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Der Setzerjunge

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Von Lloyd Alexander ist außerdem bei Bastei Lübbe Taschenbücher erschienen:

Der Taran-Zyklus 20 470 Bd. 1: Das Buch der Drei 20 471 Bd. 2: Der Schwarze Kessel 20 472 Bd. 3: Die Prinzessin von Llyr 20 473 Bd. 4: Der Spiegel von Llunet 20 474 Bd. 5: Der Fürst des Todes 20 475 Bd. 6: Der Findling

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Roman

Ins Deutsche übertragen von Rainer Schumacher

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BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 20 494

1. Auflage: September 2004

Vollständige Taschenbuchausgabe

Bastei Lübbe Taschenbücher ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Westmark © 1981 by Lloyd Alexander

© für die deutschsprachige Ausgabe 2004 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Belgisch Gladbach

Scan by Brrazo 10z2004 Lektorat: Dr. Lutz. Steinhoffz Stefan Bauer

Titelillustration: Geoff Taylor Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg

Satz: Fanslau CommunicationzEDV. Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Maury Imprimeur, Frankreich

Printed in Franc e ISBN 3-404-20 194-8

Sie finden uns im Internet unter www.luebbe.de www.bastei.de

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Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichenMehrwertsteuer.

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Für all jene, die ihre zahlreichen Fehlerbedauern, aber dennoch wissen, dass es weitaus schlimmer wäre, gar keine zu haben.

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Inhalt:

Teil eins: Der Setzerjunge

Teil zwei: Die Orakelpriesterin

Teil drei: Florians Kinder

Teil vier: Cabbarus' Garten

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Teil eins

Der Setzerjunge

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Eins

Theo war von Beruf Gehilfe, ein unbezahlter natürlich. Das heißt, er arbeitete als Lehrling und Diener von Anton, dem Drucker. Davor hatte er das Glück gehabt, ein Waise zu sein, denn die Stadtväter von Dorning betrachteten es als eine Frage des Stolzes, sich um die Bedürftigen in ihrer Ge­meinde zu kümmern. Anstatt Theo also ins königliche Wohl­fahrtshaus zu schicken, wo er mit Sicherheit unglücklich geworden wäre, arrangierten sie das Gleiche, für ihn daheim. Man verpachtete ihn zuerst an einen Böttcher, dann an einen Sattler, und in beiden Fällen stellte sich das als Fehler heraus. Zufälligerweise lernte Theo dabei das Lesen, was ihn in den Augen vieler für jede vernünftige Arbeit unbrauchbar machte. Anton willigte schließlich ein, den Jungen aufzu­nehmen und ihn sein Handwerk zu lehren.

Theo erwies sich als außerordentlich begabt für diese Arbeit, und er und sein Meister kamen gut miteinander aus. Anton peitschte seinen Gehilfen nie, und Theo gab ihm auch keinen Grund dafür. Früher war Anton stämmig und mus­kulös gewesen, inzwischen war er in der Mitte ein wenig auseinander gegangen. Seine Leidenschaft war seine Druckerpresse, und er machte immer einen großen Wirbel darum. Da er alle Flecken für sich und seine Kleidung reservierte, blieben seine Gehilfen stets sauber. Tatsächlich war er ein sehr guter Handwerker. Gelehrte der Universität Freyborg brachten ihm ihre Abhandlungen zum Druck. Nachdem der König Cabbarus zum Obersten Minister ernannt hatte, flaute das Geschäft allerdings deutlich ab. Auf Befehl von Cabbarus mussten alle Druckerzeugnisse offiziell genehmigt werden; selbst ein Text über Botanik wurde misstrauisch beäugt. Anton musste sich darauf

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beschränken, Visitenkarten für das gehobene Bürgertum zu drucken und Rechnungsformulare für die Händler. Es ging ihm jedoch nicht schlechter als anderen Druckern in Westmark. Eine Reihe von ihnen war verhaftet und aufgehängt worden. In dieser Hinsicht war er sogar besser dran.

Was Theo betraf, so liebte er die Tugend, verabscheute die Ungerechtigkeit, und er war stets ein wenig hungrig. Abgesehen davon konnte man ihn als glücklich bezeichnen.

Eines Tages zu Frühlingsbeginn hatte Anton außerhalb etwas Geschäftliches zu erledigen und überließ seinem Gehilfen die Verantwortung. Theo machte sauber und sortierte die Setzkästen, erledigte seine restlichen Arbeiten bis zum Ende des Nachmittags und war schließlich bereit, den Laden zu schließen, als ein Zwerg wie ein Kampfhahn durch die Tür stolzierte.

Ein Reitmantel reichte dem kleinen Mann bis zu den Stiefelfersen hinab, und ein riesiger Dreispitz saß schief auf seinem Kopf. Hut eingeschlossen, reichte er Theo gerade mal bis zur Brust; doch mit seinem schwankenden Gang nahm er mehr Platz ein als ein Dutzend deutlich größerer Männer.

Theo war froh, überhaupt einen Kunden zu sehen, egal welcher Größe, doch bevor er dem Zwerg einen guten Tag wünschen oder ihn nach seinem Begehr fragen konnte, stapfte der Fremde an ihm vorbei, starrte in die Tintenfässer, rappelte mit den Holzkästen, fingerte in den Papierstapeln herum und warf einen Seitenblick auf die Druckerpresse.

Schließlich blieb er stehen, hakte die Daumen in sein Wams und erklärte mit einer Stimme, die halb nach Ochsenfrosch, halb nach Basstrommel klang: »Muskete!«

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Amüsiert konnte Theo nur starren. Der Zweig schnippte mit den Fingern.

«Muskete! Das ist mein Name.« Ungeduldig schüttelte der Zwerg den Kopf, als hätte Theo

das wissen müssen, ohne dass man es ihm gesagt hatte; dann machte er eine weit ausholende Geste, die das gesamte Geschäft einschloss.

»Ich nehme an, das hier ist die einzige Druckerei in Ober-Trostlos, oder wie auch immer ihr diesen Ort nennen mögt, hm?«

»Sir«, begann Theo, »um Euch die Wahrheit zu sagen …« »Lass es.« »Was ich meine, ist, dass ich kein Drucker bin. Ich bin

lediglich der Setzerjunge.« »Dafür bist du aber schon recht groß. Das muss ich dir ­

lassen«, erwiderte Muskete. »Du wirst schon reichen. Das musst du.«

Der Zwerg riss den Hut herunter. Ein Wust von rötlich braunem Haar kam darunter zum Vorschein. Dann griff er in den Hut, holte ein paar eng beschriebene Blatt Papier heraus und warf sie auf den Tresen.

Soweit Theo mit einem flüchtigen Blick erkennen konnte, handelte es sich um die Entwürfe irgendeiner Art Traktat oder Pamphlet.

»Die müssen gedruckt werden – und zwar hübsch. Ich will keine Billigarbeit. Das ist für Dr. Absalom. Er ist welt­berühmt. Du hast sicherlich schon von ihm gehört.«

Theo gestand, dass er das nicht hatte, und fügte hinzu, dass er Dorning nie verlassen habe.

Der Zwerg blickte ihn mitleidig an. »Ein ausgewachsener Junge wie du? Und noch nie aus seinem eigenen Bau

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gekrochen? Du bist wirklich niemand, der mitten im Geschehen steht, wenn ich das so sagen darf.«

Muskete richtete seine Aufmerksamkeit auf das Pamphlet. Indem er mit dem Daumen gegen die Finger klopfte, zählte er die Anzahl der Kopien herunter, die Größe und die Papierqualität, auf der der weltberühmte Dr. Absalom be­stand.

Der kleine Mann redete von mehr Arbeit, als der Laden seit einem Jahr gehabt hatte. Theo begann, im Kopf auszu­rechnen, wie viel das insgesamt ausmachen würde. Muskete ersparte ihm jedoch die Arbeit, indem er seinen eigenen Preis nannte, und zwar einen ordentlichen – einen mehr als ordentlichen. Bei dem, was er als Nächstes hörte, verließ ihn jedoch der Mut.

»Morgen muss alles fertig sein«, sagte Muskete. »Es hat allerhöchste Priorität.«

»Morgen? Das geht nicht. Dafür ist nicht genug Zeit.« »Schlag ein, oder lass es. Morgen oder gar nicht.« Der

Zwerg wippte auf den Fersen vor und zurück. Theos Gedanken überschlugen sich. Er brachte es einfach

nicht über sich, sich solch eine Gelegenheit einfach so ent­gehen zu lassen. Mit einem Meisterhandwerker wie Anton, und wenn sie beide die ganze Nacht durcharbeiteten und ohne Pause, war es durchaus möglich, wenn auch knapp. Doch die Entscheidung oblag Anton. Theo hatte noch nie selbstständig eine Arbeit angenommen.

»Nun, wie lautet deine Antwort?«, verlangte Muskete zu wissen.

»Ihr werdet es bekommen. Bis Mittag.« Der Zwerg stieß mit dem Finger nach ihm. »Bis neun.« Theo schluckte. »Bis neun.«

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»Abgemacht!« Muskete setzte den Hut wieder auf und machte sich auf den Weg zur Tür. »Ich werde pünktlich sein.«

Theo hatte keine Zeit zu verschwenden. Anton würde sich unheimlich freuen – oder außer sich vor Wut sein, weil Theo ein Versprechen gemacht hatte, das er nicht einhalten konnte. Vom ersten Tag seiner Lehrzeit an hatte Anton ihn gelehrt, dass er sein Wort stets halten müsse, wenn er es einmal gegeben hatte. Kaum war Muskete verschwunden, begann Theo die Papiere zu studieren, um zu sehen, wie er die Arbeit am Besten arrangieren konnte.

Dr. Absalom, so las er, prahlte damit, über die Mächte des Magnetismus und der Hypnose zu gebieten und das Geheimnis der ewigen Jugend zu kennen. Auch bot er – gegen ein geringes Entgelt – Heilung von Warzen, Gicht, Gallensteinen, Furunkeln und anderen Leiden an, die die Menschheit heimsuchten.

Es war Müll, offensichtlich von Dr. Absalom selbst ge­schrieben, denn nur der Autor selbst konnte solch eine gute Meinung von sich besitzen. Anton hatte jedes Buch im Lager seines Meisters gelesen: Juristerei, Wissenschaft, Naturphilosophie. Ungeschult, wie er war, betrachtete er die gebildeten Professoren von Freyborg mit Ehrfurcht. Er konnte sich vorstellen, was sie über den selbst ernannten Doktor sagen würden. Nichtsdestotrotz war der Zwerg wie ein Wind aus einer Welt jenseits dessen, was Theo kannte, in den Laden geweht. Wider besseres Wissen war er fasziniert und glaubte ihm halb. Sein gesunder Menschenverstand nagte an ihm. Er ignorierte es.

Als Anton wieder zurückkehrte, war die Sonne bereits untergegangen. Theo war noch immer am Stehsetzkasten beschäftigt. Er hatte nur kurz aufgehört, um die Kerzen zu entzünden. Seine Hand flog über das Labyrinth aus kleinen Kästchen, schnappte sich Buchstabe für Buchstabe und

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steckte sie in die Satzleiste, die er in seiner anderen Hand hielt. Das Kratzen von Antons Stiefeln auf dem Holzfußboden erschreckte ihn. Er legte die Arbeit beiseite und lief, um den Drucker zu begrüßen, der müde den Mantel auszog.

Antons normalerweise fröhliches Gesicht war grau und aufgequollen. Theo, voller Vorfreude auf die guten Neuigkeiten, die er zu übermitteln hatte, beschloss, sie sich für den Nachtisch aufzusparen, und bot an, einen Topf Linsen für seinen Meister zu machen.

»Nein, nein danke, Junge. Ich habe meinen Appetit beim Notar verloren. Ich bin bei ihm vorbeigegangen, um ihn an die kleine Angelegenheit mit der unbezahlten Rechnung zu erinnern. Er ließ mich warten, während er warm zu Abend aß. Dann fluchte er, wenn ich ihn noch einmal belästigen sollte, würde er mir das Gesetz auf den Hals hetzen.«

»Das kann er nicht. Das Gesetz ist auf unserer Seite. So steht es in Welleks Gesetzeskommentaren. Das wisst Ihr. Ihr habt sie selbst gedruckt.«

»Das war vor Cabbarus. Bücher sind eine Sache; wie die Welt funktioniert, ist etwas vollkommen anderes.«

»König Augustin muss den Verstand verloren haben«, erwiderte Theo, »als er Cabbarus zum Minister ernannt hat, und noch dazu zum höchsten im Reich.«

»Den Verstand verloren? Ja, mit gebrochenem Herzen, nachdem er die Prinzessin verloren und seitdem kein Kind mehr bekommen hat. Und das ist jetzt sechs Jahre her. Königin Caroline hat es weit besser verkraftet als er. Das ist umso bedauerlicher, da er ein wirklich guter König hätte werden können.«

»Dass es ihm das Herz gebrochen hat, kann ich verstehen. Cabbarus ist derjenige, der die Schuld an allem trägt«, sagte Theo. »Er ist derjenige, der für den König spricht. Nein, er

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tut Schlimmeres als nur zu sprechen. Er schreibt die Gesetze nieder, wenn man sie denn überhaupt so nennen kann, denn es ist keine Gerechtigkeit in ihnen. Er ruiniert alle Drucker in Westmark. Ich wünschte, irgendjemand würde …«

»Genug«, sagte Anton. »Diese Art von Gerede will ich nicht hören. Ich habe dich Besseres gelehrt. Oh, auch ich stehe für das ein, was richtig ist. Und der Himmel helfe dem, der wagt, die Hand an meine Druckerpresse zu legen, denn er wird sich mit mir anlegen müssen. Aber weder du noch ich oder sonst irgendjemand kann darüber urteilen, ob ein Mann leben oder sterben sollte.«

Theo grinste ihn an. »Das stammt aus De Rerum Justitiae. Ich habe es gelesen.«

Anton lachte leise. »Nun denn, du weißt genauso viel wie ich. Verbringst du so deine Zeit, wenn ich nicht im Geschäft bin? Ich nehme an, du könntest Schlimmeres machen. Was hast du jetzt wieder vor? Ich habe dich dahinten setzen sehen, aber es ist keine Arbeit da.«

Theo konnte sich die Neuigkeit nicht länger verkneifen. »O doch, da ist Arbeit – vielleicht sogar zu viel.«

Rasch erzählte er Anton, was geschehen war. Anstatt ihn zu tadeln, strahlte Anton über das ganze Gesicht. Und als er sah, wie weit Theo schon mit der Arbeit vorangekommen war, klopfte er ihm auf die Schulter und zog sich die Schürze mit den Tintennecken an.

»Guter Junge! Ich hätte das selbst nicht besser regeln können. Wir werden uns ja vielleicht den Rücken brechen, aber wir werden den Auftrag dieses Muskrat, oder wie auch immer er sich nennt, erfüllen.«

Geschäftig huschte er durch den Laden und holte Stege, Druckblöcke und Keile heraus, um alles zur Hand zu haben. Theo machte sich wieder ans Setzen, und schon bald verlor er jegliches Zeitgefühl; er hörte noch nicht einmal mehr die

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Rathausuhr. Mit rotem Gesicht und tintenverschmiert bereitete Anton die Druckerpresse vor. Kurz vor Sonnen­aufgang machten sie die Kontrollabzüge der ersten Seiten.

Theo hatte sich gerade ein Blatt Papier genommen, als lautes Klopfen an der Tür ihn erschreckte. Zuerst glaubte er, Muskete sei früher als vereinbart gekommen, um seine Bestellung abzuholen; doch das Klopfen war brutaler als selbst der ungeduldige Zwerg es zustande gebracht hätte.

Theo rannte nach vorne. Im selben Augenblick splitterte die Tür, sprang aus den Angeln und krachte nach innen. Zwei Männer in Uniform drängten sich an ihm vorbei.

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Zwei

Sie gehörten zur Feldmiliz. Theo erkannte die grünen Tuniken und die weißen gekreuzten Bandeliers. Ohne nach­zudenken, riss er die Arme hoch, um sich zu schützen. Als Reaktion auf diese Bewegung holte einer der Soldaten mit seiner Muskete aus und rammte Theo den Schaft in die Rippen. Der Schlag ließ Theo zusammenklappen. Er fiel auf die Knie, hielt sich den Bauch und würgte vor Schmerz. Der Mann, der ihn geschlagen hatte, blickte kurz nach unten: nicht böswillig, nicht neugierig, als wäre Theo nur ein un­interessantes Stück Vieh.

Inzwischen hatte eine dritte Gestalt das Geschäft betreten. Glatt rasiert und in einen dunkelgrauen Mantel gehüllt, trug der Mann einen großen Hut mit hochgeschlagener Krempe. Man hätte ihn ohne Probleme für einen Kaufmann oder Advokaten halten können.

Die Milizionäre versteiften sich bei seinem Erscheinen. Anton schrie und schwang den Einschwärzballen. Der Offizier schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er blieb in der Mitte des Ladens stehen. Mit einer Stimme, die geradezu von Langeweile durchsetzt war, da er die gleiche Rede schon so oft gehalten hatte, dass er sie auswendig kannte, in­formierte er Anton, dass sich sämtliche Druckereien nun durch königliche Verfügung einer Inspektion zu unterziehen hätten.

»Zweck dieser Verfügung ist es«, fuhr er fort, »ungesetzmäßige Publikationen aufzuspüren und kriminelles Verhalten aufzudecken …«

Als Anton dämmerte, was der Offizier da rezitierte, begann er, lauthals zu lachen. »Ungesetzmäßig? Kriminell? Ich werde Euch sagen, was hier kriminell ist. Mangel an Aufträgen!«

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Der Drucker hatte ein knallrotes Gesicht und schwitzte. Verächtlich musterte ihn der Offizier von Kopf bis Fuß; dann schritt er zum Arbeitstisch. Er nahm sich eines der Papiere und überflog es kurz.

»Wer ist dieser Absalom? Nach außen hin handelt es sich offenbar um einen Scharlatan, aber wer weiß, was sich dar­unter verbirgt. Wir werden ihn uns genauer ansehen. Und Euch auch.« Er faltete das Papier und ließ es in seinem Mantel verschwinden. »Ist das die Art von Aufträgen, die Ihr bevorzugt?«

»Wenn ich nur die Aufträge annehmen würde, die mir gefallen, würde ich verhungern«, erwiderte Anton. »Ich bin Drucker, kein Richter.«

»In der Tat«, sagte der Offizier. »In diesem Fall zeigt mir die Lizenz für diese Publikation sowie für alles andere, was Ihr in letzter Zeit gemacht habt.«

Anton blickte zu Theo, der sich gerade erst wieder aufgerappelt hatte. »Ah … was das betrifft…«, stotterte Anton.

»Wir werden sie heute Morgen bekommen«, unterbrach ihn Theo, »sobald der Stadtschreiber seinen Dienst antritt.«

Der Offizier hob die Augenbrauen. »Werdet Ihr das, hm? Ihr gebt allerdings zu, dass Ihr gegenwärtig keine besitzt, korrekt?«

»Der Kunde ist spät am Tag gekommen«, erklärte Theo. »Die Stadtschreiberei war bereits geschlossen. Der Auftrag war jedoch dringend. Es gab keine andere Möglichkeit…«

»Außer«, sagte der Offizier, »das Gesetz zu brechen. Nun gut. Der Fall ist vollkommen klar.« Höflich nickte er den Soldaten zu und deutete auf die Druckerpresse. »Schlagt sie in Stücke.«

»Nein!«, schrie Theo. »Das ist nicht recht. Wir sind keine Verbrecher…!«

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Anton riss ungläubig die Augen auf. Die Milizionäre sehlangen die Musketen über die Schultern, packten die Druckerpresse und versuchten, sie umzustürzen. Das Zögern des Druckers dauerte nur einen Augenblick. Er stieß einem der Milizionäre den Einschwärzballen ins Gesicht. Von der Wucht des Schlages wurde der Soldat benommen in eine Ecke geworfen. Anton ließ seine improvisierte Waffe fallen und packte den Kameraden des Mannes an den Bandeliers.

Der Soldat riss sich los. Theo rannte los, um seinem Meis­ter zu helfen. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, wie der Offizier in den Mantel griff, eine Pistole herausholte und auf den tobenden Drucker zielte.

Auf dem Arbeitstisch lag ein eisernes Satzschiff. Theo packte es und schwang es nach oben. Das Eisen drehte sich in seinem Griff, flog schräg und schlug dem Offizier gegen die Schläfe. Der Mann grunzte und ging zu Boden, und die Pistole fiel hinunter, ohne dass sich ein Schuss gelöst hatte.

Der Soldat in der Ecke setzte sich auf und versuchte, sich die Tinte aus den Augen zu reiben. Sein Kamerad richtete hastig die Muskete auf Theo und schoss. Der Schuss ging weit daneben; die Kugel zersplitterte einen der Letterkästen.

Theo hörte sowohl die eine als auch die andere Explosion kaum. Er konnte den Blick nicht von dem Offizier abwenden, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Der Hut des Mannes war unter den Tisch gerollt. Sein Gesicht war schlaff, der Mund offen; er blutete aus der Nase, und das Rinnsal bildete ein purpurrotes Spinnennetz auf seiner Wange.

Der Milizionär fummelte fluchend an seiner Waffe herum, um nachzuladen. Theo stand wie angewurzelt da. Anton bellte ihn an; die Worte erreichten seine Ohren nur wie aus weiter Ferne. Er verstand keines von ihnen.

Das Nächste, woran er sich erinnerte, war, dass Anton ihn aus der Tür stieß. Theo rannte über das Pflaster; seine Beine

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arbeiteten wie Maschinen. Der Drucker schob ihn weiter, wann immer er ins Wanken geriet. Gemeinsam stürzten sie in die Schallen einer Gasse hinein.

Theo fragte immer und immer wieder, ob der Mann tot sei. Anton antwortete nicht, sondern rang nach Atem. Sie rannten weiter, bogen von einer Straße in die nächste. Dann blieb Anton stehen und stützte sich mit der Hand an einer Häuserwand ab.

»Keine … keine Luft mehr«, keuchte er. »Du … musst weg hier.« Er machte eine Kopfbewegung. »Da entlang. Ich werde die andere Straße nehmen. Wenn wir uns trennen, steigen unsere Chancen.«

In Gedanken war Theo noch immer in der Druckerei. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er verstand, was sein Meister ihm sagte. Hinter ihnen wurden die schweren Schritte von Stiefeln immer lauter.

»Mach, dass du hier wegkommst!« Anton packte Theo am Kragen, drehte ihn um und stieß ihn stolpernd in entgegengesetzter Richtung in die Gasse.

Als Theo sich schließlich wieder umdrehte, war der Drucker verschwunden. Theo torkelte ihm hinterher, blieb dann jedoch stehen; er wusste nicht, welche Richtung Anton eingeschlagen hatte. Da war ein Blitz, der Knall eines Schus­ses. Blind rannte Theo weiter.

Er hatte sein ganzes Leben in Dorning verbracht, doch die Stadt hatte sich plötzlich verändert. Er erkannte gar nichts mehr. Häuser, die er noch nie gesehen hatte, ragten über ihm auf. Er hielt nach dem Uhrenturm Ausschau und folgte einer Straße, die ihm vage vertraut vorkam. Sie endete in einer Sackgasse, die nicht hätte da sein sollen. Theo machte in Panik kehrt. Vor ihm öffnete sich der Marktplatz. Wie er hierher gekommen war, keine Ahnung; aber er wusste wenigstens wieder, wo er war. Zu seiner Linken befand sich

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die Kronen-Taverne. Er rannte auf sie zu und dachte kurz darüber nach, sich in den Ställen zu verstecken. Das Hoftor der Taverne war um diese Zeit verriegelt. Theo blickte hinter sich, sah aber niemanden. Er sprang hoch, fand Halt und schwang sich über das Tor.

Die Tavernenfenster waren dunkel. Theo rannte über den Hof in einen der Schuppen. Eine Laterne hing an der Wand, doch von Bodo, dem Stallburschen, war nichts zu sehen. Theo konnte noch nicht einmal vermuten, ob der Kerl irgendwo vor sich hin schnarchte oder ob er jeden Augen­blick auftauchen würde.

Theo hatte keinen Plan, außer dass er sich wieder zu Anton gesellen wollte, sobald sein Herz aufhörte zu klopfen und er wieder zu Verstand gekommen war. Im hinteren Teil des Schuppens stand eine Kutsche mit hohen Rädern. Da Theo kein besseres Versteck sah, ging er zu ihr hinüber und drückte die Türklinke herunter. Sie war nicht abgeschlossen. Theo öffnete die Tür und kletterte hinein.

Bevor er die Tür wieder zuziehen konnte, sprang plötzlich eine Gestalt auf wie ein Schachtelteufel. Eine Kanonenkugel traf ihn in der Mitte und warf ihn auf den Sitz zurück.

Bei der Kanonenkugel handelte es sich um einen Kopf, der zu einem Körper gehörte, welcher mehr als die übliche Anzahl an Armen und Beinen zu besitzen schien, und alle droschen sie gleichzeitig auf Theo ein. Einen Augenblick später fand er sich Nase an Nase dem entrüsteten Zwerg gegenüber.

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Drei

»Der Gehilfe!«, schrie Muskete verärgert. Wild blinzelte er mit seinen vom Schlaf geröteten Augen. Sein Hemd war auf­geknöpft, das Halstuch schief, und er zeigte nichts von der Munterkeit, die er noch am Nachmittag zuvor an den Tag gelegt halte. »Ich dachte, du wärst ein Einbrecher. Was tust du in meiner Kutsche?«

»Sie haben versucht, unsere Druckerpresse zu zerschla­gen«, platzte Theo heraus. Er war zu sehr mit seiner eigenen Not beschäftigt, als dass ihn der plötzliche Anblick seines ehemaligen Kunden hätte überraschen können. »Sie wollten uns verhaften.«

»Ihr habt Arger mit dem Gesetz?« Muskete kniff die Augen zusammen und blickte ihn an. »Nun, dann lass uns da raus, was auch immer es sein mag. Raus! Raus mit dir!«

»Bitte … lasst mich ausruhen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Meister ist irgendwo da draußen. Sie sind hinter ihm her. Und sie werden auch hinter Dr. Absalom her sein.«

Der Zwerg hatte sich alle Mühe gegeben, Theo aus der Kutsche zu schieben. Als er das jedoch hörte, ließ er sofort von ihm ab.

»Setz dich da hin«, befahl Muskete, »und rühr dich nicht.«

Der Zwerg zog die Stiefel an, stürzte aus der Kutsche und rannte über den Hof auf die Taverne zu.

Plötzlich wieder allein, versuchte Theo, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er Anton nicht gefolgt war, und noch einmal, weil er ihn nicht gefunden hatte. Er legte den Kopf in die Hände und schloss die Augen, doch er sah nur das aschfahle Gesicht des Offi­ziers.

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Muskete war wieder zurück. Ihm folgte eine massige Gestalt, die sich eilig das Hemd in die Hose stopfte.

Theo kletterte aus der Kutsche. »Dr. Absalom?« Der dickbäuchige Mann schüttelte den Kopf. Er besaß das

pausbäckige Gesicht eines viel zu großen Babys und trug einen wilden schwarzen Schnurrbart. »Ich sollte wohl sagen, dass ich zu deinen Diensten stehe, aber es ist wahr­scheinlicher, dass es andersherum ist. Ich bin Graf Las Bombas.«

Theo drehte sich zu Muskete um. »Ich dachte, Ihr wärt Dr. Absalom holen gegangen.«

»Unter dem Druck der Umstände sind Namen nicht weiter wichtig. Sie tragen nur zur weiteren Verwirrung bei.« Der Graf wischte die Frage mit einer Geste beiseite. »Mein Kutscher hat mir erzählt, du hättest Schwierigkeiten, und der Name ›Absalom‹ ist … hm, sagen wir, er ist im Laufe des Gesprächs aufgetaucht.«

Theo lieferte seinen Bericht, während Las Bombas ermutigend nickte und ihn dann und wann unterbrach, um bei bestimmten Einzelheiten nachzufragen.

»Du sagst, der Offizier hätte eines der Blätter an sich genommen? Und er hat es behalten?«

Theo nickte. »Er nannte Dr. Absalom einen Scharlatan und wollte ihn sich einmal genauer ansehen. Als er anschließend die Pistole gezogen hat, habe ich ihn … ich glaube, ich habe ihn getötet. Ich schwöre, dass es ein Unfall war.«

»Dann möge der Himmel uns beistehen, solltest du je etwas mit Absicht tun«, sagte Las Bombas. »Nun denn, die beiden Soldaten, haben sie ihn gehört?«

»Das müssen sie. Sie haben ja daneben gestanden.«

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»Und ohne Zweifel werden sie es irgendjemandem berichten, auch wenn ihr Vorgesetzter nicht mehr … äh, nicht mehr länger unter uns weilt.«

»Falls sie sich noch daran erinnern«, sagte Theo, »nach allem, was anschließend geschehen ist.«

»An unangenehme Dinge wird sich stets erinnert«, sagte Las Bombas. »Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Die Weisheit gebietet uns, dass Dr. Absalom plötzlich aus der Stadt fortgerufen wird. Was dich betrifft, junger Mann, so gestatte mir eine Frage: Was gedenkst du zu tun, um deinen Hals zu retten?«

Theo hatte sich die gleiche Frage auch schon gestellt. »Ich werde alles wieder in Ordnung bringen müssen. Ich werde zur Polizei gehen, zur Wachtmeisterei von Dorning.«

»Dem Gesetz gehorchen?« Las Bombas starrte ihn an. »Das ist nun wirklich das Letzte in dieser Welt, auf das man zurückgreifen sollte, um irgendetwas wieder zurechtzu­rücken!«

»Was kann ich denn sonst tun? Mein Meister könnte schon im Gefängnis sein. Sie hatten keinen Grund, in seinen Laden einzubrechen. Wir haben nichts Falsches getan. Ich wollte den Offizier nicht verletzen.«

»Mein lieber Junge, wer soll dir das denn glauben?« »Es ist aber die Wahrheit. Sie werden es glauben

müssen.« »Es liegt in der Natur der Polizei, gewisse Dinge nicht zu

glauben.« Graf Las Bombas seufzte und blähte die Wangen. »Ich kann dich für dein Pflichtbewusstsein nur loben, aber ich hege nicht die geringste Absicht, es zu teilen. Muskete und ich, wir werden augenblicklich aufbrechen.«

Tatsächlich hatte der Zwerg bereits damit begonnen, Kleidung und andere Dinge in eine Reisetasche zu stopfen.

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Las Bombas drängte ihn zu größerer Eile: dann winkte er Theo zu sich.

»Leb wohl. Auch wenn ich ernsthafte Zweifel daran hege, so wünsche ich dir doch eine befriedigende Lösung deiner Probleme.«

Theo ließ den Graf und seinen Kutscher packen und ging über den Holder Taverne. Am Tor zog er den Riegel zurück und schlüpfte auf die Straße hinaus. Die Entscheidung, die ihm im Schuppen noch als so einleuchtend erschienen war, machte ihn nun nervös. Der Graf, so fürchtete er, könnte durchaus Recht haben, und er könnte eine schlimme Ange­legenheit noch schlimmer machen. Seine Entscheidung war jedoch die einzig ehrenhafte gewesen. Doch anstatt dass ihn das bestärkte, belastete es ihn nur. Er biss die Zähne zusam­men und machte sich auf den Weg zur Polizei.

Er war noch nicht weit gekommen, da sah er am Ende einer Gasse einen der Wachtmeister von Dorning mit einer Laterne. Theo rief ihn an und ging auf ihn zu. Nach einem kurzen Blick rannte der Wachtmeister genau in die entge­gengesetzte Richtung. Nachdem er einen Großteil der Nacht durch die Straßen gejagt worden war, musste der verwirrte Theo nun die Beine strecken, um den fliehenden Polizisten einzuholen.

Schließlich holte er ihn ein. Es war Wachtmeister Polin, den Theo schon so lange kannte, wie er denken konnte. Polin dämpfte sofort das Licht seiner Laterne. Der ansonsten stets gut gelaunte Mann drehte sich wütend zu Theo um.

»Was tust du hier? Wir haben Befehl, die Stadt nach dir abzusuchen.«

»Nun, Ihr habt mich gefunden. Ich war auf dem Weg zur Wachtmeisterei. Wo ist Anton? Und der Offizier? Habe ich … Lebt er noch?«

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»Er hat einen gebrochenen Schädel, aber der wird schon wieder.«

»Dem Himmel sei Dank. Was ist mit Anton?« »Das ist eine verdammt miese Sache hier.« Polin packte

Theo am Arm. »Dorning ist kein Ort mehr für dich.« »Ich muss alles wieder in Ordnung bringen. Es war meine

Schuld. Ich will nicht, dass man Anton die Schuld daran gibt.«

»Er ist tot!«, brüllte Wachtmeister Polin. »Man hat ihn mitten auf der Straße erschossen. Jetzt sind sie hinter dir her.«

Theo starrte ihn wie betäubt an. Eissplitter verfingen sich in seiner Kehle, würgten und rissen an ihm zugleich. Polin schüttelte ihn wild.

»Hör mir zu! Es gibt einen Haftbefehl gegen dich. Der, den du da auf die Bretter geschickt hast, war ein Königlicher Inspektor. Somit ist es ein Fall für die Krone, nicht irgend­eine lokale Angelegenheit. Wir können dir nicht helfen, und du kannst Anton nicht mehr helfen.

Du sollst ohne viel Federlesens hinter Schloss und Riegel gebracht werden«, fuhr Pohn eilig fort. »Aber wer weiß schon, dass ich dich gesehen habe? Wir werden die Wälder westlich des Flusses absuchen. Ein gesuchter Verbrecher – da würde er sich wohl verstecken, nicht wahr? Er würde nie eine offene Straße nehmen. Die Königsstraße zum Beispiel? Das wäre der letzte Ort, an den er gehen würde. Warum sollten wir unsere Zeit in diese Richtung verschwenden? Ja? Ja? Hast du mich verstanden?«

Pohn klappte den Mund zu, machte auf dem Absatz kehrt und huschte die Gasse hinunter, wobei er mit der Laterne in Eingänge und Fenster leuchtete, als suche er mit allem Eifer nach einem Flüchtigen.

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Theo stand verwirrt da und versuchte, Ordnung in die Bruchstücke zu bringen, die Pohn ihm erzählt hatte. Für nichts davon gab es einen Grund, nichts davon war gerecht­fertigt. In einem Anflug von Wut ignorierte er das Drängen des Wachtmeisters und wollte sich seinem Ankläger stellen. Weder Anton noch er, Theo, hatten ein Verbrechen began­gen. Seine Heimat zu verlassen, seine Bücher, seine Arbeit… doch so bitter es auch sein mochte, er wusste, dass das alles nur noch ein Trümmerhaufen war.

Schmerzvoll und unwillig drehte er sich um und zwang seine Beine, ihn ostwärts, hinaus aus der Stadt zu tragen. Der Himmel hellte sich allmählich auf. Nebelschleier zogen über die Marktgärten in den Außenbezirken von Dorning. Neben einem Bauernhof krähte ein Hahn. Theo legte einen Schritt zu, nahm die Abkürzung über die frisch gepflügten Felder und schätzte, dass er so früher oder später auf die Königs­straße treffen würde.

Erst jetzt machte sich das volle Ausmaß seiner Trauer bemerkbar. Und mit ihr kam noch etwas anderes, etwas, das tief in seinem Hinterkopf vergraben war, wie ein Splitter, den man nicht aus dem Auge bekam.

Er konnte sich nicht dazu durchringen, darüber nachzu­denken; aber er brachte es auch nicht über sich, sich davon abzuwenden. Schließlich konnte er es nicht länger ertragen. Er gab zu, was er vor sich selbst verborgen und gewünscht, hatte zu vergessen.

Der Setzrahmen hatte sich in seiner Hand nicht gedreht oder verschoben. Es war kein Unfall gewesen. Noch nie in seinem Leben hatte er die Hand im Zorn erhoben. Aber in diesem Augenblick hatte er nur eines auf der Welt gewollt: Er hatte diesen Mann töten wollen.

Bis dahin hatte er stets an seine gute Natur geglaubt. Er hatte sich immer darauf berufen, ein freundliches, ehren­haftes menschliches Wesen zu sein. Doch nun sah er das

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Bild des blutüberströmten Gesichtes. Ihm drehte sich der Magen um. Theo klappte nach vorne und übergab sich. Eine Zeit lang saß er auf dem Boden, den Kopf auf die Knie gelegt. Er fluchte auf jede Art, die er kannte. Niemals wieder würde er solch eine Tat begehen.

Schließlich rappelte er sich wieder auf. Die Straße lag ein kleines Stück jenseits des Feldes. Er machte sich auf den Weg dorthin. Er blickte nicht zurück. Er wagte es nicht.

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Vier

Gegen Mitte des Morgens hatte die Sonne den Nebel ans den Tälern östlich von Dorning weggebrannt. Theo rechnete, dass er nur ein paar Meilen weit getrottet war, doch er war bereits müde. Bis jetzt hatte er in beide Richtungen keine Reisenden getroffen, und er war dankbar dafür. Von sich selbst etwas erzählen zu müssen war das Letzte, was er im Augenblick wollte. Einem Mann hatte er bereits Gewalt angetan. Er wollte dieses Unrecht nicht noch vergrößern, indem er die Wahrheit vergewaltigte. Bis jetzt hatte er noch nie gelogen, doch ihm kam der Gedanke, dass er früher oder später würde lügen müssen, dass sich die Balken bogen. Das Beste, was er tun konnte, war, diesen Augenblick so lange wie möglich hinauszuschieben.

Theo hatte gerade begonnen, es für klüger zu halten, die Straße gänzlich zu meiden, als eine gefleckte graue Stute langsam auf ihn zutrottete. Das Pferd schleifte Halfter und Zügel hinter sich her. wieherte und schlug mit dem Kopf, hatte aber nichts dagegen, dass Theo die Zügel packte und es langsam zu sich heranzog. Offensichtlich hatte das Tier einen Eigentümer, doch Theos Müdigkeit wog schwerer als dieser Gedanke.

»Ruhig, altes Mädchen. Wem auch immer du gehören magst – es tut mir Leid. Ich bin ohnehin schon ein gesuchter Flüchtling«, fügte er verbittert hinzu. »Da kann ich auch ruhig noch Pferdedieb werden.«

Unbeholfen kletterte er auf den Rücken des Tieres. Zwar wusste er vom Reiten genauso wenig wie vom Verbrecher­leben, nichtsdestotrotz gelang es ihm, das Pferd nach Osten zu wenden, und er freute sich, am heutigen Tag wenigstens etwas Glück gehabt zu haben.

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Sein ›Glück‹ verschaffte ihm allerdings Blasen, bevor er auch nur eine Meile geritten war. Seine Beine waren ver­krampft. Er war fußkrank, obwohl er die Füße doch gar nicht benutzt halte. Schließlich stieg er wieder ab und ging zu Fuß weiter. Das Pferd trottete hinter ihm her, blies ihm liebevoll in den Nacken und stupste ihn jedes Mal an, wenn er lang­samer wurde.

Bevor er sich jedoch etwas ausdenken konnte, um sich von dem Tier zu befreien, das ihn antrieb anstatt umgekehrt, sah er hinter einer Wegbiegung eine Kutsche im Gras am Straßenrand stehen. Die Türen standen offen, ein Teil des Gepäcks war auf dem Boden verteilt, und kein Tier hing an der Deichsel. Oben auf dem Vehikel hockte der Zwerg, eine kurze Tonpfeife zwischen den Zähnen. Graf Las Bombas hockte missmutig auf einem Fels und schwitzte in seinem langen Hemd.

Als er Theo sah, sprang der Zwerg wie ein Akrobat von der Kutsche herunter. »Ich habe dir ja gesagt, dass sie auf die ein oder andere Art wieder zurückkommen würde. Hättest du sie in Ruhe gelassen, anstatt sie wie ein Idiot zu jagen, wäre sie überhaupt nicht erst weggelaufen.«

Las Bombas rappelte sich auf und nickte Theo zu. »Wie ich sehe, haben wir dir dafür zu danken, dass du diese undankbare Kreatur gefunden hast. Du hast also deine Meinung geändert, was die Frage betrifft, ob du dich den Behörden stellen sollst, hm? Sehr vernünftig.«

»Ich hätte es getan«, begann Theo. Dann geriet er ins Wanken, als würde es die Sache irgendwie endgültig machen, wenn er es aussprach. »Aber … aber sie haben meinen Meister umgebracht.«

»Das tut mir Leid, mein Junge. Das ist ein harter Schlag. Und was wird jetzt aus dir?«

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»Mit einem Haftbefehl gegen mich? Die Königliche Polizei hat mir praktisch befohlen davonzulaufen. Der Königliche Inspektor lebt allerdings.«

»Und ohne Zweifel geht es ihm besser als uns. Dank des Straßenzustandes in eurem Landesteil hat sich ein Rad gelöst. Dann hat Muskete meiner Stute auch noch sorglos … Friska! Friska! Lass das!«

Letzteres galt dem Pferd, das an Las Bombas' Rücken knabberte. Der Graf zog sich in sichere Entfernung zurück, während Muskete das Tier wieder zur Deichsel führte.

»Das Pferd ist Zivilist«, erklärte der Graf. »Nichts im Vergleich zu meinem Schlachtross, als ich noch bei den Salamanca-Ulanen gedient habe.«

Theo hatte einen Haufen von Gegenständen neben der Kutsche entdeckt, und fragend blickte er auf etwas, das eine Sammlung von Armen und Beinen zu sein schien.

»Ach, die«, sagte Las Bombas. »Wie du zugeben musst, sehen sie bemerkenswert natürlich aus. Hervorragende Arbeit.« Er griff sich einen der Arme und zeigte ihn Theo. Der Arm war hohl; er bestand aus bemaltem Stoff, den man über einen leichten, flexiblen Holzrahmen gespannt hatte. In meinem Beruf sind sie häufig nützlich – manchmal sogar essenziell.«

»Aber in Eurem Pamphlet hieß es. Ihr wäret Arzt.« »Das hängt davon ab, was die Situation von mir verlangt.

Mein Junge, ich habe mein Leben lang nichts anderes getan, als zu studieren. Ich bin Eingeweihter der Delphischen Mysterien, der Großen Alkana. Berater Seiner Salbungs­vollen Erhabenheit, des Fürsten von Trebizonia. Ich bin vom Großcopta persönlich in der Anrufung der Toten unter­wiesen worden – natürlich mit ausreichend Hilfe seitens der Lebenden.«

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»Wollt Ihr damit sagen«, hakte Theo nach, »dass Ihr gar kein Arzt seid?«

»Du solltest das nicht so eng sehen«, entgegnete der Graf. »Ich versichere dir, dass ich mehr Leiden mit meinem magnetisierten Wasser geheilt habe als die höchstgeschätzten Doktores mit ihren Lanzetten und Blutegeln, jene, die sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund weigern, von meiner Behandlung zu profitieren … Nun, selbst wenn ich nicht geheilt habe, so habe ich ihnen doch auch keinen Schaden zugefügt, was man von einer Vielzahl deiner gelernten Aderlasser nicht gerade behaupten kann.«

Der Graf griff in seine Tasche. »Ich sehe deutlich, dass du just in diesem Augenblick unter heftigen Kopfschmerzen leidest. Habe ich Recht?«

Tatsächlich pochte es in Theos Kopf schon den ganzen Morgen. Das gab er Las Bombas gegenüber auch zu, der daraufhin nickte und sagte: »Ich wusste es, ohne zu fragen.«

Er öffnete die Hand und enthüllte einen schwarzen Kiesel, so groß wie ein Ei. »Das, mein Junge, ist mehr als sein Gewicht in Gold wert. Es handelt sich um ein unbezahlbares Fragment vom sagenumwobenen Berg des Mondes in Kazanastan. Ich muss nur deine Stirn damit, berühren – so –, und deine Kopfschmerzen werden verschwinden.«

Ein Pfiff von Muskete unterbrach den Grafen. Er drehte sich um, kniff die Augen zusammen und blickte die Straße hinunter, in die Richtung, in die der Zwerg deutete. Theo versteifte sich. Ein Trupp der Königlichen Kavallerie hielt auf sie zu.

