ich, was in Verbindung mit dem Dämon stand. Ihm folgten seine Kinder, die vergeblich versuchten, sich irgendwo festzuhal­ten.

Zayl spürte, dass sogar der Opferdolch Astrogha folgen wollte, doch der Rathmaner benötigte ihn noch, weil er Gewissheit ha­ben wollte, lass sich die Sphäre auch tatsächlich schloss ...

Plötzlich legte sich ein Arm, der in einer Rüstung steckte, um seine Kehle. Dann zischte Karybdus ihm ins Ohr: »Ihr habt alles zunichte gemacht! Das Gleichgewicht wird so niemals ins Lot kommen! Blinder Narr!«

»Der einzige Blinde«, brachte Zayl heraus und drehte sich so, dass er Karybdus ins Gesicht schauen konnte, »seid Ihr! Ihr seid blind für Euren Wahnsinn und das Übel, das Ihr verschuldet!«

Der ältere Nekromant ging auf seine Worte nicht ein. »Gebt mir den Dolch! Die Zeit reicht noch, um es rückgängig zu ma­chen!«

Es hatte in Zayls Leben nur wenige Augenblicke gegeben, in denen er unbändigen Zorn verspürte. Der schlimmste Tag war der gewesen, als sein Zauber – der erforderlich wurde, um das Böse auszutreiben, gegen das er und seine Eltern gekämpft hatten – ein reinigendes Feuer erzeugte ... das letztlich jeden außer Zayl das Leben kostete. Dass Zayl als Einziger völlig unversehrt aus jenem Inferno hervorgegangen war, hatte dazu geführt, dass er sich jahrelang Selbstvorwürfe machte und wütend auf sich selbst

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war. Er hatte sogar das Unvorstellbare gewagt und versucht, seine Eltern wiederzubeleben, indem er an ihrer Stelle seine ei­gene Seele dem Reich der Toten überlassen wollte. Nur die Un­terstützung seiner Mentoren hatte verhindert, dass er seine Ab­sicht in die Tat umsetzte und so eine noch größere Katastrophe herbeizuführen konnte. Sie hatten ihn schließlich auch dazu gebracht, die Tatsache zu akzeptieren, dass er Geschehenes nicht mehr ungeschehen machen konnte. Dass er die einzigen Men­schen, die ihm je wirklich etwas bedeutet hatten, ihrem Schicksal überlassen musste.

Wenn es überhaupt einen Zorn gab, der es mit seinen damali­gen Gefühlen aufnehmen konnte, dann war es der, den er jetzt gegenüber Karybdus empfand, den er einst so sehr bewundert hatte. Karybdus war zu dem geworden, was Außenstehende in allen Rathmanern sahen. Schlimmer noch, zu seinen Füßen lag die Frau, die zu Zayl gekommen war und ihn um Hilfe gebeten hatte. Eine Frau, die ihn auf eine völlig ungewohnte Weise an­sprach ... Der Gedanke, dass Salene durch Karybdus’ Hand ge­storben war, gab den Ausschlag für den jungen Nekromanten. Die letzten Schranken fielen.

»Der Dolch gehört Euch, Karybdus!«, schrie er den Mann an. »Möge der Drache Euch beide verschlingen!«

Dann rammte er seinem Kontrahenten Astroghas Klinge in die Brust. Während nichts anderes seine mit Zaubern belegte Rüstung durchdringen konnte, schnitt sich der dämonische Dolch, von Zayls letztem Jota Magie und noch mehr von seinem Willen angetrieben, durch das Metall, als sei es morastiger Bo­den.

Karybdus sah ungläubig zu, wie sich die Klinge in sein schwarzes, seelenloses Herz bohrte.

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Zayl riss den Mann herum, bis der grauhaarige Zauberkundige mit dem Rücken zu der sich langsam schließenden Sphäre stand.

»Das Gleichgewicht wird gewahrt bleiben«, flüsterte er Ka­rybdus zu. Dann versetzte er dem Mann einen Stoß und ließ den Dolch los. Karybdus versuchte noch, nach Zayl zu fassen, scheiterte aber kläglich.

Mit einem stummen Schrei folgte der Nekromant dem Spin­nendämon und seinen teuflischen Dienern. Karybdus schlüpfte durch die Öffnung, kurz bevor sie zu klein wurde, um ihn zu entführen. Er wollte sich an ihrem Rand festklammern, hatte damit aber nicht mehr Erfolg als vor ihm Astrogha.