»Lauf, so schnell du kannst«, befahl ihm Las Bombas. »Nein … das würde ihr Misstrauen erregen. Wir werden es wohl durchstehen müssen.«

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Er kramte in einem Haufen Kleider herum und warf Theo ein paar Kleidungsstücke zu. »Geh hinter die Kutsche. Zieh die an. Sollte jemand fragen, sag, dass du aus Trebizonia kommst.«

»Ich sprech' aber kein Trebizonianisch.« »Sie aber auch nicht. Also gut … Du bist ein stummer

Trebizonianer. Mach voran. Ich will kein Wort von dir hören. Tu, was ich dir sage.«

Theo duckte sich um die Kutsche herum und zog das Kostüm an: eine lange, gestreifte Robe, die, ihrem Geruch nach zu urteilen, seit Jahren nicht mehr gewaschen worden war, sowie ein großes, zylindrisches Kopfstück mit Quaste.

Der Kavallerietrupp hielt an. Der Hauptmann wendete sein Pferd und warf einen misstrauischen Blick auf das Gefährt. Las Bombas, der nach drinnen verschwunden war, kletterte nun wieder heraus, um dem Offizier entgegenzutreten. Der Graf sah wahrlich prachtvoll aus in seiner mit Gold bestickten Generalsuniform und der Brust voller Orden.

»Was gibt es hier für ein Problem?«, brüllte der Graf, als der Hauptmann aus dem Sattel sprang und zackig salutierte.

»Ich melde: kein Problem, Sire.« Der Hauptmann war so puterrot geworden wie die Uniform des Grafen. »Verzeiht, Sire, dass wir Euch gestört haben. Meine Männer gehen in die Garnison, und man hat mir befohlen, auf dem Weg die Augen aufzuhalten. Ein Flüchtling vor dem Gesetz, der sich als Gehilfe eines Druckers ausgibt…«

»Was? Was?«, schrie Las Bombas. »Was für einen Unsinn murmelt Ihr da? Sprecht, Sire! Und seht mir in die Augen, wenn ich mit Euch rede!«

»Ein Flüchtling, Sire«, brüllte der Hauptmann erneut, »gesucht wegen schwerwiegender Vergehen!«

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»Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?« Las Bombas funkelte ihn an. »Nun, so jemanden seht Ihr ja hier wohl kaum, oder? Ich bin General Sambalo, unterwegs mit Sonderauftrag vom Hof.«

»Bitte, Meldung erstatten zu dürfen, Sire: Ich habe ein Individuum in unmittelbarer Nähe Eurer Kutsche gesehen.«

»Mein Diener?« Der Graf winkte Theo. »Dieser hier? Wie Ihr sein, ist er Trebizonianer. Das ist wohl kaum ein Lehrling oder Gehilfe. Kann nicht sprechen, der arme Kerl, nur grunzen. Ich habe ihm auf meinem letzten Feldzug das Leben geschenkt. Seitdem ist er mir treu ergeben.«

Der Offizier starrte Theo an. Las Bombas fuhr fort: »Eine wahrhaft treue Kreatur – sofern man überhaupt

einem von diesen Wilden trauen kann. Stark wie ein Ochse, auch wenn man ihm das nicht direkt ansieht. Der arme Teu­fel, er ist ein wenig verrückt. Normalerweise ist er ruhig und friedlich. Was ihn rasend macht, sind Offiziere auf Pferden. Selbst ich vermag ihn dann nicht mehr zu bremsen.«

Theo verstand sofort. Er begann zu knurren und fletschte die Zähne, um – so hoffte er – möglichst wild auszusehen. Erschrocken stellte er fest, dass er sich gleichzeitig unheim­lich dämlich vorkam.

»Ihr hättet sehen sollen, was er mit meinem letzten Adjutanten gemacht hat.« Traurig schüttelte Las Bombas den Kopf. »Diese Trebizonianer gehen direkt auf die Kehle, müsst Ihr wissen.«

Der Hauptmann stand stramm; das war das Einzige, was ihn davon abhielt, sofort wegzulaufen. Las Bombas hielt den Mann mit strengem Blick fest; er hatte nicht die Absicht, ihn einfach so entkommen zu lassen.

»Habt Ihr Geld dabei?« Der Hauptmann blinzelte. »Sire?«

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»Falls ja, dann schlage ich vor, dass Ihr es ihm augenblicklich gebt. Es könnte eine beruhigende Wirkung auf ihn ausüben. Bei seinem Volk ist das Anbieten von Geld eine Geste der Freundschaft.«

Der Offizier holte eine Hand voll Silberstücke und ein Goldstück aus seiner Tunika und warf sie Theo zu. Las Bom­bas nickte zustimmend.

»Das dürfte ihn zurückhalten – allerdings nicht lange, bei solch einer kleinen Summe. Widmet Euch wieder Eurer Pflicht. Ich setze voraus, dass Ihr nach dem Flüchtigen Aus­schau haltet. Weggetreten!«

Erneut grüßte der Hauptmann zackig, kletterte eilig auf sein Pferd, ritt zu seinen Männern zurück und bellte ihnen zu, ihm im Galopp zu folgen.

Las Bombas blickte ihnen hinterher, bis der Trupp außer Sichtweite war. Dann lächelte er Theo zufrieden an. »Du hast einen hervorragenden Trebizonianer abgegeben. Einen Augenblick lang habe sogar ich geglaubt, du würdest ihn beißen.«

»Und du hast uns noch ein Goldstück eingebracht«, fügte Muskete hinzu. »Das ist reiner Profit.«

»Ja, du hast eine gute Schau abgeliefert, mein Junge«, sagte Las Bombas, »aber es war auch knapp. Ich muss ge­stehen, ich bin selbst ein wenig ins Schwitzen geraten. Es wäre vielleicht klüger für dich, wenn du eine Zeit lang bei uns bleiben würdest. Zu deiner eigenen Sicherheit. Dabei fällt mir ein, dass ich einen cleveren jungen Assistenten gut gebrauchen könnte. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Was allerdings den Lohn betrifft … Diese Frage müssten wir vorläufig offen lassen.«

»Nein, danke. Das ist nett von Euch, aber…« Theo zögerte. Bis jetzt hatte er sich nie an einem anderen Ort als in Dorning gesehen. Die Möglichkeit hatte schlicht nie existiert.

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Nun da Anton tot war und er selbst heimatlos, war es wohl am Besten, wenn er in Bewegung bleiben würde. Tatsächlich fand er die Vorstellung sogar recht aufregend, vor allem auch, da sie so neu war.

»Ich bezweifele, dass du ein besseres Angebot bekommen wirst«, sagte der Graf. »Überleg doch mal: Du würdest eine vollkommen neue Profession ergreifen.«

Die Profession des Grafen, das wusste Theo, war schlicht Lug und Betrug. Las Bombas war ein Scharlatan, und schlimmer noch, er war stolz darauf. Nichtsdestotrotz, ent­gegen alle Vernunft und wider all das, was er gelesen und was Anton ihn gelehrt hatte, er konnte nicht anders: Theo mochte den Schurken.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Ich werde mit Euch gehen.«

»Wunderbar!«, rief der Graf. »Pack alles zusammen, dann machen wir uns auf den Weg. Muskete wird dir deine Pflichten erklären.«

Kaum waren die künstlichen Anne und Beine weggepackt und auch der Rest des Gepäcks verstaut, da rollte Las Bombas sich in der Kutsche zusammen. Theo kletterte zu Muskete auf den Kutschbock. Der Zwerg schnalzte mit der Zunge, schlug Friska mit den Zügeln und fuhr mit einer Geschwindigkeit los, die Theo den Atem verschlug. Die kurzen Beine vor sich ausgestreckt, den Hut tief ins Gesicht gezogen und mit funkelnden Augen sah Muskete aus, als hätten sie einen Dämon als Kutscher. In panischer Angst hielt Theo sich so fest, wie er konnte. Die Kutsche schaukelte und sprang, und der Wind pfiff Theo in den Ohren. In welche Richtung sie unterwegs waren? Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung; aber sie fuhren verdammt schnell dorthin. Dass seine Kopfschmerzen verschwunden waren, bemerkte er kaum.

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Fünf

Cabbarus, Oberster Minister des Reiches, beugte sich über seinen Schreibtisch und überflog ein Bündel von Doku­menten. Cabbarus verfügte über die Tugend des Fleißes einschließlich einer enormen Bereitschaft, sich zu schinden, und er war schon seit Sonnenaufgang bei der Arbeit. Vom Tag seiner Beförderung vom Superintendenten in den Königlichen Haushalt an hatte er sich immer wieder bereit, ja begierig gezeigt, sämtliche Arbeiten zu übernehmen, sogar solche, die andere Minister als langweilig empfanden. Als Folge davon hatte Cabbarus seine Finger in allem, vom Einkauf von Hummern bis hin zur Unterzeichnung von Todesurteilen. Seine Augen waren überall: Augen von der Farbe von Schiefer, die niemals blinzelten. Sein Blick ver­mittelte allen, auf die er ihn richtete, das Gefühl, sie seien weniger nobel als er, weniger hochgeistig … und dass sie dringend neue Unterwäsche benötigten.

Die Papiere, denen er sich im Augenblick widmete, be­schäftigten sich mit den neuesten Maßnahmen gegen unver­antwortliche Pamphletschreiber und die Drucker, die ihnen zu Diensten waren. Aus so abgelegenen Städten wie Belvista und Dorning hatte Cabbarus noch keine Berichte erhalten. Er erwartete sie jedoch in Kürze. Was ihm bis jetzt vorgelegt worden war. erregte allerdings keineswegs sein Missfallen.

»Die Untertanen Seiner Majestät«, sagte er gerade, »ver­langen nach einer starken Hand, die sie führt. Die Menschen sehnen sich danach, ohne dass es ihnen überhaupt bewusst wäre. Diese Schreiberlinge verbreiten nichts als Unruhe. Ihr Tod wird ohne Zweifel einem höheren Zweck dienen als ihr Leben: dem Wohl des Königreiches. Persönlich hege ich keinerlei Feindseligkeit gegen sie, allerdings würde ich meine Pflicht verraten, sollte ich ihnen gegenüber Nachsicht

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üben. Immerhin ersparen wir ihnen die sinnlose Demütigung einer öffentlichen Gerichtsverhandlung.«

Der Privatsekretär des Obersten Ministers, der Ratsherr Pankratz, knurrte höflich seine Zustimmung; eine detaillier­tere Antwort war ja nicht verlangt. Pankratz war einen Kopf kleiner als sein Herr und Meister und besaß gewaltige Schenkel, die die Strümpfe seiner Hofkleidung fast zum Platzen brachten. Cabbarus trug keine Perücke, um das kurz geschorene eisengraue Haar zu verbergen; deshalb wagte auch sein Sekretär nicht, eine anzuziehen. Die Höflinge hatten Pankratz den Spitznamen ›Mastiff des Ministers‹ gegeben. Untereinander scherzten sie, dass Pankratz sie in die Waden beiße, wohingegen Cabbarus ihnen predige.

Es war an der Zeit für die Morgenaudienz bei König Augustin. Cabbarus befahl seinem Mastiff, die Dokumente in ein rotes Lederkästchen zu packen. Mit Pankratz zwei Schritte hinter sich verließ Cabbarus sein Quartier und mar­schierte über den Hof in die neueren Flügel des Palastes. Diese prachtvollen Areale waren vom Großvater des gegen­wärtigen Königs errichtet worden, des zweiten mit Namen Augustin, den man inzwischen ›den Großen‹ nannte.

Der ursprüngliche Juliana-Palast war eine uralte Festung mit dicken Steinmauern, schmalen Gängen, Verliesen und Folterkammern gewesen. Anstatt dieses historische Gebäude abzureißen, hatte Augustin der Große drum herumbauen lassen und hier und da auch etwas angefügt. In einen der alten Wachtürme hatte er die berühmten Juliana-Glocken einbauen lassen. Ihr Geläut bestimmte die Atmosphäre der Stadt, als wären sie die Stimme von Marianstat selbst. Augustin IV. hatte befohlen, dass sie für immer schweigen sollten, in ewiger Trauer um die verstorbene Prinzessin Augusta. Das Kind habe ihren Klang geliebt, und beim König weckten sie nun allzu schmerzhafte Erinnerungen an seine Tochter. Er zog Stille vor, um Augustas zu gedenken.

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Der Großteil des Alten Juliana bestand aus Lagerräumen oder Schreibstuben für niedere Funktionäre. Während seiner Zeit als Superintendent hatte Cabbarus hier gelebt und gearbeitet. Als Oberster Minister hatte er Anrecht auf pracht­volle Gemächer im Neuen Juliana. Er hatte sie abgelehnt. Stattdessen hatte er sein altes Quartier behalten und so ein Beispiel an Genügsamkeit und Bescheidenheit gegeben. Selbstgerechtigkeit war stets glaubhafter, wenn sie mit Trostlosigkeit ein herging.

Da Augustin seine Minister nicht länger im Audienzsaal empfing, ging Cabbarus direkt in die Gemächer des Königs. Er nahm das rote Kästchen von seinem Sekretär entgegen und ließ sich hineinführen. Pankratz postierte sich vor der Tür, um dort wie ein Hund über die Diener in der Halle zu wachen.

Die Gemächer wurden nicht gelüftet, und es war er­stickend heiß. Die Fenster waren mit Wandteppichen ver­hängt. Der Frühling war früh gekommen, und somit war es draußen recht warm: dennoch brannte ein Feuer im Kamin. Cabbarus stellte das Kästchen auf einen Beistelltisch und näherte sich dem König. In einen Hausmantel gehüllt, saß Augustin nahe beim Feuer. Er reagierte kaum auf das Erscheinen seines Obersten Ministers.

»Ich hoffe. Euer Majestät haben gut geschlafen«, sagte Cabbarus, wohl wissend, dass der König nur selten mehr als eine Stunde am Stück schlief.

Augustin richtete ein fiebriges Auge auf seinen Obersten Minister. Der König war kein großer Mann, und seit seinem Verlust war er sogar noch mehr zusammengeschrumpft. Er war vollkommen leer; nur Schatten füllten sein Inneres. Er hatte nie aufgehört, sich vorzuwerfen, dass er zu vernarrt in seine Tochter gewesen war. Wäre er weniger duldsam ge­wesen, die Tragödie wäre nie geschehen. Und da es nun zu spät war, seine Tochter mit strengerer Hand zu führen, hatte

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er Cabbarus ausgewählt, um sein Volk strenger zu führen. Seitdem kannte Augustin nur eine Sorge.

»Hast du noch immer niemanden mit der wahren Gabe gefunden?«, fragte der König. »Jene, welche die Geister der Toten heraufbeschwören können?«

Cabbarus unterdrückte ein Seufzen. Er hatte gehofft, dass Augustin wenigstens dieses eine Mal nicht auf dieses Thema zu sprechen kommen würde. »Eure Majestät sind in dieser Hinsicht stets enttäuscht worden.«

»Ich beauftrage dich, jemanden zu finden, der mich nicht enttäuscht. Ich werde mit meiner Tochter sprechen. Er soll ihren Geist zu mir kommen lassen, auch aus ihrem unbe­kannten Grab.«

»Sire, Eure Pflicht gilt den Lebenden.« Cabbarus beab­sichtigte nicht, dieses alte, leidige Thema weiterzuverfolgen. Er beabsichtigte noch nicht einmal, den Inhalt des Kästchens zu diskutieren. Das Thema, welches sich seit heute Morgen in seinem Geist herauskristallisiert hatte, erfüllte ihn mit einer Freude, die er für unanständig erachtet hätte, wäre nicht alles auf das Wohl des Königreichs ausgerichtet gewesen.

Augustin hatte ihm nun den Anknüpfungspunkt gegeben, auf den er gehofft hatte, und so fuhr er rasch fort, bevor der Monarch ihm keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. »In der Tat. Sire, die Pflicht der Könige erstreckt sich auch jenseits des Grabes. Am Ende sind wir alle nur Staub und Asche. Eurer Majestät obliegt zudem die große Last, einen Thron­folger zu benennen.«

»Es gibt keinen Thronfolger.« »Genau meine Rede, Euer Majestät. Königin Caroline

kann als königliche Witwe an Eurer statt regieren. Dies schiebt das Problem jedoch nur hinaus; eine Lösung ist das

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nicht. Euer Majestät, Ihr braucht einen Erben, der Eure heilige Aufgabe weiterführt.«

Augustin runzelte die Stirn. »Das ist nicht länger möglich.«

»Euer Majestät, gestattet mir zu sagen: im Gegenteil. Es ist sowohl möglich als auch dringend. Das Gesetz gestattet Euch, einen Thronfolger zu adoptieren. Dazu bedarf es nur eines Dekrets von Euch, bestätigt und mit der Zustimmung von Königin Caroline.«

»Oberster Minister, wollt Ihr damit sagen, dass die Königin und ich eine Tochter adoptieren sollen?«

»Keine Tochter«, erwiderte Cabbarus, »so erfreulich das auch sein mag. Keine Tochter, Euer Majestät, einen Sohn. Ein Sohn, der träumt, der hofft und der nach Weisheit, Stärke und der Vision seiner glorreichen, wenn auch adoptierten Vorfahren strebt. Ein Sohn, der Eure Majestät jetzt und in den Jahren, die da kommen mögen, ehren wird …«

»Sprecht ein anderes Mal mit mir darüber«, sagte Augustin. »Ich bin müde. Außerdem gibt es niemanden, den ich dafür in Betracht ziehen würde.«

»Niemanden?«, schrie Cabbarus und ließ sich auf die Knie sinken. »Euer Majestät, lasst mich Euch meinen Respekt bekunden. Lasst mich Euch meine Zuneigung, meine Liebe gestehen, die Tag für Tag in meinem Herzen gewachsen ist. Lasst mich Euch von dem Traum erzählen, dass ich Euch eines glorreichen Tages Vater nennen darf!«

Es dauerte einen Augenblick, bis der König verstand, was ihm sein Oberster Minister vorschlug. Er rappelte sich auf. »Du? Du willst den Platz meines toten Kindes einnehmen?«

Der König befreite sich aus der Umarmung seines Obersten Ministers. Cabbarus wiederum tat alles, um sich an den Beinen seines voraussichtlichen Vaters festzuklammern.

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Alle Farbe wich aus Augustins Gesicht. Er streckte die Hände aus, tastete vage herum und fiel zu Boden.

Verzweifelt – doch nicht wegen des möglicherweise tödlichen Kollapses des Königs, sondern wegen des falsch gewählten Zeitpunktes – packte Cabbarus das Handgelenk des Monarchen. Schwach spürte er den Puls, Cabbarus rap­pelte sich wieder auf, stieß die Tür auf und rief um Hilfe. Dann kehrte er zu dem am Boden liegenden König zurück und rang die Hände.

Wenige Augenblicke später war Königin Caroline da. Sie verschwendete kaum einen Blick auf Cabbarus. sondern kniete sich neben ihren Gemahl und öffnete ihm Gewand und Hemd. Die Königin trug noch immer Trauerflor, wie schon seit sechs Jahren. Während die Trauer den König geschwächt hatte, hatte sie daraus Kraft gewonnen. Trotz ihrer großen Sorge wirkte ihr Gesicht ernst und beherrscht. Als Cabbarus versuchte, etwas zu sagen, brachte sie ihn mit einer Geste zum Schweigen und folgte den Dienern, die Augustin zu einer Couch trugen.

»Madame«, protestierte Cabbarus, »unsere Audienz hatte gerade erst begonnen. Als ich Seine Majestät gestern ver­lassen habe, befand er sich noch in weit besserem Zustand.«

»Seine Majestät«, erwiderte die Königin, »befindet sich sogar in noch viel besserem Zustand, wenn Ihr abwesend seid.«

Inzwischen war auch der Hofarzt erschienen. Er befahl den Dienern, einschließlich Pankratz, sich zu entfernen. Dr. Torrens trug noch immer seinen Schlafanzug. Sein Gesicht war breit und eckig, doch die silberne, ungepuderte Mähne, die er hinter dem Kopf mit einer einfachen Schleife zusammengebunden hatte, verlieh ihm einen sanften Aus­druck.

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»Madame, ich muss Euch bitten, Euch ebenfalls zurück­zuziehen«, sagte Torrens und fügte, an Cabbarus gewandt, hinzu: »Und Euch auch.«

Cabbarus funkelte den Hofarzt an. Die Königin ging ins Vorzimmer und ließ sich dort auf einen Stuhl sinken. Widerwillig folgte Cabbarus ihr. Da die Königin ihm nicht die Erlaubnis erteilt hatte, sich ebenfalls zu setzen, postierte er sich in der Mitte des Raums, den Kopf gesenkt und die Hände verschränkt. So teilten sich die Königin und der Oberste Minister denselben Raum, und eisiges Schweigen herrschte zwischen ihnen, bis Dr. Torrens wieder erschien.

»Der König schläft jetzt. Das an sich ist schon ein Segen«, sagte er zur Königin. Dr. Torrens krempelte die Ärmel hinunter und drehte sich dann zu Cabbarus um. »Er hat einen schweren Schock erlitten. Ihr wart bei ihm, Oberster Minister. Ich denke, Ihr werdet dafür Rede und Antwort stehen müssen.«

»Ich würde das nicht Schock nennen«, sagte Cabbarus und blickte an Torrens vorbei zur Königin. »Madame, ich würde es eher als ein Übermaß an Freude bezeichnen. Seine Majestät hat mit mir über die glückliche Aussicht gesprochen, einen Sohn und Thronfolger zu adoptieren. Sein größter Wunsch … Seine königliche Wahl ist…«, Cabbarus seufzte und breitete die Hände aus, »… ist auf mich gefallen. Mein Pflichtbewusstsein und meine persönliche Hingabe haben mich dazu bewogen, diese höchste aller Ehren anzunehmen. Für den König war die freudige Erregung dieses Augenblicks …«

»Wie könnt Ihr es wagen!«, schrie die Königin. »Wie könnt Ihr es wagen, von Euch selbst als adoptiertem Thronfolger zu sprechen? Solch eine Frage wird im Privaten besprochen und zwar zwischen dem König und mir. Das Gesetz verlangt die Zustimmung der Königin, wie Ihr sehr wohl wisst. Und diese Zustimmung, das kann ich Euch

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versichern, werdet Ihr niemals erhalten. Ich bitte Dr. Torrens diese, meine Weigerung, hier und jetzt zu bezeugen.«

»Im Privaten oder in der Öffentlichkeit, Maclame, die Frage muss gestellt werden«, erwiderte Cabbarus. »Der König ist schwer krank.«

»Ja«, warf Torrens ein, »aber ich kann Euch auch sagen, dass der König nicht wirklich unter einer Krankheit leidet – nicht im körperlichen Sinne jedenfalls. Sein Leib ist ver­braucht und geschwächt. Das könnte man wieder in Ordnung bringen, und das habe ich auch zu tun versucht; und es wäre mir auch gelungen, wäre da nicht die Einmischung von solchen Narren, wie Ihr es seid, die sich nicht um meine Therapien kümmern. Der Leib des Königs würde auf die simpelsten Heilmittel reagieren, die der gesunde Menschen­verstand gebietet: Essen, Schlaf, frische Luft. Seine Krank­heit liegt in seinem Geist begründet.«

»Wollt Ihr damit etwa sagen, dass der König wahnsinnig ist?«, rief Cabbarus. »Das ist Hochverrat! Ihr seid mehr als nur inkompetent, Ihr seid ein Verräter!«

»Ich bin weder das eine noch das andere«, entgegnete Torrens. »Der König ist nicht verrückt. Er ist krank von Trauer und wie erstarrt in Selbstvorwürfen. Nein, ich bin kein Verräter. Ich bin nur ein Mann, der seine Meinung sagt und sich den Tatsachen stellt.« Er drehte sich zur Königin um. »Verliert nicht die Hoffnung. Seine Majestät vermag sich mit der Zeit doch noch zu erholen. Bis dahin bitte ich Euch dringendst, nicht zuzulassen, dass er Entscheidungen trifft, die er später bereuen würde, wie zum Beispiel die Adoption dieses …«

»Ihr seid zu weit gegangen!«, platzte Cabbarus heraus. »Euer Geschäft ist die Medizin, nicht Staatsangelegenheiten. Der König muss und wird der Führung seiner Minister fol­gen.«

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»Verzeiht mir«, sagte Torrens. »Ich habe Euch einen Narren genannt. Das war voreilig gesprochen. Ihr seid kein Narr. Hätte ich eingehender nachgedacht, ich hätte Euch einen Schurken genannt.« Er verneigte sich vor der Königin. »Stets zu Euren Diensten, Madame.«

Dr. Torrens machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum. Königin Caroline eilte ihm hinterher. Cabbarus wollte ihm ebenfalls folgen und ihm eine vernichtende Antwort tun die Ohren hauen; dann besann er sich jedoch eines Besseren und blieb, wo er war.

Der Oberste Minister besaß die Gabe, Möglichkeiten zu erschnüffeln, ohne sie direkt zu verstehen. Auch früher hatte er auf seinen Instinkt vertraut, wenn nichts vorherzusehen war. Trotzdem war er zum Obersten Minister aufgestiegen. Wenn der geeignete Augenblick kam, würden viele im Thronrat ihn als beste Wahl für einen adoptierten Thron­folger erachten. Was Torrens betraf, so würde er sich schon noch um ihn kümmern. Es gefiel dem Obersten Minister, wie weitsichtig er selbst unter solch verschwommenen Um­ständen sein konnte.

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Sechs

Der dämonische Kutscher brachte sie nach Kessel: hungrig, spät und vollkommen durchnässt. Die Reparaturen vom Morgen hatten nicht den ganzen Tag gehalten; das Rad drohte jeden Augenblick wieder abzufallen, und inzwischen hatte auch ein Frühlingsschauer eingesetzt. Muskete ging jedoch das Risiko ein, die Kutsche samt Passagieren in den Graben zu fahren, und wurde nicht einen Deut langsamer. Er hockte auf dem Kutschbock, pfiff durch die Zähne und grinste wie ein kleinwüchsiger Teufel mit viel zu großem Hut.

In Kessel gab es einen großen Gasthof. Wegen des Sturms sah es jedoch so aus, als hätten alle Reisenden hier ihre Fahrt unterbrochen. Der Gemeinschaftsraum stank nach nassen Kleidern und schlechter Küche. Mit Muskete und Theo im Schlepptau bahnte sich Las Bombas mit den Ellbogen einen Weg in die Kaminecke und rief lauthals nach dem Wirt. In der Abgeschiedenheit der Kutsche hatte der Graf seine Generalsuniform gegen etwas Schwarzes mit weißen Manschetten getauscht.

»Die Zimmer für Mynheer Bloomsa und seine Diener, bitte«, erklärte Las Bombas, als der Wirt schließlich erschien. »Ihr hattet Nachricht erhalten, sie zu reservieren.«

Erschrocken ob des Anblicks eines Dämonenkutschers und eines triefnassen Trebizonianers, protestierte der Wirt, dass er solch eine Nachricht nie erhalten habe. Außerdem sei sein Haus eh schon voll belegt. Theo, der inzwischen seine Überraschung über das abermals neue Aussehen des Grafen verdaut hatte, erwartete, dass Las Bombas den Entrüsteten spielen würde.

Der Gral seufzte jedoch nur. »Das ist wieder mal typisch für die öffentliche Post. Es ist nicht Eure Schuld. Ich habe

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nach Euren feinsten Gemächern verlangt, doch nun werde ich mir anderswo eine Unterkunft suchen müssen.«

Anstatt das jedoch zu tun, ließ Las Bombas seinen Blick über die anderen Reisenden schweifen. Als Theo ihn drängte zu gehen, damit sie sich noch einen anderen Gasthof suchen konnten, winkte er nur ab.

»Geduld, mein Junge. Ich halte nach jemandem Ausschau, den ich angehen kann. Es wäre nett, wenn du mir vorüber­gehend diese Goldmünze leihen könntest.«

Theo reichte ihm die Goldmünze des Hauptmanns, welche Las Bombas rasch in seiner Tasche verschwinden ließ. Inzwischen hatte Las Bombas seine Aufmerksamkeit auf einen Tisch gerichtet, an dem ein untersetzter Mann in pelzbesetztem Mantel saß. Der Graf ging auf ihn zu. Als er an dem Tisch vorüberkam, zog er das Taschentuch so heraus, dass die Goldmünze zu Boden fiel. Er ging weiter, als hätte er es nicht bemerkt.

»Guter Herr, Euer Geld!«, rief der Mann ihm hinterher und hob die Münze auf.

Der Graf drehte sich um und gestaltete dem Reisenden, ihm die Münze in die Hand zu drücken. »Ihr hättet Euch nicht die Mühe machen müssen, Site. Es ist ohne Belang. Nichtsdestotrotz danke ich Euch.«

»Bitte, gestattet …«. Der Fremde richtete seine wässrigen rosafarbenen Augen auf den Grafen, »…bitte, gestattet mir zu bemerken: Gold würde ich nicht gerade als ›ohne Belang‹ bezeichnen. Mein Name ist Skeit, Eldermann und Getrei­dehändler, und ich versichere Euch, Sire, dass man in mei­nem Beruf den Wert des Geldes kennt.«

»Das tue ich auch«, erwiderte Las Bombas und musterte den Eldermann von Kopf bis Fuß, um den Wert seiner Klei­dung und des Goldschmucks abzuschätzen, den er trug. »Für mich beträgt sein Weit genau … nichts.«

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»Mein guter Mynheer …!«, rief der Eldermann. »Bloomsa, war das nicht der Name, den ich gehört habe? Ihr erstaunt mich.«

»Das tue ich ohne Zweifel.« Der Graf strahlte. »Geld, mein lieber Herr, ist nur Metall und unterliegt wie jede andere Substanz den Naturgesetzen der Transmutation. Ich bin ein Mann der Wissenschaft, nicht der Finanzen.« Er senkte die Stimme und trat näher an Skeit heran. »Meine Experimente haben mir die Möglichkeit gegeben, so viel Gold und Silber herzustellen, wie ich will. Daher mögen Münzen für andere Leute ja einen Wert haben, für mich besitzen sie keinen.«

»Aber … aber das ist ja wunderbar! Meine Reise ist äußerst profitabel verlaufen, doch das ist nichts im Vergleich zu einer Begegnung mit solch einer Person von Euren Fähigkeiten. Wartet nur, bis meine gute Frau davon hört, wenn ich nach Hause komme!«

»Da Ihr Euch um meinetwillen die Mühe gemacht habt«, sagte Las Bombas, »bitte, gestattet mir, Euch zum Abend­essen einzuladen, bevor ich gehen muss. Anschließend muss ich mir zu dieser nächtlichen Stunde noch eine Unterkunft besorgen.«

»Das müsst Ihr nicht!«, erwiderte Skeit. »Ich werde Euch zum Abendessen einladen. Schaut Euch nicht weiter um. Ich lade Euch ein, mein Quartier mit mir zu teilen.«

»Wenn es Euch gefällt«, sagte Las Bombas. »Meine Diener können im Stall essen, während sie sich um mein Pferd und die Kutsche kümmern.«

Der Graf gestikulierte hinter seinem Rücken. Muskete zog Theo aus dem Gemeinschaftsraum und scheuchte ihn in den Stall.

»Was sollte das alles?«, fragte Theo, als der Zwerg ihm ein paar Lumpen und ein Bündel Stroh zuwarf, um Friska

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abzureiben. »Er hat doch wieder irgendeine Scharlatanerie im Sinn. Der Mann hat nicht einen ehrenhaften Knochen im Leib.«

Ein kräftiger Tritt schickte Theo ins Stroh: nicht von Friska, sondern von dem Zwerg, der über ihm stand, die Hände in die Hüften gestemmt, und ihn anfunkelte.

»Denk nächstes Mal besser nach«, knurrte Muskete, »bevor du wieder irgendwas über den Grafen sagst.«

»Es ist doch wahr, oder?«, schrie Theo. »Und wenn schon? Ich will nichts Schlechtes über den

Mann hören, der mich gekauft hat. Ja, du hast richtig gehört«, fuhr Muskete fort. »Wie viel er für mich bezahlt oder ob er sie über den Tisch gezogen hat, das weiß ich nicht, und es ist. mir auch egal. Ich war halb so alt wie du. Das war in Napolita. Er hat mich aus der Bettlerfabrik gekauft.«

»Aus der … was?« »Der Bettlerfabrik«, sagte der Zwerg fröhlich. »Ja, in

deinem kleinen, hinterwäldlerischen Nest hast du vermutlich noch nie etwas davon gehört. Aber hast du dich noch nie gefragt, warum es so viele Bettler gibt? Oh, an Armen, Lah­men, Müßiggängern und Blinden herrscht nie Mangel; aber die Hälfte der Nasen- oder Beinlosen oder Buckligen … die sind extra für dieses Geschäft gefertigt worden. Kinder wer­den gekauft oder gestohlen und dann jenseits aller Heilkunst gebrochen, aufgeschlitzt oder in Krüge gestopft, um sie für immer zu verbiegen. Anschließend verkauft man sie dann an einen Herrn, der sich alle Almosen in die Tasche steckt, die man ihnen zuwirft.«

»Das ist ja schrecklich. Das kann nicht wahr sein.« »Das kann es auch nicht«, sagte Muskete, »aber es ist so.

Ich bin so geboren worden; an mir musste man nichts anpassen. Hätte der Graf mich nicht gekauft, wer weiß, wo ich jetzt sein würde. Er mag ja ein Halunke sein, aber

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zumindest ein gutmütiger. Nimm zum Beispiel die Edelleute, die ihre Diener peitschen und ihre Pächter betrügen, oder die Richter, die irgendwelche armen Kerle an den Galgen schicken – die sind so ehrbar, wie der Tag lang ist. Jeder Schuft kann ehrbar sein.«

»Aber der ganze Rest…«, sagte Theo. »Die Salamanca-Ulanen! Der Großcopta! Trebizonia … Ich frage mich, ob er überhaupt weiß, wo das ist. Warum erfindet er solchen Unsinn?«

»Das geht mich nichts an«, sagte Muskete. »Soweit ich weiß, kann er die Welt einfach nicht ausstehen, so wie sie ist. Kannst du?«

Theo antwortete nicht darauf, sondern fuhr fort, Friska abzureiben. Er hatte sich wohler gefühlt, als er Las Bombas noch als typischen Schurken hatte betrachten können.

Der Küchenjunge brachte ihnen etwas zu essen. Da es schon zu spät war, um den Schmied zu wecken, machten Muskete und Theo sich selbst daran, das Wagenrad zu repa­rieren. Diesmal schwor der Zweig, dass seine Arbeit von Dauer sein würde. Kurz nachdem sie damit fertig waren, kam der Graf in den Stall geeilt.

»Meister Skeit befindet sich auf dem Heimweg«, sagte Las Bombas und lächelte wie eine Katze, die einen ganzen Topf voll Sahne leer geschleckt hat. »Aber er wird wieder zurückkommen und nach uns suchen. Wir sollten besser machen, dass wir fortkommen.« Er hielt ein zusammengeknotetes Taschentuch in die Höhe, das fröhlich klimperte, als er es schüttelte.

»Ich habe ein Experiment in elementarer Alchemie durchgeführt. Meine Münzen, so habe ich dem guten Eldermann versichert, seien von bemerkenswerter Qualität. Kommen sie in Kontakt mit anderen, so erklärte ich ihm. würden sie diese so sicher vermehren, wie eine Henne Eier

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legt. Er solle nur sein Geld mit meinem zusammentun und es über Nacht ›brüten‹ lassen. Am Morgen hätte er sein Vermögen dann vervielfacht.

Er war natürlich überaus erfreut. Wir haben das Paket auf den Kaminsims in seiner Kammer gestellt und sind zu Bett gegangen. Es hätte nicht besser laufen können. Ruhelos ist er wieder aufgewacht und wollte mit seinem neu gewonnenen Vermögen nach Hause gehen. Ich habe ihn gewarnt, das Taschentuch nicht vor Morgengrauen zu öffnen, ansonsten wäre das Experiment gescheitert. Aber er wollte nicht war­ten; er ist zu gierig. Wenn er sieht, was er hat, wird er sofort kehrtmachen.

Was ich vergessen habe, ihm zu sagen, ist, dass ich ein zweites Taschentuch mit nichts als Kieselsteinen darin zusammengebunden und gegen das auf dem Kamin ausgetauscht habe.«

»Ihr habt ihn ausgeraubt!«, rief Theo. »Ihr hättet ihm genauso gut eine Pistole an die Schläfe halten können.«

»Unsinn«, erwiderte Las Bombas. »Ich trage keine Pistole. Mein lieber Junge, solange ich Dr. Absalom nicht wieder arbeiten lassen kann, ist dieses Geld das Einzige, was uns essen lässt.«

Kichernd öffnete Las Bombas das Taschentuch. Dann schluckte er und starrte. Sein Gesicht war gesprenkelt. In dem Tuch befand sich nur eine Hand voll Bleischeiben.

»Falschgeld!«, brüllte Las Bombas. »Er hat die Päckchen ausgetauscht! Aber … ich habe das richtige doch keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ich bin ihm nicht von der Seite gewichen, nur einmal, als er fest geschlafen hat und ich unten im Hof gewesen bin, um die Kiesel zusammenzuklauben. Ich war noch nicht einmal eine Minute weg … Diese Schlange! Er hat nur so getan, als würde er

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schlafen! Räuber! Wie konnte er es wagen, sich als Eldermann auszugeben!«

Der Graf rannte zur Stalltür und schüttelte die Faust in den nächtlichen Himmel. »Verbrecher! Dieb!«

Er drehte sich wieder zu Theo um. »Ah, mein armer Junge, daraus kannst du etwas lernen. Trau niemals einem Fremden. Was ist das nur für eine Welt, in der so viele Diebe herumlaufen?«

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Teil zwei Die Orakelpriesterin

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Sieben

Wie Theo langsam lernte, hielt bei Las Bombas die schlechte Laune nie lange an. Als Muskete schließlich Friska ange­schirrt hatte und die Kutsche bereit war loszufahren, war der Sturm der Entrüstung bereits vorüber und der Graf begierig darauf aufzubrechen.

»Unser Geldbeutel ist ausgefranst«, erklärte er Theo, »aber wir werden ihn Stück für Stück wieder flicken.«

Der dämonische Kutscher kaute auf seiner Stummelpfeife und ließ Friska ihr eigenes Tempo finden; langsam rollten sie Richtung Osten. Gegen Nachmittag sahen sie eine Stadt, die der Graf als Born identifizierte. Er befahl Muskete, auf einer freien Parzelle in den Außenbezirken anzuhalten.

»Hier gibt es einen Bach und damit jede Menge Wasser«, sagte Las Bombas und ließ den Blick über das von Unkraut überwucherte Feld schweifen. »Genug für Dr. Absaloms Elixier. Als weitere Attraktion werden wir noch den »Kobold in der Flasche« bieten, denke ich.«

»Nein, das werdet Ihr nicht«, protestierte Muskete. »Davon habe ich die Nase voll.«

»Der Effekt ist einfach wunderbar«, sagte der Graf zu Theo. »Eine Glasflasche mit einem Kopf im Inneren, der jede Frage über die Zukunft beantwortet. Muskete sitzt unter einem Tisch mit einem Loch darin; die Flasche hat einen falschen Boden …«

»Ja, und beim letzten Mal hat so ein Klugscheißer mich eingekorkt. Ich hätte ersticken können. Davon habe ich ein für alle Mal die Nase voll, Ende der Geschichte.« Muskete kniff den Mund zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust.

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Las Bombas zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Auf jeden Fall werden wir das ›Unglückliche Naturkind‹ haben. Das ist Teil der Strategie für Dr. Absaloms Elixier. Du«, fügte er an Theo gewandt fort, »wirst den ungezähmten Wilden aus den Urwäldern Hochbrasils zum Besten geben – du wirst heulen, herumspringen, was auch immer dir einfallen mag. Ein Schluck des Elixiers – du musst es nicht wirklich hinunterschlucken –, und du wirst so ruhig und glücklich wie eine Lerche sein. Du hast einen hervorragenden Trebizonianer abgegeben. Das Unglückliche Naturkind ist das Gleiche, abgesehen von den blauen und gelben Streifen.«

»Ich kann meine Kleider nicht bemalen«, erwiderte Theo. »Sie sind alles, was ich habe.«

»Nicht deine Kleider, dich selbst. Was deine Kleidung betrifft, so wirst du nur wenig brauchen.«

Las Bombas holte ein verbeultes Jagdhorn aus einer Truhe im hinteren Teil der Kutsche und schickte Muskete damit nach Born, um ihre Anwesenheit zu verkünden. Dann kramte er ein paar Farbtöpfe hervor und instruierte Theo, der sich widerwillig bis auf die Unterwäsche entkleidete, in der Kunst, sich in ein ›Unglückliches Naturkind‹ zu verwandeln. Während Theo sich selbst bemalte, füllte Las Bombas eine Reihe von Glasphiolen am Bach mit Wasser und gab gemahlene Kräuter aus seinen Vorräten hinzu. Was sein Kostüm betraf, so legte er eine zerschlissene Robe an, setzte sich eine gepuderte Perücke auf und krönte das Ganze noch mit einer Brille. Schließlich befestigte er vier Stäbe an den Ecken eines Kistendeckels und stellte einen lebensechten Holzkopf auf den improvisierten Tisch.

»Das ist ein phrenologischer Kopf«, erklärte der Graf. »Er zeigt die Lage und den Zustand der Körpersäfte an. Aus irgendeinem Grund finden meine Patienten ihn beruhigend.«

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Muskete kehrte wieder zurück. Er stieß in sein Horn, und eine Schlange von Müßiggängern und Straßenkindern folgte ihm. Las Bombas begann, die Fähigkeiten von Dr. Absaloms Elixier anzupreisen, und Theo vollführte seine Version eines Kriegstanzes aus den Urwäldern von Hochbrasil. Sie sollten nicht lange damit beschäftigt sein.

»Willkommen, liebe Mit-Dummköpfe«, verkündete der phrenologische Kopf.

Las Bombas verstummte mitten im Satz. Theos Kriegsgeschrei erstarb ihm auf den Lippen. Die Stimme war aus dem Holzkopf gekommen.

»Kommt, kommt, nicht so schüchtern«, fuhr der Kopf fort. »Probiert diesen Mist einmal. Seht, was er für mich getan hat. Ich habe mir ein wenig davon aufs Haar geschmiert, und jetzt kann ich ein Vermögen an Barbierrechnungen sparen.«

Die Zuschauer brachen in Lachen aus; für sie waren diese Bemerkungen Teil des Spektakels.