Dann verschwand er in der Sphäre. Sein Schrei verstummte. Erschöpft sank Zayl auf die Knie. Ringsum begann der Tem­

pel, in sich zusammenzufallen; extreme Kräfte waren entfesselt worden. Der Nekromant nahm davon jedoch kaum Notiz, zu sehr war er in seiner Trauer um Salene gefangen.

Nun, da die tückische Mondphase endlich beendet war, begann die Sphäre zu schrumpfen, bis sie ihre ursprüngliche Größe er­reicht hatte.

Zayl wusste, dass es für ihn noch eine letzte Sache zu tun gab. Auch wenn der Tempel in sich zusammenfiel, durfte der Spin­nenmond hier nicht verbleiben. Er befand sich zu nah bei der Schnittstelle zwischen den Ebenen. Nicht einmal das geringste Risiko durfte eingegangen werden, dass Astrogha sich irgendwie doch würde befreien können. Und dann war da ja auch noch Ka­rybdus ...

Zayl wollte aufstehen, schaffte es aber nicht und musste statt­dessen kriechen. Die Sphäre, die nun wieder jene Größe aufwies, die sie auch in Jitans Händen gehabt hatte, verspottete Zayl mit ihrer Nähe ... die doch unerreichbar schien. Zayl spürte, dass er

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es aus eigener Kraft nicht schaffen würde, sie in seinen Besitz zu bringen ...

Doch plötzlich packten ihn zwei kräftige Hände an den Schul­tern und hoben ihn hoch, als wäre er ein Kleinkind. Zayl konnte es sich nur damit erklären, dass der Wendigo doch irgendwie überlebt hatte und nun versuchte, ihm zu helfen.

Er wollte sich bei dem Waldbewohner bedanken, doch kein Wort kam über seine Lippen. Jetzt endlich schaffte er es, den Spinnenmond zu erreichen. Er klammerte sich daran fest und presste den Dolch gegen das Objekt. Dann wob er einen letzten Zauber.

Sie kamen alle drei als Schatten zu ihm. Ihre Präsenz hatte er schon bei seinem ersten Aufenthalt an diesem Ort wahrgenom­men. Auch wenn sie kaum mehr als Schatten waren, erkannte er sie deutlich als Vizjerei. Karybdus hatte bei seiner Ankunft etwas getan, das die von ihnen ausgehende Bedrohung wirkungslos werden ließ. Doch selbst als bloße Erinnerungen an die Men­schen, die sie einmal waren, würden sie für Zayls Zwecke genü­gen.

Er schluckte, dann brachte er heraus: »Der ... der Mond ... nehmt ihn an Euch! Ich befehle Euch, ihn am Fuß der tiefsten Stelle des unbekanntesten Gewässers zu vergraben, damit ihn niemand je wieder zu finden vermag – weder Mensch noch Dä­mon noch Engel!«

Der mittlere der Gruppe griff mit Händen aus Rauch nach dem Spinnenmond und nahm ihn entgegen.

So wird es geschehen, hörte der Nekromant ihn flüstern. Und zwar mit Vergnügen ...

Damit verschwanden die Geister und die Sphäre. Zayl rollte sich auf den Rücken und war bereit, den Wendigo

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zu bitten, er möge Salenes Leichnam bis zu den Stadttoren tra­gen, damit sie zumindest beigesetzt werden konnte. Zu seiner Überraschung stand der Wendigo jedoch nicht neben ihm, son­dern lag noch immer dort, wo Zayl den pelzigen Riesen zuletzt gesehen hatte. Er hatte ihm nicht aufgeholfen, und der Nekro­mant erinnerte sich daran, dass er den Geist der mutigen Kreatur gegen Karybdus eingesetzt hatte.

Aber wer ...? Ehe er eine Antwort auf die Frage bekam, hörte er jemanden

leise stöhnen. Es klang eindeutig weiblich, und das ließ nur einen Schluss zu.

Er drehte sich auf den Bauch und versuchte abermals zu krie­chen, rneut vernahm er dieses Stöhnen.

»Salene«, flüsterte er. »Salene ...« Endlich erwiderte sie: »Z-Zayl? Zayl?« Er gestattete sich ein flüchtiges Lächeln – dann verlor er das

Bewusstsein.

Überall in der Stadt und insbesondere dort, wo General Torion kämpfte, war die Lage hoffnungslos. Es schien mehr Spinnen zu geben, als ein Wald an Blätter aufzuweisen hatte. Sie rückten unerbittlich vor und bewiesen dabei mehr Entschlossenheit als jeder Verteidiger der Stadt.

Für den General stand fest, dass der Untergang von Westmarch besiegelt war.