»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr uns nicht unterbrechen würdet«, sagte der Graf, der sich rasch wieder gefangen hatte und nun so tat, als hätte er das erwartet. »Bitte, haltet Eure Zunge im Zaume. Sire … oder Madame, was auch immer Ihr sein mögt.«

Der phrenologische Kopf antwortete mit einem lauten, feuchten und schnarrenden Geräusch und fügte hinzu: »Könnt Ihr in Eurem Alter den Unterschied noch immer nicht erkennen?«

Die Unverschämtheit des Kopfes und die sichtliche Ver­legenheit von Las Bombas ließen die Menge erneut in lautes Lachen ausbrechen. Einige der Zuschauer begannen, Mün­zen auf den Tisch zu werfen. Das ermutigte den Kopf zu fragen, ob der Graf Motten in seiner Perücke habe, welchen Umfang sein Bierbauch besitze, gefolgt von ausführlichen Kommentaren über die Nutzlosigkeit fauler Assistenten. Die

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Zuschauer bellten vor Lachen, und noch mehr Münzen segelten durch die Luft. Als klar war, dass die Zuschauer ihre Taschen geleert hatten, verkündete der phrenologische Kopf, dass er nichts mehr zu sagen habe. Las Bombas hatte nicht eine Flasche Elixier verkauft, aber der Profit war so groß, als wäre er seinen gesamten Vorrat losgeworden.

Nachdem die Zuschauermenge sich aufgelöst hatte, packte der Graf den phrenologischen Kopf, drehte ihn um, schüttelte ihn und klopfte auf das Holz.

»Sprich! Was ist der Trick dabei?« In der Zwischenzeit, war eines der Straßenkinder unter

der Kutsche hervorgeklettert und beobachtete sie. Es dauerte einen Augenblick, bis Theo erkannte, dass es sich bei dieser Ansammlung von Haut und Knochen um ein Mädchen handelte. Sie trug eine zerlumpte Hose, die mit einem Strick an ihrer knochigen Hüfte befestigt war, und darüber ein schmutziges Hemd, das mehr Löcher als Stoff hatte. Sie war langweilig wie ein Straßenspatz und hatte einen Schnabel als Nase in ihrem schmalen Gesicht. Ihre Augen waren blau, doch so blass, als wäre die Farbe darin verhungert.

Theo hatte noch nie so ein Mitleid erregendes Straßen­kind gesehen. Der Graf war jedoch weit weniger gerührt.

»Weg mit dir«, befahl Las Bombas. »Wir führen hier gerade eine wissenschaftliche Untersuchung durch.«

»Gebt ihr etwas. Ihr seht doch, dass sie Hunger hat.« Ohne auf die Einwilligung des Grafen zu warten, nahm Theo eine Münze vom Tisch. Das Straßenkind schnappte sie sich und hielt dann die schmutzige Hand hin.

»Ich will meinen Anteil. Wäre ich nicht gewesen, hättet ihr gar keinen Profit gemacht. Von dem Dreckwasser hättet ihr eh nichts verkauft – nicht an diese Leute.«

»Was sagst du da?«, verlangte der Graf zu wissen. »Hast du diesen Unsinn hier veranstaltet?«

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»Rückt es raus«, mischte sich der phrenologische Kopf ein. »Gebt ihr den Anteil, der ihr gebührt, oder ich werde nie wieder ein Wort sagen.«

Las Bombas schnappte nach Luft. »Mach das noch mal.« »Ihr habt mich schon beim ersten Mal gehört.« Die Stimme kam aus dem Inneren der Kutsche. Er­

schrocken drehte sich Theo um. Las Bombas hatte den Blick jedoch keine Sekunde von den Lippen des Mädchens ab­gewandt. Eingehend und mit ehrlicher Bewunderung be­trachtete er sie von Kopf bis Fuß.

»Auf all meinen Reisen habe ich nur drei Leute getroffen, die diesen Trick besser beherrscht haben. Wer hat dir das beigebracht?«

»Niemand. Ich habe es mir selbst beigebracht, als ich im Heim für Reumütige Mädchen gelebt habe. Die Vorsteherin wollte uns nicht miteinander reden lassen. Also habe ich sie von einem Anfall zum nächsten gejagt. Sie hat nie erfahren, wem sie die Schuld daran geben konnte. Als ich weggelaufen bin, hat sie sich sicher gefreut.«

»Und seitdem hast du allein auf der Straße gelebt?«, fragte Theo bestürzt.

»Eine Zeit lang war Hanno mein Freund. Er war Ein­brecher – der beste. Er hat gesagt, ich könne so gut werden wie er. Er hat mir sein Handwerk beigebracht«, fügte das Mädchen stolz hinzu. »Dann hat man ihn gehängt.«

Der Zwerg war damit fertig, die zu Boden gefallenen Münzen einzusammeln. Das Mädchen musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Hallo, Däumling. Lass mich mal an deiner Pfeife ziehen.«

Der Zwerg grinste und reichte dem Mädchen seine Pfeife. Das Mädchen setzte sich auf den Boden, streckte die Beine aus und, zu Theos noch weit größerer Bestürzung, paffte

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munter vor sich hin. Genüsslich kratzte sie sich die Rippen durch die Löcher in ihrem Hemd.

»Und jetzt«, sagte sie, »wo ist der Rest von meinem Geld?«

Las Bombas antwortete nicht sofort. Seine Augen schie­nen auf eine ferne Vision fixiert zu sein. Er lächelte mit einem Ausdruck purer Gier und unschuldiger Freude auf dem Gesicht.

»Mein Liebe«, sagte er schließlich, »wie auch immer dein Name lauten mag…«

»Man nennt mich Bohnenstange.« »Dann also Bohnenstange. Ich nehme an, dass du im

Augenblick keine Verpflichtungen hast. Daher bitte ich dich: Schließe dich mir und meinen Kollegen an. Die Möglich­keiten sind unendlich. Enorme Summen könnten auf uns warten.«

»Summen?«, sagte Bohnenstange. »Heißt das Geld?« »So viel, wie du dir wünschen kannst – eventuell, heißt

das.« »Abgemacht!«, rief Bohnenstange, spie in den Handteller

und ergriff die Hand des Grafen. Theo konnte nicht länger schweigen.

»Wartet mal eine Minute«, sagte er zu Las Bombas. »Ihr könnt sie nicht einfach so mitnehmen wie eine Straßenkatze. Sie sollte irgendwo sein, wo man sich ordentlich um sie kümmern kann. Das ist dem Mädchen gegenüber nicht fair, und …«

»Er hat mit mir geredet, nicht mit dir«, unterbrach ihn Bohnenstange. »Halt du dich da raus mit deinem ›Es ist dem Mädchen gegenüber nicht fair. Sie sollte irgendwo sein, wo man sich ordentlich um sie kümmern kann.‹«

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Die letzten Worte hatte das Mädchen mit Theos Stimme gesprochen. Auch wenn ihr Tonfall ein klein wenig höher war, so war der Akzent doch der gleiche. Theo fand das ganz und gar nicht schmeichelhaft.

Las Bombas klatschte in die Hände. »Wunderbar! Noch eine Gabe! Wir werden sie gut nutzen können.«

Theo schwieg; egal, was er sagte, es war ohnehin vergebene Liebesmüh. Außerdem war er nicht willens, den Mund zu öffnen, nur damit die eigenen Worte wieder darin zurückgeworfen wurden. Dass das Mädchen ihn nachgeahmt hatte, hatte ihn verletzt. Er ging zum Bach und begann, sich die Farbe vom Leib zu waschen.

Als Theo wieder zurückkehrte, verkündete Las Bombas, dass sie heute nicht mehr weiterfahren würden. Muskete lief nach Born, um Vorräte zu kaufen. Bohnenstange stürzte sich auf das Essen und schlang es hinunter, als würde man es ihr jeden Augenblick wieder wegnehmen; dann wischte sie sich die Hände an der Hose ab und leckte sich zufrieden über die Zähne.

Bei Einbruch der Nacht klappte Las Bombas einen der Kutschensitze auf, verwandelte ihn so in ein Bett und legte sich hin. Muskete rollte sich auf dem Kutschbock zusammen, während Theo sich unter der Kutsche zum Schlafen legte. Bohnestange streckte sich auf dem Gras neben Friska aus.

Der Mond stand noch immer hoch am Himmel, als Theo von einem leisen zitternden Geräusch geweckt wurde – wie von einem kleinen Tier, das Schmerzen leidet. Er lauschte einen Augenblick lang. Das Geräusch kam aus Richtung Friska und des Mädchens. Theo kroch unter der Kutsche hervor und ging vorsichtig zu ihnen. Die Stute schlug mit dem Schwanz und schnaubte leise. Bohnenstange lag auf der Seite, einen Arm unter den Kopf gelegt, den anderen aus­gestreckt. Sie rührte sich nicht, schluchzte aber herzzer­reißend.

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Besorgt kniete Theo sich neben sie. »Was ist los?« Das Mädchen antwortete ihm nicht. Tränen strömten ihr

über die Wangen. Schweigend wartete Theo eine Weile, dann kehrte er wieder zur Kutsche zurück. Das Mädchen hatte sich kein einziges Mal gerührt. Während sie weinte, hatte sie die ganze Zeit tief und fest geschlafen.

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Acht

Als Theo schließlich erwachte, war Las Bombas bereits aufgestanden. Er trug einen bestickten Kaftan und einen roten Fez.

»Ah, endlich bist du wach«, sagte der Graf, während Theo sich steif aufrappelte. »Ich habe große Pläne für uns in petto. Beim Frühstück können wir darüber sprechen. Dr. Absaloms Elixier werde ich wegpacken. Ich schlage vor, dass du die junge Lady weckst. Ich übergebe sie deiner Verantwortung. Deine erste Aufgabe wird sein, dafür zu sorgen, dass sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ein Bad nimmt. Sie ist ein geborenes Genie, aber sie riecht wie ein Fuchs.«

Bohnenstange lag noch immer im Gras ausgestreckt. Zweimal war Theo während der Nacht besorgt zu ihr gegangen. Abgesehen von dem einen Mal, wo sie unter jenem seltsamen Weinzauber gestanden hatte, hatte sie genauso friedlich geschlafen wie jetzt und mit einem leichten Lächeln auf dem blassen Gesicht. Theo wollte sie nicht wirklich wecken, und so stand er ein paar Augenblicke lang einfach nur da, blickte auf das Mädchen hinunter und hatte das Gefühl, als würde er sie in irgendeinem geheimen Teil ihres Lebens belauschen. Schließlich packte er sie jedoch an den Schultern und schüttelte sie sanft.

»Komm. Aufstehen. Es ist Morgen.« »Geh weg«, murmelte das Mädchen. »Ich werde um

Mittag aufstehen.« Theo versuchte es weiter, doch was Bohnenstange

schließlich auf die Beine brachte, war der Geruch der Eier, die Muskete in der Pfanne briet. Während sie ihr Frühstück attackierte, polierte der Graf die Linsen einer Laterne;

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anschließend stellte er sie neben mehrere große, runde Gläser.

»Die Werkzeuge von Ruhm und Reichtum«, sagte der Graf. »Oh, wir werden den ›phrenologischen Kopf‹ spielen; was das betrifft, so habe ich schon einige Ideen. Aber was ich wirklich im Sinn habe, ist weitaus spektakulärer: ›die Undine‹. Das ist eine Meerjungfrau, meine Lieben, halb Mensch, halb Fisch. Ein Fabelwesen aus dem Meer, charmant, verführerisch. Stell es dir einmal vor, Bohnenstange. Eine schwach beleuchtete Kammer – dafür werden wir die Laterne benutzen. Die Undine scheint mitten in der Luft zu schweben – ich habe mir schon ein entsprechendes Arrangement für diese Spiegel hier ausgedacht. Das wunderschöne Kind der See spricht. Es weiß alles. Die Meerjungfrau enthüllt die Mysterien der Zukunft – natürlich nur für ein gutes Entgelt. Als Kostüm braucht sie nur einen Fischschwanz. So etwas kann jede Näherin machen.«

Der Graf strahlte. »Das ist mein Plan. Einfach, elegant und billig. Was sagst du dazu?«

Bohnenstange zuckte mit den Schultern. »Es ist einfacher, als in Häuser einzubrechen.«

»Wenn Ihr mich fragt«, sagte Theo, »ich halte es für Unsinn.«

»Mein lieber Junge!« Las Bombas blickte ihn verletzt an. »Wie kannst du sagen …?«

»Seht sie Euch doch nur einmal an«, fuhr Theo fort. »Wer wird schon dafür bezahlen, sich einen dürren kleinen Straßenvogel anzusehen, der als Meerjungfrau verkleidet ist?« Das war seine ehrliche, aber alles andere als vollständige Meinung. Aus irgendeinem Grund bereitete ihm die Vorstellung Magenschmerzen, dass Bohnenstange begafft werden würde.

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Las Bombas straffte in verletztem Stolz die Schultern. »Ohne Zweifel hast du einen besseren Vorschlag.«

»Ja, nun … tatsächlich habe ich einen«, erklärte Theo. Nachdem er diese Behauptung aufgestellt hatte, fragte er sich, wie er sie rechtfertigen sollte. Er hielt kurz inne, suchte schnell nach einer Idee und fuhr dann fort: »Habt Ihr mir nicht etwas von Geisterbeschwörung erzählt?«

»Die Geister erwiesen sich als widerwillig«, gab der Graf zu. »Mit anderen Worten: Ich habe es nicht durchziehen können.«

»Jetzt könnt Ihr es aber. Befestigt diese Arme und Beine am phrenologischen Kopf. Steckt das Mädchen in ein schwarzes Gewand mit Kapuze und stellt einen Tisch mit nur einer Kerze vor sie. Der Geist erscheint mitten in der Luft – Muskete und ich können ihn an Fäden bewegen – und scheint zu sprechen. Ihr wisst, wie gut sie darin ist.«

Einen langen Augenblick lang schwieg der Graf. Sein Gesicht leuchtete, sein Schnurrbart zitterte, und schließlich flüsterte er mit Ehrfurcht in der Stimme: »Die Orakelpriesterin. Ich sehe es ganz deutlich. Wunderbar!«

»Wir haben Farbe und Pinsel«, sagte Theo. »Ich könnte ein Schild für diese Attraktion entwerfen.«

Las Bombas lächelte Theo bewundernd an. »Mein Junge, ich bin stolz auf dich. Du besitzt den Geist eines erstklassigen Scharlatans.«

Sofort holte der Graf ein Stück Pappe aus seiner Samm­lung von allem Möglichen und befahl Theo, sich augen­blicklich ans Werk zu machen.

Theo suchte sich die Malutensilien zusammen, ließ sich ein Stück von den anderen entfernt auf dem Boden nieder und begann, die Buchstaben zu malen; jetzt bereute er, dass Anton ihm das alles beigebracht hatte. Eigentlich hatte er Las Bombas nur davon abhalten wollen, aus dem Mädchen

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ein Spektakel zu machen, doch stattdessen hatte er den Gra­fen auf eine ebenso zwielichtige Idee gebracht. Er fragte sich, ob er wirklich das Herz eines Scharlatans besaß. Dass er ein Mörder sein konnte, wusste er bereits.

Bohnenstange umkreiste ihn und kam dabei immer näher, bis sie ihm über die Schulter schauen konnte. »Was steht da?«

Obwohl er sich selbst in diese Lage gebracht hatte, war Theo im Augenblick auf jeden schlecht zu sprechen, beson­ders auf das Mädchen. »Das ist doch wohl offensichtlich, oder?«

Bohnenstange schüttelte den Kopf. »Ich kenne keine Buchstaben.«

»Du kannst nicht schreiben?« Theo legte den Pinsel bei­seite. »Noch nicht einmal lesen?«

»Ich wollte es lernen, aber niemand hat es mich gelehrt. Hanno hat gesagt, für einen Einbrecher sei das Zeitver­schwendung. Im Heim haben sie uns nur Bußübungen und Haferbrei gegeben. Also habe ich es nie gelernt.«

»Haben deine Eltern dir nichts beigebracht?« »Das konnten sie nicht.« »Sie konnten auch nicht lesen und schreiben?« »Ich weiß es nicht. Sie waren tot. Ich kann mich noch

nicht einmal mehr an sie erinnern. Ich habe bei meinem Großvater gelebt, bis auch der gestorben ist. Jetzt werde ich es niemals lernen.«

»Doch, das wirst du.« Theo vergaß, dass er eigentlich hätte wütend sein müssen. »Es ist leicht. Ich kann es dir zeigen. Jetzt. Willst du?«

Bohnenstange nickte. Theo legte das Schild beiseite und nahm sich ein Blatt Papier. Bohnenstange hockte sich mit großen Augen neben ihn.

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»Wir weiden mit Blockbuchstaben anfangen.« Theo führte den Pinsel. »Schau her. Das ist der erste: ein A.«

»Davon habe ich gehört, und so sieht er also aus, hm?« »Merk dir: A stellt für Apfel.« »Was?«, schrie Bohnenstange. »Ich kenne Apfel. Das ist

keiner.« »Es geht nur um den Klang«, sagte Theo. »Also gut.

Sagen wir … A steht für Astspitze.« »Das ist schon besser. Ja, das sehe ich.« »Dann kommt das B. Das ist ein Boot mit Wind in den

Segeln, jetzt das C,…« »Wie lange geht das so weiter?«, protestierte

Bohnenstange. »Zeig mir einfach nur die Besten.« »Du wirst wohl oder übel alle sechsundzwanzig lernen

müssen.« Das Mädchen stieß einen leisen Pfiff aus. »So viele? Aber

ich muss sie doch nicht alle gleichzeitig benutzen, oder?« »Natürlich nicht. Aber wenn du ein Wort schreiben willst,

musst du es Buchstabe für Buchstabe tun.« »Das geht dann aber langsam. Ich kenne eine schnellere

Methode.« Bohnenstange machte kleine, schnelle Gesten mit den Fingern. »So haben mein Großvater und ich miteinander gesprochen. Er war stumm und taub, musst du wissen. Nachdem ich weggelaufen bin, habe ich es noch verfeinert. Dann, als man mich geschnappt und ins Heim gesteckt hat, habe ich es den anderen Mädchen beigebracht. Die Vorsteherin hat gar nicht bemerkt, wenn wir uns unterhalten haben. Sie glaubte, wir würden nur herumzappeln. Später, mit Hanno, haben wir uns alle möglichen Arten von Zeichen ausgedacht. Einfach nur den Fingerknöchel zu heben – so – bedeutete: ›Pass auf; da

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kommt jemand.‹ Für Einbrecher ist es äußerst hilfreich, sich geräuschlos verständigen zu können.«

»Wirst du es mir beibringen?« »Warum? Willst du Einbrecher werden?« »Es gefällt mir einfach, Dinge zu lernen; das ist alles.

Komm schon. Lass uns einen Handel abschließen: Du bringst mir deine Sprache bei, und ich werde dich nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen lehren.«

«Also gut«, sagte Bohnenstange. »Aber keine Schinderei. Zeig mir alle sechsundzwanzig, und auch alle Zahlen.«

Die Farbe begann schon auszutrocknen. Nachdem er Bohnenstange versprochen hatte, so schnell wie möglich mit den Lektionen zu beginnen, wandte Theo sich wieder seiner Arbeit zu. Bohnenstange blieb neben ihm stehen und schaute aufmerksam zu.

Nach einiger Zeit drehte Theo sich zu ihr um und fragte leise: »Geht es dir jetzt wieder gut?«

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Vergangene Nacht hast du geweint.« »Das habe ich nicht! Ich habe in meinem ganzen Leben

noch nicht geweint. Nicht als mein Großvater gestorben ist, nicht als die Vorsteherin mich geschlagen hat und noch nicht einmal, als man Hanno…«

»Ich habe dich gehört«, unterbrach Theo sie. »Ich habe dich gesehen. Du musst einen bösen Traum gehabt haben.«

Das Mädchen zog sich zurück und sprang auf. Sie antwortete nicht, sondern lief einfach zur Kutsche. Theo rief ihr hinterher. Sie beachtete ihn nicht. Las Bombas drängte ihn, rasch fertig zu werden, damit sie sich wieder auf den Weg machen konnten. Theos Hand zitterte, und er vermurkste einen Buchstaben.

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Neun

Cabbarus war glücklich. Bei der Erfüllung seiner Pflichten ging er mit gesenktem Kopf und heruntergezogenen Mund­winkeln durch die Gänge des Juliana. Nach dem Kollaps Seiner Majestät hatte der Oberste Minister ein paar beun­ruhigende Augenblicke ertragen müssen. Allein schon die Aussicht, Cabbarus als Sohn zu adoptieren, hatte bei Augustin einen Anfall heraufbeschworen. Ein gesunder Augustin hätte dieses Ansinnen vermutlich rundheraus abgelehnt. Andererseits brauchte der König ihn mehr denn je, und er weigerte sich, irgendeinen seiner anderen Ratgeber zu sehen. Und so war Cabbarus glücklich. Aus Prinzip zeigte er sich nach außen hin jedoch stets feierlich ernst. Pankratz allein verstand, dass das verdrießliche Gesicht und die aggressive Düsterkeit seines Herrn darauf hindeutete, dass Cabbarus allerbester Laune war.

Die gewünschte Entwicklung war recht einfach herbeigeführt worden. Dr. Torrens hatte sich geweigert, den König zur Ader zu lassen, ihm Blasen treibenden Brei aufzutragen oder ihm Tränke zu verabreichen. Zum Entsetzen des Obersten Ministers hatte Augustin anschließend einen Teil seiner Gesundheit zurückgewonnen.

Wie Torrens eingestand, bezog sich das jedoch nur auf die körperliche Gesundheit des Königs. Augustin verwendete seine neue Energie, um seiner alten Obsession zu folgen, und Cabbarus hegte nicht die geringste Absicht, ihn davon abzubringen. Stattdessen warnte er ihn vor Enttäuschungen und versorgte ihn mit immer neuen Okkultisten und Spiritualisten, jeder mit einer anderen Methode ausgestattet, die Geister der Verstorbenen herbeizurufen. Eines jedoch hatten sie alle gemeinsam: Sie versagten, und jede Enttäuschung forderte ihren Tribut von

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Augustins Gesundheit und machte die größten Bemühungen des Hofarztes zunichte.

Dr. Torrens war außer sich vor Wut. Er flehte den König an, seine zerstörerische, sinnlose Suche aufzugeben. Cabbarus schlug sich natürlich auf die Seite des Königs. Indem er den Wünschen des Monarchen gedient hatte, was nichts anderes als seine heilige Pflicht war, hatte Cabbarus dafür gesorgt, dass Seine Majestät und der Hofarzt sich in den Haaren lagen; eine Situation, die Tag für Tag schlimmer wurde.

Schließlich brach der Sturm früher aus, als Cabbarus ge­hofft hatte. Er folgte einer Audienz, die dem letzten Xekromanten gewährt worden war, einem haarlosen kleinen Mann mit getönter Brille: ein Hochstapler, der jedoch tatsächlich an seine nichtvorhandene Gabe glaubte und ehrlich bestürzt war, dass er in Wahrheit nicht einen einzigen Geist herbeibeschwören konnte. Blass und zitternd war der König auf seinem Stuhl zurückgesunken. Cabbarus war sofort aufgesprungen, um den Patienten vor seinem Arzt zu verteidigen.

»Ihr habt hier nichts verloren«, erklärte Cabbarus und hielt den wütenden Torrens auf Abstand. »Seine Majestät leidet.«

Torrens wandte sich offen an Augustin. »Sire, ich habe Euch vor den Konsequenzen gewarnt, wenn Ihr Euch mit diesen Scharlatanen einlasst. Als Euer Arzt muss ich darauf bestehen …«

»Ihr werdet auf gar nichts bestehen«, fiel ihm Cabbarus ins Wort. »Die zarten Gefühle eines seines Kindes beraubten Vaters, eines königlichen Vaters, fallen nicht in Euren Kompetenzbereich.«

»Trauer ist nicht das Privileg der Könige«, sagte Torrens und ignorierte den Obersten Minister. »Wir alle haben das

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Recht dazu. Aber genug ist genug. Euer Majestät haben Fort­schritte gemacht. Ich werde nicht zusehen, wie diese Quacksalber meine Arbeit zunichte machen.«

»Wenn Eure Arbeit so leicht zunichte gemacht werden kann«, sagte Cabbarus, »dann fruchten Eure Methoden ohnehin nicht, mein Herr Doktor. Seine Majestät ist aus einem einfachen Grund enttäuscht worden: Die Anreize waren nicht groß genug, um jene mit den größten Fähig­keiten anzuziehen. Wir sind übereingekommen – das ist doch korrekt, Euer Majestät, nicht wahr? –, eine sehr viel stattlichere Summe anzubieten. Die Person, die es Seiner Majestät ermöglicht, mit der verstorbenen Prinzessin zu kommunizieren, kann sich der größten Belohnung sicher sein.«

»Nennt es nicht Anreiz, nennt es Köder«, erwiderte Tor­rens. »Jeder Schurke im Königreich wird versuchen, sich den Preis zu verdienen. Je größer die Summe, desto größer der Schuft – wie Ihr, mein lieber Oberster Minister, besser wisst als jeder andere. Sire, habt Ihr dem zugestimmt?«

König Augustins Lippen bewegten sich, doch die Worte waren zu leise, als dass man sie hätte verstehen können.

»Seine Majestät sagt, dass er voll und ganz zustimmt«, erklärte Cabbarus. »Er wünscht, nicht länger mit Euch zu sprechen.«

Dr. Torrens war im Juliana nicht bekannt dafür, irgendjemandem die Schärfe seiner Zunge zu ersparen, doch diesmal sagte er mit ungewohnter Sanftheit: »Euer Majestät, niemand von uns weiß, was sich jenseits des Grabes verbirgt. Ich kann Euch nur Folgendes sagen: Der Tod ist mir sehr vertraut. Ich habe mehr davon gesehen, als ich mir je gewünscht habe. Krankheit, Unfall … die Formen sind unterschiedlich, das Ergebnis immer gleich. Was uns danach erwartet, bleibt ein Mysterium. Der Tod ist eine Tatsache. Verzeiht mir. Sire, falls ich Euch verletzen sollte, aber die

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Prinzessin ist tot. Solange Ihr diese einfache Tatsache nicht akzeptiert, werdet Ihr jeder falschen Hoffnung zum Opfer fallen.«

Augustin verzog gequält das Gesicht. »Nein! Sie wird zurückkehren!«

»Euer Majestät, Ich muss Euch die weitere Förderung dieser nutzlosen Scharlatanerie verbieten, und…«

»Ihr werdet gar nichts verbieten!«, schrie Cabbarus. »Wollt Ihr es etwa wagen, Euch zwischen einen Vater und seine Tochter zu stellen?«

»Ja!«, warf Torrens zurück. »Ja! Bei Gott, Cabbarus, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dieser Torheit ein Ende zu bereiten!«

»Euer Majestät, hört Ihr diesen Kerl?« Schockiert und entsetzt zuckte Cabbarus zurück. »Endlich spricht er die Wahrheit! Er gibt es zu. Er arbeitet gegen Euch. Ein treuer Untertan würde danach streben, Euch mit der Prinzessin wieder zu vereinen, egal für wie kurze Zeit auch immer. Was sollen wir nun von jenen halten, die das Gegenteil wünschen?«

Vorwurfsvoll richtete Cabbarus den Finger auf den Hof­arzt. »Ihr seid zu weit gegangen. Ihr seid aus dem Dienst Seiner Majestät entlassen. Ihr werdet aus dem Königreich verbannt. Solltet Ihr zurückkehren, erwartet Euch der Tod. Seid dankbar, dass Eure Bestrafung so milde ausfällt.«

»Das sind Eure Worte, nicht die des Königs. Ihr habt Euer Bestes getan, eine Puppe aus ihm zu machen, und das ist Euch nur allzu gut gelungen.« Der Hofarzt war ein kräftiger Mann mit den Armen und Schultern eines Bauern. Er stieß Cabbarus beiseite und ließ sich vor dem König auf ein Knie nieder.

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»Ich flehe Euch an, Sire, hört auf mich. Ohne Grund ris­kiert Ihr Euer Leben und Euren Verstand. Dieser Schurke legt Euch Worte in den Mund. Sprecht für Euch selbst.«

Augustins Lippen zitterten, doch die Worte waren klar und deutlich: »Wir verbannen Euch. Setzt erneut einen Fuß in unser Königreich, und Euer Leben ist verwirkt. Das ist der königliche Wille.«

Torrens wich zurück, als hätte der König ihn geschlagen. Cabbarus verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich

würde sagen, Euch ist geantwortet worden, Dr. Torrens.« Der Oberste Minister hatte schon vor langer Zeit erkannt,

dass es für jeden Hals eine Schlinge gab. Der Hofarzt hatte die seine ohne viel Hilfe gefunden. Es war leichter gewesen, als Cabbarus erwartet hatte.

In seinen Gemächern legte Dr. Torrens letzte Hand an die paar medizinischen Instrumente und persönlichen Gegen­stände, die er mitzunehmen gedachte. Als er hörte, wie die Tür sich öffnete, drehte er sich um. Es war Königin Caroline.

Wenn der Hofarzt überrascht war, sie in seinem Quartier zu sehen, so besorgte es ihn doch mehr, sie so niederge­schlagen zu sehen. Es war nicht die Art der Königin, ihre Gefühle nach außen zu zeigen, doch nur mit äußerster Willenskraft konnte sie ihre Hände vom Zittern abhalten. Dr. Torrens verneigte sich und lächelte schief als Entschul­digung für die unaufgeräumte Kammer.

»Wie Ihr seht, Madame, bin ich gezwungen, mich mit den Unannehmlichkeiten eines übereilten Aufbruchs auseinan­der zu setzen. Der Oberste Minister hat den Befehl für meine Hinrichtung aufgesetzt. Er hat schon die Befriedigung, mich verbannt zu sehen; ich will ihm nicht auch noch das Ver­gnügen bereiten, mich aufzuhängen.«

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»Ich hatte schon befürchtet. Ihr hättet den Palast bereits verlassen«, sagte Königin Caroline. »Das ist verabscheuungswürdig. Selbst einem gewöhnlichen Verbrecher räumt man mehr Zeit ein, seine Angelegenheiten zu regeln.«

Torrens lachte. »Für Cabbarus bin ich ein äußerst ungewöhnlicher Verbrecher. Ich habe Seiner Majestät die Wahrheit gesagt. Wie auch immer, ich wäre ohnehin nicht aufgebrochen, ohne mich vorher von Euch zu verabschieden und Euch meine Sicht der Dinge zu erklären. Cabbarus wird seine eigene Version ohne Zweifel rasch verbreiten.«

»Das hat er schon, und natürlich habe ich ihm nicht geglaubt. Ich bin sofort zum König gegangen. Er hat sich geweigert, mich zu empfangen. Ich konnte Euch nicht helfen. So verliert Seine Majestät seinen größten Freund.«

»Nicht ganz.« »Wie das? Die meisten Minister tun, was Cabbarus ihnen

befiehlt; der Rest hält den Mund. Wenn Ihr geht, geht des Königs Stärke mit Euch. Cabbarus hat seine Karten klug ausgespielt.«

»Ein Halunke ist nicht klüger als ein ehrlicher Mann; er arbeitet nur härter dafür. Und Cabbarus hat nicht den ganzen Einsatz gewonnen.«

Die Königin blickte ihn fragend an. Dr. Torrens fuhr fort: »Mein Gepäck wird bald zum

Hafen gebracht werden. Ich habe Erkundigungen einziehen lassen, welche Schiffe bereit sind, die Segel zu setzen; je weiter weg das Ziel, desto besser.«

»Müsst Ihr wirklich so weit weggehen? Es gibt doch näher gelegene Königreiche, wo Ihr sicher wärt.«

»Ich habe von meinem Gepäck gesprochen, nicht von mir. Ich beabsichtige überhaupt nicht, Westmark zu verlassen. Ich werde versuchen. Euch so oft wie möglich Nachrichten

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zu schicken. Es wird vielleicht nicht immer möglich sein. Wenn Ihr nichts von mir hört, nehmt das Beste an. Oder das Schlimmste. Wie auch immer, verliert nicht den Mut. Ihr und Seine Majestät besitzt noch eine weitere Quelle der Stärke. Ich werde sie suchen und alles tun, um sie zu kräftigen. Mit der Zeit wird sie sich vielleicht sogar als die stärkste erweisen. Ich spreche vom Volk von Westmark, Madame.«

»Von unseren Untertanen? Aber wie …?« »Ich habe ›Volk‹ gesagt, Madame. Nur kraft Zuneigung

und Loyalität sind sie Eure Untertanen. Es sind freie Men­schen. Ich glaube, die meisten verstehen, dass Cabbarus, nicht die Monarchie, die Schuld für die Ungerechtigkeiten trägt, die Bestrafungen, tatsächlich für den ganzen erbärm­lichen Zustand des Königreiches. Ich hoffe, jene zu finden, die sich an Eurer Seile gegen ihn stellen werden.«

»Da erwartet Ihr viel vom einfachen Volk«, sagte die Königin.

»Das tue ich«, erwiderte Torrens. Er lächelte. »Schließlich gehöre ich ja selbst dazu.«

Es war kurz vor Mitternacht, als Dr. Torrens mit seinen Vorbereitungen fertig war und der gemietete Wagen eintraf, der sein Gepäck in den Hafen bringen sollte. Er selbst fuhr in einer offenen Kutsche voraus, an der sämtliche Lampen brannten, und laut erklärte er, dass er zum Hafen gefahren werden wolle. Er hatte nur eine kleine Tasche bei sich; seine anderen Besitztümer hatte er aufgegeben.

Am Kai betrat er eine Seefahrertaverne, über die er zuvor Erkundigungen eingezogen hatte. Dort traf er sich mit dem Kapitän eines bald auslaufenden Kauffahrers und verein­barte mit ihm eine Passage. Offen bezahlte er in Gold und bat den Kapitän, dass man sein Gepäck augenblicklich an Bord bringen solle. Dann erkundigte er sich nach den Ge­

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zeiten, der Stunde für den Aufbruch und der Dauer der Reise. Schließlich verlangte er noch, dass man ihm eine komfortable Kabine zuweisen solle. Dass er auch die Absicht hatte, sie zu benutzen, davon sagte er kein Wort.

Nachdem dieses Geschäft in Hörweite aller Anwesenden abgeschlossen war, setzte sich Dr. Torrens an einen Tisch und rief nach einer Flasche Wein. Er hatte kaum ein Glas getrunken, als er dem Wirt erklärte, er würde gleich wieder zurück sein; bis dahin solle man ein Auge auf die Flasche haben, denn bei seiner Rückkehr wolle er sich ihr wieder widmen.

Dr. Torrens verließ die Taverne und ging strammen Schrittes die Docks entlang. Inzwischen halte er den Spion erkannt, von dem er wusste, dass Cabbarus ihn hinter ihm hergeschickt hatte: Es war ein Seemann in Leinenhose und dreckigem Jackett. Der Kerl war genauso schlicht gekleidet wie jeder andere Seemann auch; allerdings war er der Einzige im Schankraum gewesen, der weder Dreck noch Teer unter den Fingernägeln hatte.

Der Plan des Doktors war nicht, die Augen von Cabbarus' Agenten zu meiden, sondern, im Gegenteil, sicherzustellen, dass der Mann ihn sah. Natürlich würde der Kerl ihn nicht aus den Augen lassen, solange er nicht an Bord des Schiffes war. Kurz bevor Torrens den Fuß auf die Laufplanke setzte, würde er so tun, als fiele ihm plötzlich ein, dass er die Flasche im Gasthof vergessen hatte. Dann würde er umdrehen, zurückgehen und sich dann plötzlich in den Gassen verirren. Mit etwas Glück würde er schon einen Vorsprung haben, bevor sein Verfolger merkte, dass er verschwunden war. Schon im Voraus suchte sich Torrens eine entsprechend schlecht beleuchtete Gasse aus.

Der Seemann folgte ihm zu dicht. Falls er tatsächlich glaubte, unbemerkt zu bleiben, war der Mann schlicht un­fähig. Es kostete Torrens wirklich Mühe, so zu tun, als

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würde er ihn nicht sehen. Der Mann war ihm dicht auf den Fersen. Torrens blieb stehen; er glaubte, keine andere Möglichkeit mehr zu haben, als sich dem Mann zu stellen. Der Mann hielt ein Messer in der Hand. Zu spät erkannte Torrens, dass er einen Fehler begangen hatte, der ihm in seiner langen Zeit als Arzt noch nie unterlaufen war: Er hatte das Offensichtliche übersehen. Er hatte einen Spion erwartet. Mit einem Meuchelmörder hatte er nicht gerechnet.

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Zehn

Sie erreichten Felden gegen Mitte des Nachmittags. Las Bombas kam zu dem Schluss, dass die Stadt hervorragend für ihre Zwecke geeignet war.

»Sie ist groß genug«, erklärte er, als sie auf dem Marktplatz anhielten, »um ein gehobenes Bürgertum mit Geld in der Tasche zu besitzen, und klein genug, dass sie nicht allzu kritisch sein werden. Ein perfekter Ort für die Orakelpriesterin, um ihr Geschäft zu lernen. Dann heißt es, auf zu weiterem größeren Ruhm und Reichtum.«

Las Bombas hatte sich eine Reihe von königlichen Orden an die Brust geheftet, die zwar unidentifizierbar waren, aber ohne Zweifel nobel aussahen. So herausgeputzt stolzierte er in den größten Gasthof und verlangte die beste Suite möblierter Zimmer. Der Wirt war viel zu geblendet und geschmeichelt, als dass er die Frage nach Vorauszahlung aufgebracht hätte, und so beeilte er sich, dem Grafen die elegantesten Zimmer zu zeigen, die er zu bieten hatte. Die Zimmer, welche sich im ersten Stock befanden, waren von einem Tanzmeister bewohnt gewesen. Der Hauptsalon, geräumig und mit hoher Decke, gefiel Las Bombas auf Anhieb. Er mietete die Suite auf der Stelle.

Nachdem sie dafür gesorgt hatten, dass auch Friska bequem untergebracht war, gingen der Graf und Muskete in die Stadt, um sich ein wenig umzusehen und ihr Schild auf­zustellen, wo es am meisten Aufmerksamkeit erregen würde. Theo packte die Ausrüstung des Grafen aus und war dann sich selbst überlassen. Er hatte noch nie einen Fuß in solch ein luxuriöses Quartier gesetzt, ebenso wenig wie Bohnenstange, dessen war er sicher. Dennoch warf das Mädchen nur einen kurzen Blick auf die Verzierungen und

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verkündete, dass Hanno hier nur wenig gefunden hätte, was des Stehlens wert gewesen wäre.

Als wäre die Angelegenheit damit erledigt, verlor sie das Interesse an der Erkundung und warf sich aufs Sofa. Sie streckte die Beine aus und legte die Füße auf den Tisch. Bevor sie Felden betreten hatten, hatte Theo das Mädchen davon überzeugt, sich wenigstens ›symbolisch‹ an einem Bach zu waschen. Las Bombas hatte ihr das trebizonianische Kostüm gegeben, das ihr kaum besser passte, als es Theo gepasst hatte.

Seit ihrem Aufbruch aus Born hatte das Mädchen kaum mit ihm gesprochen. Warum er das als schmerzvoll und ärgerlich zugleich empfand, wusste Theo nicht. Um sich die Zeit zu vertreiben, kramte er im Zeug des Grafen herum und fand leeres Papier und einen Holzkohlestift. Dann ging er zum Fenster und überlegte sich, zum Vergnügen den Marktplatz zu zeichnen. Seine Aufmerksamkeit wanderte hierhin und dorthin; doch immer wieder ging sein Blick zu Bohnenstange zurück. Er hatte das Zeichnen zwar genauso leicht gelernt wie das Schreiben, doch je genauer er Bohnenstange betrachtete, desto schwieriger wurde es. Er zerriss das Blatt Papier und begann von neuem.

Bohnenstange machte auch diesen zweiten Versuch zu­nichte, indem sie plötzlich aufsprang. Was auch immer sie dazu bewegt haben mochte, Theo zu ignorieren, ihre Neu­gier hatte die Oberhand gewonnen.

»Soll ich das sein?« Sie blickte Theo über die Schulter und schnitt eine Grimasse.

»Das sollst du schon sein. Du bist es aber nicht.« Theo spürte, wie er errötete, konnte aber nichts dagegen tun. »Ich kann dich nicht hübsch machen …«

Bohnenstange schüttelte den Kopf. »Darum habe ich dich auch nicht gebeten.«

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»Nein, es ist mehr als das. In der einen Minute siehst du wie ein verängstigter kleiner Vogel aus, und in der nächsten, als könntest du dich Cabbarus persönlich entgegenstellen. Du sagst, du hättest nicht geweint, als man deinen Freund gehängt hat, aber du weinst im Schlaf und erinnerst dich nicht daran. Manchmal siehst du so aus, als würde Butter nicht in deinem Mund schmelzen; dann wieder fluchst du wie ein Dragoner und rauchst wie ein Kamin … Der Graf hat dich ein Genie genannt, und du kannst weder lesen noch schreiben. Ich kann das alles nicht auf Papier bannen. Ich weiß nicht, was du bist.«

»Das ist schon gut so.« Bohnenstange grinste endlich wieder. »Ich weiß auch nicht, was du bist. Der Graf ist ein Halunke, das ist so klar wie Kloßbrühe. Däumling ist ein guter Kerl. Aber ich verstehe nicht, wie du bei ihnen landen konntest.«

Theo zögerte. Plötzlich verspürte er den Drang, dem Mädchen zu erzählen, was ihm widerfahren war, und gleichzeitig den Unwillen, überhaupt irgendetwas zuzugeben. Bevor er sich entscheiden konnte, was er tun sollte, wuchtete der Laufbursche des Lebensmittelhändlers einen großen Korb mit Essen herein. Kurz darauf erschien der Weinhändler mit einem Arm voll Flaschen, und schließlich kam Las Bombas selbst an der Spitze einer Prozession von Schneidern, Barbieren und Zimmerleuten.

Bevor er begriff, was hier vor sich ging, wurden Theo Stoffbahnen über die Schulter geworfen; er wurde vermessen, mit Kreide und Nadeln markiert und bekam Westen, Jacketts und Hosen angepasst. Bohnenstange war in Wolken von Spitze und Bergen von Satin verschwunden. Von Muskete sah Theo gar nichts mehr. Nur das Bellen des Zwerges war deutlich zu hören, als er den Zimmerleuten Befehle gab.

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»Wie habt Ihr all das zustande gebracht?«, fragte der erstaunte Theo Las Bombas, der sich in die Hände zweier Barbiere gegeben haue, die ihn versuchten zu rasieren und zu pudern. »Wie habt Ihr das bezahlen können?«

»Kraft eines Wunders, mein Junge.« Der Graf strahlte. »Das Wunder des Kredits. Je mehr wir diesen Leuten schul­den, desto besser werden sie sich tun uns kümmern.«

Bei Einbruch der Nacht, als die Zimmerleute aufgehört hatten, eine Plattform und ein Holzgestell am Ende des Salons aufzubauen, erschienen der Wirt und seine Frau mit einem üppigen Abendmahl. Las Bombas legte nach jedem Gang eine Pause ein, um einen Toast auf ihr Glück auszu­bringen, auf die Gegenwart und auf die Zukunft. Voll gefres­sen und erschöpft war Theo froh, schließlich in sein eigenes luxuriöses Bett in seinem eigenen Zimmer kriechen zu kön­nen. Bohnenstange war am Tisch geblieben und sorgte dafür, dass nichts auf den Tellern blieb.