Doch dann ... dann plötzlich ... geschah etwas Seltsames und Großartiges. Das Meer von Spinnen kam abrupt zum Stillstand. Die Kreaturen bewegten sich einfach nicht weiter.

Davon überzeugt, dass es sich um irgendeinen teuflischen Trick handelte, zögerten die Menschen, etwas zu unternehmen.

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Plötzlich aber begannen die Spinnen zu zerfallen. Zu Hunder­ten verwandelten sie sich vor den Augen der Soldaten in Asche. Es war, als hätte ihnen irgendetwas von einem Augenblick auf den nächsten alles Leben entzogen. Einige befanden sich mitten im Angriff, andere kauerten auf ihren Wirten. Ganz gleich, wo sie auch waren, sie hörten einfach auf zu leben.

Ihre Opfer, die von Asche bestäubt und jeglicher Kontrolle be­raubt waren, brachen einfach zusammen, sodass der Staub jenes Schreckens, der das Königreich terrorisiert hatte, verteilt wurde. Der Regen wurde noch stärker und spülte den Alptraum fort.

Jemand stieß ein nervöses Lachen aus, das ansteckende Wir­kung zeigte und von einem Überlebenden auf den nächsten über­sprang. Das Gelächter, das die Anspannung der letzten Stunden löste, hatte schon bald die ganze Hauptstadt erfasst.

General Torion, der Befehlshaber über die Truppen den Kö­nigs, lachte am lautesten, wusste er doch besser als jeder andere, was nicht nur seinen Mannen, sondern den gesamten Westlichen Königreichen erspart geblieben war.

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DREIUNDZWANZIG

Von der anderen Seite der Tür waren zwei Stimmen zu hören, die Zayl kannte. Seine behandschuhte Hand lag auf dem Türgriff, während er zögerte und zuhörte.

»Justinian will ihn unbedingt kennen lernen, Salene. Ich glau­be, er will dem Mann tatsächlich einen Orden verleihen.«

»Was würde die Kirche wohl dazu sagen, Torion? Der König von Westmarch ehrt einen Nekromanten und das mitten in ih­rem Reich! Die Ältesten von Zakarum würden einen Wutanfall bekommen.«

Der General reagierte mit einem amüsierten Lachen. »Das wä­re es fast schon wert, allein um zu sehen, wie sie sich verhalten würden.«

»Nun, ich kann Euch auf jeden Fall schon sagen, dass Justinian mit einer Enttäuschung wird leben müssen. Zayl würde solche Ehrungen niemals akzeptieren.«

»Und was würde er als Belohnung akzeptieren? Oder sollte ich besser fragen: Wen?«

Der Rathmaner hielt den Zeitpunkt für gekommen, die Tür zu öffnen, da die Unterhaltung anderenfalls für alle Beteiligten ei­nen peinlichen Verlauf genommen hätte.

General Torion und Salene standen nahe dem Eingang zum Wohnsalon. Beide drehten sich überrascht zu dem Nekromanten um. Der General war genauso gekleidet wie bei seiner ersten Begegnung mit Zayl, nur dass er diesmal einen Helm aufgesetzt hatte, den er auch in der Gegenwart von Lady Nesardo nicht abnahm. Zayl konnte es ihm nicht verdenken. Nach dem Schre­

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cken der vergangenen Woche würden viele Bewohner der Haupt­stadt noch lange eine Kopfbedeckung tragen.

Salene strahlte, als sie den Rathmaner sah, der einen unge­wohnte Freude verspürte. Er wahrte aber die ausdruckslose Mie­ne, die nichts von dem verriet, was in ihm vorging, und verbeug­te sich vor Salene. Sie trug ein weites, wallendes Kleid in Wald-grün und Silber, mit einem gekräuselten Besatz an den Schultern und an der geschnürten Taille. Ihr Haar fiel bis auf die Schultern, und um den Hals trug sie eine Perlenkette. Obwohl Zayl drei Einladungen von Justinian IV. in den Palast ausgeschlagen hatte, war Salene schließlich auf die Bitte des Königs eingegangen, zu ihm zu kommen. Auf diese Weise hatte sie dem jungen Herr­scher von Westmarch alles in Ruhe erklären können.

Sie konnte ihm auch versprechen, niemals über seine Rolle in der Nacht des Schreckens zu sprechen. Justinian litt stark unter seiner Schuld, doch er war auf die denkbar brutalste Weise mani­puliert worden, und nicht einmal Zayl konnte einen Nutzen darin sehen, die Wahrheit publik zu machen. General Torion war völlig im Recht, wenn er meinte, Justinians Sturz würde nur noch mehr Blutvergießen und Chaos nach sich ziehen.