Zu müde, um selbst das Federkissen und die Matratze zu genießen, ließ sich Theo wie ein Stein aufs Bett fallen. Er hatte geschlafen – er wusste nicht, wie lange -, als ein Schrei ihn plötzlich aus dem Schlummer riss.

Er setzte sich auf. In seinem Kopf drehte sich alles. Sein Körper antwortete, bevor er seine Gedanken sammeln konnte. Als er schließlich begriff, dass das Geräusch aus Bohnenstanges Zimmer gekommen war, war er bereits auf den Beinen und stürzte durch die Verbindungstür.

Auf dem Nachttisch flackerte eine Kerze. Bohnenstange kauerte inmitten ihres Bettzeugs. Ihr Gesicht war leichenblass, schweißüberströmt, und ihre Augen groß, weit aufgerissen und leer; nur Entsetzen war darin zu sehen. Theo war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt erkannte. Er rannte zu ihr.

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Bohnenstange schlang die Arme um seinen Hals. Er wiegte sie vor und zurück wie ein kleines Kind und strei­chelte ihr verfilztes Haar. Ihre Wangen und ihre Stirn waren eiskalt.

»Es ist nichts. Nichts«, sagte er. »Du hattest nur wieder einen bösen Traum. Es ist vorbei.«

»Ich bin ertrunken. Wasser war über meinem Kopf. Ich bin immer tiefer gesunken. Ich konnte nicht mehr atmen.«

Theo bemerkte erst jetzt, dass Las Bombas und Muskete hinter ihm standen. Der Graf, die Nachtmütze schief auf dem Kopf, befahl dem Zwerg, ein Glas Wein zu holen, dann blickte er das Mädchen besorgt an.

»Es wird dir gleich wieder besser gehen. Ein Albtraum, hm? Du hast zu viel gegessen. Da darf man sich nicht wundern.« Er setzte sich neben sie, lachte gutmütig, warf Theo aber einen sorgenvollen Blick zu. »Du bist ertrunken, sagst du? In diesem Fall bist du vollkommen in Sicherheit. Meines Wissens nach ist noch niemand in einem Bett er­trunken.«

Bohnenstange nippte an dem Wein, den Muskete ihr gebracht hatte. Sie schniefte und wischte sich mit dem Hand­rücken die Nase. Ihre Wangen hatten wieder ein wenig Farbe bekommen. Schließlich lächelte sie. Nach ein paar Augen­blicken machte sie dann schon wieder freche Bemerkungen über die Nachtmütze des Grafen, scherzte mit Muskete und ahmte Theo nach.

Nichtsdestotrotz fühlte Theo, dass sie noch immer Angst hatte, als der Graf und Muskete den Raum verließen, und so blieb er bei ihr und wartete, bis sie wieder eingeschlafen war. Tatsächlich wachte er den ganzen Rest der Nacht über sie, doch sie rührte sich nicht.

Am nächsten Morgen war Bohnenstange ruhig und höf­lich, was Theo nur umso mehr Sorgen bereitete. Muskete

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war damit beschäftigt, die falschen Arme und Beine zu­sammenzufügen. Las Bombas war losgegangen, um weitere Stühle für den Salon zu besorgen. Im Bohnenstange abzu­lenken und ihre Laune zu verbessern, begann Theo wieder, sie zu porträtieren.

Diesmal ließ er sie im Fensterrahmen sitzen und sagte ihr, sie solle sich nicht bewegen. Zuerst arbeitete er schnell, und das Ergebnis war schon besser. Dann betrachtete er sie so intensiv, dass die Holzkohle über dem Papier schwebte, als hatte er vergessen, was er gerade tat.

Bohnenstange wurde nervös und begann zu zappeln. Sie beschwerte sich über einen steifen Hals und weigerte sich, weiter Modell zu sitzen. Als Theo ihr daraufhin anbot, mit dem Unterricht weiterzumachen, strahlte sie. Die Köpfe zusammengesteckt, saßen sie in einer sonnigen Ecke, wäh­rend Theo rasch das ganze Alphabet durchging. Sein Plan war, anschließend wieder zurückzugehen und Bohnenstange einen Buchstaben nach dem anderen beizubringen. Doch als es so weit war, ratterte Bohnenstange alle sechsundzwanzig in fast perfekter Reihenfolge runter.

»Ist das alles?« »Ich habe dir ja gesagt, dass es leicht ist.« Theo fügte

nicht hinzu, dass er nicht mit so einem schnellen Lernerfolg gerechnet hatte. Gerne hätte er das auf sich selbst und seine schulmeisterlichen Fähigkeiten zurückgeführt; aber er wusste, dass das nicht stimmte. Es war nicht sein Erfolg. Das Mädchen erstaunte ihn. Las Bombas hat Recht gehabt, dachte er. Sie war wirklich ein Genie. »Als Nächstes wirst du anfangen, Worte zu bilden.«

Bohnenstange hatte das Interesse verloren. Kurz blickte sie zum Fenster hinaus und drehte sich dann ruhelos wieder um.

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Schließlich, nach langem Zögern, sagte sie zu Theo: »Glaubst du … wegen letzter Nacht … Heißt das, dass ich irgendwann ertrinken werde? Die Mädchen im Heim haben immer gesagt, Träume würden verraten, was einem später passieren wird.«

»Das ist Unsinn. Du hattest einen bösen Traum; das ist alles. Er ist vorbei, und er wird nicht wieder zurückkommen.«

»Er … Er ist nie vorbei«, platzte Bohnenstange heraus. »Ich habe ihn schon immer geträumt. Manchmal ist da ein Brunnen, und ich versuche, mir etwas zu trinken heraufzu­holen. Oder da ist ein Wassergraben, aber die Seiten sind so hoch, dass ich nicht hinausklettern kann. Und er endet immer gleich: Ich ertrinke, und es ist niemand da, der mir hilft.

Vergangene Nacht war da auch noch eine Stimme, die böse Dinge gesagt hat. An die Worte kann ich mich nicht mehr erinnern. Und irgendjemand hat gelacht. Das war das erste Mal, dass ich so etwas geträumt habe. Es war der schlimmste Traum von allen.«

Theo runzelte die Stirn. »Ist es das, wovon du immer träumst?«

»Nein.« Das Mädchen halte seine Hand ergriffen und drückte sie fest. »Da ist noch ein Traum, den ich immer habe. Er macht mir aber keine Angst. Er treibt mich nur zum Weinen. Ich träume von meinem Vater und meiner Mutter. Zuerst ist es immer ein schöner Traum. Wir sind glücklich; wir lachen und spielen Verstecken wie eh und je. Sie rufen nach mir, doch wenn ich ihnen antworte, können sie mich nicht hören. Dann sind sie sehr traurig und ich auch, denn ich weiß, dass ich sie niemals wiedersehen werde.«

Sie zitterte. Einen Augenblick später zog sie sich von Theo zurück und ging ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer.

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Theo wollte ihr schon folgen, als Muskete seinen Namen bellte und ihm rief, zu kommen und ihm zu helfen. Irgend­etwas an der Erzählung des Mädchens verwirrte Theo. Er war sicher, dass Bohnenstange ihm in Born erzählt hatte, ihre Eltern seien schon lange tot und sie könne sich nicht an sie erinnern.

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Elf

Der phrenologische Kopf war nun ein funktionierender Geist. In weiße Gaze gehüllt und mit den falschen Armen und Beinen verbunden, wirkte er als Spektralgestalt erstaunlich echt. Theo und Muskete hatten Flaschenzüge unter der Decke montiert und sie mit schwarzer Kordel an der Puppe festgemacht. Von ihrem Versteck hinter einem schwarzen Wandschirm aus konnten sie die Puppe durch den Salon schweben lassen. In der Zwischenzeit hatte Las Bombas Bohnenstange in ihre Rolle als Orakelpriesterin eingewiesen. Noch vor Ende der Woche war der Graf mit den Vorberei­tungen zufrieden und öffnete die Türen für die Öffentlich­keit.

Insgeheim bezweifelte Theo, dass sie überhaupt Zuschauer haben würden. Niemand, so glaubte er, würde auf solch einen Betrug hereinfallen. Als er nun jedoch durch das Guckloch im Wandschirm spähte, traute er seinen Augen nicht. Der Raum war zu sehr abgedunkelt, als dass er sich der genauen Zahl hätte sicher sein können, aber die meisten Stühle waren besetzt. Bohnenstange, ganz in Schwarz ge­wandet, saß im Licht einer einzelnen Kerze, wie Theo vor­geschlagen hatte. Auf ihr Zeichen hin zogen er und Muskete an den Seilen. Gehorsam stieg der Geist empor. Die Zu­schauer schnappten nach Luft; ein paar stießen in wohligem Entsetzen spitze Schreie aus. Irgendjemand im hinteren Teil des Salons erwies Theos Arbeit Respekt, indem er augen­blicklich in Ohnmacht fiel.

Las Bombas drängte die Gesellschaft, dem Geist jedwede Frage zu stellen, die ihr auf dem Herzen liege. Theo bereitete sich auf eine Katastrophe vor, als von allen Seiten Fragen auf das Orakel nagelten. Ein Gentleman verlangte zu wissen. wo sein verstorbener Onkel sein Testament versteckt habe, da er

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davon ausging, dessen gesamten Besitz geerbt zu haben. Eine Dame suchte dringend spirituellen Rat in der Frage, welche Farben demnächst in Mode kommen würden. Theo rechnete damit, dass Bohnenstange lauthals in Lachen ausbrechen würde, doch sie bewahrte ein ernstes Gesicht. Sie saß vollkommen regungslos da, die Augen geschlossen, und sah wirklich so aus, als wäre sie tief in Trance versunken. Mit einem Trick ihrer Stimme ließ sie dann den phrenologischen Kopf in unheimlichem, geisterhaftem Tonfall sprechen. Die Antworten waren jedoch so vage, dass die Fragesteller sie deuten konnten, wie sie wollten.

Doch anstatt eines entrüsteten Aufschreis, weil man be­trogen worden war, rief die Menge lautstark nach mehr. Schließlich musste Las Bombas erklären, dass die Orakelpriesterin erschöpft sei, und der Geist wurde entlassen, um sich zu den anderen Schatten zu gesellen. Nachdem er den Zuschauern geraten hatte, an einem anderen Tag wiederzukommen, scheuchte Las Bombas die Leute so schnell wie möglich hinaus und verschloss hinter sich die Tür.

»Fantastisch!«, rief der Graf, als Theo und Muskete aus ihrem Versteck herauskamen, und schlang Bohnenstange die Arme um den Hals. »Mein liebes Mädchen, du warst einfach wunderbar!«

Las Bombas griff in seine ausgebeulten Taschen und warf eine Hand voll Münzen in die Luft. »Schaut euch das an! Es ist so viel, dass ich mit dem Zählen nicht mehr nachgekom­men bin!«

»Egal wie Ihr es auch dreht und wendet«, murmelte Theo, »es ist und bleibt Betrug.«

»Das ist es in der Tat, mein Junge«, erwiderte Las Bombas glücklich. »Und zwar der beste, den ich je gemacht habe.

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Aber Ehre, wem Ehre gebührt: Du bist es, dem ich dafür zu danken habe. Du hast es dir ausgedacht und mich auf die Idee gebracht. Ein wahrlich brillanter Einfall. Du kannst stolz auf dich sein.«

Theo erwiderte nichts darauf. Er schämte sich für sich selbst, weil sein verabscheuungswürdiger Plan tatsächlich funktioniert hatte. Andererseits musste er aber auch zugeben, dass er nicht wirklich unzufrieden war.

Bohnenstange schien hingegen keinerlei Gewissensbisse zu haben. In den folgenden Tagen war sie allerbester Laune. Weder der Albtraum noch der andere Traum waren wieder zurückgekehrt. Da sie als Orakelpriesterin nur abends Pflich­ten hatte, konnte Bohnenstange den Rest der Zeit für sich nutzen. Morgens saß sie bei Theo und lernte mit ihm das Alphabet. Die Buchstaben kannte sie bereits perfekt, und schon bald schrieb sie sie genauso schnell nieder, wie sie sie sprechen konnte.

Und Bohnenstange hielt sich auch an ihren Teil der Ver­einbarung. Nachmittags spielte sie die Schulmeisterin und lehrte Theo ihre Zeichensprache. Theo lernte allerdings bei weitem nicht so schnell wie seine ehemalige Schülerin.

»Nein, nein, nein, du hast schon wieder alles falsch gemacht«, sagte Bohnenstange. »Beweg den Daumen nach oben, nicht zur Seite. So. Pass auf meine Finger auf.«

Stück für Stück kam Theo dahinter. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit übte er mit Bohnenstange und fügte sogar eigene Verbesserungen hinzu. Nun, da Bohnenstange buchstabieren konnte, entwarf er ein Fingerzeichen für jeden Buchstaben. Wenn Bohnenstanges Gesten nicht ausreichten, konnte sie so die Erklärung buchstabieren. In weniger als einer Woche konnten sie sich mit Zeichen sagen, was sie wollten, und das so schnell, dass kein Außenstehender je vermuten würde, dass sie sich einer Geheimsprache bedienten. Auch wenn Las Bombas und Muskete sicher

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nicht entgangen war, dass die beiden jungen Leute die meiste Zeit gemeinsam verbrachten, sagten sie nichts dazu.

Was den Rest betraf, so erwartete Theo – ja, er hoffte –, dass der Reiz des Neuen, der Orakelpriesterin, alsbald ver­fliegen würde; doch stattdessen strömten jeden Abend mehr Menschen in den Salon. Las Bombas freute sich über die stetig wachsenden Einnahmen, während Theos schlechtes Gewissen inzwischen schmerzte wie ein wundes Knie.

Schließlich fragte er den Grafen, wann sie weiterziehen würden.

Las Bombas blinzelte ihn an. »Was für ein Gedanke! Wir haben gerade erst das Sahnehäubchen abgeschöpft. Tatsächlich denke ich gerade darüber nach, das Eintrittsgeld zu verdoppeln.«

»Und ich denke darüber nach, dass wir ganz aufhören sollten«, platzte Theo heraus. »Bis hierhin habe ich mitgemacht, was ich eigentlich gar nicht hätte tun sollen. Es muss doch noch etwas Besseres geben, als Leute übers Ohr zu hauen.«

»Wer haut hier wen übers Ohr?«, protestierte der Graf. »Das ist harmlose Unterhaltung! Denkst du etwa, die glauben das auch nur einen Augenblick lang? Beschweren sie sich etwa? Beruhige dich, mein junge. Hier – wie wäre es damit? Wir stellen im Flur ein paar Tische mit Erfrischungen auf; das wäre eine neue Attraktion.«

Am nächsten Abend war Theo fast bereit zuzugeben, dass der Graf Recht hatte. Die Orakelpriesterin war zu einer Mode beim gehobenen Bürgertum von Felden geworden, vermutlich mangels besserer Ablenkung. Die Zuschauer kamen in immer größeren Scharen, um zu sehen und ge­sehen zu werden; sie wollten sich über die Mätzchen des phrenologischen Kopfes amüsieren und den melancholi­schen Charme der Orakelpriesterin bewundern. Es wurde

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viel geplappert und gelacht, und soweit Theo sehen konnte, glaubte niemand ernsthaft an die geisterhaften Verkündigungen des Mädchens. Las Bombas hätte genauso gut ein Komödientheater eröffnen können.

Dann entdeckte Theo zwischen den Zuschauern, die sich für die Gelegenheit mit ihren prachtvollsten Gewändern herausgeputzt hatten, einen Mann und eine Frau, die Trauer trugen. Allein schon durch ihre Kleidung hoben sie sich von den anderen ab, und wegen der rauen Hände der Frau und des wettergegerbten Gesichts des Mannes sowie dessen breiten Schultern vermutete Theo, dass es sich um Kleinbauern oder Pächter handelte. Die beiden fühlten sich sichtlich unwohl inmitten all der Stadtbewohner.

Erst gegen Ende des Abends wagte die Frau, sich zu er­heben. Unbeholfen knickste sie vor Bohnenstange und dem phrenologischen Kopf, was leises Kichern bei den anderen Zuschauern hervorrief. Verlegen schaute sie sich um und sah so aus, als wäre sie bereit, sich ohne ein Wort wieder zu setzen.

»Kommt, Madame«, sagte Las Bombas. »Die Priesterin wird langsam müde. Wenn Ihr den Geist, zu konsultieren wünscht, rückt heraus damit.«

»Sire…«, die Frau zögerte und errötete, »…unser Mädchen ist nun eine Woche tot. Es war das Fieber, wisst Ihr? Wir können sie nicht wiederhaben, das weiß ich. Ich will auch nur Folgendes wissen: Könnt Ihr uns sagen, ob sie dort glücklich ist, wo auch immer sie sein mag?«

Der phrenologische Kopf versicherte der Fragestellerin, dass das Mädchen glücklicher sei denn je zuvor. Die Frau stammelte ihren Dank, dass der Geist ihnen Frieden ge­schenkt hatte.

Dann erkundigte sich Las Bombas, ob es noch weitere Fragen gäbe. Es wurden keine mehr gestellt. Die Zuschauer

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waren nervös geworden und fühlten sich irgendwie peinlich berührt. Einige standen auf und wandten sich zum Gehen, als hätte die Trauet der Frau einen Schatten auf ihr Amüsement gelegt. Schließlich erklärte der Graf die Séance für beendet.

«Wie konntet Ihr das tun?«, verlangte Theo zu wissen, kaum dass die letzten Zuschauer den Raum verlassen hatten. »Der Tod des Kindes hat den beiden das Herz gebrochen. Für sie war das hier kein Spektakel. Sie haben es ernst genommen, und wir haben ihnen einen Haufen Lügen erzählt.«

»Mein Junge, sie waren doch zufrieden«, antwortete Las Bombas. »Was willst du eigentlich?«

»Schluss damit«, sagte Theo. »Ich will, dass Schluss damit ist. Ihr könnt es ja ›harmloses Amüsement‹ nennen, wenn Ihr wollt. Ihr zieht Euren Vorteil aus Menschen, die es nicht besser wissen. Das ist unehrenhaft und verabscheuungswürdig.« Er drehte sich zu Bohnenstange um. »Du verstehst doch, was ich meine, oder? Du siehst, was wir hier tun.«

»Ich tue, was du gewollt hast«, entgegnete das Mädchen. »Schließlich war es deine Idee, oder?«

»Nein, du verstehst es auch nicht«, platzte Theo heraus. »Kannst du noch nicht einmal zwischen Recht und Unrecht unterscheiden? Oder ist es dir einfach nur egal? Vielleicht hätte ich nichts Besseres von dir erwarten sollen.«

Bohnenstange schnappte nach Luft, als hätte Theo ihr ins Gesicht geschlagen. Anstatt zu antworten, zog sie die Kapuze über den Kopf und rannte in ihr Zimmer.

Kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte, hätte Theo sich schon auf die Zunge beißen können. Er sprang ihr hin­terher. Las Bombas hielt ihn zurück.

»Lass es. Du hast die Gefühle des Kindes verletzt, und wenn du ihr jetzt hinterhergehst, würdest du alles nur noch

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schlimmer machen. Bring das am Morgen wieder in Ord­nung.«

»Lasst uns von hier verschwinden«, bat Theo. »Es muss doch etwas anderes geben, was wir tun können.«

»Wir sollen von der Orakelpriesterin weg? Jetzt, wo es so gut läuft? Lächerlich! Das kommt nicht in Frage! Schlaf erst mal darüber. Morgen wirst du dich schon wieder besser fühlen.«

Ohne etwas darauf zu erwidern, ging Theo in sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Er hoffte nur, dass er wieder gutmachen konnte, was er Bohnenstange angetan hatte. Aber auch das stellte sein Gewissen noch nicht zufrieden. Las Bombas hegte nicht die geringste Absicht, seinen Lebens­wandel zu ändern. Theo wiederum mochte den Grafen genauso sehr wie er früher Anton gemocht hatte; aber der Mann war der geborene Halunke, und Theo war auf dem besten Wege, selbst einer zu werden. Anton wäre nicht gerade stolz auf ihn gewesen. Die Antwort war klar. Er war weit genug gegangen, vielleicht schon zu weit. Um den letzten Rest Ehre zu retten, würde er mit Las Bombas brechen müssen, je schneller, desto besser. Jetzt, sagte er sich selbst, noch diese Nacht. Wenn er wartete, fürchtete er, nicht mehr die Kraft dafür zu haben.

Doch kaum hatte er diese Entscheidung getroffen, da erkannte er, dass er Bohnenstange nicht verlassen konnte. Allein die Vorstellung war schon unerträglich. Sosehr er das Mädchen auch verletzt haben mochte, er glaubte, schluss­endlich würde sie ihn verstehen. Wenn er sein Bestes gab, um sie zu überzeugen, würde sie mit ihm gehen.

Theo stand auf und ging rasch zu Bohnenstanges Zimmer. Er hob die Hand, um anzuklopfen … und erstarrte. Bestürzt bemerkte er, dass er etwas vergessen hatte: Er war ein ge­suchter Verbrecher, ein Flüchtling, der jeden Augenblick verhaftet werden konnte. Er konnte es nicht wagen, sie zu

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bitten, bei ihm zu bleiben. Selbst wenn sie es wollte, er durfte es nicht zulassen. Sie wäre damit dem gleichen Risiko ausgesetzt wie er. Bei Las Bombas war sie sicher, Betrüger hin oder her.

Theo ließ die Hand sinken. Verunsichert stand er vor der Tür. Schließlich drehte er sich wieder um. Das unfertige Porträt lag auf dem Tisch. Er wollte es aufheben. Dann schüttelte er den Kopf. Es würde weniger schmerzen, wenn ihn nichts an sie erinnerte.

Theo nahm nichts mit, als er leise die Treppe hinunter­stieg. Er traute sich nicht, Lebewohl zu sagen. Er überquerte den Marktplatz. Die Stadt schlief. Obwohl der Sommer nicht mehr fern war, war es recht kühl.

Theo hegte keine Zweifel. Was er getan hatte, war das einzig Richtige und Ehrenhafte. Zum ersten Mal, seit er sich Las Bombas angeschlossen halte, war sein Gewissen ruhig.

Und er fühlte sich hundeelend.

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Teil drei

Florians Kinder

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Zwölf

Das Gasthaus am Ende der Strohmarktstraße war eines der Wunder von Freyborg: Das Wunder war, dass es überhaupt stand. Die Spinnweben in jeder Ecke schienen seine größten Stützen zu sein. Die schmale Treppe wand sich über drei Absätze hinauf und brach offenbar nur aus Gewohnheit nicht zusammen. Schimmel breitete sich munter von Rissen in den Wänden aus. Das Dach warf seine Ziegel ab wie Bäume im Herbst das Laub. Nichtsdestotrotz gab es zwei Dinge, die für die Unterkünfte sprachen: Sie waren billiger als alle anderen, und der Wirt stellte niemals Fragen.

Das oberste Zimmer war ein wenig größer als ein Back­ofen. Im Sommer konnte der erstickende Mieter sich damit trösten, dass er im Winter frieren würde. Dieses Kabuff stand meistens leer. Die letzten zwei Monate wohnte dort oben jedoch ein öffentlicher Schreiber, der sich selbst De Roth nannte.

Den neuen Namen hatte sich Theo selbst ausgesucht. Seinen neuen Beruf und die Unterkunft verdankte er Florian.

In der Nacht, da er Felden verlassen halte, war er einfach losgezogen, immer nur Richtung Süden. Ohne anzuhalten, trottete er bis Tagesanbruch weiter, und selbst dann blieb er noch nicht stehen, bis schließlich seine Beine ein paar Stun­den später den Dienst verweigerten. Er hatte beschlossen, nicht mehr an Bohnenstange, den Grafen und Muskete zu denken oder an irgendetwas, das mit ihnen in Verbindung stand. Als Folge davon dachte er an gar nichts mehr. Bohnenstanges Abwesenheit war für ihn wie Zahnschmerzen: Zuerst ignorierte er sie, dann leugnete er sie, und schließlich übernahmen sie die totale Kontrolle über ihn.

Die nächsten Tage zog er einfach immer weiter geradeaus. Er schlief in Scheunen oder Heuschobern, wenn er einen

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fand. Ansonsten kroch er unter Büsche oder warf sich ein­fach so aufs Feld. Die Bauern bat er nie um ihre Gast­freundschaft, aber er verweigerte sie auch nicht, wenn sie ihm angeboten wurde. Manchmal mistete er Ställe aus oder hackte Holz für einen Sack voll Essen. Fest überzeugt davon, ehrenhaft gehandelt zu haben, war er stolz auf seine Wil­lenskraft. Außerdem fing er sich eine Erkältung ein.

Theo humpelte gegen Mittag nach Freyborg hinein und platzte fast vor hochfliegenden Gefühlen und einer ver­stopften Nase. Vielleicht hatte er von Anfang an die Absicht gehabt, hierher zu gehen. In der Zeit vor Cabbarus, als Anton für die Gelehrten der Universität gearbeitet hatte, war die uralte Stadt zu einem strahlenden, last magischen Quell des Lernens für Theo geworden. Jetzt war für ihn alles grau, die Straßen waren eng und die berühmten Türme der Universität kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte. Allerdings war er viel zu hungrig, als dass er enttäuscht hätte sein können.

Auf der einen Seile des Platzes befand sich eine Taverne gegenüber einer Statue von Augustin dem Großen. Theo ging hinein und hoffte, gegen Arbeit etwas zu essen zu bekommen. Im Schankraum ging es recht betriebsam zu, und Theo sah niemanden, der der Wirt hätte sein können. Die Kellner ignorierten ihn. Er quetschte sich ans Ende einer Bank und lehnte den Kopf an die Wand.

Seine Tischgenossen, ein halbes Dutzend junger Männer und Frauen, redeten und lachten miteinander. Was Theos Aufmerksamkeit erregte, war die Schüssel mit Suppe vor seinem Nachbarn, einem kräftigen, ja bulligen jungen Mann, dessen Haar an den Ecken schon dünner wurde. So verstopft war Theos Nase noch nicht, dass er den Duft nicht hätte wahrnehmen können, und er ging darin verloren.

»Stock«, sagte der junge Mann, der Theo unmittelbar gegenübersaß, »dieser Gentleman scheint deine Suppe memorieren zu wollen.«

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Theo erschrak und bemerkte, dass sein Kopf Stück für Stück nach unten gewandert war, als wäre die Suppe ein Magnet. Er stammelte eine Entschuldigung, wodurch er jedoch nur die Aufmerksamkeit der ganzen Gruppe auf sich lenkte.

»Was noch festzustellen wäre«, fuhr der Sprecher fort, nachdem sich aufmerksames Schweigen über den Tisch gesenkt halte, »ist der Grund für diese Faszination. Liegt das vielleicht in der Natur der Suppe, die uns anderen verborgen bleibt? Oder sind Stocks Tischmanieren der Grund dafür? Vielleicht findet sich aber auch noch eine andere Erklärung, hm?«

Auch wenn er nur ein paar Jahre älter als Theo war, der Sprecher schien eine unsichtbare Linie überschritten zu haben, was ihm eine Autorität jenseits der Anzahl seiner Jahre verlieh. Sein Haar war hellbraun, und er trug es lang und offen. Pockennarben bedeckten seine Wangen und den Rücken seiner fein geformten Nase. Müßig musterte er Theo mit offensichtlichem Amüsement. Gleichzeitig jedoch nah­men seine grauen Augen alles auf, merkten es sich, stellten Gleichungen auf und errechneten ein Ergebnis.

Theo fühlte, dass man ihn auslachte oder es zumindest bald tun würde. Hätte er die vergangenen Tage in einen Spiegel geschaut, er hätte auch den Grund dafür erkannt. Sein Haar war matt, die Kleider zerknittert und verdreckt, das Gesicht schmutzig und rau vom Wind.

»Er hat Hunger, Florian«, warf eine der jungen Frauen ein, blond, mit breitem Gesicht und den geschwollenen Händen einer Wäscherin.

»Offensichtlich. Aber in welchem Ausmaß? Ist er hungrig genug, um Meister Jellineks Gebräu zu probieren? Das bleibt abzuwarten. Wir werden ja sehen, wie sich die Theorie in der Praxis bewährt. Gib ihm deine Schüssel, Stock. Mach schon. Sei kein Schwein.«

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Lachend und grummelnd zugleich tat Stock, wie ihm geheißen. Florian hob den Finger, und sofort erschienen zwei Kellner. Einer stellte einen Pokal vor Theo, der andere goss Wein hinein.

Florian hob sein eigenes Glas. »Auf die Gesundheit von jemandem, der stets in unseren Gedanken ist: auf unseren Obersten Minister.«

Theo errötete. Er war zu müde, um höflich zu sein. Er schob das Glas beiseite. »Trinkt selbst auf ihn. Ich werde es sicherlich nicht tun.«

»Meine Kinder!«, rief Florian. »Hört ihr das? Selbst angesichts des Hungertodes steht dieser Jüngling hier zu seinen Prinzipien. Damit gibt er uns ein Beispiel. Würden wir so auf die Probe gestellt, würden wir dann das Gleiche tun?« Er drehte sich zu Theo um. »Das war tapfer gesprochen, aber unvorsichtig. Ihr besitzt nicht den Verstand eines Advokaten – was in gewissem Sinn ein großer Segen für Euch ist. Andernfalls wäre Euch aufgefallen, dass nicht von ›guter‹ Gesundheit die Rede war, oder gar vom ›Wohl‹ des Herrn Ministers. Voreilig habt Ihr einen Schluss gezogen – in diesem Falle einen falschen. Wollt Ihr nicht noch einmal darüber nachdenken?

Nutzt die Gelegenheit, die sich Euch hier bietet«, fuhr Florian fort. »Glaubt nicht, dass wir jeden Tag ein solches Festmahl haben. Wir feiern den Jahrestag von Rinas Geburt.« Er nickte zu der Wäscherin, die sich daraufhin erhob und spöttisch knickste. »Bei uns heißt es, Festmahl oder Hunger – Letzteres aber öfter.«

Theo fragte, ob sie Studenten seien. Heulen und Pfiffe folgten dieser Frage.

»Wir wollen Euch die unbeabsichtigte Beleidigung ver­zeihen«, sagte Florian. »Niemand, den es nach Wissen dürstet, geht heutzutage noch an die Universität. Die eine

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Hälfte der Fakultät ist zurückgetreten, die andere gibt Kurse in Ignoranz. Die Königliche Förderung ist nicht länger königlich, und auch gefördert wird nicht viel. In den Augen von Cabbarus ist Bildung für das Volk genauso lästig und ein Ärgernis wie eine Straßenkatze. Er glaubt, wenn man sie nicht füttert, wird sie schon verschwinden. Aber gestatte mir, dir meine Kinder vorzustellen, meine kleinen Adler, die ungeduldig darauf warten, ihre Schwingen auszubreiten.

Unser ehrenwerter Stock hier mag ja wie ein preisge­krönter Bulle aussehen, doch von seiner Neigung her ist er mehr Poet und dem Temperament nach eher Träumer. Dieser hier, Justin …«, er deutete auf einen dünnen, blassen Jüngling ungefähr in Theos Alter mit Haar so gelb, dass es fast weiß wirkte, und langen Wimpern von erstaunlichem Violett, »… Justin besitzt das Gesicht eines Engels, während er in Wahrheit eine blutrünstige Art von Teufel ist. Das rührt vermutlich daher, dass er hat zusehen müssen, wie man sei­nen Vater gehängt hat. Und unsere beiden Göttinnen, die goldene Rina und die rotbraune Zara, führen und inspirieren uns.«

Florian stand auf, legte die Hand auf die Brust und nahm eine theatralische Rednerhaltung ein. »Was mich betrifft, so habe ich die Gesetze studiert, bis ich gelernt habe, dass es nur eines gibt: die Verordnung der Natur selbst, dass alle Menschen Brüder sind, und die einzigen Verbrecher sind jene, die ihre Statuten brechen. Studenten? Ja. Aber unser Klassenzimmer ist die Welt.«

Nachdem seine Gefährten, die die Zuhörerschaft spielten, zu Ende gejubelt hatten und aufhörten, auf den Tisch zu hämmern, fuhr Florian ruhiger fort:

»Und Ihr, junger Mann? Was führt Euch hierher? Eurem Aussehen nach zu urteilen, seid Ihr von Beruf Vogelscheu­che. Ich fürchte nur, hier in der Stadt wird man kaum Bedarf an Euren Fähigkeiten haben.«

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Vor lauter Fieber hatte Theo ein Pfeifen in den Ohren. Das Essen und das Trinken halten ihn leicht benommen gemacht, und zu allem Überfluss schien Florian noch die unheimliche Macht zu besitzen, ihm alles aus der Nase zu ziehen. Auch wenn er noch vorsichtig genug war, nichts von Dorning zu erzählen, so hörte Theo doch nur auf zu reden, wenn er kurz Luft holen musste. Alles redete er sich vom Herzen, zumal er in den letzten zwölf Tagen kaum mehr als ein Dutzend Worte gesprochen hatte. In allen Einzelheiten erzählte er von seiner Reise mit Las Bombas und versuchte zu erklären, dass er Bohnenstange zu ihrem eigenen Besten verlassen hatte. Schließlich bemerkte er, dass er zu plappern begonnen hatte, und so beendete er seinen Bericht.

»Er hat sie geliebt«, seufzte Rina. »Das war sehr nobel von ihm. Das war wunderschön.«

»Das war dumm«, sagte Zara. Florian hob die Hand. »Meine Kinder, wir sind nicht

aufgefordert, ein Urteil zu fallen, sondern nur darüber nachzudenken, was zu tun ist.«

Kurz sprach er etwas Unverständliches mit der rotbraunen Zara; dann wandte er sich wieder Theo zu. »Die rotbraune Gottheit wird dafür sorgen, dass Ihr für die nächste Zeit eine Unterkunft haben werdet, Meister … Würde es Euch etwas ausmachen, uns Euren Namen zu verraten?«

»Er lautet…« Theo hielt inne. Er erinnerte sich an den Haltbefehl, der noch immer gegen ihn anhängig war, und er hoffte, seine Spuren so gut wie möglich zu verwischen. »Er lautet … De Roth.«

»Dann geht mit ihr, Meister De Roth.« Florian grinste, »hier füttern wir nur unsere Straßenkatzen.«

Zara führte Theo in die Strohmarktstraße. Das Mädchen sprach nur wenig, ebenso wie Theo, den ihr Kommentar noch immer wurmte. Als er ihr sagte, dass er kein Geld für

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die Miete habe, zuckte sie nur mit den Schultern. Sie riet ihm, das später mit dem Wirt zu regeln. Bis dahin winde Florian für ihn bürgen.

»Was tut Florian?«, fragte Theo. »Ich meine: Was ist sein Beruf? Was hat er für eine Arbeit?«

»Seine Arbeit?« Zara lächelte ihn hart an. »Er arbeitet daran, Florian zu sein.«

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Dreizehn

Am nächsten Tag und nachdem er rund um die Uhr ge­schlafen hatte, ging Theo zu der Taverne zurück. Er wollte Florian danken und sich von ihm verabschieden. Im Gemeinschaftsraum fand er jedoch niemanden von der Gesellschaft. Jellinek, ein stämmiger, kleiner Mann und für einen Wirt ungewöhnlich gutmütig, erkannte Theo sofort. Mit dem Daumen deutete er auf einen Raum neben der Küche. Die Unruhe hinter der Tür war so groß, dass Theos Klopfen entweder überhört oder ignoriert wurde. Also ließ er sich selbst ein, auch wenn ihm ein wenig unwohl war, da er glaubte, in eine leidenschaftliche Rede hineinzuplatzen.

Der Redner war Stock, und – wie Theo lernen sollte – die Leidenschaft seines Vortrags war vollkommen normal für ihn, egal um welches Thema es dabei ging. Der kräftige Poet marschierte auf und ab und wedelte mit den Armen. Florian, Justin und mehrere andere, die Theo unbekannt waren, saßen um einen Tisch herum.

»Ich sage euch, eine Schlacht ist ein Gedicht«, deklamierte Stock. »Ein Sonett des Todes; die Menschen bilden die Verse, das Blut die Interpunktion. Angriff und Gegenangriff, Reim gegen Reim, Reiterei gegen Fuß…«

»Und als was betrachtest du dann die Artillerie?«, unter­brach ihn einer der Zuhörer mit Namen Luther, wie Theo später herausfand. »Sind das die Ausrufezeichen? Ein cleverer Gedanke. Er hat nur einen Fehler. Das hat nichts mit echtem Kampf zu tun. Hör auf meinen Rat, und bleib beim Schreiben.«

Als er Theo entdeckte, winkte Florian ihn zu sich. »Stock hat ein Leben als Feldmarschall der Poesie aufgegeben, um ein poetischer Feldmarschall zu sein. Und was hast du vor? Ich darf doch ›du‹ sagen, oder?«

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»Sicher. Ich muss weiterziehen. Ich weide versuchen, dir Geld für die Unterkunft zu schicken.«

»Du willst gehen? Wohin?« »Das ist egal. Wo auch immer ich irgendeine Art von

Arbeit finden kann.« »Dies sind nicht gerade die besten Zeiten, um durchs

Land zu wandern«, bemerkte Florian. »So oder so, ich muss mir meinen Lebensunterhalt ver­

dienen.« Florian dachte eine Weile nach. »Kannst du mit sauberer

Hand schreiben? Hier in Freyborg könnte man einen öffent­lichen Schreiber brauchen. Der vorherige Inhaber dieses Postens weilt nicht länger unter uns, und Stock empfindet den Beruf als seines Genies nicht würdig.«

»Ja, das könnte ich wohl tun«, antwortete Theo eifrig. Dann hielt er inne. Am Tag zuvor hatte er nichts von dem erzählt, was in Dorning geschehen war, und noch immer ver­spürte er Widerwillen, das zu tun. Florian könnte das Ange­bot wieder zurückziehen, wenn er die Wahrheil über Theo kennen würde. Einem flüchtigen Verbrecher Unterschlupf zu gewähren hieß, selbst zum Verbrecher werden. Theo atmete tief durch und fuhr fort: »Vielleicht willst du gar nicht, dass ich bleibe. Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss.«

»Dann mal los.« Und als er Theos Unbehagen sah, winkte Florian den anderen zu gehen.

»Was du wissen musst«, begann Theo, nachdem sie endlich allein waren, »ist Folgendes: Ich stecke in Schwierigkeiten.«

»Das tun wir alle. Sprich weiter.« Nach einem ersten schmerzvollen Zögern brach es wie

ein Wasserfall aus Theo heraus, und er erzählte die ganze

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Geschichte. Zu seiner Verwunderung zeigte sich Florian ganz und gar nicht überrascht.

»Junger Mann, das tut mir Leid«, sagte er. »Eine brutale Geschichte, aber ich habe schon weit schlimmere gehört."

»Wenn ich hier bleibe, könnte ich dich in Schwierigkeiten bringen – und deine Freunde auch,«

»Mach dir keine Sorgen. Wir kommen schon damit zurecht«, entgegnete Florian. »Tatsächlich könntest du keinen sichereren Ort finden. Es ist also abgemacht.«

»Eines noch.« »Hm? Du scheinst wirklich eine Menge auf dem Herzen

zu haben.« »Mein Name. Er lautet nicht De Roth.« Florian lachte, »Da haben wir ja etwas gemeinsam. Mein

Name lautet auch nicht Florian.«

Von nun an waren stets eine Bank und ein Tisch in Jellineks Taverne für Theo reserviert, und der Wirt versorgte ihn mit Feder. Tinte und Papier, bis er genug Geld verdient hatte, sich sein eigenes Material zu kaufen. Alles war so rasch arrangiert worden, als hätte Florian nur mit den Fingern schnippen müssen. Und – wie Theo alsbald feststellte – bei Florian lief das wirklich so.

In den folgenden Tagen, während er zu einem vertrauten Anblick in seiner Ecke wurde, zog Theo einen kleinen, aber steten Strom von Kunden an.

Einige konnten schreiben, wenn auch nur langsam und unter großen Mühen, andere überhaupt nicht. Keiner konnte jedoch in Schriftform festhalten, was er sagen wollte. Theos Aufgabe war es, ihre Gedanken zu sortieren und zu Papier zu bringen.

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Eine alte Frau brauchte ein Gnadengesuch an den König­lichen Ankläger für ihren Sohn, der für ein Verbrechen im Gefängnis saß, das er nicht begangen hatte. Eine Küchen­hilfe, die ein Kind erwartete, wollte ihrem Liebsten schrei­ben, der nach Marianstat gegangen war, und ihm vorlügen, bei ihr stünde alles zum Besten. Es gab Briefe, in denen ewige Liebe geschworen winde; Briefe, die darum bettelten; wütende Briefe, die Klagen androhten; schüchterne Briefe, die um mehr Zeit baten, eine Schuld zurückzuzahlen. Ein öffentlicher Schreiber war für viele nicht mehr als ein Stück Möbel – wie die Bank, auf der er saß –, und so zögerte keiner, ihm jedes Leid zu klagen, jede Schande zu gestehen, jede Furcht und jede Hoffnung. Die meisten Briefe blieben unbeantwortet.

Des Nachts lag Theo oft wach auf seinem Strohsack in der Dachkammer, warf sich hin und her und schwitzte und knabberte am Unglück seiner Kunden, als könne er erst Ruhe finden, wenn er alles Leid der Welt in sich aufgesogen hätte. Manchmal wiederum konnte er nicht schnell genug ins Bett kommen, um dem Ganzen zu entfliehen. Er war überwältigt und angewidert zugleich. Schließlich wurde er bescheiden. Bisher hatte er geglaubt, ihn selbst hätte das größte Unglück befallen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er demütig erkannte, dass die meisten seiner Kunden weit schlimmer vom Schicksal heimgesucht waren als er.

Morgens ging er in Jellineks Taverne. Florian war manch­mal dort und manchmal nicht. Er hatte die Angewohnheit, mehrere Tage lang zu verschwinden. Wenn er dann wieder auftauchte, wagte Theo nicht, ihn zu fragen, wo er gewesen war.

Stock und die anderen waren gewöhnt, dass Florian mit­unter verschwunden blieb, und sagten nichts dazu. Theo wiederum spürte, dass er nicht fragen sollte. Ansonsten kam er gut mit allen zurecht und genoss ihre Gesellschaft.

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Die goldene Gottheit und die rotbraune Gottheit, so erkannte er ebenfalls bald, waren eindeutig in Florian verliebt: Erstere verträumt und glücklich. Letztere verbittert und fast gegen ihren Willen. Stock, den für gewöhnlich selbst die kleinste Kritik an seiner Poesie zur Weißglut brachte, hörte aufmerksam zu, wenn Florian ihm seine Meinung sagte. Oft legte Florian einen ironischen Humor an den Tag, Manchmal jedoch konnten seine Bemerkungen auch wehtun. Die anderen waren in der Lage, das mit einem Schulterzucken abzutun, aber irgendwann einmal, als Florian eine leicht sarkastische Bemerkung Justin gegenüber machte, brach dieser in Tränen aus.

»Du hättest ihm etwas darauf erwidern sollen«, sagte Theo später zu ihm. »Du hättest nicht zulassen dürfen, dass er deine Gefühle verletzt.«

Justin blickte Theo an. »Wenn er mich darum bitten würde, ich würde für ihn sterben.«

Wenn Florian jemanden ›mein Kind‹ nannte, war das ein Ehrentitel. Theo war diese Ehre bislang nicht zuteil gewor­den. Nichtsdestotrotz sehnte er sich danach. Trotz Florians Hilfe und Interesse spürte Theo, dass er nicht voll akzeptiert war. Vielleicht hatte er sich das noch nicht verdient, vielleicht verdiente er es auch nicht. Im Leben von Florian und seinen Kindern blieb ihm irgendein Teil verborgen, und er fragte sich, was das wohl sein mochte.

Und was ihn ebenfalls verwirrte, war die Tatsache, dass Florian nicht im Gefängnis landete, obwohl der Mann immer und überall freimütig seine Meinung äußerte. Die Stadtbe­wohner beteten ihn an, und Theo glaubte zunächst, die Wachtmeister fürchteten einen Aufstand, sollten sie Hand an ihn legen. Theo irrte sich jedoch, wie er eines Nachmittags erfuhr, als zwei Wachtmeister in die Taverne kamen und

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Jellinek nach Informationen über einen flüchtigen Lehrling aushorchten.

Theo brach in Schweiß aus; er war sicher, dass er es war, den sie suchten, Jellinek, der ebenso schwitzte wie Theo, wischte sich unablässig mit der Schürze über Gesicht und Hände. Schließlich erhob sich Florian von seinem üblichen Platz.

Er schlenderte zu den Wachtmeistern. Lächelnd und ruhig legte er ihnen nahe zu gehen. Er hob weder die Hand noch die Stimme. Das Lächeln verschwand nie aus seinem Gesicht, doch der Blick seiner grauen Augen war hart geworden und kalt wie Eis. Die Wachtmeister schrien eine Weile herum, dann erklärten sie die Angelegenheit für unwichtig und liefen hinaus. Theo hatte verstanden. Es war nicht die Stadtbevölkerung, die sie fürchteten, es war Florian selbst.

Florians Versicherung, er sei hier sicher, war keine haltlose Prahlerei gewesen, und Theo war ihm dankbar dafür. Sein Geist hatte sich wieder ein wenig beruhigt. Manchmal wurde er jedoch ruhelos und hatte das Gefühl, als wären seine Tage ohne Sinn.

»Ich bin froh um die Arbeit«, sagte er eines Morgens zu Florian in der Taverne, »aber nichts davon bewirkt viel Gutes. Ich schreibe ihre Briefe, doch nichts kommt dabei heraus. Ich mache nichts besser für sie. Was nutzt das alles schon?«

»Was das nutzt?«, antwortete Florian ihm. »Sie brauchen dich. Es besteht stets die Möglichkeit, dass irgendetwas doch mal funktionieren könnte. Du gibst ihnen wenigstens ein Fünkchen Hoffnung. Sei zufrieden, dass du überhaupt etwas tun kannst.

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Tatsächlich«, fuhr er fort, »hätte ich da vielleicht etwas anderes für dich. Aber ich muss dich warnen: Es wird nicht leicht sein.«

»Um was geht es?« »Darüber werden wir reden, wenn die Zeit reif ist.« Aufgeregt drängte Theo ihn, ihm zumindest einen Hin­

weis zu geben, doch Florian ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Die alte Krau, deren Sohn im Gefängnis saß, hatte geduldig auf Theo gewartet. Theo hatte den gleichen Brief schon so oft an den Königlichen Ankläger geschrieben, dass er ihn inzwischen auswendig kannte. Bisher hatte er ge­glaubt, der Frau am besten dienen zu können, wenn er ihr sagte, sie solle weggehen, weil die Sache verloren sei. Er winkte sie zu sich.

»Kommt, Mütterchen«, sagte er. »Lasst uns noch einen Versuch wagen.«

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»Da ist ein Toter.« Der Junge hielt die Laterne in die Höhe und beugte sich über den Rand des Ruderbootes. »Zieh, Spatz, zieh!«

Der Mädchen tat, was ihr Bruder von ihr verlangte. Das Boot hüpfte an den Steinstufen entlang, die vom Pier zum Dock hinaufführten. Der Junge, Wiesel, war klein und so dünn wie sein Namensvetter. Spatz war ein paar Jahre älter und die Stärkere von beiden, und so übernahm sie das Rudern auf ihren nächtlichen Ausflügen in den Hafen.

Der Mann lag auf dem Bauch, halb in, halb aus dem Wasser. Seine Glieder bewegten sich langsam mit dem Wellengang.

Spatz zog die Riemen ein. »Er ist ertrunken, stimmt's?« Wiesel warf eine Leine um die eiserne Runge und sprang

aus dem Boot. Er hockte sich neben den Toten, konnte ihn aber nicht umdrehen. Spatz kam ihm zu Hilfe. Dann sahen sie das Heft des Messers.

»Eine Schlägerei.« Wiesel nickte wissend. Er zog, bis die Waffe aus der Brust glitt. »Das ist eine gute Klinge.«

Er steckte das Messer in den Gürtel. Inzwischen hatte Spatz mit geschickten Fingern die Taschen durchsucht. Sie fürchtete sich nicht vor den Toten; nur vor Spinnen hatte sie Angst.

Das Jackett und die Tuchhose enthielten gar nichts. Spatz verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Das Laternenlicht enthüllte eine stämmige Gestalt ein paar Stufen über ihnen. Spatz stand auf. Auch der Junge bemerkte die Gestalt und kletterte seiner Schwester hinterher.

»Ich wusste doch, dass es eine Schlägerei war«, erklärte Wiesel sichtlich zufrieden.

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Dieser Mann besaß weiße Haare und ein stumpfes Gesicht. Ein Ärmel war blutdurchtränkt und der Länge nach aufgeschlitzt. Das Mädchen durchwühlte die Taschen. Diesmal stieß sie einen Pfiff aus. Sie hatte eine Börse voll Münzen entdeckt und auch noch etwas anderes: Der Mann lebte. Wiesel hockte sich interessiert neben sie. Einen Lebenden hatten sie noch nie gefunden.

»Was sollen wir mit ihm tun, Spatz?« Der Mädchen kaute auf der Unterlippe. Sie besaß ein

scharfkantiges Gesicht, mehr Füchsin als Vogel. Der Mann schaute sie an und murmelte etwas, das sie nicht verstehen konnte.

Sie beugte sich näher heran, lauschte und schaute dann zu Wiesel. »Ich weiß nicht, was er sagt, aber ich glaube nicht, dass er hier bleiben will.«

»Das wundert mich nicht«, sagte Wiesel. Wie ihr Bruder, so trug auch Spatz Kleidung aus Sack­

leinen. Eitel war sie nur mit dem Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte. Nun löste sie es und verband dem Mann unbeholfen den Arm. Ihr Patient stöhnte und machte eine schwache Geste.

»Was will er?« Bis jetzt hatte Wiesel all seine Aufmerksamkeit auf den ungewöhnlichen Fund gerichtet. Nun, am Rand des Lichtkreises, entdeckte er einen Lederkoffer. Er kroch hinüber und hob ihn auf. »Das hier vielleicht?«

Wiesel öffnete den Verschluss des Koffers und spähte hinein. »Messer und andere Dinge. Die dürften etwas wert sein.«

Spatz hatte ihre Arbeit beendet und eine Entscheidung getroffen. »Wir werden ihn behalten.«

»Was wird Keller sagen?«

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»Er wird sich freuen. Immerhin hätte er dann Gesellschaft, stimmt's?«

Die beiden machten sich daran, den Mann die Stufen hinunterzuschleppen und ins Boot zu wuchten. Er war noch so weit bei Bewusstsein, dass er wenigstens versuchen konnte, ihnen zu helfen. Sonst hätten seine Finder ihn auch lassen müssen, wo er war. Wiesel machte die Leine los, und Spatz bemühte sich, das Boot auf den Weg zu bringen, bevor die Gezeiten sich gegen sie wandten.

Der Fluss Vespera floss durch Marianstat. In der Nähe des Hafens ragten kleine Landzungen ins Wasser: ›die Finger‹. Sie bestanden teils aus Marschland, teils aus Gestrüpp und umgaben ein Labyrinth von Buchten; die Finger formten eine Hand, die alles auffing, was vorüberfloss. Menschliche Leichen ebenso wie Tierkadaver tauchten von Zeit zu Zeit im Schilf auf. Sie wurden nach allem Brauchbaren durchsucht und dann von den Aasgeiern, die dort lebten und sich ihren Lebensunterhalt verdienten, wieder auf die Reise geschickt.

Diese Fluss- und Küstenbewohner gingen sich untereinander aus dem Weg. Jeder hatte sein Lieblingsgebiet, das er eifersüchtig verteidigte, pflegte und aberntete wie Bauern; die Ernte verkauften sie dann für ein paar Münzen in Marianstat. Wenn die Ernte schlecht ausfiel, erkundeten jene, die das Glück hatten, ein Boot zu besitzen, andere Gewässer. An den Docks fand sich für gewöhnlich immer was von Wert.

Es war in Richtung der Finger, wohin Spatz ruderte, be­gierig darauf, ihren Passagier eingehender und in Ruhe zu untersuchen. Als sie schließlich am Ufer anlegten, war es schon fast taghell. Der Mann hatte die Augen geschlossen und lag zusammengesunken im Heck.

»Keller!«, schrie Spatz. »Komm, und hilf uns mal!«

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Aus der einfachen Hütte inmitten der Büsche, ein kleines Stück vom Ufer entfernt, steckte eine schlanke Gestalt vor­sichtig den Kopf heraus und ging dann auf die Kinder zu.

»Beeil dich«, befahl Spatz. »Wir haben Gesellschaft für dich mitgebracht. Er könnte schon tot sein.«

»Na, wunderbar«, erwiderte der Mann bissig. Er war selbst noch recht jung und besaß haselnussfarbenes zerzaustes Haar sowie ein blasses Gesicht. »Genau das habe ich gebraucht.«

Wiesel zog ihn am Mantelärmel. Keller warf einen Blick auf den Mann im Heck und hastete zu ihm, ohne auf das Wasser zu achten, das ihm bis zu den Knien ging.

»Komm schon«, sagte Spatz. »Hilf uns mal.« »Wasserratten«, sagte Keller und lachte amüsiert. »Ihr

habt euch einen königlichen Arzt gefangen.«

Als Dr. Torrens die Augen öffnete, konnte er sich nur zweier Dinge sicher sein: Er lebte, und sein Arm tat weh. Ansonsten waren seine Erinnerungen nur getrübt und verwirrend. Zwei Kobolde hatten ihn fortgeschleppt. Oder vielleicht hatte er das auch nur geträumt. Er lag auf einem schmutzigen Boden, und ein Mann beugte sich über ihn, den er nie zuvor gesehen hatte. Ein zerlumptes Mädchen und ein Junge starrten ihn an.

»Wir warten nun schon zwei Tage darauf, dass Ihr auf­wacht«, sagte der Fremde. »Ich kann Euch sagen, es gab Augenblicke, da hatte ich Zweifel, ob das je geschehen würde. Das sind Spatz und ihr Bruder Wiesel. Sie haben mir glauben machen wollen, Ihr hättet einem Seemann ein Mes­ser zwischen die Rippen gerammt. Sie finden die Vorstellung faszinierend. Sie sind sehr von Euch beeindruckt, Dr. Torrens.«

»Ihr kennt mich?« Dem erstaunten Arzt gelang es irgendwie, sich aufzusetzen.

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»Von Eurem Ansehen und Eurem Ruf her. Ihr seid einer der wenigen, die keine Blutegel einsetzen. Das ist äußerst sensibel, muss ich sagen, zumal wir schon einen als Obersten Minister haben. Ah … Verzeiht mir, dass ich jemandem meine Meinung aufdränge, der zu schwach ist, ihr zu wider­sprechen.«

Torrens verzog das Gesicht. »So oder so würde ich das wohl kaum tun. Ihr habt mich erkannt; leider kann ich nicht das Gleiche von Euch behaupten.«

»Ihr würdet mich vielleicht besser kennen, wenn ich mich als Alter Kasperl vorstellen würde.«

Trotz seiner Schmerzen lachte Dr. Torrens überrascht auf, als er den Namen hörte. Das war der Titel einer komischen Zeitschrift, die in ganz Marianstat kursierte. »Ihr? Ist das möglich?«

»Da ich die Worte schreibe und sie ihm in den Mund lege, da ich ihn tatsächlich erschaffen habe, nehme ich an, ich darf auch seine Identität für mich beanspruchen. Ebenso wie die des Bären.«

»Eure Zeitschrift hat mir viel Vergnügen bereitet«, sagte Torrens. »Diese Gespräche zwischen dem Alten Kasperl und seinem Bären zeugen von einem scharfen Verstand. Aber … Alter Kasperl? Mit seiner Bauernjacke, seinem Bierkrug und den grauen Schnurrhaaren? Ich habe mir den Autor als einen weit älteren Mann vorgestellt.«

»Die Zeiten, in denen wir leben, lassen uns schnell altern«, sagte Keller. »Aber wie auch immer, ich fasse das als Kompliment auf. Ich mache Unsinn aus der Welt, um anderen zu helfen, einen Sinn darin zu finden.«

»Eine Bemerkung, wie sie des Alten Kasperls würdig ist«, sagte Torrens.

»Eigentlich ist der Bär der Klügere. Für gewöhnlich korrigiert er den Alten Kasperl, wie Ihr vielleicht bemerkt

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habt. Ich bin glücklich, sagen zu können, dass der Oberste Minister den Humor ein wenig zu nah an der Wahrheit findet. Die beiden – in Gestalt, ihres Schöpfers natürlich – sind vor kurzem zu einem Fest am Galgen eingeladen worden: ihrem eigenen. Wahrlich ein Lob für ihre Fähigkeit, Cabbarus zu necken, aber eine Ehre, die ich dankbar habe ablehnen müssen. Eine ganze Mannschaft von uns Schreibern hat die letzten Seiten in der Festung Carolia geschrieben. Einer Hand voll ist die Flucht gelungen. Ich habe mich ihnen ange­schlossen, da ich den letzten öffentlichen Auftritt des Alten Kasperls nicht am Galgen habe erleben wollen. Nachdem wir erst einmal draußen waren, haben wir uns getrennt. Ich habe meinen Weg hierher gefunden. Diese Wasserratten haben sich als äußerst gastfreundlich erwiesen. Sie bewundern Gesetzesbrecher.

Aber ich ermüde Euch, Dr. Torrens. Sagt mir, wie ich Euch wieder auf Euren Weg zurückführen kann, denn Ihr seid offensichtlich nicht aus freien Stücken hier. Ihr könnt auf meine Diskretion vertrauen, was den toten Seemann be­trifft.«

»Ich habe ihn getötet«, erklärte Torrens schlicht. »Das habe ich mir nicht vergeben. Mein Beruf ist es. Leben zu reiten, nicht es zu nehmen. Aber er hat meines nehmen wollen. Unglücklicherweise kannte ich die Schwachstellen des menschlichen Körpers besser als er. Nebenbei bemerkt: Er war kein Seemann. Cabbarus hat ihn geschickt. Denn Ihr müsst wissen, Meister Keller, dass auch gegen mich die Todesstrafe ausgesprochen wurde.«

»Bravo!«, rief Keller. »In den Augen unserer großzügigen Wasserratten seid Ihr damit ein Held. Und auch in meinen, was das angeht.«

Dr. Torrens war dankbar dafür, in die Hände eines Journalisten und zweier Straßenkinder gefallen zu sein und

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nicht in die eines anderen Arztes. Anstatt ihn zu betäuben und seine Wunden zu kauterisieren, ließen sie ihn in ihrer Unwissenheit einfach ruhen, fütterten ihn, so gut sie konnten, und hielten seine Wunde sauber. Als Folge davon erholte er sich rasch. Keller folgte den Anweisungen des Doktors und fertigte eine Schlinge ans einem Leinenfetzen, den er in einem Haufen Müll gefunden hatte.

»Spatz und Wiesel werden schon nichts dagegen haben, dass wir uns ein wenig an ihrer Lumpensammlung be­dienen«, sagte Keller und zog die Schlinge zurecht. »Einiges davon war ohne Zweifel schon vor ihnen hier: ein Erbe ihrer Vorfahren sozusagen. Als gute Verwalter dieses Erbes haben sie ständig etwas hinzugefügt.«

»Dann ist das hier nicht ihr Heim?« »Jetzt schon. Wenn ich Spatz richtig verstanden habe,

haben sie die Hütte leer vorgefunden und sind einfach ein­gezogen. Sie haben keine Eltern, außer im biologischen Sinn. Sie können bleiben, sie können weiterziehen. Jetzt sind sie jedenfalls hier, und das ist alles, was sie interessiert.«

»Die Vorstellung ist geradezu monströs, dass sie in diesem … diesem Abfallhaufen aufwachsen, denn genau das ist er.«

»Im Gegenteil«, widersprach ihm Keller. »Sie gehören zu den Glücklichen. Marianstat ist voller Waisen und Straßen­kinder, wie Ihr sicherlich wisst. Manchmal glaube ich, sie müssen in den Rissen der Bürgersteige leben. Was Ihr einen Abfallhaufen nennt, wäre für diese Kinder wie eine Sommerfrische auf dem Land. Auch wir sollten froh darüber sein, solange wir gezwungen sind, hier zu leben.«

»In meinem Fall kann das nicht mehr länger sein«, sagte Torrens. Im Laufe seiner Genesung hatten der Hofarzt und der Journalist Vertrauen zueinander gefunden. Auch wenn der Schreiber düsterer in seinem Verhalten war, als Torrens

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vom Erfinder des Alten Kasperl erwartet hatte, konnte er auch komisch und beißend sein – besonders wenn es um Cabbarus ging. Als ihre beiden Gastgeber fort waren, um ihre üblichen Runden zu drehen, hatte Torrens Keller gegenüber von seiner Hoffnung gesprochen, eine Opposition gegen Cabbarus zu sammeln und zu einen.

»An Bewunderern mangelt es Meister Cabbarus kaum«, sagte Keller. »Das heißt, sie würden ihn am meisten bewun­dern, wenn er am Ende eines Strickes hinge. Sie sind im ganzen Königreich verstreut. Und genau das macht die Sache so schwierig: Sie sind verstreut.«

»Gibt es keine Führer unter ihnen? Niemanden, der mir helfen könnte?«

»Anfang des Jahres hat mir ein Kollege geschrieben«, antwortete Keller. »Er lebt in Belvista, ein paar Meilen landeinwärts. Er hat von Gerüchten über ein Individuum gesprochen, eine Art Unruhestifter.«

»Könnt Ihr mich mit diesem Kollegen in Kontakt brin­gen?«

»Ich würde selbst gern in Kontakt mit ihm treten. Der Alte Kasperl und der Bär werden so weit weg von Marianstat wie möglich müssen. Die Finger sind auf ihre eigene Art ja interessant, eignen sich aber kaum als ständiger Wohnsitz.«

»Die Straßen wird man natürlich überwachen.« »Und zwar strengstens. Bis auf eine. Eine exzellente

Hochstraße, die uns direkt aus der Stadt führen könnte. Von diesem Punkt an hinge dann alles an uns. Ich sage ›uns‹, weil ich vorschlagen möchte, dass wir gemeinsam reisen.«

»Einverstanden«, sagte Torrens. »Aber diese Hoch­straße?«

»Sie liegt direkt vor unserer Tür. Die Vespera. Da wir jedoch nicht auf ihr laufen können, werden wir segeln müs­

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sen, und da wir werden segeln müssen, benötigen wir ein Boot. Was nun das Boot betrifft…«

»Wir sollen das der Kinder nehmen?« Torrens runzelte die Stirn. »Das ist ihre einzige Möglichkeit, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Auch wenn ich von Beruf Journalist bin«, sagte Keller, »so lehne ich es dennoch ab, Kinder auszurauben. Unsere Wasserratten könnten uns aber hinter die Stadt rudern und uns ein gutes Stück flussaufwärts wieder an Land setzen. Ich denke, Geld könnte sie dazu verführen.«

»Ohne Zweifel«, stimmte ihm Torrens zu, »aber meine Börse ist weg.«

»Spatz hat sie. Ich habe sie bei ihr gesehen. Lasst mich sie überzeugen, sie wieder herzugeben. Ich werde an ihr Ge­wissen appellieren, an ihr Ehrgefühl – davon muss ja noch ein Funke übrig sein.«

Als Spatz, und Wiesel wieder zurückkehrten, setzte Keller sie vor sich hin. »Wasserratten, ich werde euch jetzt eine Frage stellen. Seid ihr Diebe?«

»Nein«, piepste Wiesel, »aber das wäre ich gerne.« »Ich bin auch kein Dieb«, sagte Spatz. »Ich hatte nie viel

Glück.« »Wie auch immer«, fuhr Keller fort, »ich glaube, ihr habt

eine Börse voller Geld, die diesem Gentleman gehört. Tatsächlich habt ihr sie von ihm gestohlen.«

»Das haben wir nicht!«, schrie Spatz. »Das ist meine Ernte. Ich habe sie gefunden.«

»Ja, du hast sie gefunden. In seiner Tasche«, sagte Keller, »jetzt hört genau zu, was ich euch sage. Hättet ihr sie einem Toten abgenommen, ist das eine Sache. Da dieser Herr hier jedoch offensichtlich lebt, ist das etwas vollkommen anderes. Das ist Stehlen.«

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»Ich werde sie nicht wieder zurückgeben.« »Du sollst sie auch behalten«, pflichtete ihr Keller bei,

»aber unter anderen Bedingungen. Dieser Gentleman und ich, wir haben dringende Geschäfte weiter flussaufwärts. Wenn ihr uns ein Stück weit rudern würdet, würde die Börse auf ehrenhafte Art euch gehören – als Bezahlung für unsere Passage und als Ausgleich für eure Gastfreundschaft. Die Einzelheiten meiner Logik mögt ihr vielleicht nicht ver­stehen, aber…«

»Wir werden euch fahren«, sagte Spatz. »Warum hast du uns nicht einfach rundheraus gefragt?«

»So viel zum Thema Logik.« Keller seufzte. «Und so viel zum Thema Ehre.«

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Fünfzehn

Ein paar Nächte nach seiner Anspielung wegen neuer Arbeit für Theo führte Florian ihn ins Lagerhaus eines Weinhändlers nahe dem Marktplatz. Der Kaufmann persönlich öffnete ihnen die Tür und winkte sie eine Treppe hinunter. Im Keller, hinter einer Fässerwand, war Platz freigeräumt worden, um so einen großen Raum mit niedriger Decke zu schaffen. Auf einem langen Tisch standen Kerzen und Holzkisten. Stock ging auf und ab, während Zara und Justin in den Kisten herumkramten. Rina hatte gerade eine Holzplanke abgestellt.

»Meine Kinder«, erklärte Florian, »begrüßt euren neuen Architekten und Handwerker.« Er verneigte sich vor Theo. »Junger Mann, du bist nicht länger Lehrling, sondern Meis­ter.«

Theo hatte keine Ahnung, wovon Florian redete. Sein Blick fiel auf einen Haufen Holz und merkwürdige Eisenstücke. Es war eine Druckerpresse – oder besser: die Überreste mehrerer Druckerpressen.

»Cabbarus hat es sich zur Aufgabe gemacht, Druckereien zu schließen«, sagte Florian. »Wir wiederum betrachten es als unsere Aufgabe, sie wieder zu eröffnen. Bis jetzt ist es nur eine. Wenn die Büttel des Königs eine Druckerpresse zerschlagen, schlachten wir die Überreste aus wie kleine Vögel, die an Brotkrumen picken.«

»Aber … Wie? Wie ist es euch gelungen, all das herzu­bringen?«

»Das ist egal«, antwortete Florian. »Die Frage ist: Kannst du die Teile wieder zusammenbauen?«

»Ich weiß es nicht.« Theo wurde schwindelig angesichts der vielen Arbeit, die man hier würde reinstecken müssen. »Jede Presse ist ein wenig anders. Es geht nicht nur darum,

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ein Teil mit dem anderen zu verbinden. Ich weiß es nicht. Aber, ja, ich werde es versuchen.«

»Dann tu es«, sagte Florian. »Falls du irgendetwas brauchst, sollst du es bekommen.«

»Wie der Phönix!«, rief Stock. »Wie der legendäre Vogel aus seiner eigenen Asche wieder aufersteht, so wird diese Presse aus dem Müll neugeboren werden.«

»Lass es«, sagte Zara. »Wenn du arbeiten willst, dann bleib. Wenn nicht, geh zu Jellinek.«

Der stämmige Poet schnappte sich einen Papierstapel vom Tisch. »Ich werde mich sofort an die Arbeit machen. Ich habe schon ein paar Verse im Sinn. Sie werden die erste Nachkommenschaft unseres mechanischen Phönix sein. Das Original hat nur ein einziges Ei gelegt; wir jedoch können Tausende legen.«

»Deine Verse können warten«, sagte Florian. Er blickte zu Theo. »Als unser junger Freund zum ersten Mal hierher gekommen ist, hat er mir etwas im Vertrauen erzählt. Falls er einverstanden ist, denke ich, ist es nun an der Zeit, es öffentlich zu machen. Der Ermordung eines unschuldigen Mannes durch die Königlichen Wachtmeister darf kein Geheimnis bleiben.«

Noch immer verwirrt nickte Theo, und Florian fuhr fort: »Ich schlage vor, du schreibst einen Bericht über deinen Meister; warum sie seine Presse zerstört haben und schluss­endlich auch ihn selbst. Schreib alles genauso nieder, wie es geschehen ist. Druck es. Wir werden es dann in so viele Hände verteilen, wie wir können. Das Volk von Westmark wird ein neues Beispiel dafür bekommen, wie Cabbarus seine Aufgaben erfüllt.«

Theo willigte mit Freuden ein. Von nun an arbeitete er in drei Berufen zugleich. Tagsüber saß er in der Taverne und schrieb Briefe für seine Kunden. Abends arbeitete er an der

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Druckerpresse im Lagerhaus, und hinterher, tief in der Nacht, versuchte er, seinen Bericht zu schreiben.

Es war nicht so einfach, wie er angenommen hatte. Für ihn war Anton ebenso sehr Vater wie Meister gewesen. Mehr und mehr dachte er darüber nach, wie er aufgewachsen war, und nicht nur darüber, was in jener Nacht in Dorning passiert war. Er versuchte, Anton mit den Augen eines Fremden zu betrachten: ein provinzieller Handwerker, der nur wenig von der Welt jenseits seines Ladens gesehen hatte, und dessen Leben die Bücher waren, die er druckte. Er erinnerte sich daran, wie Anton ihn dafür getadelt hatte, als er sich gewünscht hatte, Cabbarus den Hals umdrehen zu können. Und doch hatte der Mann wie ein Wilder gekämpft, um seine Druckerpresse zu verteidigen. Als Theo versuchte Anton zu beschreiben, versuchte er, sich selbst zu beschreiben. Nichts von alledem war jedoch für sein Pamphlet zu gebrauchen, und er begann wieder von vorne.

In der Zwischenzeit nahm die Presse wieder Stück für Stück Gestalt an. Theo hatte Zara als seine Gehilfin ausge­wählt. Sie besaß nicht nur eine scharfe Zunge, sondern auch einen ebenso scharfen Verstand und, da sie von Beruf Kleiderschneiderin war, auch noch geschickte Finger. Rina und Justin sortierten den Mischmasch von Lettern: eine zähe, langweilige Arbeit, doch da sie es für Florian taten, beschwerten sie sich kein einziges Mal. Stock verrichtete die Schwerarbeit. Dabei knurrte er immer wieder, dass er Poet und kein Packesel sei.

Als die Druckerpresse schließlich fertig war – Stock hatte darauf bestanden, sie den ›Westmark-Phönix‹ zu nennen –, lud Florian sie zum Abendessen zu Jellinek ein: Es gab gleich zwei Dinge zu feiern, denn Theo hatte auch noch sein Pamphlet fertiggestellt, und Florian hatte es gelobt.

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Während Stock Verse deklamierte, und Justin über den Resten des Festmahls einnickte, verließ Florian den Tisch auf ein Zeichen von Jellinek hin. Kurz darauf kehrte er wieder zurück, nahm Theo beiseite und führte ihn in die Kammer neben der Küche.

Luther wartete dort auf sie. Von allen Freunden Florians war er derjenige, den Theo am seltensten sah und somit am wenigsten kannte. Luther war ein ergrauender, lederner Mann, älter als die anderen, und seinem Aussehen nach hätte er Wagenschmied, Steinmetz oder irgendeine Art von Handwerker sein können. Seine Kleider waren nass und dreckig von der Reise.

»Luther ist gerade aus dem Süden gekommen«, sagte Florian. »Über Nierhalt. Es könnte dich interessieren, was er über ein paar Freunde von dir zu erzählen hat.«

»Ich war noch nie in Nierhalt«, sagte Theo. »Deshalb habe ich auch keine Freunde dort.«

»Ich glaube aber doch«, widersprach Florian. »Deinen ehemaligen Kollegen. Wie auch immer er sich im Augen­blick nennen mag, Luthers Beschreibung passt exakt zu dem, was du mir erzählt hast.«

»Da war ein Mädchen bei ihm«, rief Theo. »Bohnen­stange …«

»Und das ist sie immer noch«, sagte Luther. »Und auch noch so ein winziger Kerl. Sie sitzen beide im Stadtgefäng­nis.«

»Warum?« Theos Herz sank genauso schnell wieder, wie es gesprungen war. »Was haben sie getan?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Luther. »Sie sind aber immer noch besser dran als der andere. Der steht mitten auf dem Marktplatz in einen Käfig eingesperrt.«

»Weshalb?« Theo packle Luther am Arm. »Was tun sie mit ihm?«

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»Nach dem zu urteilen, was ich habe zusammentragen können, bestrafen sie ihn für irgendeine Art von Vergehen. Er ist schon ein paar Tage eingesperrt und sie geben ihm noch nicht einmal was zu essen.«

»Ich muss hin. Zara kann sich um die Druckerpresse kümmern.«

»Als wir uns zum ersten Mal getroffen haben«, sagte Florian, »schienst du mir froh darüber gewesen zu sein, den Kerl los zu sein.«

»Da steckte er auch noch nicht in Schwierigkeiten. Und Bohnenstange ist auch dort. Und Muskete. Ich muss sie da rausholen.«

»Das kannst du nicht«, sagte Luther. »Nierhalt ist voller Soldaten, und in der Stadt herrscht eine wirklich üble Stimmung. Du würdest keine Minute dort überleben.«

»Ich kann aber doch nicht einfach hier bleiben und nichts tun! Es muss eine Möglichkeit geben. Ich gehe. Ich werde es darauf ankommen lassen.«

»Ich werde das nicht zulassen«, sagte Florian. »Du wirst es nicht zulassen?«, schrie Theo. »Niemand

wird mich aufhalten. Noch nicht einmal du.« Theo staunte über seine eigenen Worte. Niemand sprach

so mit Florian. Nichtsdestotrotz blieb er standhaft und blickte dem Mann unverwandt ins Gesicht.

Florian lächelte leicht. »Du bist ein größerer Hitzkopf, als ich angenommen habe. Nein, ich werde dich nicht gehen lassen … oder genauer gesagt: Ich werde dich nicht allein gehen lassen.«

»Dann wirst du mir also helfen?« In Florians grauen Augen leuchtete es. »Wenn ich so

darüber nachdenke, würde uns allen ein Besuch in Nierhalt

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ganz gut tun. Wir könnten ein wenig frische Landluft vertragen.« Er blickte zu Luther.

»Wie ich dir schon gesagt habe, könnte es sich auch als profitabel erweisen«, erwiderte der Handwerker. »Das Risiko ist groß, der zu erwartende Gewinn aber auch.«

»Dann machen wir es so«, sagte Florian und drehte sich wieder zu Theo um. »Aber ich fürchte, wir können nicht sofort aufbrechen.«

»Was? Wie schnell?« Florian grinste. »Noch in dieser Stunde. Würde das deine

Geduld über Gebühr beanspruchen?« »Ich stehe in deiner Schuld«, sagte Theo, »und das werde

ich dir vergelten. Darauf gehe ich dir mein Wort.« »Akzeptiert und respektiert«, sagte Florian. »Jetzt geh,

und sag den anderen Bescheid.«

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Sechzehn

Theo hatte sich im Stroh im hinteren Teil des Wagens zusammengerollt. Der Mond war inzwischen untergegangen, und der Himmel hellte sich allmählich auf. Hinter ihm hatte Justin sich ebenfalls zusammengerollt und schlief tief und fest. Vor ihm hielt Florian die Zügel mit leichter Hand und gestattete dem Pferd, sein eigenes Tempo zu finden. Zara, die wie eine Bäuerin gekleidet war, döste mit dem Kopf an seiner Schulter. Sie hatte darauf bestanden, mit ihnen zu gehen, und so war Rina unter Protest in Freyborg geblieben: um ein Auge auf die Druckerpresse zu haben und aufdrin­gende Nachricht von Florian zu warten. Stock und Luther waren auf frischen Pferden vorausgelitten. Theo staunte noch immer darüber, wie schnell Florian alles in Gang gesetzt hatte. Auch das, so verstand er nun, war Teil dessen, was es bedeutete, Florian zu sein. Theo war dankbar dafür.

Und er hatte auch versucht, Florian dafür zu danken, doch dieser hatte es mit einem Schulterzucken abgetan, als wäre diese Reise tatsächlich nur ein Ausflug aufs Land. Eine Zeit lang sah es auch tatsächlich so aus. Der Wagen ratterte über die staubige Straße mit Stoppelfeldern rechts und links. Als der Morgen kam, war er hell und frisch. Das Ganze hatte wirklich etwas von Urlaub an sich, und Florian war aller­bester Laune.

Sie erreichten eine gepflasterte Straße und später einen Wegweiser, der in Richtung Nierhalt deutete. Anstatt ihm jedoch zu folgen, bog Florian ab und fuhr in die Wälder, welche die sanften Hügel bedeckten.

Als Theo ihn fragte, warum, antwortete Florian nur: »Überlass das mir. Im Augenblick kannst du dich ruhig darauf beschränken, die Aussicht zu genießen. Das hier ist einer der schönsten Landesteile. Der Adel hat in dieser

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Gegend seine Sommergüter und Jagdhütten. Und es gibt auch ein paar rustikale Hütten mit so viel Komfort, wie ihn die rustikalen Menschen niemals sehen. Ich frage mich, ob sie es ebenso amüsant finden würden, wenn die Bauern auf einmal die Adligen spielen wollten.«

Kurz darauf fuhr Florian den Wagen in einen Hof, der von mehreren Gebäuden umgeben und vom Wald geschützt war. Das Haupthaus bestand ans Holz und besaß ein hochgiebeliges Dach. Mehrere Pferde standen in den Ställen, und zwei weitere waren an einem steinummauerten Brunnen angebunden.

Stock saß auf einem Fass neben der Tür. Er sprang auf und rannte zum Wagen. Justin und Zara kletterten hinunter und gingen direkt hinein; sie schienen den Ort zu kennen.

»Du hast Besucher«, sagte Stock zu Florian. Theo folgte ihnen in einen langen Raum mit weiß verputzten Wänden und einem großen Kamin. Luther war dort zusammen mit einem halben Dutzend Männer, die Theo noch nie gesehen hatte. Einige trugen Jagdkleidung mit Taschen über der Schulter, andere die rauen Jacken von Bauern. Vogelflinten und Musketen standen in einer Ecke.

Zwei Männer saßen am Tisch, vor ihnen die Reste einer Mahlzeit: der jüngere, schlecht rasiert und mit düsterem Blick, der ältere, weißhaarig und mit dem Arm in einer Schlinge. Beide waren verdreckt, ihre Kleidung zerschlissen und voller Löcher.

Die Gesellschaft begrüßte Florian warmherzig, der mit der Hand abwinkte und seine Aufmerksamkeit den Männern am Tisch zuwandte. Der jüngere der beiden stand auf.

»Mein Name ist Keller. Wir haben einige gemeinsame Bekannte. Dank ihnen haben wir unseren Weg hierher gefunden, auch wenn ich Euch sagen muss, Sire, dass Ihr teuflisch schwer zu finden seid.«

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»Darüber bin ich auch sehr froh«, sagte Florian. »Zu meinem eigenen Besten, wenn auch nicht zu Eurem. Ich hätte es vorgezogen, den Alten Kasperl unter anderen Umständen kennen zu lernen.«

»So weit weg von Marianstat habt Ihr von mir gehört?« In Kellers düsterem Gesicht erschien ein erfreutes Lächeln. »Ich betrachte das als großes Lob.

Mein Reisegefährte«, fuhr Keller fort, »sieht im Augen­blick aus wie einer seiner eigenen Patienten. Wie es dazu kam, wird er Euch selbst erzählen: Dr. Torrens, ehemaliger Hofarzt, gegenwärtig im Exil – solange es ihm gelingt, am Leben zu bleiben. Was nun die ungewöhnliche Verbindung eines Schreiberlings mit einem Arzt betrifft, werdet Ihr vielleicht wissen wollen …«

»Ich würde viel lieber wissen, warum überhaupt ein Höf­ling hier ist?«

»Das kann ich Euch einfach sagen«, meldete sich Dr. Tor­rens zu Wort. »Ich gehe davon aus, dass Ihr den Obersten Minister Cabbarus ebenso sehr verabscheut wie ich. Sicher­lich wisst Ihr, dass Augustin kaum in der Lage ist zu regieren, und er wird es vielleicht auch niemals wieder sein. Was Ihr jedoch nicht wisst, da Ihr nicht am Hof lebt und somit mit dessen Innenleben nicht vertraut seid, ist, dass Cabbarus dahingehend intrigiert, sich von Augustin adoptieren zu las­sen und so zum Thronerben zu werden. Seit nunmehr sechs Jahren ist der Oberste Minister nur vom Namen her noch nicht König. Jetzt will er den Titel und nicht mehr nur die Macht.«

Anstatt das Entsetzen des Doktors zu teilen, zuckte Florian nur kurz mit den Schultern.

»König Augustin oder Cabbarus? Für mich, mein lieber Herr Doktor, sind alle Könige gleich.«

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»Das könnt Ihr doch nicht ernsthaft glauben!«, brüllte Torrens. »Erkennt Ihr nicht den Unterschied zwischen einem Monarchen und einem Tyrannen? Der Oberste Minister ist eine Katastrophe für dieses Land; als König wird er noch viel schlimmer sein. Am Hol wagt nur einer, sich ihm zu widersetzen: Königin Caroline. Dadurch könnte ihr Leben in Gefahr sein. Cabbarus wird nicht zulassen, dass sich ihm irgendjemand über längere Zeit hinweg in den Weg stellt. Er hat mich verbannt und versucht, mich umbringen zu lassen. Aber ich werde das Königreich nicht verlassen. Ich suche ehrenhafte Männer, die mich und die Königin in unserem Streben unterstützen, die Macht aufzubauen …«

»Damit wir uns richtig verstehen«, unterbrach Florian ihn. »In zwei Punkten habt Ihr Recht. Wir sind ehrenhafte Män­ner, und unsere Meinung über Cabbarus ist wie die Eure. Was jedoch die Unterstützung Eurer Sache betrifft, so sehe ich keinen Grund dafür. Wir beabsichtigen, unsere eigene zu fördern, mein lieber Doktor.«

»Was auch immer das sein mag«, sagte Torrens, »es ist weniger dringend, als Cabbarus' Einfluss ein Ende zu berei­ten. Der Schuft muss ohne Verzögerung zur Strecke gebracht werden, egal wie viel das kosten mag. Es gibt keine andere Möglichkeit, die legitime Monarchie zu bewahren.«

»Zu bewahren?«, erwiderte Florian. »Sollen wir eine Machtstruktur bewahren, die nur auf dem Zufall der Geburt beruht? Unverdient und nur missbraucht? Man hat Euch unglücklicherweise in die Irre geführt, mein lieber Doktor, wenn Ihr in dem Glauben hierher gekommen seid, dass ich Euch dabei helfen würde. Legitime Monarchie? Der einzig legitime Herrscher ist das Volk von Westmark.«

»Das, Sire, ist ein Traum. Ich teile ihn nicht mit Euch. Es gibt Missbrauch – das will ich nicht leugnen –, und das muss berichtigt werden, aber nicht durch Zerstörung. Wenn ich einen Patienten mit gebrochenem Bein habe, heile ich das

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Bein. Ich lasse ihn nicht verbluten. Ich tue, was auch immer möglich und vernünftig ist.«

»Das tue ich auch«, sagte Florian. »Ihr drängt mich, mich Euch anzuschließen. Lasst mich Euch eine Frage stellen: Über wie viele Truppen verfügt Ihr? Wie viele Waffen?«

»Keine«, antwortete Torrens. »Und Ihr?« Er deutete auf den Stapel Feuerwaffen. »Falls das Euer Arsenal ist, so finde ich es nicht gerade beeindruckend.«

»Wir hoffen, es in den nächsten vierundzwanzig Stunden deutlich aufzustocken. Unsere Mittel sind bescheiden, aber sie sind auch nur ein Anfang. Wenn Ihr mich jetzt entschul­digen würdet, Doktor, wir müssen Pläne machen.«

So wütend und verbittert Florian auch immer über den Obersten Minister gesprochen hatte, bis jetzt hatte Theo noch nie gehört, dass er gleich gegen die Monarchie als solches wetterte. Er war fassungslos und aufgeregt zugleich. Lediglich was die Kühnheit des Ganzen betraf, so hatte er nichts anderes von Florian erwartet. Plötzlich wusste er, warum Florian bereit gewesen war, nach Nierhalt zu gehen. Der Wagemut des Mannes machte ihn benommen, ängstigte ihn aber auch.

»Du willst die Stadt angreifen!«, rief Theo. »Du hast gesagt, du wolltest meinen Freunden helfen.«

»Und das werde ich auch«, erwiderte Florian. »Hast du geglaubt, wir könnten einfach nach Nierhalt reinschlendern und höflich um ihre Freilassung bitten?«

»Nein. Aber nicht auf diese Art. Es wird Blutvergießen geben.«

»Das steht fest. Ein Teil von unserem Blut, ein anderer Teil von ihrem. So wenig wie möglich, aber wir werden es nicht ganz vermeiden können. Ja, es könnte mit Töten enden. Wir wären nur ein Haufen unschuldiger Narren, wenn wir nicht zumindest damit rechnen würden. Du willst deine

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Freunde. Meine Leute wollen Gewehre. Wir werden tun, was immer wir tun müssen. Du auch?«

Theo erwiderte nichts darauf. Florian blickte ihn an und sagte ruhig: »Es ist sehr einfach. Wirst du mit uns gehen oder nicht? Du brauchst unsere Hilfe, aber wir brauchen auch deine, wenn mein Plan funktionieren soll.«

Theo wandte sich von ihm ab. In einem Anflug von Wut und ohne nachzudenken, hatte er versucht, den Königlichen Inspektor zu töten. Was Florian von ihm verlangte, war jedoch berechnet, im Voraus geplant und akzeptiert. Doch er konnte sich auch nicht dazu durchringen, Bohnenstange oder auch Las Bombas und Muskete einfach so aufzugeben. Er versuchte zu erraten, was Anton in dieser Situation getan hätte. Er konnte es nicht. Er wusste keine Antwort, und es gab wohl auch keine, die ihn zufrieden gestellt hätte; und das zehrte mehr als alles andere an ihm. Schließlich nickte er stumm.

»Du wirst es schon durchstehen«, sagte Florian. »Das erste Mal ist immer das schlimmste.«

In der Zwischenzeit hatte Stock eine Holztruhe auf den Tisch gestellt und damit begonnen, Pistolen herauszuholen. Florian gab eine davon an Theo weiter, der sofort zurück­wich.