»Hexenmeister«, begrüßte Torion ihn. »General«, erwiderte Zayl auf die gleiche knappe Art. Zu Sa­

lene sagte er: »Ich bin erfreut, dass Ihr so schnell zurückgekehrt seid, Mylady.«

»Tatsächlich?« Mit ihrem Blick versuchte sie, ihn zu umgar­nen.

»Ich wäre nur ungern abgereist, ohne mich von Euch zu ver­abschieden«, sagte er direkter als ihm selbst lieb war.

Torion, der hinter ihr stand, erlaubte sich ein flüchtiges Lä­cheln. Dann nickte er Lady Nesardo ernst zu. »Ich muss zurück

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in mein Hauptquartier, Salene. Es gibt noch einiges aufzuräu­men, und viele gute Männer müssen ersetzt werden.«

»Ja ... unter anderem Alec Mattheus.« »Sehr richtig. Nachdem die Toten zur letzten Ruhe gebettet

worden sind, müssen wir uns dem Wiederaufbau der Stadt wid­men.« Er gab ihr einen Handkuss. »Ich werde bald wieder vorbei­schauen. Wir haben noch viel zu besprechen.« Von Zayl verab­schiedete er sich mit den Worten: »Lebt wohl, Hexenmeister und ... danke.« Der Rathmaner neigte leicht den Kopf. Er wartete, bis der General das Haus verlassen hatte, dann erklärte er: »Meine Arbeit ist getan. Es wird Zeit für mich, weiterzuziehen. Ich neh­me noch andere Ausstrahlungen wahr. Das Gleichgewicht ist weiterhin in Gefahr ...« Der Ausdruck ihrer Augen wurde härter, und sie meinte entschlossen: »Dann komme ich mit Euch!«

»Eure Arbeit ist getan, Mylady. Nicht genug, dass Ihr Eure Gabe eingesetzt habt, um uns – und Sardak – hierher zurückzu­bringen, ehe auch der Rest des Tempels einstürzte. Ihr habt auch noch darauf bestanden, Euch um meine Verletzungen zu küm­mern. Doch genug ist genug. Es wird Zeit, dass Ihr Euer Leben so lebt, wie es auch die meisten anderen tun. Euer Bruder ist gerade erst seit drei Tagen bestattet und ...«

»Und damit ist mein Lebenskapitel hier abgeschlossen. Außer diesem Haus gibt es nichts mehr, was mich bindet, und das Haus interessiert mich nicht mehr. Glaubt Ihr, ich könnte wieder das sein, was ich einmal war? Nach allem, was geschehen ist?«

Der Nekromant schüttelte den Kopf. »Ihr müsst bleiben – und wenn es sonst keinen Grund für Euch geben mag, dann denkt an das Wohl des Königreichs. Justinian muss geführt werden, und zwar nicht nur m einem loyalen Soldaten wie dem General. Er braucht jemanden wie ... Euch.«

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Sie wollte etwas dagegen einwenden, konnte es aber nicht. Trotzdem kapitulierte sie nicht völlig. »Er lernt schnell. Er muss nicht sehr lange geleitet werden ... und zudem wacht sein Vater noch immer über ihn. Was Euch zu verdanken ist.«

Zayl erwiderte nichts, sondern nickte nur. Cornelius’ Schatten würde seinem Sohn noch eine ganze Weile beistehen, ehe er sich wieder zur Ruhe begab. Westmarch brauchte stabile Verhältnis­se, auch wenn außer Salene und Torion niemand die Wahrheit kannte.

Der Nekromant war entschlossen, sich auf den Weg zu ma­chen, bevor die Situation noch komplizierter werden konnte. Er ging so rasch an Lady Nesardo vorbei in Richtung Ausgang, dass sie sich beeilen musste, um mit ihm mitzuhalten. Sie holte ihn ein, als er die Haustür öffnete. Barnaby, dessen Aufgabe es ei­gentlich war, die Tür zu öffnen, war noch gerade rechtzeitig ver­schwunden, bevor ihm der Zauberkundige zu nahe kommen konnte. Trotz allem begegneten die Diener jemandem wie Zayl lieber mit allergrößter Vorsicht.

»Eine Sache noch, bevor Ihr geht«, sagte die Edelfrau und nahm, obwohl sie wusste, was sich unter dem Handschuh verbarg, seine rechte Hand ohne eine Spur von Abscheu.

Er wollte sie fragen, was diese eine Sache denn sei, da beugte sich Salene plötzlich vor und küsste ihn sanft auf den Mund.