»Sie wird dich schon nicht beißen«, sagte Florian. »Ich will sie nicht.« »Nimm sie trotzdem. Du magst sie ja nicht wollen, aber

du könntest sie gebrauchen. Weißt du, wie man damit um­geht?«

Theo schüttelte den Kopf. »Dann geh mit Justin. Er wird es dir zeigen.«

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Siebzehn

Es war noch immer dunkel, als sie den Bauernhof verließen: Theo und Justin, Stock und Zara im Wagen; Florian und der Rest auf Pferden. Ein kurzes Stück vor der Stadt hielt Zara im Schatten eines Geröllufers an. Florian umarmte jeden, und sie trennten sich hier. Florian würde seine Männer aus einer anderen Richtung nach Nierhalt führen, während Theo und die anderen den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen sollten.

Justin marschierte strammen Schrittes los und drängte die anderen, ihr Tempo zu erhöhen, bis Zara ihm befahl, den Mund zu halten. Stock gähnte und knurrte wütend, weil man ihn mitten in der Nacht nach draußen geschleift hatte.

Als sie schließlich die Stadtgrenze erreichten, sagte nie­mand mehr ein Wort. Theo biss die Zähne zusammen, damit sie nicht so laut klapperten. Die Kälte so früh am Morgen durchdrang ihn bis auf die Knochen. Der Pistolenknauf drückte ihm bei jedem Schritt in den Bauch. Luthers An­weisungen folgend, schritten sie durch eine gewundene Gasse und erreichten schließlich den Platz. In der Mitte stand ein schmaler Käfig, kaum größer als die Gestalt darin.

Theo löste sich sofort von den anderen und rannte über den Platz. Der Käfig stank wie ein Tierpferch. Der Mann im Inneren stöhnte. Es war Las Bombas, kaum noch zu er­kennen. Seine Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt, und Stoppeln bedeckten seine Wangen. Theo packte die Käfigstangen. Der Graf zog die Schultern hoch und wandte das Gesicht ab.

»Lass mich in Frieden.« »Ist schon gut«, flüsterte Theo. »Wir werden Euch da

rausholen.«

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Der Graf veränderte seine Position und hob den Kopf. Seine Stimme klang rau und rasselnd. »Wer ist das? Mein lieber Junge, bist du das?« Er steckte die Hand durch die Gitterstäbe und strich mit den Fingern über Theos Gesicht. »Gott im Himmel, du bist es wirklich!«

Stock und Justin näherten sich. Zara folgte ihnen. Sie hockte sich hin, blickte in den Käfig und verzog das Gesicht.

»Ist es das, weswegen wir hierher gekommen sind? Das sollen wir retten?«

»Halt den Mund, Zara«, warf Theo zurück. »Du kennst Florians Plan. Er will ein Ablenkungsmanöver, und er soll auch eins bekommen. Aber dieser Mann ist so oder so mein Freund.«

Der Graf bettelte um Wasser. Theo nahm die Feldflasche von seinem Gürtel und steckte sie durch die Gitterstäbe. Las Bombas schnappte sie sich und schüttete den Inhalt in einem Schluck hinunter. »Danke, mein Junge. Du hast mir das Leben gerettet. Seit du fortgegangen bist, ist es uns schlimm ergangen. Aber nun, da du wieder zurück bist…«

»Ich werde nicht bleiben. Ich arbeite jetzt in Freyborg. Ich habe nur gehört, dass ihr in Schwierigkeiten steckt.«

»Verlass uns nicht schon wieder. Wir brauchen dich. Bohnenstange hat der Mut verlassen; sie will nicht mehr die Orakelpriesterin spielen. Nichts hat mehr richtig funktioniert, noch nicht einmal das hier: der Fliehende Gefangene. Eigentlich gibt es nichts Einfacheres. Ein Tuch über den Käfig, und einen Augenblick später bin ich wieder draußen: nirgends ist ein Schlüssel zu sehen. Das hat eine wunderbare Wirkung. Und es wäre auch hervorragend gelaufen, wenn mich nicht irgendein Dummkopf hätte den Mund öffnen lassen. Da drin haben sie dann den Dietrich gefunden.

Diese dummen Landeier! Sie haben behauptet, ich würde sie betrügen. Sie haben gesagt, ich hatte versprochen zu

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entkommen, und deshalb wollten sie mich so lange hier drin lassen, bis es mir gelänge. Bohnenstange hat versucht, das Schloss zu öffnen, aber sie haben sie geschnappt und ins Gefängnis geworfen, und Muskete sicherheitshalber noch dazu.«

»Wir werden jetzt nach ihnen sehen und dann wieder zu Euch zurückkommen«, sagte Theo. »Was ist aus Friska und der Kutsche geworden?«

»Sie stehen im Stall des Schmieds, unweit der Kaserne.« Theo blickte zu Stock, der zustimmend nickte und sich

sofort über den Platz hinweg auf den Weg machte. Zara stand auf. »Seid ihr beide bereit?« Theo eilte Justin hinterher, Zara blieb ihm dicht auf den

Fersen. Luther hatte ihnen erzählt, dass sich das Gefängnis auf der Rückseite des Rathauses befand. Sie fanden es schnell. An der Tür des Wachraums blieb Theo stehen und packte Justin am Kragen.

»Mach jetzt keinen Blödsinn«, flüsterte er. »Warte, bis wir drinnen sind und wissen, mit wie vielen wir es zu tun haben. Dann schrei, so laut du kannst.«

Zara blieb zurück. Theo verstärkte seinen Griff um Justin und zerrte ihn durch die Tür. Ein Wachtmeister döste am Tisch. Auf einen Blick von Theo hin begann Justin, sich zu wehren und lautstark zu protestieren. Der erschrockene Wachtmeister sprang auf und griff nach der Pistole, die vor ihm lag.

»Dieb!« Theo hielt seinen angeblichen Gefangenen fest. »Ich habe ihn dabei erwischt, wie er versucht hat, mir in die Tasche zu greifen.«

»Wer zum Teufel seid Ihr?« Der Wachtmeister beäugte ihn misstrauisch und fuchtelte mit der Pistole. »Ihr seid nicht von hier, keiner von euch beiden.«

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»Ich bin im Gasthof abgestiegen«, erklärte Theo rasch. »Ich bin gerade aus … aus Freyborg eingetroffen. Kaum hatte ich jedoch den Fuß in diese Stadt gesetzt, da hat der Kerl hier versucht, mich auszurauben. Ich will ihn hinter Gittern sehen. Sperrt ihn ein, Wachtmeister. Er muss unverzüglich angeklagt werden.«

»Das ist nicht meine Aufgabe. Er ist keiner von unseren Dieben.« Der Wachtmeister legte die Stirn in Falten. »Und was Euch betrifft, lasst mich mal Eure Reiseerlaubnis sehen.«

In diesem Augenblick platzte Zara in den Wachraum, weinte und rang die Hände. »Sire, das ist mein Bruder. Er hat niemandem ein Leid zufügen wollen. Ich flehe Euch an, nehmt ihn mir nicht weg.«

Der Wachtmeister zögerte. Er wusste nicht, mit wem er sich zuerst beschäftigen sollte: mit der aufgelösten jungen Frau oder dem Dieb und seinem Fänger. Zur weiteren Ver­wirrung des Mannes riss Justin sich los, und Theo machte eine große Schau daraus, ihn wieder einzufangen. Der Wachtmeister wirbelte herum und griff zuerst nach dem einen, dann nach dem anderen.

Zara wählte diesen Augenblick, um hinter den Tisch zu springen. Dort schnappte sie sich den Stuhl und schlug ihn dem Wachtmeister über den Kopf. Der Wachtmeister sank auf die Knie. Theo sprang zu ihm und schloss die Hände um seinen Hals. »Schlüssel! Wo?«

Der Wachtmeister machte eine Kopfbewegung. Neben einem Gewehrständer an der Wand hing ein Schlüsselring. Justin hatte begonnen, das Hemd des Mannes zu zerreißen.

»Wer ist sonst noch bei dir?«, verlangte Theo zu wissen. »Ich bin allein«, keuchte der Wachtmeister. »Die Nacht­

wache ist immer allein. Es gibt keinen anderen.«

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Theo riss den steifen Kragen herunter und stopfte ihn dem Mann in den Mund. Dann winkte er Zara, sie solle den Wachtmeister mit den Stofffetzen des Hemdes fesseln. Er selbst schnappte sich die Schlüssel und eilte eine kurze Treppe hinunter. Eisenverstärkte Türen säumten den Gang zu beiden Seiten. Theo nestelte an den Schlüsseln herum und fand schließlich den, der die erste Zelle öffnete. Muskete saß drin.

»Lauf zum Marktplatz!«, schrie Theo. »Bleib beim Grafen.«

Der Zwerg stellte keine Fragen. Er nahm die Beine in die Hand und sprang die Treppe hinauf. Theo ließ das Schloss der nächsten Zelle aufschnappen. Bohnenstange starrte ihn an. Ihr Gesicht war dreckig und ausgemergelt. Stroh vom Zellenboden hatte sich in ihrem Haar verfangen.

Theo streckte die Arme aus, doch Bohnenstange warf ihm nur einen hochmütigen Blick zu und zog sich zurück.

»Komm raus! Beeil dich!«, schrie Theo. »Was ist los mit dir?«

»Fass mich nicht an«, knurrte Bohnenstange. »Du bist ohne ein Wort verschwunden! Nicht ein Wort hast du für mich übrig gehabt! Soweit es mich betrifft, kannst du zum Teufel gehen!«

Theo packte Bohnenstange an den Schultern, zog sie aus der Zelle und stieß sie stolpernd vor sich die Treppe hinauf. Draußen ergriff er ihren Arm und schleppte sie, eisig schweigend, zum Marktplatz.

Ein Schuss ertönte aus Richtung der Kaserne. Theo sah Justin und Zara neben dem Käfig, zusammen mit Muskete. Dann hallten weitere Schüsse durch die stille Luft, gefolgt von Hufgetrappel. Theo warf einen Blick zurück. Friska galoppierte auf den Marktplatz; die Kutsche schwankte hinter ihr. Stock stand aufrecht auf dem Kutschbock und

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brüllte, so laut er konnte. Inzwischen, so schätzte Theo, war die Garnison von Nierhalt wohl wach und wankte aus ihren Baracken.

Das war der Augenblick, auf den Florian und seine Män­ner gewartet hatten, um ins Arsenal der Garnison einzu­dringen, wo die Waffen aufbewahrt wurden. Theo hatte Florian sein Ablenkungsmanöver verschafft. Nun konnte er sich darauf konzentrieren, Las Bombas zu befreien, die anderen würden ihm dabei helfen. Was auch immer sonst geschehen mochte, Florian hatte ihnen gesagt, sie sollten aus der Stadt verschwinden und sich mit ihm wieder auf dem Hof treffen.

Bohnenstange wand sich aus Theos Griff und rannte zum Käfig. Inzwischen hatte Stock Friska herangeführt. Er sprang vom Kutschbock und ging zu Zara. Die Schneiderin trug genau wie Justin zwei Musketen, die sie aus dem Ständer im Wachraum mitgenommen hatten. Eine davon warf sie dem Poeten zu.

»Zum Wagen!«, rief Stock. »Wenn das Schloss sich nicht öffnen lässt, werde ich ihn eben mitsamt dem Käfig hier rausschleppen.«

Schweiß rann Bohnenstange über ihr verdrecktes Gesicht. »Ohne Werkzeuge kann ich das nicht aufmachen. Hanno wüsste wie, aber ich nicht. Verdammt soll er sein! Warum hat er sich nur aufhängen lassen?«

Stock kramte in seinen Taschen herum und holte ein Taschenmesser heraus. Das warf er dem Mädchen zu. Bohnenstange versuchte es sofort noch einmal. Die Klinge brach entzwei. Bohnenstange fluchte und warf das Messer weg.

Inzwischen strömten Soldaten aus der Garnison auf den Marktplatz. Bohnenstange sprang auf, rannte zu Zara und zerrte am Schal der Schneiderin.

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»Das sollte funktionieren.« Sie nahm Zaras Brosche und steckte die Nadel ins Schlüsselloch. Dann drehte sie sie geschickt, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Der Käfig öffnete sich. Bohnenstange krähte triumphierend.

Theo und Muskete sprangen herbei, um dem Grafen he­rauszuhelfen, der selbst kaum kriechen konnte. Las Bombas schlang die Arme um Bohnenstange. »Gesegnet seien die Einbrecher!«

»Geht«, befahl Theo Zara. »Macht, dass ihr hier weg­kommt. Wir werden euch schon einholen.«

Las Bombas war auf dem Pflaster ausgerutscht. Selbst mit Bohnenstanges und Musketes Unterstützung konnte Theo den Grafen kaum wieder auf die Füße stellen und in die Kutsche wuchten.

Stock und Zara hatten sich bereits auf den Weg gemacht; Justin folgte ihnen. Nach ein paar Schlitten blieb Justin plötzlich stehen und drehte sich wieder um.

Er hatte eine der Musketen von der Schulter genommen. Eine furchterregende Freude ließ seine Augen leuchten. Bevor Theo ihn davon abhalten konnte, warf Justin sich aufs Pflaster und eröffnete das Feuer auf die Soldaten.

»Du Narr!«, schrie Theo. »Mach, dass du in die Kutsche kommst!«

Im selben Augenblick sah Theo Pferde durch die Reihen der Soldaten preschen. Zuerst glaubte er, dass Kavallerie in das Gefecht eingegriffen hätte; dann jedoch erkannte er, dass die Tiere reiterlos und ungesattelt waren. Florian hatte nicht nur das Arsenal gestürmt. Sein Trupp war auch in die Ställe eingebrochen und hatte die panischen Tiere zwischen die Soldaten gejagt.

Aus Furcht, niedergetrampelt zu werden, lösten die Sol­daten ihre Reihen auf. Ein Offizier bellte seinen Männer zu, sie sollten vorrücken, und schlug mit der flachen Seite seines

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Säbels nach ihnen, bis es ihm gelang, ein paar von ihnen zu sammeln.

Der Offizier rannte in Richtung Kutsche. Justin feuerte erneut. Er verfehlte sein Ziel. Einen Augenblick später war der Mann über ihm. Justin rappelte sich auf und versuchte, die Säbelhiebe mit seiner Muskete abzuwehren. Die Wucht der Schläge schlug ihm die Waffe aus der Hand. Als Theo sie erreichte, hatte der Offizier den Säbel schon zum nächsten Schlag gehoben. Hätte Theo ihn nicht beiseite gezogen, der Säbel hätte Justins Hals durchbohrt. Stattdessen schlitzte er dem Jungen Stirn und Wange auf. Der Offizier bereitete sich auf einen weiteren Angriff vor.

»Bring ihn um!« Justin wandte sein blutüberströmtes Gesicht. Theo zu; seine violetten Augen funkelten. »Bring ihn um!«

Theo hob den Arm und richtete die Pistole aus. Einen Augenblick lang zögerte er. Justin kreischte, er solle schießen. Theo stieß einen Schrei aus, als die Explosion in seinem Kopf widerhallte. Mit einem Ausdruck der Ver­wunderung auf dem Gesicht erstarrte der Offizier. Dann taumelte er und fiel zu Boden. Theo starrte die Waffe in seiner Hand an. Sein Finger am Abzug hatte sich nicht bewegt.

Als er den Blick wieder hob, sah er Florian. Er saß auf einem Pferd, eine rauchende Muskete quer über dem Sattel. Sein langes Haar hing matt herab, und Pulverflecken verunstalteten seine Wangen. Seine grauen Augen waren auf Theo gerichtet. Er lächelte leicht, als schaue er einem kleinen Kind zu, das versucht, sich die Schuhe zuzubinden.

Florian deutete mit dem Kopf in Richtung Justin. »Küm­mere dich um ihn.«

Dann wendete er sein Pferd und ritt über den Platz. Der Rest seines Trupps war im Kielwasser der reiterlosen Pferde

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auf den Marktplatz galoppiert und trieb die Tiere nun Rich­tung Stadtgrenze. Die Soldaten formierten sich neu und schickten eine Sähe nach der anderen hinter den Reitern her, die das Feuer energisch erwiderten.

Florians Männer zogen sich immer weiter zurück und ließen gut ein Dutzend Soldaten auf dem Pflaster hinter sich.

Theo warf die Pistole weg. Bohnenstange war neben ihm. Gemeinsam schleppten sie Justin in die Kutsche. Friska sprang vorwärts.

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Teil vier

Cabbarus' Garten

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Achtzehn

Aus Respekt vor seiner Position erlaubte sich der Oberste Minister gewisse kleinere Annehmlichkeiten. Eine dieser Annehmlichkeiten war ein privater Garten, in dem sich zu jeder Jahreszeit Blüten der Information finden ließen. Cabbarus düngte ihn mit großzügigen Geldspenden. Die Ernte war stets üppiger und für gewöhnlich auch präziser als die stinkenden Gemüseberichte, die ihm die Wachtmeister und Polizeispione aus der Provinz schickten. Cabbarus glaubte ernsthaft, dass ihm sein Rang das Recht auf bessere Produkte gab. Und da er seinen Garten persönlich kultivierte, sah er keinen Grund, die Ernte mit jemandem zu teilen.

Wie in den meisten sorgfältig gepflegten Gärten tauchte hier und da mal ein Unkraut auf, oder eine Pflanze verdorrte. Cabbarus hatte seine Enttäuschungen. Das Individuum, auf das er vertraut hatte, dass es sich um Torrens kümmerte, hatte keine Früchte eingebracht. Vorsichtshalber wäre der Mann ohnehin als Unkraut ausgerissen worden. Was Cabbarus ärgerte, war die Tatsache, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, welches Schicksal Dr. Torrens ereilt hatte und wo er sich im Augenblick befand.

Torrens und sein Gegner könnten sich gegenseitig getötet haben. Das hielt Cabbarus allerdings für unwahrscheinlich. Der Hofarzt könnte ins Wasser und von der Flut davon­getragen worden sein. Aber es war keine Leiche ange­schwemmt worden. Die Informanten des Obersten Ministers hatten lediglich berichten können, dass Torrens verschwun­den war. Cabbarus war nicht bereit, das zu akzeptieren. Niemand verschwand wirklich, außer auf Befehl des Obersten Ministers.

Nichtsdestotrotz würde er Dr. Torrens als tot betrachten, solange er nichts Gegenteiliges hörte – wenn auch nur aus

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ganz praktischen Gründen. König Augustin bereitete ihm langsam Schwierigkeiten.

Zuerst hatte der König sich nicht mehr daran erinnert, den Hofarzt verbannt zu haben, und hatte nach dessen Erscheinen verlangt.

»Er hat Eure Majestät zutiefst beleidigt«, sagte Cabbarus. »Eure Majestät hatten keine andere Wahl, als ihn daraufhin zu entlassen.«

»Egal. Jetzt will ich ihn wieder zurück.« Cabbarus versicherte dem Monarchen, dass das unmög­

lich sei. Dennoch verlangte Augustin einige Tage lang immer wieder nach dem Arzt. Schließlich ließ er die Angelegenheit auf sich beruhen. Allerdings verweigerte er die Dienste jedes anderen Arztes, selbst jener, die Cabbarus ihm wärmstens empfahl. Die Gesundheit des Königs verbesserte sich daraufhin dramatisch.

Auch sein Verstand wurde ein wenig klarer. Die Schuld daran gab Cabbarus den Okkultisten, Nekromanten und Spiritualisten, oder besser: dem Mangel an ihnen. Was eine stete Prozession gewesen war, hatte sich nun auf eine Hand voll reduziert.

»Die Belohnung ist noch immer nicht ausreichend«, erklärte Augustin. »Ich befehle dir, die Summe zu ver­doppeln.«

»Wie Euer Majestät wünschen.« Cabbarus verneigte sich. Da er sicher war, dass niemand die Belohnung würde in Anspruch nehmen können, hatte er keinerlei Vorbehalte dagegen, den Betrag zu verdoppeln oder gar zu verdrei­fachen. »So soll es verkündet werden.«

»Und du wirst der Proklamation auch noch etwas hinzufügen. Da wir eine Belohnung für den Erfolg aussetzen, halten wir es auch für angemessen, im Falle des Versagens eine Strafe auszusprechen.«

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»Das verstehe ich nicht ganz, Sire. Eine Strafe? Welcher Art?«

»Diese Männer haben behauptet, spirituelle Kräfte zu besitzen, aber sie haben mich so sehr enttäuscht, dass ich es kaum ertragen konnte. Nichtsdestotrotz sind sie für ihr Versagen auch noch belohnt worden. Nun lautet mein Befehl wie folgt: Wenn sie nichts erreichen, werden sie auch kein Geld erhalten.«

»Wie Euer Majestät es so passend ausgedrückt hat, ist das nur angemessen. Sie werden nicht bezahlt werden.«

»Das ist nicht die Strafe.« »Was dann, Sire?« »Wenn sie versagen«, sagte der König, »sollen sie dem

Henker überantwortet werden.« »Euer Majestät!«, rief Cabbarus. »Eine solch drastische

Strafe …« »Eine drastische Strafe für eine drastische Enttäuschung«,

unterbrach ihn Augustin. »Verkünde es so, Oberster Minis­ter. Ich befehle es dir.«

Trotz der energischen Proteste des Obersten Ministers hielt der König an dieser Regelung fest. Mit all seinem Einfluss konnte Cabbarus ihn nicht dazu bewegen, die Verordnung wieder zurückzunehmen. Zwar glaubte Cabbarus von ganzem Heizen an Bestrafungen, aber in diesem Fall waren ihm sofort die Folgen klar. Es gab genügend Schurken, die für einen fetten Gewinn alles aufs Spiel setzen würden; aber kein Halunke war verrückt genug, seinen Hals bei dem Versuch zu riskieren, das Unmögliche zu tun. Mit der Verkündung dieser Strafe endeten die Visitationen.

Und schlimmer noch: Der Hofarzt hatte Recht gehabt. Ohne die tägliche Dosis Scharlatane, die seine Besessenheit

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genährt hatten, erholte sich Augustin und gewann einen gewissen Teil seiner alten Ruhe zurück.

Cabbarus rauchte innerlich. Die Proklamation bewies, dass Augustin langsam wieder zu Verstand gekommen war. Zum Wohl des Königreiches wünschte sich Cabbarus, dass der Herrscher einen Rückfall erleiden möge. Aber Wünsche, das wusste Cabbarus, wurden nur selten wahr, ohne dass der Wünschende etwas dafür tat. In seinem ganzen privaten Garten säte er aus, dass er einen frischen Vorrat an Nekromanten benötige. Die Saat ging nicht auf.

Mehrere Wochen lang zeigte sich der Oberste Minister ungewöhnlich fröhlich. So wie er seine Freude hinter einer gerunzelten Stirn verbarg, so verdeckte er seine Wut hinter einem Lächeln. Seine gute Laune versetzte die Höflinge in Erstaunen. Wie gewöhnlich erkannte nur Pankratz, wie es wirklich stand. Ein lächelnder Cabbarus war ein gefährlicher Cabbarus.

Deshalb ging Pankratz äußerst vorsichtig mit seinem Herrn und Meister um. Im Privaten unternahm Cabbarus nur wenig, um seine wahren Gefühle zu verbergen. So hatte er vor gar nicht allzu langer Zeit seinem Sekretär wegen irgendeiner Kleinigkeit mitten ins Gesicht geschlagen. Pankratz rieb sich nur das Kinn, verneigte sich und zog sich rückwärts aus den Gemächern des Obersten Ministers zurück. Der Mastiff des Ministers akzeptierte, dass man Hunde gelegentlich prügeln musste. Er respektierte seinen Meister nur umso mehr dafür und gab die schlechte Laune des Obersten Ministers an seine eigenen Untergebenen weiter.

Nichtsdestotrotz hielt Pankratz eines Abends auf Armes­länge Abstand, als er verkündete, dass ein gewisses Indivi­duum eine Privataudienz wünsche.

Cabbarus befand sich in seinen Gemächern. Er hatte das Abendessen beendet und war nicht gerade glücklich. Auf

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jeden Fall mochte er es nicht, direkten Kontakt zu seinen Kreaturen zu haben. Das vermittelte ihm jedes Mal das Gefühl, als halte er die Finger in etwas Unangenehmes gesteckt: eine Aufgabe, die er lieber Pankratz überließ. Cabbarus schüttelte den Kopf.

»Ich will ihn nicht sehen. Besprich du die Angelegenheit mit ihm.«

»Euer Exzellenz, er besteht darauf. Euch persönlich zu sehen.« Pankratz verneigte sich und breitete die Hände aus, eine Geste, die respektvoll und verteidigend zugleich war. »Es hat mit … mit dem zu tun, worüber Euer Exzellenz sich erkundigt haben.«

Einen Augenblick lang flackerten die Augen des Obersten Ministers vor Erregung. Dann nahm sein Gesicht wieder einen teilnahmslosen Ausdruck an. »Ich bezweifele, dass er sonderlich viel von Wert zu bieten hat. Wenn er jedoch darauf besteht, darfst du ihn zu mir schicken.« Er machte eine Bewegung mit dem Kopf. »Unten.«

Cabbarus legte seine Robe an und ging ohne große Eile in den Keller des Alten Juliana. Früher war das hier eine Fol­terkammer gewesen. Keines der Instrumente war mehr da. Während der Regierungszeit Augustins des Großen hatte man sie allesamt abgebaut – eine Verschwendung, die Cab­barus nie erlaubt hätte, wäre er damals schon im Amt gewe­sen. Eisenringe und -klammern hatte man jedoch in den Wänden gelassen. In einer Ecke des Raums verdeckte eine Falltür ein Loch, ungefähr so groß wie der Bauchumfang eines Mannes. Es war die Öffnung eines tiefen Brunnens, dessen Wände mit Ziegeln verkleidet waren. Auch wenn der Boden zu tief war, als dass man ihn in den Schatten hätte sehen können, so konnte man doch Wasser rauschen hören. Der Schacht führte zu einem unterirdischen Fluss, dessen Verlauf nie wirklich kartografiert worden war. Vermutlich floss er irgendwo in die Vespera. Einst hatte der Brunnen

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dazu gedient, sich Gefangener oder Teilen davon zu entledigen. Die Steinplatten am Rand neigten sich ein wenig nach innen, um den Boden leichter reinigen zu können.

Der gegenwärtige Augustin hatte befohlen, den Brunnen zuzumauern, damals, als er auch angeordnet hatte, dass die Juliana-Glocken zu schweigen hätten. Der letztere Befehl war ausgeführt worden, doch nicht der erste. Cabbarus hatte es selbst auf sich genommen, ihn zu ignorieren. Der Oberste Minister empfand es als sinnlos, einen solch nützlichen Ein­richtungsgegenstand nur wegen eines Stimmungswechsels des Monarchen zu zerstören.

Während er auf seinen Gast wartete, stand Cabbarus an der Falltür und betrachtete sie nachdenklich. Wenn Cabbarus jemandem eine der seltenen Privataudienzen gewährte, fanden diese stets in dieser Kammer statt. Es war unüber­sehbar, was sie einst gewesen war, und das beeindruckte die Besucher.

Cabbarus blickte auf, als Sekretär Pankratz einen Mann hereinscheuchte, und setzte sich dann hinter einen schweren Eichentisch. Pankratz verschwand diskret. Cabbarus und seinen Gast nicht ein, sich ebenfalls zu setzen, sondern musterte ihn stattdessen stumm mehrere Augenblicke lang.

Der Mann war klein und stämmig. Ein Schweißfilm lag auf seinen runden Wangen. Cabbarus bemerkte den pelzbe­setzten Mantel und die Goldkette um den Hals seines Be­suchers.

»Wie ich sehe, haben sich Eure Lebensumstände ver­bessert«, sagte Cabbarus. »Wenn ich mich recht entsinne, wart Ihr früher Kesselflicker.«

»Das stimmt, Sire«, erwiderte der Mann. »Das hat damals seinen Zweck erfüllt. Der Titel ›Eldermann‹ hat jedoch weit mehr Gewicht. Man könnte sagen, er strahlt den Duft von Wohlstand aus. Im Augenblick passt er eigentlich recht gut.«

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»Eure Berufswahl ist Eure Angelegenheit. Kommt zum Geschäft. Ihr sagt, Ihr hättet einen Geisterbeschwörer ge­funden.«

»Ah, nun, Sire, vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht.« »Ich bitte Euch dringend«, sagte Cabbarus. »Euch für

eines zu entscheiden, und zwar schnell.« »Nun, Sire, Ihr müsst wissen, dass das Ganze äußerst

kurios ist. Vor ein paar Monaten war ich in Kessel und bin dort mit einem Knaben zusammengetroffen, der sich – wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt – Bloomsa nannte. Er hat mich für einen größeren Narren gehalten als sich selbst. Tatsächlich besaß er die Frechheit, mich betrügen zu wollen. Natürlich ist es bei dem Versuch geblieben.«

»Und natürlich habt Ihr zu guter Letzt ihn betrogen.« »Wir Ihr sagt, Sire, natürlich.« Der Mann erlaubte sich

ein Zwinkern. »Aber das ist erst der Anfang der Geschichte. Eine Zeit lang dachte ich nicht mehr an ihn, bis ich zufällig durch eine Stadt namens Felden gekommen bin. Das einheimische Gerede drehte sich um einen Mann, der offenbar großes Aufsehen hervorgerufen hatte. Irgendein Quatsch: Geistererscheinungen, ein Mädel, das ein Orakel spielte, und ähnlichen Unsinn.

Er kam ganz gut zurecht, bis irgendetwas geschah; ich weiß nicht, was. Aus irgendeinem Grund wurde das Mädel zickig. Auf jeden Fall war das Ganze irgendwann nicht mehr neu und somit auch nicht mehr interessant. Aber der Kerl hatte Unmengen an offenen Rechnungen. Seine Gläubiger begannen, ihn unter Druck zu setzen, und drohten, ihn ins Gefängnis werfen zu lassen. Er sparte ihnen die Mühe, indem er eines Nachts die Stadt verließ – ein wenig übereilt, möchte ich sagen. Nach dem zu urteilen, was die Feldener mir erzählten, dachte ich bei mir: Aha, da hat Meister Bloomsa wieder einen seiner Tricks abgezogen.

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Die Wachtmeister durchsuchten seine Unterkunft. Bloomsa und seine Truppe waren so schnell verschwunden, dass die Wachtmeister glaubten, noch etwas von Wert zu finden. Aus Neugier habe ich mich auch mal ein wenig umgeschaut.

Man muss nur den richtigen Riecher haben, Sire«, fuhr der selbst ernannte Eldermann fort und tippte sich an seine Nase. »Ich wusste, dass es hier irgendwas von Interesse geben könnte, nur was? Ich vertraue meiner Nase, Sire, und folge ihr immer. Diesmal fürchtete ich jedoch, dass sie mich enttäuscht haben könnte. Ich fand nichts, was einer Erwähnung wert gewesen wäre. Außer einem. Ich habe es mitgenommen. Wieder wusste ich nicht, warum. Meine Nase hat mir dazu geraten.«

Die Geduld des Obersten Ministers war fast am Ende. Er war kurz davor, dem Mann zu sagen, er solle seine Nase neh­men und sich zum Teufel scheren. Dann zog sein Besucher ein zerknittertes Stück Papier aus seinem Mantel und brei­tete es auf dem Tisch aus.

»Die Feldener haben mir gesagt, das Bild sei der Vorlage ausreichend ähnlich.«

Es war das Porträt eines jungen Mädchens. Nur mit Mühe konnte der Oberste Minister sich beherrschen.

»Und so, Sire«, fuhr der Mann fort, »als ich später hörte, Ihr hieltet nach Geisterbeschwörern Ausschau, habe ich mich gefragt, ob unser Meister Bloomsa vielleicht doch von Nutzen sein könnte – vor allem mit dem Mädel hier.«

Cabbarus hörte ihn kaum. Gebannt starrte er auf das Porträt. Wieder einmal war sein Vertrauen gerechtfertigt gewesen. Es ergab sich immer eine Gelegenheit, wenn man eine brauchte. Plötzlich verstand er. wie einfach es war. Er brauchte sich nicht länger darum zu sorgen, wie er die Zustimmung der Königin bekommen könnte, um zum

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Adoptivsohn aufzusteigen. Die Antwort lag in seiner Reich­weite. Cabbarus tat fast etwas, das er in seinem Leben nur selten getan hatte: lachen. Doch dann verzog er nur leicht das Gesicht vor Freude.

»Wo sind sie jetzt?« Sein Besucher zuckte mit den Schultern. »Das ist die

Schwierigkeit, Sire. Ich bin ihnen nicht gefolgt, müsst Ihr wissen. Hätte ich gewusst, dass Ihr jemanden in diesem Beruf benötigt, hätte ich sie nicht aus den Augen gelassen. Jetzt ist die Spur kalt, und sie wiederzufinden könnte dauern. Deshalb bin ich hierher gekommen, um Euch um Instruktionen zu bitten, Sire. Wenn Ihr es der Zeit und der Mühen für wert erachtet … und des Geldes …«

»Findet sie«, sagte Cabbarus. »Ich will sie.«

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Neunzehn

Muskete war erfahren darin, Verfolgern aus dem Weg zu gehen, und so sparte er sich die Mühe, zu fragen, wohin es ging. Er trieb Friska an, so schnell es ging, und ließ die Kutsche durch die Außenbezirke der Stadt rasen, dann querfeldein und über Wege, die kaum für einen Ochsenkarren geeignet waren. Justin lag quer auf dem Sitz und blutete stark. Bohnenstange hatte ein Stück Stoff aus ihrem Kleid gerissen und versuchte, die Wunde trotz der schaukelnden Kutsche abzubinden.

Theo half ihr; seine Hände bewegten sich mechanisch. Das Mädchen sprach kaum mit ihm. Seine Freude darüber, dass er sie gefunden hatte, war verschwunden. In Gedanken war er noch halb in Nierhalt. Noch immer sah er die Leichen auf dem Marktplatz und sich selbst, wie er bereit gewesen war, die Pistole abzufeuern. Auch Justin hätte getötet werden können. Sein blutiges Gesicht war ein stummer Vorwurf. Theo war wütend auf sich selbst. Er hätte den Abzug drücken müssen. Er wollte um Verzeihung bitten, doch der bewusstlose Justin konnte ihn ohnehin nicht hören.

Muskete kam zu dem Schluss, dass sie alle Soldaten abgehängt halten, die ihnen hätten folgen können, und so ließ er Friska anhalten, sprang vom Kutschbock und fragte Theo, wohin er fahren wolle. Der Zwerg hatte sie gerettet und sich gleichzeitig verirrt. Theo kletterte aus der Kutsche und versuchte sich in der unvertrauten Landschaft zu orien­tieren.

Las Bombas nutzte die Gelegenheit, um seine verkrampften Beine auszustrecken. Seine Uniform war zerknittert und verdreckt, seine Wangen waren eingefallen. Er hatte sich jedoch schon genug erholt, um sich den Dreck aus dem Schnurrbart zu zupfen.

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»Du hattest Recht, mein Junge. Ehrlichkeit ist die beste Politik. Dieser Käfig war an sich ein Segen, auch wenn er nicht so aussah. Öffentliche Demütigung und Hunger! Ich habe mir geschworen, ein neues Leben anzufangen, sollte ich jemals freikommen. Mein Leiden hat meinen Körper geschwächt, doch meinen Geist gestärkt.«

Da Theo nichts zu essen dabeihatte und auch in der Kutsche nichts war, bekam Las Bombas weiter Gelegenheit, seinen Geist zu stärken. Er stieg wieder in die Kutsche zurück und konzentrierte sich auf die Vorzüge fortgesetzten Hungerns. Justin war rastlos geworden. Las Bombas hielt ihn mit einer Zärtlichkeit in den Armen, die Theo nie von ihm erwartet hätte.

Theo kam zu dem Schluss, dass ihnen nur eine Möglichkeit blieb: Trotz des Risikos mussten sie wieder umdrehen, um die Nierhaltstraße zu finden. Er sprang neben Muskete auf den Kutschbock und versuchte, ihn zu führen. Teils durch Glück, teils dank des Orientierungssinns des Zwerges erreichten sie schließlich die Straße. Theo erkannte den Wegweiser, wo Florian abgebogen war. Sie folgten der Straße in die Hügel hinauf. Aber selbst dann hätten sie den Bauernhof beinahe verpasst, hätten einige von Florians Männern, die als Wachen postiert waren, ihnen nicht den Weg gezeigt.

Es war spät am Nachmittag, als sie auf den Hof rollten. Florian stand in der Tür. Obwohl er offensichtlich erleichtert war, sie zu sehen, grüßte er sie nur knapp. Dann trug er Justin persönlich ins Haus. Stock, Zara und die anderen sortierten gerade die erbeuteten Waffen.

Der Hofarzt stand neben dem Kamin. Sofort machte er sich daran, Justins Wunde zu untersuchen, und rief nach sauberem Verbandszeug und einer Schüssel Wasser.

»Noch mehr Blutvergießen.« Torrens blickte zu Florian auf. »Davon habe ich an diesem Tag schon genug gesehen.«

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»Ebenso wie ich«, sagte Florian. »Ihr vergesst, dass ich auch in Nierhalt war. Und lasst Euch an Folgendes erinnern: Gestern wart Ihr von unserem bescheidenen Arsenal nicht sonderlich beeindruckt. Vielleicht habt Ihr Eure Meinung ja jetzt geändert. Auf jeden Fall habe ich drei meiner besten Männer verloren. Tut Eure Arbeit, Doktor. Ich will nicht auch noch einen vierten verlieren.«

Florian wandte sich von ihm ab. Als er Bohnenstange sah, lächelte er und verbeugte sich elegant. »Dies muss die junge Dame sein, von der so oft die Rede war.«

»Ich wusste nicht, dass über mich geredet wird«, ent­gegnete Bohnenstange.

»Das ist Florian«, stellte Theo vor. »Ohne ihn wärst du noch immer im Gefängnis.«

»Und mit ihm«, erwiderte Bohnenstange, »wären wir fast erschossen worden. Er ist gefährlich.«

Florian lachte. »Das will ich doch hoffen. Aber nur für meine Feinde. Ihr seid hier recht sicher. Ich schlage vor, du gehst mit Zara und schaust mal, ob sie etwas Besseres für dich zum Anziehen hat.«

»Wir stehen in Eurer Schuld, Sire«, meldete sich Las Bombas zu Wort. »Ich muss sagen, die Ausübung Eurer Profession ist mit, äh, gewissen Risiken verbunden. Ich würde mich freuen, Euch mit speziellen Heilmitteln ans eigener Herstellung versorgen zu dürfen – zu Großhandelspreisen versteht sich.«

Als Florian das Angebot ablehnte, richtete Las Bombas seine Aufmerksamkeit auf die Speisekammer.

Theo ergriff Florian am Arm. »Da gibt es etwas, das ich wissen muss … über das, was heute Morgen passiert ist.«

»Ohne dich hätten wir es nicht geschafft«, sagte Florian. »Wir brauchten die Unruhe, die du gestiftet hast, um die

Garnison abzulenken. Du hast deine Freunde zurück, und 152

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wir haben Waffen und Pferde. Wir haben einen hohen Preis dafür gezahlt. Bereitet dir das noch immer Kopfzerbrechen? Glaub mir, es hätte schlimmer kommen können.«

»Es ist nicht nur das. Es ist Justin. Du hast ihm das Leben gerettet.«

»Das war Glück.« »Ich hätte das tun müssen. Ich war direkt neben ihm. Ich

hätte derjenige sein müssen, der es tut.« Florian schüttelte den Kopf. »Justin dürfte es egal sein,

wer den Ruhm für sich beansprucht.« »Wenn überhaupt«, erwiderte Theo, »so wird er stolz auf

dich sein. Aber der Mann stand unmittelbar vor mir, und ich hatte eine Pistole.«

»Und du hast dich zurückgehalten«, sagte Florian. »Ich habe dich gesehen. Sei vorsichtig, mein junger Held. Das nächste Mal darfst du nicht mehr zögern. Das könnte dich das Leben kosten.«

»Aber du …«, sagte Theo. »Du hast nicht gezögert. Du hast ihn, ohne nachzudenken, erschossen.«

»Über manche Dinge denkt man besser auch nicht nach.« »Ich muss es aber«, entgegnete Theo. »Ich muss es ver­

stellen. Du weißt, was in Dorning geschehen ist. Damals habe ich mir geschworen, nie wieder zu versuchen, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Töten ist falsch. Das habe ich geglaubt … Das glaube ich noch immer. Aber jetzt frage ich mich: Glaube ich es, weil ich ein rechtschaffener Mensch sein will? Oder … weil ich ein Feigling bin?«

»In letzterem Falle wärst du nicht anders als der Rest von uns.« Florian lächelte schief. »Wir haben alle Angst. Und wir haben auch Angst davor, Angst zu haben. Du wirst dich schon daran gewöhnen.«

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»Ich will mich aber nicht daran gewöhnen«, schrie Theo. »Hätte ich gewusst, wie es wirklich ist …«

»Dann wärst du nicht nach Nierhalt gegangen? Hättest du deine Freunde lieber im Gefängnis gelassen? Oder ver­hungernd in einem Käfig? Und selbst wenn du diesen Offizier erschossen hättest … was dann? Sein Geschäft besteht zur einen Hälfte daraus, zu töten, und zur anderen, getötet zu werden.«

»Am Tag, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe«, sagte Theo, »auf Rinas Geburtstagsfeier, hast du gesagt, es gäbe nur ein Gesetz, nämlich dass alle Menschen Brüder seien.«

Florian nickte. »Ja. Und manchmal töten Brüder einander. Um der Gerechtigkeit willen. Für ein hehres Ziel.«

»Und wer entscheidet, was richtig ist und was falsch? Ich? Du? Dr. Torrens? Er ist gegen dich. Er hält es mit der Monarchie. Aber er scheint ein guter und ehrenhafter Mann zu sein.«

»Das ist er auch«, bestätigte Florian. »Seltsam, dass er sich als einfacher Bürger auf diese Seite schlägt. Vielleicht weiß er weniger darüber als ich. Ich kann dir von Bauern erzählen, die halb zu Tode gepeitscht wurden, die man ge­zwungen hat, im Garten eines Edelmanns Unkraut zu jäten, während ihre Ernte auf dem Feld verrottet ist, von Bauern, deren Hütten man eingerissen hat, um einen Wildpark anzu­legen. Ich kenne den Adel besser, als Torrens ihn je kennen lernen wird. Ich bin in ihn hineingeboren worden.

Ja«, fuhr Florian fort und lächelte über Theos Staunen. »Du würdest vielleicht den Namen meiner Familie erkennen, wenn ich ihn erwähnen würde – was ich, nebenbei bemerkt, allerdings nicht beabsichtige. Dieser Hof hier gehört ihnen. Sie haben ihn jedoch vergessen, wie so vieles andere auch.

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Es würde sie ganz und gar nicht erfreuen, wenn sie wüssten, welchem Zweck er nun dient.

Was Torrens' Vorstellung betrifft, dass man den Missbrauch einfach so korrigieren könne … In dieser Hinsicht ist er fast so unschuldig wie du. Machtmissbrauch ist eine der Wurzeln der Monarchie. Die Menschen gehen viele Dinge freiwillig auf: ihr Vermögen, ihre Lieben, ihre Traume – aber Macht niemals. Die muss man ihnen abnehmen. Und du. junger Mann, wirst eine Seite wählen müssen. Auch wenn ich dir versichern kann, dass die Monarchie genauso wenig zimperlich mit ihren Feinden umgehen wird wie ich, so ist meine Sache doch die gerechtere.«

»Selbst wenn der Zweck gut ist«, sagte Theo, »was wird in seinem Namen den Menschen angetan, die sich ihm ent­gegenstellen? Und was geschieht mit den Menschen, die ihm folgen?«

»Wenn du Jellinek das nächste Mal siehst«, sagte Florian, »frag ihn, ob er je herausgefunden hat, wie man ein Omelett macht, ohne Eier zu zerbrechen.«

»Ja«, sagte Theo. »Aber Menschen sind keine Eier.«

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Zwanzig

Dr. Torrens rief nach Florian, der Theo ohne eine Antwort stehen ließ und besorgt zu dem Holarzt eilte.

»Der Junge schwebt nicht mehr in Gefahr«, sagte Torrens und krempelte seine Ärmel wieder herunter. Er hatte die Schlinge abgenommen und in die Tasche gestopft. »Ich fürchte allerdings, dass er eine üble Narbe zurückbehalten wird.«

»So wird es uns vielleicht bald allen ergehen«, sagte Florian. Er ging zum Tisch und rief dem Rest, sich zu ihm zu gesellen.

»Meine Kinder«, sagte er an Stock und Zara gewandt, »wir sollten uns besser eine Weile voneinander verabschieden. Unsere würdigen Gegner in Nierhalt haben mich zu genau sehen können. Nach allem, was heute geschehen ist, darf ich es noch nicht einmal riskieren, in Freyborg zu bleiben. Ihr beide solltet hier sicher genug sein. Was mich betrifft, ist es wohl klüger, eine Zeit lang zu verschwinden. Besser, man sucht mich, als dass man mich findet. Bestellt Jellinek schöne Grüße von mir. Sagt ihm, ich werde das Gebräu vermissen, das er so hochtrabend ›Eintopf‹ nennt. Ihr werdet später von mir hören. Nehmt ein paar der Musketen. Für den Rest werden wir schon ein gutes Versteck finden. Justin wird bei mir bleiben. Luther auch.«

Er drehte sich zu dem Hofarzt um. »Und Ihr, Doktor? Wir haben unsere Differenzen. Ich schlage vor, dass wir sie für den Augenblick erst einmal begraben – falls Ihr mir verzeiht, dass ich ›begraben‹ im Zusammenhang mit einem Arzt ge­brauche. Wir beide werden gesucht. Wenn man uns schnappt, sind wir tot. Darin können wir wenigstens übereinstimmen.«

Torrens nickte. »Wer weiß, vielleicht werdet Ihr Eure Ansichten ja noch ändern, oder ich die meinen. Beides halle

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ich allerdings eher für unwahrscheinlich. Tatsächlich. Sire, könnte dereinst der Tag kommen, da wir die Gesellschaft des jeweils anderen kaum noch ertragen können. Bis dahin werde ich Euch jedoch begleiten.«

»Da ich Dr. Torrens so weit gebracht habe«, warf Keller ein, »denke ich, es ist an der Zeit, den Bären in den Winter­schlaf zu schicken; und was den Alten Kasperl betrifft, so wird er seinen Weg mit dem Doktor und Euch beschreiten.«

»Der Alte Kasperl könnte uns bei guter Laune halten«, sagte Florian. »Aber wenn er zum Schweigen gebracht wird, hätte Cabbarus Euch genauso gut aufhängen können. Ihr würdet uns einen größeren Dienst erweisen, wenn Ihr Eure Zeitschrift am Leben erhalten würdet.«

»Mit Freuden«, sagte Keller. »Aber ohne die entsprechenden Mittel ist das unmöglich. Und ich müsste im Verborgenen bleiben.«

»Der Alte Kasperl und der Bär werden ein sicheres Nest in Freyborg finden«, sagte Florian. »Vertraut auf meine Kinder.«

»Wie auch immer, ein Journalist ist nichts ohne eine Druckerpresse – manchmal auch mit. Aber auf jeden Fall ist sie unverzichtbar für mein Geschäft.«

»In Freyborg werdet Ihr eine Druckerpresse haben«, er­widerte Florian. »Ob Ihr aber auch einen Drucker haben werdet…«, er blickte zu Theo, »… das überlasse ich diesem jungen Mann hier. Vielleicht möchte er vorher die Angele­genheit mit seinen Freunden besprechen. Beeil dich aber. Junge. Vor Tagesanbruch müssen wir von hier verschwunden sein.«

»In der Zwischenzeit«, sagte Las Bombas und wischte den Teller mit einer Scheibe Brot sauber, »würde ich gerne die Gelegenheit nutzen, um ein professionelles Gespräch mit einem Kollegen zu rühren.«

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»Meint Ihr etwa mich damit, Sire?« Tonens hob die Augenbrauen. »Mir war gar nicht bewusst, dass wir Kollegen sind.«

»Wir sind beide Männer der Wissenschaft«, erwiderte der Graf. »Das heißt, jeder auf seinem Feld. Meine gegenwärti­gen Bemühungen gelten allerdings mehr der Frage, wie ich mich und meinen Kutscher zum frühestmöglichen Zeitpunkt aus diesem Land bringen kann. Ich habe das Gefühl, als entglitten uns die Ereignisse ein wenig – jedenfalls tragen sie nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Trebizonia, ein Land, das mir aus meiner Zeit im Dienste des Pursten ver­traut ist, wird mich und meine Dienste sicherlich willkom­men heißen.«

Bohnenstange und Zara hallen den Raum betreten. Zara hatte dem Mädchen einen Wollrock gegeben, ein Männer­jackett und einen Schal. Sie trat neben Florian. Bohnen­stange verließ das Haus. Während Las Bombas dem Hofarzt seine wissenschaftlichen Errungenschaften in allen Einzel­heiten erläuterte, folgte Theo ihr.

Der Abend dämmerte bereits. Die Bäume hatten noch nicht all ihr Laub abgeworfen, und die Aste warfen lange Schallen in den Hof. Theo hörte Muskete im Stall arbeiten und Friska bei den anderen Pferden wiehern.

Bohnenstange stand neben dem Brunnen. Sie hatte den Schal enget um die Schultern gezogen. Theo rief ihr zu. Das Mädchen drehte sich um und blickte ihn kühl an. In den vergangenen Monaten war sie sogar noch dünner geworden. Die viel zu großen Kleider schienen ein Bündel Stöcke zusammenzuhalten.

»Florian will, dass ich nach Freyborg zurückgehe«, begann Theo. »Dort habe ich gelebt, seit…«

«Seit du weggerannt bist, ohne auch nur Lebewohl zu sagen«, unterbrach ihn Bohnenstange. »Du hast mich glau­

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ben lassen, dass du mich magst, und dann warst du plötzlich verschwunden.«

»Ich wollte nicht verschwinden.« »Warum hast du es dann getan?« »Ich habe es für das Beste gehalten. Es gibt eine Menge,

was du nicht über mich weißt.« »Das bezweifele ich«, sagte Bohnenstange. »Der Graf hat

mir gesagt, warum du dich ihm angeschlossen hast. Zara hat mir dann den Rest erzählt.«

»Nun, dann weißt du ja, warum ich dich nicht bitten konnte, mit mir zu kommen. Ich bin ein Verbrecher; die Polizei hält nach mir Ausschau. Ich könnte jeden Augenblick verhaftet werden. Inzwischen, nehme ich an, wäre das auch wohl längst geschehen, hätte Florian mir nicht geholfen.«

»Die Polizei sucht jeden, den ich kenne«, sagte Bohnen­stange. »Das ist kein Grund.«

»Für mich schon. Nehmen wir mal an, sie würden mich fangen. Was dann? Dann würden sie auch dich festnehmen.«

»Das ist auch früher schon passiert. Ich bin daran gewöhnt.«

»Ich aber nicht. Ich bin überhaupt nichts von dem gewöhnt, was mir in letzter Zeit widerfahren ist. Ich bin es nicht gewöhnt, leichtgläubige Menschen übers Ohr zu hauen oder den Wilden aus Hochbrasil zu spielen …«

»Darin warst du allerdings sehr gut.« Bohnenstange grinste zum ersten Mal, seit sie sich wieder gesehen hatten.

»Das ist ja das Problem; verstehst du das denn nicht? Als ich auf den Grafen getroffen bin, habe ich geglaubt, das sei die Gelegenheit, die Welt kennen zu lernen. Das war es, was ich wirklich gewollt habe – nicht Leute mit Elixieren aus Bachwasser zu beschwindeln oder so zu tun, als könne ich

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Geister beschwören, und am allerwenigsten habe ich gewollt, jemanden zu töten oder es auch nur zu versuchen. Aber das alles habe ich getan. Selbst als ich dich ans dem Gefängnis befreit habe, habe ich wie ein Dieb gelogen. Schlimmer noch: Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht. Zu was für einem Menschen macht mich das?«

»Zu keinem anderen als jeden anderen auch«, antwortete Bohnenstange. »Hast du dich denn für anders gehalten?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich bin.« »Sag mir Bescheid, wenn du es herausgefunden hast«,

sagte Bohnenstange. »Da es dich ja so sehr in den Fingern juckt zu reisen, nehme ich an, du wirst wieder wegrennen.«

»Das kann warten. Jetzt habe ich erst mal Arbeit in Freyborg.«

»Schön für dich«, sagte Bohnenstange. »Mach dir nur keinen Kopf, was mit mir passiert.«

»Ich dachte … Ich habe fest angenommen, dass du beim Grafen und Muskete bleiben würdest.«

»Du könntest wenigstens fragen.« »Willst du mit mir nach Freyborg kommen?« Theo hörte seine Stimme nicht wie aus seinem eigenen

Mund, sondern als würde sie aus dem Brunnen kommen. Erst erschrak er kurz, dann erkannte er, dass es Bohnen­stange gewesen war. Das Mädchen lachte.

»Ich bin nicht der phrenologische Kopf«, protestierte Theo und lachte ebenfalls. »Du musst mir keine Worte in den Mund legen.«

»Du hast sie ja selbst nicht reingelegt.« »Also gut«, sagte Theo. »Willst du mit mir kommen? Mir

ist egal, was geschehen mag. Florian will die Monarchie stürzen, Torrens will sie flicken, und der Graf hat irgend­

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einen Humbug mit den Trebizonianern vor. Alles, was ich will … Ich will nicht mehr, dass wir getrennt sind.«

Theo glaubte, Bohnenstange würde ihn noch immer auslachen, als er seine Anne um sie legte. Überrascht stellte er jedoch fest, was er in der Dunkelheit nicht hatte sehen können. Die Wangen des Mädchens waren feucht.

»Es ist schon schlimm genug, wenn ich im Schlaf weine«, sagte das Mädchen. »Warum sollte ich es dann auch noch tun, wenn ich wach bin?«

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Einundzwanzig

Beim ersten Tageslicht verabschiedeten sich Florian und seine Gruppe von den anderen. Justin war fachmännisch verbunden und blass, sah aber sehr stolz aus, dass man ihm eines der Kavalleriepferde gegeben hatte. Florian saß auf einer hellbraunen Stute mit einer Decke als Sattel.

»Mach es gut, Junge«, sagte er zu Theo. »Ich zähle auf dich.«

Theo beobachtete, wie die drei vom Hof wegritten. Florian hatte ihm noch immer nicht die Ehre zuteil werden lassen, ihn sein Kind zu nennen. Theo war nicht sicher, ob ihn das nun freuen sollte oder eher nicht.

Zara, Stock und Keller brachen kurz danach auf. Theo und Bohnenstange wären im Wagen mit ihnen gefahren, doch um der alten Zeiten willen bestand Las Bombas darauf, sie in der Kutsche nach Freyborg mitzunehmen. Während Muskete Friska anschirrte, blieb Theo an Bohnenstanges Seite. Die beiden hatten seit dem Frühstück nicht mehr auf­gehört, miteinander zu reden; dabei hatten sie allerdings Bohnenstanges private Zeichensprache benutzt, sodass kei­ner der anderen bemerkte, dass sie wie Enten schnatterten.

Theo hatte seine eigenen Sorgen beiseite geschoben. Er war glücklich, und deshalb war in seinem Geist kein Platz mehr für sie. Ungeduldig freute er sich darauf, Bohnen­stange das Dachzimmer in der Strohmarktstraße zu zeigen, Jellineks Taverne und die Druckerpresse, als wären das alles Schätze, die er für sie gehortet hatte.

Las Bombas hatte seine ruinierte Uniform gegen die Robe des Dr. Absalom getauscht. Er hatte gut geschlafen, noch besser gegessen und seinem Schnurrbart einen fast ›fesch‹ zu nennenden Schnitt verliehen.

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»Ich möchte euch beide bitten, noch einmal darüber nachzudenken«, sagte er zu Theo und Bohnenstange, als sie in die Kutsche stiegen. »Trebizonia ist ein faszinierendes Land. Ich verspreche dir, mein Junge: keine Orakel, keine Meerjungfrauen, noch nicht einmal Dr. Absaloms Elixier. Ich beabsichtige, dem Pfad der Tugend zu folgen. Der dürfte ja nicht allzu überlastet sein.«

Als er sah, dass seine Überredungskünste keinerlei Wir­kung zeigten, seufzte Las Bombas und machte es sich in einer Ecke der Kutsche bequem. Der Tag versprach schön zu werden. Muskete fuhr im Schritttempo los und hielt nach der Straße Ausschau, die sie nach Norden bringen und möglichst weit um Nierhalt herumfuhren würde.

Die Instinkte des dämonischen Kutschers für die Land­schaft erwiesen sich als gut. Gegen Mittag trafen sie auf eine Hauptstraße, fast ein Dutzend Meilen von Nierhalt entfernt. Glücklicherweise gab es an der Kreuzung eine Poststation. Friska brauchte Futter und etwas zu trinken. Las Bombas verlangte allerdings nach etwas Gehaltvollerem. Muskete hielt an, doch der Graf bemerkte, dass sich sein altes Leiden wieder bemerkbar machte.

»Ich habe nicht eine Kupfermünze in der Tasche. Ehr­lichkeit neigt dazu, einen des Bargeldes zu berauben. Aber wartet … Ich habe die Lösung: mein Magnetstein aus Kazanastan vom Berg des Mondes. Der ist das Lösegeld für einen König. Wenn ich mich daran erinnern könnte, wo ich ihn hingesteckt habe, wäre ich bereit, mich für eine beschei­dene Summe von ihm zu trennen.«

Er kramte in einer Kiste unter dem Sitz und holte schließlich den schwarzen, eiergroßen Kiesel hervor, den Theo von ihrem ersten Treffen wieder erkannte. Die guten Vorsätze des Grafen waren noch zu neu, und er war zu ungeübt in Ehrlichkeit, als dass er seinen Appetit hätte zügeln können. Theos Einwände wollte er nicht hören, und

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so betrat er den Schankraum. Bohnenstange und Theo folgten ihm widerwillig, Muskete dicht hinter ihnen.

Der nicht gerade überfüllte Raum bot dem Grafen nur eine magere Auswahl an potenziellen Kunden. An einem Tisch spielten ein paar Reisende eine Partie Domino. Einer von ihnen hatte mehrere Stapel Münzen vor sich und gewann offensichtlich häufig gegen seinen Gegner. Las Bombas wollte sich ihnen nähern, blieb dann aber unvermittelt stehen. Er starrte auf den Spieler, der auf der Gewinnerstraße war, einen untersetzten Mann mit einer Goldkette um den Hals.

»Siehst du diesen Schuft?« Las Bombas packte Theo am Arm. »Der Schurke hockt da, als wäre nichts passiert.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Theo sich an den Gast­hof in Kessel erinnerte und an den falschen Eldermann. Las Bombas murmelte: »Damals hat er mich ausgeraubt. Jetzt wird er es mir mit Zinsen wieder zurückzahlen. Es gibt doch noch Gerechtigkeit in dieser Welt. Vergebung ist zwar eine Tugend, aber vergeben werde ich ihm ein andermal. Dieser Halunke! Er hat vermutlich die Dominosteine irgendwie präpariert, um arglose Reisende übers Ohr zu hauen. Sie werden mir dankbar dafür sein, wenn ich sie warne.«

»Lasst ihn«, flüsterte Theo. »Wir wollen keinen Arger machen. Lasst uns gehen. Wir werden einen anderen Gast­hof finden.«

Las Bombas war schon zu dem Tisch unterwegs. Mit flatternder Robe schüttelte er die Faust in der Luft.

»Sires, ich prangere diese Kreatur an als das, was sie ist: ein Betrüger und ein Scharlatan! Er hat mich um ein Vermögen betrogen, und nun macht er das Gleiche mit Euch. Eldermann, ja? Hütchenspieler! Steht auf, Skeit, und leugnet, wenn Ihr es wagt!«

Der Ausbruch des Grafen ließ die Spieler und Zuschauer aufspringen. Die Verlierer brüllten ihre Zustimmung zu Las

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Bombas. Die anderen, die sahen, wie ein wohlhabender Gentleman von einer groben Gestalt in schäbiger Robe diffamiert wurde, verteidigten den Eldermann. Der Wirt eilte zum Tisch, wedelte mit den Armen und befahl allen, ihre Differenzen draußen zu regeln.

Skeit blieb die ganze Zeit über sitzen und bewahrte Hal­tung. Er blickte Las Bombas erfreut an. Anstatt vor der Anklage des Grafen zusammenzuschrumpfen, strahlte er übers ganze Gesicht.

»Mein lieber Sire! Mein lieber … Bloomsa, nehme ich an? Welch glückliches Zusammentreffen. Ich hatte in der Tat gehofft, dass unsere Wege sich kreuzen würden. Tatsächlich habe ich dafür sogar einiges an Mühe auf mich genommen. Früher oder später hätte ich Euch gefunden, doch nun erspart Ihr mir sehr viel Arbeit. Dies ist der Augenblick, an den Ihr Euch ebenso freudig zurückerinnern werdet wie ich. Euch, mein lieber Mynheer, erwartet ein Vermögen.«

Bei diesen Worten spitzte Las Bombas die Ohren. Er zögerte; dann funkelte er den selbst ernannten Eldermann an.

»Ihr könnt mich nicht von meiner Pflicht abbringen. Ein Vermögen, sagt Ihr? Nein, Ihr werdet Euch hier nicht herauswinden, indem Ihr versucht, mich zu korrumpieren. Andererseits, als gerechter und vernünftiger Mensch, muss ich Euch in aller Fairness anhören. Ich werde Euch gestatten, das unter vier Augen zu tun.«

Der Aufruhr hatte den Rest der Gruppe zu den streitenden Reisenden getragen. Ein Armeehauptmann drängte sich zu Las Bombas durch und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

»Sire, kennen wir uns nicht?« »Bitte?« Las Bombas warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

»In keinster Weise. Seid so gut, und lasst uns allein. Dieser Gentleman und ich, wir haben etwas zu besprechen.«

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»Aber ich erkenne Euch, Sire.« Der Offizier zeigte sich beharrlich. »Ihr seid General Sambalo. Das ist Euer Diener … Aber meiner Erinnerung nach war er Trebizonianer. Und Ihr selbst tragt keine Uniform mehr…«

»Die ist bei meinem Schneider«, erwiderte der Graf mit erstickter Stimme. Er nahm militärische Haltung an und beäugte den Hauptmann. Ich habe lediglich Euer Gedächtnis auf die Probe stellen wollen. Ein Offizier muss stets seinen Verstand beisammenhalten. Ich muss Euch loben, Sire. Euer Kommandeur wird einen hervorragenden Bericht von mir erhalten.«

»Ich bitte den General um Verzeihung«, entgegnete der Offizier, »aber das ist nicht korrekt. Ich habe gehört, wie Ihr dieses Individuum angeklagt habt. Eine reine Formalität. Da Ihr in Zivil seid, bin ich gezwungen, Euch um Eure Papiere zu bitten.«

»Exzellent!«, sagte der Graf. »Wirklich sehr pflichtbewusst. Sie sind in meiner Uniform.«

»Sire, meine Befehle sind eindeutig. In Nierhalt hat es einen ernsten Zwischenfall gegeben. Ohne entsprechenden Ausweis wäre ich verpflichtet, sogar den Feldmarschall persönlich zu arrestieren. Ich kann nicht gegen meine Befehle verstoßen. Ihr, Sire, müsstet das doch mehr zu schätzen wissen als jeder andere.«

»Ich werde Euch vors Kriegsgericht bringen!«, brüllte Las Bombas. »Arrest? Ha! Ihr werdet Spießruten laufen.«

»Der Hauptmann befindet sich im Irrtum«, sagte Skeit. »Er wird niemanden verhaften.«

»Das ist nicht Eure Angelegenheit«, erwiderte der Offizier. »Haltet Eure Zunge im Zaum, oder Ihr landet hinter Schloss und Riegel.«

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Der Offizier, der sich in der unglücklichen Situation befand, mit einem Vorgesetzten im Streit zu liegen, war froh, einen Zivilisten zurechtweisen zu können.

Skeit zog jedoch ein Papier aus seinem Jackett. »Lest das. Erkennt Ihr Unterschrift und Siegel?«

Der Offizier starrte auf das Dokument und hob die Hand zu einem steifen Salut.

Skeit nickte. »Wie Ihr seht, besitze ich volle Autorität in dieser Angelegenheit. Dieser Mann und seine Gruppe stehen in der Tat unter Arrest, aber nicht auf Euren Befehl, sondern auf meinen. Sie sind in meinem Gewahrsam.«

»Wie Ihr befehlt, Sire. Das Mädchen auch?« »Alle«, antwortete Skeit. »Und ganz besonders das Mäd­

chen.«

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Zweiundzwanzig

»Hauptmann«, sagte Skeit, »erstattet Eurem Kommandeur sofort Bericht. Sagt ihm, dass ich eine bewaffnete Eskorte für mich und diese vier hier benötige.«

Die Dominospieler wollten sich nicht in so etwas Ernstes hineinziehen lassen und zogen sich zurück. Der falsche Eldermann holte eine Pistole aus seinem Mantel hervor.

»Das ist eine Unverschämtheit!«, schrie Las Bombas. »Der Mann ist ein Betrüger. Autorität? Dieser Fetzen Papier ist eine Fälschung. Ich warne Euch, Hauptmann. Ich habe Beziehungen zu den höchsten Kreisen.«

Der Protest des Grafen zeigte keinerlei Wirkung auf den Offizier, der auf dem Absatz kehrtmachte und aus dem Gasthof marschierte, um Skeits Befehle auszuführen. Hätte man ihn allein verhaftet, Theo wäre weniger überrascht gewesen. Seit Monaten fürchtete er sich davor. Skeit hatte ihn jedoch kaum angesehen. Stattdessen waren die Augen des Mannes auf Bohnenstange gerichtet.

Das Mädchen schien sich nicht zu sorgen. Sie zog den Schal enger um die Schultern. Dann blickte sie halb lächelnd an Skeits Kopf vorbei.

»Keine Bewegung«, befahl eine Stimme. »Bleib, wo du bist, oder du bist ein toter Mann. Wirf die Waffe weg.«

Einen Augenblick lang war Theo sicher, dass Bohnenstanges Trick sie gerettet hatte. Skeit versteifte sich; Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch er ließ tatsächlich die Pistole fallen. Muskete sprang vor, um sich die Waffe zu schnappen. Skeit hatte sich umgedreht, um sich der vermeintlichen Bedrohung zu stellen. Als er niemanden hinter sich sah, hielt er keinen Augenblick lang inne, um sich zu fragen, was das für ein Trick gewesen war; der untersetzte Mann bewegte sich überraschend flink. Ein Stiefel schoss

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vor, um dem Zwerg auf die ausgestreckte Hand zu treten. Muskete schrie vor Schmerz auf. Skeit trat dem Zwerg den Absatz in die Rippen, dann schnappte er sich die Waffe. Theo vergaß alle Vorsicht, warf sich auf den Mann und schrie Bohnenstange zu, sie solle wegrennen.

Der Wirt hatte in der Zwischenzeit eine Donnerbüchse aus der Kaminecke geholt. Er richtete die schwere Feuerwaffe auf das Mädchen.

»Haltet Euch da raus!«, schrie Skeit ihm zu. »Das ist meine Angelegenheit!«

Theo war zu Boden gefallen. Skeit hielt ihm den Pistolenlauf an die Schläfe.

»Hört mir zu, ihr alle«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich will euch nicht verletzen, aber ich werde euch kriegen, so oder so. Was den hier betrifft«, fügte er hinzu und deutete auf Theo, »so war er daran beteiligt, euch aus Nierhalt herauszuholen. Ich weiß das, und es geht euch nichts an, woher ich das weiß. Er hat sich mit einer Bande von Rebellen eingelassen, und ich könnte ihn hier und jetzt dem Militär übergeben. Die werden ihn dann an die Wand stellen. Andererseits könnt ihr auch alle brav mit mir kommen, und die ganze Angelegenheit bleibt ein nettes kleines Geheimnis zwischen uns. Das ist doch ein faires Angebot, oder was meint ihr?«

Las Bombas nickte finster. Skeit senkte die Pistole und strahlte, als hätte er gerade eine schwierige, aber profitable Transaktion abgeschlossen. »Dann verstehen wir uns also. Das ist alles nur in eurem Interesse. Und in meinem.«

»Was willst du von uns?«, verlangte Theo zu wissen. »Ich? Gar nichts. Aber andere Leute haben etwas mit

euch im Sinn.« Skeit zwinkerte. »Und was das wohl sein mag, das werdet ihr sie schon selbst fragen müssen.«

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»Ich hätte auf dich hören sollen, mein Junge.« Las Bombas stieß einen lauten Seufzer aus. »Ich bereue den Tag, an dem ich ehrlich geworden bin.«

Nachdem er dem Wirt und den verängstigten Zuschauern versichert hatte, dass er ihnen persönlich das Herz heraus­reißen würde, sollten sie auch nur einen Laut über diesen Vorfall nach außen dringen lassen, befahl Skeit dem Wirt, ein paar Proviantkörbe zu packen.

Dass sie Gefangene waren, war – zumindest für Theo – nur allzu klar. Nicht klar war allerdings die Art dieser Gefangenschaft. Als der Offizier mit einer Kavallerieeskorte wieder zurückkehrte, gab sich Skeit Mühe, es seinen Gefangenen so bequem wie möglich zu machen. Er verlangte Quilts und Decken für sie, für den Fall, dass es kälter werden sollte. Er ließ sie auch nicht fesseln, wie Theo erwartet hatte, sondern bat sie, sie sollten sich als seine Gäste fühlen.

Man gestattete ihnen, ja verpflichtete sie förmlich dazu, in der Kutsche zu fahren. Muskete wurde allerdings verboten zu fahren, und so blieb er zuerst bei ihnen, während Skeit die Zügel übernahm. Friska wurde jedoch bald unruhig unter der fremden Hand, sodass der Zwerg wieder auf den Kutschbock klettern musste. Theo hoffte, der dämonische Kutscher würde die Gelegenheil nutzen, um der Kavallerieeskorte zu entkommen, aber das Fahrzeug war viel zu eng von den Kavalleristen eingeschlossen.

Dann und wann setzte sich Skeit neben den Zwerg und erklärte ihm, wann und wo er anhalten solle: manchmal am Gasthof einer kleinen Stadt oder an einer Poststation entlang der Straße. Häufiger blieb er jedoch in der Kutsche, wo seine Anwesenheit es den Gefangenen unmöglich machte, sich ernsthaft zu unterhalten.

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Theo und Bohnenstange vermieden es, dass man ihnen zuhörte, indem sie die Zeichensprache des Mädchens benutzten. Wenn ihr Wärter döste oder aus dem Fenster schaute, vollführte das Mädchen kaum merkliche Gesten.

Ihre schnellen Finger sagten Theo: »Ich könnte versuchen, mir seine Pistole zu schnappen.«

»Zu gefährlich«, signalisierte er zurück. »Was dann?« »Ich weiß es nicht. Warte. Sei vorsichtig. Unsere Chance

wird vielleicht noch kommen.« Theos verzweifelter Gesichtsausdruck brauchte kein Signal.

Was Skeit betraf, so war er in allerbester Laune. Er wusste sich seiner Gefangenen sicher und strahlte. Schließlich wurde er offen und gesprächig, als befände er sich auf einer längeren Reise in angenehmer Gesellschaft.

»Schweigt, Ihr kleine Schlange«, knurrte Las Bombas. »Ich kann Euren Anblick nicht ertragen, geschweige denn Euer Geplapper.«

Skeit blickte ihn verletzt an. »Mein lieber Sire, Ihr werdet mir noch dankbar sein. Auch wenn Ihr es jetzt vielleicht nicht glaubt, aber ich führe Euch in der Tat einem großen Vermögen entgegen.«

Las Bombas schnaufte ungläubig. Der untersetzte Mann zwinkerte ihm zu. »Es ist aber so. Ihr habt mein Wort darauf. Ihr werdet ein sehr, sehr reicher Mann sein.«

Fröhlich fügte Skeit hinzu: »Oder ein sehr, sehr toter.«

Wenn es ihm gelegen kam, zögerte Skeit nicht, die Nutzung eines gesamten Gasthofes zu befehlen oder sogar dafür zu bezahlen. Dank der Macht des Dokumentes, das er bei sich trug, befahl er den Gästen, sich anderswo eine Unterkunft zu suchen. Dann wählte er das größte Zimmer und scheuchte

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seine Schäflein dort hinein. Soldaten hielten schichtweise Wache vor der Tür und im Raum selbst.

Sosehr Theo sich auch den Kopf zerbrach und so ange­strengt Bohnenstange sich jeden Einbrechertrick wieder ins Gedächtnis rief, ihnen wollte einfach kein Plan einfallen. Flucht, so musste Theo zugeben, war unmöglich. Eine Sache quälte ihn aber noch mehr als das: Bohnenstanges Alb­träume waren wieder zurückgekehrt.

Den Wachen war es verboten, mit den Gefangenen zu reden, und so schauten sie schweigend zu, wie das Mädchen sich im Schlaf hin und her wälzte, weinte und laut schrie. Als Theo sich anschickte, zu ihr zu gehen, richtete einer der Soldaten seine Muskete auf ihn.

Die Abschnitte ihrer Reise wurden immer anstrengender. Skeit schien ungeduldig zu werden. Eines Morgens weckte er sie alle noch vor Sonnenaufgang und befahl der Eskorte, so schnell wie möglich weiterzureiten. In der Kutsche ließ er die Vorhänge zugezogen. Theo kümmerte es nicht mehr, ob es nun Tag oder Nacht war. Erst als die Kutsche stehen blieb und Skeit mit den Fingern schnippte, zum Zeichen, dass die Gefangenen aussteigen sollten, bemerkte Theo, dass gerade die Sonne unterging. Sie befanden sich auf einem Hof zwischen zwei großen Gebäuden. Bohnenstange zitterte halb schlafend neben ihm. Las Bombas blinzelte.

»Das ist nicht möglich«, flüsterte er. »Der kleine Wurm hat uns nach Marianstat gebracht, in den Juliana. Da ist der Glockenturm. Ich habe ihn oft genug gesehen – von draußen, heißt das. Ein Irrtum ist unmöglich. Aber … drinnen?«

In diesem Augenblick trat ein kräftiger, krummbeiniger Mann in Hofkleidung zu Skeit.

»Sire«, erklärte Skeit, »hiermit liefere ich wie verein­bart.«

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»Die da?«, sagte der Höfling mit angewidertem Gesichtsausdruck. Er reichte Skeit eine Börse, die dieser rasch unter seinem Mantel verschwinden ließ. »Und jetzt haut ab. Lasst Euer Gesicht hier nie wieder sehen. Eure Arbeit ist erledigt. Allerdings hättet Ihr sie wenigstens noch waschen können, bevor sie dem Obersten Minister vorgeführt werden.«

Theo spürte, wie Bohnenstanges Hand sich enger um die seine schloss. Bevor er verdauen konnte, was er gerade gehört hatte, stellte sich eine Abteilung Palastwachen um sie herum auf. Sie wurden in das ältere, festungsähnliche Gebäude geführt und dann durch einen Gang. Der krumm­beinige Höfling, der vorausgegangen war, winkte sie in eine schlicht möblierte Kammer. Hinter einem Tisch saß ein in Schwarz gewandeter Mann und studierte einen Stapel Papiere. Mehrere Augenblicke lang setzte er seine Arbeit fort; dann blickte er auf.

»Man hat mir zu verstehen gegeben, dass ihr aus den nördlichen Provinzen kommt. Ich hoffe, eure Reise war nicht allzu ermüdend.«

Cabbarus lächelte.

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Dreiundzwanzig

Theo hatte ein Monster erwartet. Was er jedoch sah, war ein hagerer, schmallippiger Mann, den man auch für einen x-beliebigen Stadtschreiber oder Notar hätte halten können. Doch plötzlich hatte Theo einen metallischen Geschmack im Mund. Der Mann stank nach Macht; sie hing der Luft, die ihn umgab. Theo drehte sich der Kopf. Er würgte von etwas, das er für Hass hielt, dann erkannte er, dass viel davon auch Entsetzen war, panische Angst. Noch immer lächelnd ließ Cabbarus seinen Blick über die Gefangenen schweifen. Schließlich blieb er an dem Mädchen haften. Cabbarus machte eine leichte Kopfbewegung. Ein schwaches Geräusch stieg in seiner Kehle empor. Das Mädchen hatte wild zu zittern begonnen. Aus Furcht, sie könne umfallen, packte Theo sie am Arm.

»Benötigt die junge Frau Hilfe?«, erkundigte sich Cabbarus. »Ich hätte Erfrischungen für euch vorbereiten sollen. Verzeiht meine Nachlässigkeit, aber ich habe den ganzen Tag am Sehreibtisch gesessen. Sekretär Pankratz wird sich um eure Bedürfnisse kümmern.«

Las Bombas war der Erste, der die Stimme wieder fand. »Es muss sich hier um ein unglückliches Missverständnis handeln, Sire, um einen Justizirrtum. Man hat unsere Leben bedroht und uns als Gefangene hierher gebracht, ohne erkennbaren Grund.«

»Der Grund«, sagte Cabbarus, »ist sehr einfach. Ich habe es befohlen. Das Individuum, das ich damit beauftragt habe, mag ja recht übereifrig in seiner Pflichterfüllung gewesen sein, aber ihr seid keine Gefangenen.«

Las Bombas seufzte erleichtert auf. Rabbanis hob die Hand und fuhr fort:

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»Nicht notwendigerweise Gefangene. Was ihr schließlich sein werdet, bleibt abzuwarten. Seit ein paar Tagen studiere ich nun schon eine Reihe von Berichten. Dabei habe ich herausgefunden, dass schwerwiegende Vorwürfe gegen diesen jungen Mann hier erhoben werden. Tätlicher Angriff, versuchter Mord, bewaffnete Rebellion … eine lange Liste.«

Cabbarus blätterte durch seine Papiere. »Was Euch betrifft … Vor gar nicht allzu langer Zeit hat eine Bande von Rebellen die Garnison von Nierhalt angegriffen. Ich bin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass Ihr dabei gewesen seid.«

»In einem Käfig!«, protestierte Las Bombas. »Und meine Kollegen hier…«

»Sind von eben jenen Rebellen befreit worden. Wenn ich den Buchstaben des Gesetzes folge, wart Ihr demnach am Tatort eines brutalen Verbrechens, wo fast ein Dutzend Sol­daten getötet worden sind. Ihr habt nichts getan, um das zu verhindern. Ihr habt den Behörden keinerlei Hilfe angeboten und keinerlei Informationen weitergegeben. Ein Gericht wird sich ernsthaft mit Eurem Verhalten beschäftigen müs­sen. Tatsächlich bliebe diesem Gericht keine andere Wahl, als Euch zur extremsten aller Strafen zu verurteilen.

Ich bin jedoch bereit, alle Anklagen fallen zu lassen. Ihr und Eure Partner weiden freigelassen und großzügig ent­schädigt werden. Das hängt allerdings davon ab, wie gut Ihr mir dient. Ein Dienst, der Pflicht zugleich ist.«

»Ich habe keine Pflicht Euch gegenüber«, mischte sich Theo ein. »Ich habe getan, wessen man mich anklagt, ja, selbst den versuchten Mord. Aber Ihr habt ihn nicht nur versucht.«

»Sei still, um Himmels willen«, zischte der Graf. »Mach nicht unsere einzige Chance zunichte, hier herauszukom­men.«

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Cabbarus ließ sich von Theos Ausbruch nicht verärgern. Stattdessen schien er ihn zu bekümmern. »Ich bin mir durchaus bewusst, dass einige Untertanen des Königs mich derartiger Verbrechen beschuldigen. Sie verstehen jedoch nicht, dass das Gesetz um einer höheren Sache willen streng sein muss. Wenn die Grundfesten des Reiches auf dem Spiel stehen, ist harte, selbstlose Pflichthingabe die edelste Tugend. Mir liegt nur das Wohl des Königreiches am Herzen.«

Der Oberste Minister drehte sich zu Las Bombas um. »Lasst mich ehrlich zu Euch sein. Es ist kein Geheimnis, dass König Augustin schwer erkrankt ist. Er hat nicht aufgehört, um seine Tochter zu trauern, und das geht so weit, dass er unfähig ist zu regieren.

Wie auch immer, man hat mir Informationen zugetragen, wonach Ihr ein Mann mit bemerkenswerten Talenten seid. Ich bitte Euch, sie Eurem Monarchen zur Verfügung zu stellen.«

»Mein lieber Sire«, rief Las Bombas, »ich betrachte das als eine Ehre. Hätte ich gewusst, dass es das ist, was Ihr von mir verlangt, so hätte ich mich selbst hierher begeben. Sagt mir nur, was von mir verlangt wird. Wünscht Ihr, dass ich Seine Majestät mit Dr. Absaloms Elixier behandele? Es hat schon Wunder für Mensch und Tier bewirkt und wird auch für den König nicht weniger leisten. Auch besitze ich einen bemerkenswerten Stein aus Kazanastan. Oder, falls Ihr es vorzieht, einen Bottich mit magnetisiertem Wasser.«

»Das ist Müll«, sagte Cabbarus. »Ich bitte um Verzeihung?« »Das ist Müll«, wiederholte Cabbarus. »Ihr seid ein ge­

wöhnlicher Scharlatan, ein verabscheuungswürdiger Be­trüger und Bauernfänger.«

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»Ja, und ein besserer Mensch als Ihr«, schrie Theo, bevor Muskete, der inzwischen rot angelaufen war, seinen Meister verteidigen konnte. »Ihr redet über Tugend und Pflicht, dabei habt Ihr diese Worte in Zerrbilder verwandelt.«

»Mein Junge, ich bitte dich! Halte deine Zunge im Zaum«, flehte der Graf. »Lass ihn mich nennen, wie er will. Wenn er etwas haben will, das ich ihm geben kann, und wir damit unseren Hals retten können, sollten wir uns anhören, was er zu sagen hat.«

Plötzlich bemerkte Theo, dass Bohnenstange nicht mehr neben ihm war. Cabbarus ignorierte Theos Worte und blickte an ihm vorbei in eine Ecke der Kammer. »Holt das Mädchen.«

Die Stimme des Obersten Ministers klang besorgt. »Haltet sie von dort fern.«

Der Mädchen starrte auf eine hölzerne Falltür im Stein­fußboden hinab. Sie drehte sich nicht um, als Theo sie erreichte. Sie stand wie angewurzelt da, und ihr Blick war von einem Schleier überzogen. Muskete war Theo gefolgt, und gemeinsam zogen sie Bohnenstange von der Falltür weg.

»Sie stinkt nach Blut«, murmelte sie. »Er hat dort Men­schen ermordet. Ich weiß es.«

Bohnenstanges Stirn war glühend heiß. Theo drehte sich zu Cabbarus um. »Das Mädchen ist krank. Sie braucht einen Arzt. Bringt sie hinaus.«

»Ich bezweifele, dass ihre Beschwerden ernsterer Natur sind«, erwiderte Cabbarus. »Sie wird sich schon wieder er­holen. Tatsächlich muss sie das sogar.«

»Was auch immer Ihr von mir verlangen mögt«, warf Las Bombas ein, »sie hat nichts damit zu tun. Ich bitte Euch, sie freizulassen. Mein Heilmittel … Sie hat nichts mit alldem zu tun.«

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»Gerade sie hat etwas damit zu tun«, sagte Cabbarus. »Der König wünscht, mit dem Geist seiner verstorbenen Tochter zu kommunizieren. Und das wird er auch. Ich habe Berichte aus einer Stadt namens Felden erhalten. Es ist bekannt, dass Ihr dort mit Hilfe des Mädchens geisterhafte Erscheinungen heraufbeschworen habt.«

»Glaubt Ihr das etwa?«, schrie Las Bombas und wurde kreidebleich. »Mein lieber Sire, Ihr müsst verstehen – und ich bitte Euch, das zwischen uns vertraulich zu behandeln –, dass diese Erscheinungen, dieses Geisterbeschwören, sagen wir…«

»Dass sie falsch waren«, sagte Cabbarus. »Nicht mehr als der Trick eines Scharlatans.«

»Genau!«, bestätigte der Graf mit einem Hauch von Stolz in der Stimme. »Schlichte Illusionen, reine Unterhaltung. Einen Augenblick lang habe ich schon geglaubt, Ihr hättet sie für echt gehalten. Falls Seine Majestät wünscht, den Geist seiner verstorbenen Tochter zu erreichen, so kann das Mädchen ihm nicht helfen. Sie kann überhaupt keinen Geist heraufbeschwören, geschweige denn den von Prinzessin Augusta.«

»Sie wird den Geist der Prinzessin auch nicht heraufbe­schwören«, sagte Cabbarus. »Sie selbst wird der Geist von Augusta sein. Die Ähnlichkeil der beiden Mädchen ist ver­blüffend. Und sie ist genau in dem Alter, in dem die Prin­zessin jetzt wäre.«

»Unmöglich!«, protestierte Las Bombas. »Sie ist ein Straßenmädchen. Es ist unmöglich, den König glauben zu machen, das sei seine Tochter.«

»Wie überzeugend ihre Vorstellung sein wird«, sagte Cabbarus, »liegt einzig und allein an ihr. Um ihrer- und Euretwillen hoffe ich, dass sie überzeugend ist. Seine Majestät hat die Todesstrafe gegen jeden Versager

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verkündet. Das ist der Befehl des Königs, nicht meiner. Ich kann nichts tun, um ihn zu ändern.

Seine Majestät weiß von Eurer Anwesenheit. Er wird Euch heute Abend eine Audienz gewähren. Ihr werdet ihn nicht enttäuschen.«

»Wir haben nicht genügend Zeit«, sagte Las Bombas; inzwischen schwitzte er. »Es gilt, besondere Vorbereitungen zu treffen. Das ist unmöglich.«

»Ihr werdet bekommen, was auch immer Ihr benötigt«, sagte Cabbarus. »Das Mädchen wird nur eine Aufgabe haben. Als Prinzessin wird sie ihrem Vater eine Botschaft übermitteln.«

»Eine Botschaft? Sie kann doch nicht wissen, was sie dem König sagen soll.«

»Sie wird sagen, was ich ihr befehle«, erwiderte Cabbarus. »Die Botschaft ist einfach, aber sie muss sie wortgetreu wiedergeben. Junge Frau, ich rate dir, aufmerksam zuzuhören.