Als sie wieder auf Abstand ging, umspielte ihren Mund ein schelmisches Lächeln. »Etwas Farbe steht Euch gut, ›nur Zayl‹.«

Der Mann mit der Kapuze auf dem Kopf verbeugte sich leicht und begab sich dann mit schnellen Schritten in die Sicherheit der Nacht. Seine letzten Worte an die Zurückbleibende waren: »Lebt wohl ... Salene.«

Am Fuß der Außentreppe war ein beladenes Pferd angebun­

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den, ein Pferd, das Sardak gehört hatte. Salene hatte darauf be­standen, dass Zayl das Tier und die Dinge, mit denen es beladen war, als Anerkennung akzeptierte, wenn er schon sonst nichts annehmen wollte. Über dieses Geschenk hatte er nicht mit ihr diskutiert. Pferd und Vorräte würde er dort, wohin sein Weg ihn führte, gut gebrauchen können.

Es wehte ein starker Wind, aber zum ersten Mal seit seiner Ankunft erlebte Zayl eine Nacht ohne Regen. Er begann, die Zügel zu lösen und stellte fest, dass sie aus irgendeinem Grund viel komplizierter verknotet waren, als es nötig gewesen wäre.

Aus der Gürteltasche drang eine leise Stimme: »Ich wette mein Leben – und das nach dem Tod –, dass sie noch immer in der Tür steht und dir nachstarrt, Jüngelchen.«

»Das geht uns nichts an, Humbart.« Der Schädel schnaubte unüberhörbar. »Aye, das glaube ich e­

benso, wie du es glaubst.« Endlich hatte Zayl den Knoten gelöst und konnte in den Sattel

steigen. Dabei sah er aus den Augenwinkeln unwillkürlich den Eingang im Haus.

Humbart hätte seine Wette gewonnen. Zayl tat so, als habe er Salene nicht gesehen. Er lenkte sein

Pferd auf den Weg, der zum Tor führte. Es überraschte ihn nicht, dass es bereits weit offen stand. Vermutlich hatte General Torion dafür gesorgt.

Der Wachmann war damit beschäftigt, in eine ganz andere Richtung zu schauen, während Zayl sich näherte. Der Nekro­mant trieb sein Pferd zur Eile an.

Kurz vor dem Tor murmelte Humbart: »Nun schau schon zu­rück, Zayl, Jüngelchen. Ein letztes Mal.«

Er tat es ... und sah, dass Salene ihm immer noch hinterher

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schaute. Obwohl er seinem Gefährten nichts davon sagte, meinte der

Schädel amüsiert: »Hab ich’s mir doch gedacht.« Dann passierten sie den nervösen Wachmann und ritten hin­

aus in die Nacht. Die Finsternis rief Zayl zu sich, und wie stets würde sie dem Nekromanten ebenso Begleiter wie Gegner sein.

Gegenüber dem Anwesen von Salene Nesardo stand ein Mann, der auf den ersten Blick einem Söldner glich, aber viel mehr war. Er beobachtete den Nekromanten und die Frau, die der soeben verlassen hatte.

Sie waren auf die Probe gestellt worden, und sie hatten sich bewährt. Der Beobachter nickte zufrieden. Dieses Paar besaß Potenzial. Zugegeben, er hatte den beiden ein wenig geholfen, indem er den Wendigo dorthin geschickt hatte, wo er ihnen am nützlichsten sein konnte, doch es war in erster Linie ihren eige­nen Anstrengungen zu verdanken, dass das Böse ausgelöscht worden war.

Er war gespannt, wie sie sich schlugen, wenn sie einander das nächste Mal begegneten.

Mit diesem Gedanken breitete er seine feurigen Schwingen aus und stieg, von niemandem bemerkt, in den Himmel auf.

ENDE

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ÜBER DEN AUTOR

Richard A. Knaak ist ein Bestsellerautor, der rund dreißig Roma­ne und ein Dutzend Kurzgeschichten geschrieben hat. Dazu ge­hören The Legend of Huma und Night of Blood für Dragonlance sowie die Krieg der Ahnen-Trilogie für WarCraft. Die bekannte Dragonrealm-Serie und eigenständige Geschichten wie Frostwing oder King of the Grey stammen ebenfalls aus seiner Feder. Au­ßerdem hat er das koreanische Manga Ragnarok adaptiert.

Gegenwärtig arbeitet er an Empire of Blood, dem letzten Buch der Dragonlance-Trilogie The Minotaur Wars und – Diablo-Fans können sich freuen – an The Sin War-Trilogie.

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