Du wirst Seiner Majestät sagen, dass dein unglücklicher Schatten niemals ruhen wird, bis dein Vater tut, um was du ihn inständig bittest. Um seiner Liebe zu dir willen, für seinen eigenen Seelenfrieden und für das Wohl des König­reiches soll er den Thron aufgeben.«

»Was?«, schrie Las Bombas. »Sie soll den König bitten abzudanken? Er soll den Thron verlassen, weil … weil ein Geist es von ihm verlangt? Das wird er niemals tun.«

»Er wird das tun, worum seine Tochter ihn bittet«, sagte Cabbarus. »Das hat er immer getan. Als sie noch lebte, hat er ihr nie etwas verweigert. Das wird er auch jetzt nicht tun. Tatsächlich wird er ihr jetzt mehr denn je gewähren, was sie sich wünscht. Ich kenne den Geist Seiner Majestät und kann Euch das versichern.

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Aber da ist noch etwas. Die Prinzessin wird den König nicht nur anflehen abzudanken. Sie wird Seine Majestät auch drängen, einen Nachfolger zu ernennen. Sie wird ihm sagen, er solle zugunsten seines Obersten Ministers auf den Thron verzichten.«

»Ihr seid wahnsinnig!«, schrie Theo. »Ihr wagt es, Euch zum König zu machen?«

»Nicht ich«, erwiderte Cabbarus. »Prinzessin Augusta wird das für mich tun. Ich habe mir überlegt, dass Seine Majestät mich adoptiert und so zum Thronerben erklärt. Das ist weit einfacher und erspart uns mühselige Warterei. Es ist nur eine Formalität. Tatsächlich regiere ich bereits. Nun beabsichtige ich auch, das offiziell zu um: Rabbanis der Erste.«

Der Oberste Minister stand auf. »Ich werde jetzt zu Seiner Majestät gehen und ihm berichten, dass ich mit Euch gespro­chen habe und zu der Überzeugung gelangt bin, dass Eure Kräfte echt sind. In der Zwischenzeit solltet Ihr sicherstellen, dass das Mädchen versteht, was sie zu tun hat. Wenn ich wieder zurückkehre, werdet Ihr mir die Vorbereitungen erklären, die Ihr treffen müsst, und mir sagen, was Ihr dafür braucht. Falls Ihr noch einen Anreiz für Eure Bemühungen braucht, so kann ich Euch sagen, dass Seine Majestät eine hohe Belohnung für den Erfolgsfall ausgesetzt hat. Sollte es als Ansporn nicht genügen, dem Tod zu entrinnen, ist Geld vielleicht ein besseres Lockmittel.«

Cabbarus marschierte aus der Kammer. Las Bombas hielt sich den Kopf.

»Wir sind erledigt! Das werden wir niemals durchziehen können. Oh, mein Junge, ich wünschte, du hättest dir das mit der Orakelpriesterin nie ausgedacht. Bohnenstange ist ein Wunder, das weiß ich. Aber … als Prinzessin Augusta? Das wird sie niemals schaffen.«

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»Wollt Ihr denn, dass sie es schafft?«, verlangte Theo zu wissen. »König Augustin oder König Cabbarus? Florian hat gesagt, da gäbe es keinen Unterschied. Ich glaube, da hat er sich geirrt. Ich weiß nicht, ob er, was die Monarchie angeht, Recht hat oder Dr. Torrens. Ich weiß nur, dass ich nicht daran beteiligt sein will, einen Mörder auf den Thron zu setzen.«

»Die Vorstellung eines König Cabbarus ist äußerst be­klagenswert, wie ich gestehen muss«, sagte der Graf, »aber der Gedanke, tot zu sein, ist noch weit beklagenswerter. Wir müssen es versuchen. Nein, beim Himmel, wir werden es nicht nur versuchen. Wir werden ihm eine Prinzessin Augusta liefern, der er einfach glauben wird. Haben wir erst einmal das Geld, kann Cabbarus regieren, wie er will. Was uns betrifft, wir verschwinden von hier, auf nach Trebizonia! Bohnenstange, meine Liebe, hör mir zu…«

»Seid kein Narr«, schrie Theo. »Glaubt Ihr wirklich, irgendeiner von uns würde noch lebend hier herauskommen? Glaubt Ihr, Cabbarus wird uns auch nur einen Augenblick länger leben lassen als unbedingt nötig? Wo wir wissen, was wir wissen? Dass er sich selbst dank des Wortes einer falschen Prinzessin auf den Thron gesetzt hat? Dass die ganze Angelegenheit schlicht ein Trick war? Er wird es nicht wagen, uns am Leben zu lassen.«

Der Graf schluckte seine Worte herunter, und sein Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet«, sagte er. »Ich fürchte, du hast da ein ziemlich gutes Argument.«

Während die beiden sich unterhielten, hatte Muskete sich die Falltür genauer angeschaut. Entmutigt schüttelte er den Kopf und kehrte wieder zu den anderen zurück.

»Ich dachte, wir könnten diesen Abfluss, oder was auch immer das sein mag, hinunterklettern. Aber da unten ist Wasser. Wie tief es hinuntergeht, weiß ich nicht; auch bin

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ich mir nicht sicher, ob wir lange genug überleben, das herauszufinden. Wie auch immer, wir könnten es trotzdem riskieren.«

»Bevor wir uns in irgendein bodenloses Loch stürzen«, sagte Las Bombas, »würde ich lieber alle anderen Möglich­keiten durchgehen. Lasst Cabbarus glauben, dass wir uns auf seinen Plan einlassen. Wenn wir erst einmal vor dem König stehen, werden wir die ganze Sache gestehen und uns seiner Gnade unterwerfen. Er soll wissen, dass sein eigener Obers­ter Minister uns dazu gezwungen hat.«

»Wird Augustin uns glauben?«, fragte Theo. »Unser Wort stünde gegen das von Cabbarus.«

Las Bombas nickte reumütig. »Ich fürchte, da hast du Recht. Ich sehe nicht, wie wir diesen Streit gewinnen sollen. So oder so, wir sind am Ende. Wir haben alles zu verlieren und absolut nichts zu gewinnen. An diesem Punkt können wir uns nur noch die Art unseres Abgangs aussuchen: nass oder trocken?«

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Vierundzwanzig

In Freyborg, was nun schon Jahre her zu sein schien, hatte Justin einmal gesagt, er würde sein Leben für Florian geben, sollte dieser ihn darum bitten. Damals war Theo die Vor­stellung heroisch und bewundernswert erschienen. Jetzt war er wütend. Für Florian zu sterben war eine Sache; aber zum Vorteil des Obersten Ministers zu sterben … Theo kam sich irgendwie besudelt vor. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, sich Cabbarus schlicht an den Hals zu werfen und so zumindest eines Teil seines Zorns zu befriedigen, bevor die Wachen ihn töteten. Das würde allerdings weder Bohnenstange noch Muskete oder Las Bombas helfen, die anschließend auch den Verlust des eigenen Lebens zu be­klagen hätten.

»Wir probieren es einfach aus, sage ich«, erklärte Muskete. »Mit den Füßen zuerst in den Schacht, dann tief einatmen und auf das Beste hoffen.«

»Das mag für dich ja schön und gut sein«, sagte Las Bombas, der sich die Falltür inzwischen selbst einmal ange­schaut hatte. »Ich habe jedoch nicht die richtige Größe dafür. Ich werde wie ein Korken in der Flasche darin enden.«

Bohnenstange kauerte in einer Ecke und hatte die Arme um die Brust geschlungen. Sie starrte in den offenen Abfluss, als könne sie sich nicht mehr davon losreißen.

»Nicht dort hinein«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang dünn wie die eines verängstigten Kindes.

Theo ging zu ihr und kniete sich neben sie. Er blickte zum Grafen. »Sie ist nicht in der Verfassung, irgendetwas zu versuchen. Ich bin noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch gehen kann.«

Las Bombas nickte düster. »Ich habe das gleiche Gefühl. Das arme Mädchen. Wenn irgendjemand Cabbarus hätte

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trotzen können, ich hätte gedacht, sie wäre diejenige ge­wesen. Seit sie den Fuß hier hereingesetzt hat, ist sie außer sich vor Angst. Und das kann ich ihr wohl kaum zum Vor­wurf machen.« Der Graf strahlte. »Das könnte sich als ver­kappter Segen erweisen. Was, wenn sie krank geworden ist, hm? Vorstellung gestrichen aufgrund von ernster Indisposi­tion.«

»Damit würdet Ihr nicht durchkommen«, sagte Muskete. »Dieser fischäugige Schuft sieht mir nicht so aus, als würde er Entschuldigungen akzeptieren. Außerdem kann sie nicht ewig krank sein. Er wird warten. Das Mädchen ist die, die er will; und nehmen wir einmal an, in der Zwischenzeit kommt er zu dem Schluss, dass er den Rest von uns gar nicht braucht … was dann? Wenn wir unser Glück versuchen wollen, heißt es jetzt oder nie.«

»Es gibt da eine Sache, die wir tun könnten«, sagte Theo nach einiger Zeit. Er fuhr rasch fort, während die Idee in seinem Kopf Gestalt annahm. »Wir könnten bei Cabbarus' Spiel mitmachen.«

»Was?«, schrie Las Bombas. »Nach allem, was du dagegen gesagt hast?«

»Hört mir erst einmal weiter zu«, sagte Theo. »Wenn der König nicht glaubt, dass sie seine Tochter ist, sind wir von Beginn an verloren. Aber … nehmen wir einmal an, Bohnen­stange kann ihn wirklich glauben machen, dass sie Prinzes­sin Augusta ist. Das bezweifle ich zwar, aber sie könnte es schaffen. Wenn der König auf sie hört und glaubt, was sie sagt, könnten wir eine Chance haben.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte der Graf. »Wie sollte uns das helfen?«

»Rabbanis will, dass sie dem König sagt, er solle den Thron aufgeben. Was, wenn sie genau das Gegenteil tut?«

»Hä? Das Gegenteil von was?«

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«Sie sagt ihm, er solle ihn behalten. Sie sagt ihm, er solle niemals abdanken, egal was sein Oberster Minister ihm rät. Sie warnt ihn vor Cabbarus und bittet den König, ihn zu entlassen …«

»Und Cabbarus denunziert uns als Scharlatane.« »Soll er ruhig«, sagte Theo. »Und selbst wenn, wird er

sich für eine Menge zu verantworten haben.« »Das läuft auf’s selbe hinaus«, sagte Las Bombas. »Der

König mag uns glauben oder auch nicht. Das beantwortet jedoch nicht die Frage, die mir vor allem im Kopf herum­spukt: Was wird später aus uns? Ich vermute, Meister Cabbarus hat einen langen Arm. Und der Zustand, in dem Bohnenstange sich befindet … Wie auch immer, alles ist besser, als in ein Abflussrohr hineinzuspringen.«

»Wirst du es versuchen?« Theo drehte sich zu Bohnen­stange um. In ihrem Gesicht lag ein Entsetzen, wie Theo es noch nie zuvor gesehen hatte. Schließlich nickte sie. Theo lächelte sie an und wollte ihre Hand ergreifen, doch sie zog sich vor ihm zurück.

Theo halte Cabbarus erwartet; stattdessen war es jedoch Pankratz, der kam, um dem Grafen zu befehlen, mit den Vor­bereitungen zu beginnen. Theo wollte Bohnenstange nicht allein lassen. Der Graf versicherte ihm, dass er und Muskete alles Notwendige tun könnten.

Bohnenstange kauerte noch immer regungslos in ihrer Ecke. Einmal schrie sie laut auf, als würde sie selbst im Wachzustand von einem Albtraum heimgesucht. Die restliche Zeit über schwieg sie. Theo fragte sich, ob sie verstand oder sich überhaupt daran erinnerte, was sie tun sollte. Er begann, an seinem eigenen Plan zu zweifeln, und er hatte sich noch keinen neuen ausgedacht, als sich die Tür öffnete und Las Bombas wieder zurückkehrte.

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Der Graf half Bohnenstange, sich eine weiße Robe überzustreifen, und flüsterte Theo zu: »Muskete wartet. Wir haben alles vorbereitet. Die Vorhänge, die Lichter … fantastisch, das Beste, was ich je gemacht habe. Es könnte funktionieren. Bohnenstange könnte uns allen die Haut retten.«

Sie wurden aus der Kammer eskortiert, über den Hof geführt und betraten ein Gebäude, das Las Bombas als den Neuen Juliana bezeichnete. Cabbarus erwartete sie in einem großen Audienzsaal.

»Seine Majestät verlässt seine Gemächer nie«, sagte Cabbarus. »Für diese Gelegenheit hat er jedoch eingewilligt, es zu tun. Ich habe ihm ein Ereignis von außerordentlicher Wichtigkeit versprochen. Königin Caroline wird ebenfalls anwesend sein, des Weiteren die höchsten Ratgeber und Minister Seiner Majestät. Es ist von größter Wichtigkeit, dass alle mit eigenen Ohren hören, was die Prinzessin ihrem Vater zu sagen hat.«

»Das ist besser als das, was wir in Felden hatten«, sagte Las Bombas und führte Theo und Bohnenstange hinter die Vorhänge, die ein niedriges Podium verdeckten. »Eines muss ich Cabbarus lassen, er hat mir alles gegeben, was ich gewollt habe. Er hat ein paar hervorragende Dreibeine und Kohlebecken aufgetrieben. Ich habe es so eingerichtet, dass sie beeindruckend viel Rauch abgeben werden. Ich hätte auch gerne ein Feuerwerk gehabt, aber das erschien mir schließlich doch ein wenig übertrieben.«

Las Bombas half Bohnenstange zu einem großen Stuhl, auf den sie sich mit gesenktem Kopf setzte. Dem Stimmen­gemurmel hinter dem Vorhang nach zu urteilen, vermutete Theo, dass die Höflinge allmählich eintrafen. Der Graf trat vor das Podium. Bohnenstange atmete flach. Sie antwortete nicht, als Theo sie ansprach, und nichts deutete darauf hin, dass sie ihn überhaupt gehört hatte.

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Las Bombas duckte sich um die Vorhänge herum. »Der König und die Königin sind hier. Cabbarus will, dass wir beginnen.«

»Das können wir nicht. Jetzt nicht. Bohnenstange geht es immer schlechter. Sagt Cabbarus, dass es eine Verzögerung gibt. Sagt ihm … Sagt ihm irgendwas.«

»Zu spät«, stöhnte der Graf. Muskete hatte die Kohle­becken auf den Dreibeinen entzündet. Rauchwolken stiegen nach oben. Bohnenstange hob den Kopf. Das Mädchen schien an den Grenzen seiner Kraft angelangt zu sein.

Theo zog an den Seilen, die die Vorhänge öffneten. In der Halle waren die Kerzen gelöscht worden. Theo sah nur eine Menge von Schatten, zwei vage erkennbare Gestalten auf einer Empore am anderen Ende des Raumes und den dunk­len Umriss von Cabbarus neben ihnen.

Der Graf hatte rechts und links von Bohnenstange Later­nen arrangiert, deren Schein nun auf ihr Gesicht fiel. Die Höflinge schnappten nach Luft, als sie das Mädchen zum ersten Mal sahen. Sie hatte den Blick gesenkt, und ihr Ge­sicht war eine bleiche Maske. Ihre Lippen teilten sich ein wenig, bewegten sich aber ansonsten nicht. Sie sprach mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien.

»Hilf mir. Bitte, hilf mir. Ich falle.« Das Entsetzen und das Flehen, welche diese Worte

untermalten, waren so echt, dass Theo sich unwillkürlich in Bewegung setzte.

»Bitte«, fuhr Bohnenstange fort, »gib mir deine Hand.« »Was tut sie da?«, flüsterte Las Bombas erregt. »So soll

sie das nicht angehen. Sie macht alles kaputt. Falls wir je eine Chance hatten, jetzt ist sie vertan!«

Bohnenstange war vom Stuhl aufgestanden. »Beeil dich. Ich kann mich nicht länger festhalten.«

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Ein schmerzerfüllter Schrei hallte durch die Kammer, doch nicht vom König, sondern von Königin Caroline. »Das ist mein Kind! Mein Kind ruft!«

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Fünfundzwanzig

Theo drehte sich der Kopf. Er hatte alles darauf gesetzt, dass Bohnenstange ihre Rolle gut spielte; aber dass sie die Stimme eines Kindes nachahmte, das sie nicht kannte und das überdies schon lange tot war, das war unmöglich.

Bohnenstanges Tonfall veränderte sich und wurde tiefer. Nun war es eine neue Stimme, grausam und höhnisch.

»Ihr habt Euch da ja in eine schöne Lage gebracht, Prin­zessin. Lasst Euch das eine Lehre sein, dass man nicht an Orten herumschnüffelt, die Euch nichts angehen.«

Wieder die Kinderstimme. »Ich habe Verstecken gespielt. Das war doch nur ein Spiel. Bitte, ich werde müde.«

Inzwischen war Bohnenstange wie ein Schlafwandler zur Mitte der Halle unterwegs. Theo und Las Bombas waren viel zu verblüfft, um sie davon abzuhalten. Sie sprach erneut.

»Jetzt behandelt Ihr mich anders, Prinzessin. Ich war nie einer Eurer Favoriten. Wie schnell Ihr doch Euer Verhallen ändert, wenn Euer Leben in meiner Hand liegt. Fleht Ihr mich an, Euch zu helfen? Ich bin nicht sicher, ob ich das will.«

Die Höflinge schnappten nach Luft. In diesem Augenblick hatten sie das Gleiche erkannt wie Theo. Die Stimme war die eines Mädchens, das einen Mann imitiert, aber Tonfall und Kadenz waren unverkennbar: Das war Cabbarus' Stimme.

Bevor Bohnenstange fortfahren konnte, platzte der Oberste Minister heraus: »Was ist das für eine monströse List? Euer Majestät, sie haben mich mit ihren Versprechungen getäuscht. Sie sind Betrüger…«

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»Schweig!«, schrie Augustin. »Der Geist meines Kindes spricht endlich zu mir. Sie erzählt mir, wie sie wirklich zu Tode gekommen ist!«

Ein trockenes Lachen kam von Bohnenstanges Lippen. »Vor Euch haben schon viele ihre letzte Reise durch diesen Schacht angetreten, Prinzessin. Fändet Ihr es nicht amüsant, Euch zu ihnen zu gesellen?«

Trotz aller Angst nahm die Stimme des Kindes einen befehlenden Tonfall an. »Zieht mich raus. Mein Vater wird erfahren, wie Ihr mich behandelt habt. Es wird ihm gar nicht gefallen, dass Ihr dort oben gestanden und mich verspottet habt. Einige Minister wollen, dass er Euch wegschickt. Ich habe sie reden hören. Mein Vater hat sich noch nicht ent­schieden; aber das wird er, sobald er herausfindet, dass Ihr mir nicht geholfen habt.«

»Er wird es nur erfahren, wenn Ihr lebt, um es ihm zu sagen.«

Bohnenstange riss die Augen auf, starrte nach oben und schrie: »Meine Hände rutschen ab! Cabbarus, nein! Ihr tut meinen Fingern weh!«

Irgendjemand rief nach Licht. Theo sprang hinter den Vorhängen vor. Bohnenstange kreischte und fiel zu Boden. König Augustin war aufgesprungen.

»Meine Tochter ist nicht durch ein Missgeschick ums Leben gekommen! Du warst es, Cabbarus! Du hast mir erzählt, du wärest zu spät gekommen, um ihr Leben zu retten! Du warst dort bei ihr im Alten Juliana. Du hast sie zu Tode stürzen lassen. Ihr Geist klagt dich an!«

Inzwischen hatte Königin Caroline Bohnenstange er­reicht. Sie warf sich neben das bewusstlose Mädchen. »Das ist kein Geist! Das ist mein Kind!«

»Mörder!«, schrie Augustin. Er trat einen Schritt auf Cabbarus zu. »Mörder! Packt ihn!«

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Cabbarus sprang davon. Die Wachen waren genauso benommen wie die Höflinge. Cabbarus erzwang sich einen Weg durch die Reihen der Diener und floh aus dem Raum. Theo ließ Bohnenstange und die Königin zurück und rannte ihm hinterher. Cabbarus hatte den Gang erreicht und hielt auf den Hof zu.

Obwohl Theo ihm dicht auf den Fersen war, blieb Cabbarus stehen, unsicher, in welche Richtung er sich wenden sollte. Dann erblickte er eine Kompanie Soldaten an einer der Arkaden. Als Cabbarus sah, dass sein Fluchtweg blockiert war, lief er durchs Tor des Alten Juliana. Er blieb stehen, um sich umzudrehen und nach Theo zu schlagen, der daraufhin stürzte und den Mann an der Robe packte.

Cabbarus riss sich los. Die Wachen aus dem Audienzsaal hatten inzwischen den Hof erreicht, und Alarmglocken hallten durch den Palast. Theo rang mit Cabbarus, der ihn beiseite stieß und eine Steintreppe hinaufrannte.

Theo stolperte hinter ihm her. Die Treppe war schmal und gewunden. Sie führte zum Glockenturm der alten Festung hinauf. Eine viereckige Galerie mit niedrigem Geländer umgab die riesigen Glocken. Offene Steinbögen verschafften Theo einen Schwindel erregenden Blick auf den Hof weit unten.

Cabbarus blieb stehen und wirbelte herum. Theo hörte das Knurren eines wütenden Tieres. Zu seinem großen Entsetzen bemerkte er, dass es aus seiner eigenen Kehle stammte.

Er warf sich auf den Obersten Minister. Cabbarus ver­suchte, sich wieder von ihm zu lösen. Seine Finger schlossen sich um Theos Hals. Theo zuckte nach hinten. Noch immer in Cabbarus' Griff, taumelte er gegen das Geländer und stürzte darüber hinweg. Er fiel und griff einen Augenblick lang ins Leere. Dann bekam er eines der Glockenseile zu fassen.

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Cabbarus fiel mit ihm und verlor den Halt um Theos Hals. Der Mann schrie und wäre bis zum Grund des Turmes gestürzt, hätte Theo ihn nicht am Ann gepackt und mit aller Kraft festgehalten.

Der Ruck riss Theo fast den Arm aus der Schulter. Er schrie vor Schmerz. Das Gewicht des Mannes zog an ihm. Nur noch einen Augenblick, so fürchtete er, und sie würden beide zu Tode stürzen. Er musste nur die Hand öffnen, um sich seiner Last zu entledigen.

Cabbarus starrte zu ihm hinauf. Unbändiger Hass brannte in seinen Augen. Theos eigene Wut drohte ihn zu ersticken. In diesem Augenblick wollte er nichts lieber, als den Mann einfach fallen zu lassen. Schluchzend schlang er das Bein um das Glockenseil und verstärkte seinen Griff um Cabbarus' Arm.

Die Wachen rannten die Treppe zum Glockenturm hinauf; Muskete lief ihnen voraus. Der Zwerg hatte den Mund auf­gerissen und schrie. Theo hörte keines der Worte. Über ihm war die Glocke zum Leben erwacht, und ihr Läuten explo­dierte förmlich in Theos Ohren. Er wurde nach oben und dann über das Geländer gezogen; noch immer hielt er Cabbarus fest. Theos Hand schien am Arm des Mannes festgefroren zu sein. Irgendjemand bog seine Finger auf.

Vor ihm erschien das Gesicht von Las Bombas. Taub und benommen fragte sich Theo, warum Bohnenstange nicht gekommen war. Dann erinnerte er sich daran, dass es solch eine Person nicht gab. Es gab nur eine, die sich einmal so genannt hatte.

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Sechsundzwanzig

»Sie sagen mir immer wieder, ich sei Prinzessin Augusta«, sagte Bohnenstange. »Das ist mir durchaus klar. Ich kann mich nur nicht entscheiden, ob ich eine Prinzessin bin, die mal ein Straßenmädchen gewesen ist, oder ein Straßen­mädchen, das mal Prinzessin war.«

Bohnenstange saß im Schneidersitz inmitten eines Haufens von Kissen auf ihrem Bett in den königlichen Ge­mächern. Sie rollte mit den Schultern, als würde das Seidenkleid ihr Jucken verursachen. Sie grinste Theo an, der darauf wartete, dass sie mit ihrer Geschichte fortfuhr. Zwei Tage lang hatte man ihm nicht gestattet, sie zu sehen, während Ärzte, Zofen und ihre Eltern ständig um sie herum waren. Schließlich hatte Bohnenstange sich selbst für gesund erklärt und nach Theo, Las Bombas und Muskete verlangt.

Königin Caroline saß auf einem Stuhl am Fenster und behielt ihre Tochter besorgt im Auge, obwohl das Mädchen sich sowohl körperlich als auch geistig vollkommen erholt hatte.

»Ich erinnere mich jetzt wieder an alles«, sagte Bohnen­stange. »Deshalb fühlt es sich ja so seltsam an. Ich kann nämlich nicht verstehen, wie so viele Jahre vergehen konnten, ohne dass ich mich überhaupt an etwas erinnert habe.«

»Du hast es nicht vergessen«, sagte Theo. »Es war da, irgendwo in deinem Kopf. Es war in deinen Albträumen.«

»Die sind jetzt verschwunden«, sagte Bohnenstange. »Ich habe keinen einzigen mehr gehabt, ja, ich muss davon geträumt haben, was Cabbarus mir angetan hat, aber das habe ich nicht wissen können. Als ich dann die Falltür ge­sehen habe, ist alles langsam wieder zurückgekommen.«

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»Du hast es noch einmal durchlebt«, erklärte Theo. »Es war schlimmer als ein Albtraum, denn du hast nicht daraus aufwachen können.«

»Du hast eine beeindruckende Vorstellung abgeliefert«, warf Las Bombas ein. »Und ich habe noch gedacht: Erstaunlich, wie gut sie Prinzessin Augusta spielen kann.«

»Sie hat nicht gespielt«, korrigierte Theo ihn. »Sie hat uns erzählt, wie Cabbarus versucht hat, sie umzubringen.«

»Ich nehme an, es war meine eigene Schuld«, sagte Boh­nenstange. »Ich habe mir immer irgendwo Schrammen geholt. Ich bin sogar den Glockenturm hinaufgestiegen. An jenem Tag wollte ich einfach nur nachsehen, was sich unter der Falltür verbirgt. Ich dachte, es wäre ein guter Platz zum Versteckenspielen. Dort hätte nie jemand nach mir gesucht. Aber ich bin abgerutscht und konnte mich selbst nicht mehr hinaufziehen. Dann kam Cabbarus und hat mich gesehen.

Er hat so lange auf meine Hände getreten, bis ich losge­lassen habe. Ich erinnere mich daran, nach unten gefallen zu sein, ins Wasser. Dann hat der Fluss mich davonge­tragen …«

Königin Caroline kam hinzu, um ihrer Tochter übers Haar zu streichen. »Denk nicht länger darüber nach. Wir haben dich für tot gehalten, aber du lebst und bist wieder bei uns. Mehr muss nicht gesagt werden.«

»Oh, danach war es gar nicht mal so schlecht«, erwiderte Bohnenstange. »Ich hatte Glück. Ich bin in die Marschen getrieben. Sie werden ›die Finger‹ genannt. Der alte Mann, der mich aus dem Wasser gefischt hat, hat mir wirklich das Leben gerettet. Jetzt kann ich ihm nicht mehr dafür danken. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass er mein Großvater ist. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich alle Erinnerung an das verloren, was vorher war. Ich hätte ihm gar nicht sagen können, wer ich war. Ich wusste es nämlich nicht. Es

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war, als wäre ich schon immer dort gewesen. Der arme Mann, er hätte mich ohnehin nicht hören oder mit mir sprechen können. Selbst nachdem er mir seine Zeichensprache beigebracht hatte, hat er mir nie erzählt, wie er mich gefunden hat. Ich nehme an, er wollte, dass ich bleibe. Und das habe ich auch getan, bis er schließlich gestorben ist. Dann bin ich alleine losgezogen.

Ich werde dir etwas sagen«, fügte sie an Königin Caroline gewandt hinzu. »Dieses Heim für Reumütige Mädchen: Da muss etwas unternommen werden, angefangen mit dem Haferbrei, den man dort serviert.«

»Darum wirst du dich selber kümmern können, meine Liebe«, sagte die Königin. »Das wird eine deiner königlichen Pflichten sein.«

»Oh. Die.« Bohnenstange verzog das Gesicht. »Darüber würde ich lieber nicht nachdenken.«

»Sei froh, dass du überhaupt irgendwelche Pflichten er­füllen kannst«, erwiderte die Königin. »Im Audienzsaal haben wir schon befürchtet, du würdest niemals wieder aufwachen. Du bist in Ohnmacht gefallen, und nichts hat dich wieder zurückholen können, bis die Glocken geläutet haben.«

»Ja, die Glocken! Wie ich sie geliebt habe! Nun, Cabbarus hat versucht, mich umzubringen … und er war derjenige, der mich wieder aufgeweckt hat. Das ist nur fair, denke ich.«

»Tatsächlich war es unser junger Freund hier«, warf Las Bombas ein. »Er hing am Glockenseil und gleichzeitig an Cabbarus.«

»Einen Augenblick später, und die beiden wären mit gebrochenem Hals am Fuß des Turmes gelandet«, fügte Muskete hinzu. Der Zwerg war in den Besitz eines neuen Hutes gelangt, den er nun vor Theo zog.

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»Ich habe dir immer und immer wieder zugerufen, du sollst ihn loslassen. Du hast mich nicht gehört. Das war vielleicht ganz gut, denn ich habe dich mit ein paar Schimpfnamen belegt, von denen ›Idiot‹ noch der harmloseste war.«

»Ich habe noch nie jemanden gehasst«, sagte Theo. »Cabbarus habe ich jedoch gehasst. Warum musste ausgerechnet ich derjenige sein, der ihm das Leben rettet?«

»Wie auch immer, er wird dieses Leben nicht lange be­halten.«

König Augustin war unangekündigt ins Zimmer gekom­men und hatte schweigend zugehört. Auch wenn er wie ein Invalide ging, der sich seiner Beine noch nicht sicher ist, so hatte sein Gesicht doch wieder etwas an Farbe gewonnen. Aber obwohl ihm eine Last von den Schultern genommen worden war, schien er noch eine andere zu tragen.

»Ich gebe nur mir die Schuld dafür, ihn zum Obersten Minister ernannt zu haben. Es war wirklich so, wie Prinzessin Augusta erzählt hat: Ich hatte darüber nachgedacht, ihn als Superintendenten des Königlichen Haushalts zu entlassen. Als ich glaubte, mein Kind sei tot, hat mich mein Verstand verlassen; aber ich will das weder entschuldigen noch kann ich mir dafür verzeihen. Ich werde alles wieder in Ordnung bringen, was in Ordnung gebracht werden kann. Was Cabbarus in meinem Namen getan hat, kann jedoch nie wieder gutgemacht werden.

Er wartet in der Festung Carolia auf seine Hinrichtung«, fuhr der König fort. »Er wird gerechterweise dem Tod überantwortet werden, er, der er so viele ungerechterweise aufs Schafott geschickt hat. Das ist der einzige Preis, den er zahlen kann, auch wenn es viel zu wenig ist.«

»Euer Majestät, ich möchte Euch um eine Gunst bitten«, sagte Theo. »Ich habe ihm nicht das Leben gerettet, damit er

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es verliert. Ich möchte niemandes Tod auf meinem Gewissen haben, noch nicht einmal seinen.«

»Du bittest für ihn um Gnade?«, schrie der König erstaunt. »Er ist ein Monster!«

»Dann lasst ihn mit seiner Monstrosität leben. Verbannt ihn …« Theo hielt inne. »Ich bin jedoch nicht der, der Euch darum bitten darf. Bohnenstange – Prinzessin Augusta – hat am meisten unter ihm gelitten. Das Urteil liegt in ihrer Hand.«

»Nun«, sagte Bohnenstange, »ich habe gesehen, was sie mit meinem Freund Hanno gemacht haben. Ich sage: Schluss damit. Ja, schickt Cabbarus ins Exil. Er hat seine Macht verloren, und das ist für ihn schlimmer, als gehängt zu werden.«

»Wie du willst«, sagte König Augustin. »Er soll erfahren, wer ihn vor dem Schafott bewahrt hat und dankbar dafür sein … falls er denn überhaupt zu Dankbarkeit fähig ist.«

»Ich will seine Dankbarkeit nicht«, sagte Theo. »Euer Majestät, er darf nicht erfahren, dass ich für ihn gesprochen habe.«

»So sei es«, stimmte Augustin zu. »Sekretär Pankratz wird mit seinem Herrn ins Exil gehen.«

»Ich schlage eine Wüsteninsel vor«, sagte Las Bombas. »Dann können sie sich darin abwechseln, über den anderen zu herrschen. Aber, Euer Majestät, da wir gerade vom Thema ›Gunst‹ reden: Ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass der ehemalige Oberste Minister etwas von einer Belohnung erwähnte.«

»Ihr fragt nach Geld?« Theo wirbelte zu Las Bombas herum. »Ihr wollt für etwas bezahlt werden, das Ihr ohnehin getan hättet? Ihr solltet Euch schämen!«

»Das tue ich auch«, erwiderte der Graf. »Andererseits beschämt es mich mehr, mittellos zu sein.«

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»Eine Belohnung war versprochen«, sagte König Augustin. »Ihr beansprucht sie gerechtermaßen, und so soll sie Euch gegeben werden. Aber die Prinzessin wird müde. Ihr habt unsere Erlaubnis, Euch zurückzuziehen.«

Königliche Erlaubnis war königlicher Befehl, und so wurde Theo gegen seinen Willen aus dem Zimmer gescheucht, ohne dass er vorher noch einmal Gelegenheit gehabt hatte, mit Bohnenstange zu sprechen – oder Prinzessin Augusta. Wie viel von ihr die eine und wie viel die andere war, darüber nachzudenken fürchtete er sich.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass Ihr diese Belohnung genommen habt«, sagte Theo zum Grafen auf dem Weg zurück in ihre Gemächer. »Ihr seid ein noch viel größerer Schurke, als ich bisher geglaubt habe, falls das überhaupt möglich ist.«

»Mein Junge, was hast du von mir erwartet?«, protestierte Las Bombas. »Ich bin nur ein Mensch aus Fleisch und Blut – mehr noch als die meisten anderen.«

Theo lachte und schüttelte den Kopf. »Dem kann ich nicht widersprechen. Ich mache Euch auch keine Vorwürfe deswegen. Ich habe nur versucht, besser zu sein, als ich bin. Ich bin nicht so tugendhaft, wie ich gedacht habe … oder wie ich gewollt habe. Ich frage mich, ob das überhaupt jemand ist, selbst Florian. Ich nehme an, wir sollten uns freuen, dass wir überhaupt etwas Gutes haben bewirken können.«

Las Bombas zuckte mit den Schultern. »Ich hatte nie diese Art von Problem.«

Trotz Theos Tadel bestand Las Bombas darauf, seinen rechtmäßigen Teil einzufordern. Am nächsten Tag machte sich der Graf leichten Herzens und mit schwerer Börse auf den Weg, nachdem es ihm nicht gelungen war, Theo davon zu überzeugen, ihn zu begleiten. Allein und nicht wissend,

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was er als Nächstes tun sollte, ging Theo in seinem Zimmer auf und ab. Zu seiner Überraschung dachte er mit einem gewissen Maß an Sehnsucht an die Tage des phrenologischen Kopfes und sogar der Orakelpriesterin zurück: als Bohnenstange noch Bohnenstange gewesen war.

In der folgenden Woche sah er sie nur selten, da die Prinzessin ständig von Höflingen belagert wurde, die ihr ihren Respekt erweisen wollten. Das einzige Ereignis, das Theos Stimmung hob, war die Ankunft von Dr. Torrens.

Die Neuigkeiten darüber, wie es zu Cabbarus' Sturz ge­kommen war, hatten sich rasch im gesamten Königreich verbreitet. Der Hofarzt halle sich auf den Weg nach Marianstat gemacht, kaum dass er davon erfahren hatte. Torrens brachte dem König und der Königin ein seltsames Geschenk mit.

»Der Fluss – oder genauer: zwei junge Wasserratten – haben mich genau dorthin geführt, wo er auch die Prinzessin hingeführt hat, tatsächlich sogar zu ein und derselben Hütte. Zuerst habe ich es nicht erkannt. Dann habe ich das hier gefunden.«

Torrens übergab Königin Caroline das schmutzige Stück Leinentuch, das er als Armschlinge getragen hatte. Es war die Kleidung eines Kindes mit einem gestickten königlichen Wappen darauf, verblasst und zerrissen, aber immer noch zu erkennen. »Ich habe das als Beweis genommen, dass die Prinzessin wirklich tot war. Stattdessen war es ein Zeichen, dass sie noch immer lebte.«

Obwohl Doktor Torrens protestierte, wurde er von König Augustin zum Obersten Minister ernannt. Dann befahl ihm Augustin, alle zu begnadigen, die Cabbarus unschuldig ver­urteilt hatte, sowie jenen Amnestie zu gewähren, die den Angriff auf die Garnison von Nierhalt durchgeführt hatten. Der Doktor beschrieb Florian, aber er bezweifelte, dass der König damit zufrieden gestellt sein würde.

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»Wir haben viele Tage zusammen verbracht«, sagte Tor­rens, »und wir sind nicht zu einer einhelligen Meinung gekommen, aber das habe ich auch nicht erwartet. Als Mensch respektiere ich ihn mehr, als ich mir zunächst habe vorstellen können. Als Oberster Minister bereitet er mir jedoch Sorgen. Er hat sich seinen Freunden in Freyborg nicht wieder angeschlossen. Ich weiß nicht, wo er ist. Aber seine Ansichten über die Monarchie hat er nicht geändert. Ich vermute, wir werden alsbald von Meister Florian hören.«

Später sprach er mit Theo unter vier Augen. »Ihre Majestäten machen sich Gedanken über deine

Zukunft, und ich auch. Gewisse Dinge müssen diskutiert werden, die sowohl für dich als auch für das Königreich von allergrößter Bedeutung sind.«

»Und Prinzessin Augusta?« »Natürlich. Darüber werden wir ein andermal reden. In

der Zwischenzeit habe ich etwas, das ich dir von Florian geben soll. Es hat ihn amüsiert, dass ausgerechnet du es warst, der Cabbarus zu Fall gebracht hat. Ich glaube, er war sogar ein wenig neidisch. Er hatte darauf gehofft, es selbst zu tun. Aber ohne Zweifel wäre er es anders angegangen. Die Tatsache bleibt jedoch bestehen: Cabbarus ist nicht mehr.«

»War ich ein Narr?«, fragte Theo. »Hätte ich ihn fallen lassen sollen? Ich wollte seinen Tod nicht auf meinem Ge­wissen haben, aber sein Leben auch nicht.«

»Ich weiß nicht, was ich unter denselben Umständen getan hätte«, erwiderte Torrens. »Es ist so leicht, gut von sich selbst zu denken; aber solange der Augenblick nicht kommt, können wir nicht sicher sein.«

Torrens reichte Theo ein zusammengefaltetes Stück Papier.

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»Von Florian. Er bittet dich, dich an einige der Dinge zu erinnern, die du ihm auf dem Hof gesagt hast. Offensichtlich hast du ihm einiges zu denken gegeben.«

Hinterher, in seinem Zimmer, lächelte Theo über die eilig geschriebenen Zeilen: Mein Kind,

das hast du gut gemacht. Vielleicht hast du sogar das Richtige getan.

Der Brief war nicht unterzeichnet.

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Siebenundzwanzig

Torrens tat schließlich, was Bohnenstange nicht geschafft hatte. Sowohl als Arzt als auch als Oberster Minister bereitete er dem endlosen Strom der Höflinge ein Ende. Stattdessen verschrieb er Bohnenstange frische Luft. Theo wurde gestattet, mit ihr in den Gärten des Juliana spazieren zu gehen, gefolgt von ihren Hofdamen, die eifersüchtig über jeden Bruch der Etikette wachten. Eine Zeit lang schwiegen die beiden, sie waren zufrieden, in der Gesellschaft des jeweils anderen zu sein.

»Es gibt einen ziemlichen Unterschied zwischen all dem hier und der Art, wie ich in Freyborg gelebt habe«, sagte Theo schließlich. »Jellineks Taverne, der Keller des Wein­händlers. Stock und die anderen. Ich vermisse sie. Ja, ich vermisse selbst meine Dachkammer in der Strohmarktstraße. Aber ich erkenne jetzt, dass ich ein Narr gewesen wäre, hätte ich eine Prinzessin dorthin gebracht.«

»Ich habe nicht gewusst, dass ich eine Prinzessin bin, also wäre es egal gewesen.«

»Aber du bist eine Prinzessin, und jetzt ist es nicht egal. Da führt kein Weg drum herum.«

»Ich bin noch immer Bohnenstange, oder? Ein Teil von mir zumindest.«

»Der König und die Königin denken da anders. Ich habe so das Gefühl, als wäre es ihnen lieber, du würdest diesen Teil vergessen.«

»Unwahrscheinlich!« Bohnenstange ahmte plötzlich die Stimme eines Straßenhändlers nach und lachte, als sie Theos überraschten Gesichtsausdruck sah. »Sie haben mit dir geredet, nicht wahr? Ja, nun, sie haben auch mit mir gespro­chen. Hauptsächlich kommen sie immer wieder auf das eine

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zu sprechen: dass ich eines Tages die Königin von Westmark sein werde.«

»Und das wirst du auch.« »Nicht, wenn Florian seinen Willen durchsetzt, und auch

nicht, wenn es nach mir geht. Es muss doch irgendwo einen königlichen Vetter geben, der dumm genug für diese Art von Arbeit ist. Wie auch immer, ich habe ihnen gesagt, das sei mir egal, und ich würde nicht zulassen, dass man uns trennt. Damit wäre die Angelegenheit erledigt.« Als Theo nicht sofort etwas darauf erwiderte, nahm Bohnenstanges Gesicht einen verzweifelten Ausdruck an. »Das ist doch so, oder? Es sei denn … Was haben sie zu dir gesagt?«

»Nur, dass ich meine eigene Entscheidung treffen müsse.«

Die Hofdamen hinter ihnen wurden plötzlich unruhig. Theo drehte sich um und sah Las Bombas den Weg

entlangeilen. Er rief ihm zu: »Ihr seid wieder zurück? Ich dachte, Ihr wäret mit dem ganzen Geld schon Gott weiß wie weit weg.«

»Nein«, antwortete Las Bombas. »Das ist ja der Grund, warum ich hier bin.«

»Ihr habt Eure Meinung geändert und wollt es nicht be­halten?«, rief Theo. »Das hätte ich nie von Euch erwartet. Bravo!«

»Ich muss zugeben, dass ich mich mit solch einer großen Summe ein wenig unwohl gefühlt habe. Ich bin es eher gewohnt, einem Vermögen hinterherzujagen, als eines in der Tasche zu haben.«

»Also musstet Ihr es wieder zurückgeben.« Theo klopfte Las Bombas auf die Schulter. »Ihr habt also doch so was wie ein Gewissen.«

»Ja, und das hat mich ganz schön gequält.« Der Graf seufzte. »Ich kann mir nicht verzeihen.«

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»Natürlich könnt Ihr das«, sagte Theo. »Ihr werdet Euch schon deutlich besser fühlen, wenn Ihr die Belohnung erst einmal zurückgegeben habt.«

»Du missverstehst mich«, sagte Las Bombas. »Ich kann mir nicht verzeihen … dass ich sie verloren habe.

Man hat mich darum betrogen«, fuhr er reumütig fort. »Man hat sie mir abgeluchst wie einem unschuldigen Baby. Das ist es, was unverzeihlich ist. Ich habe einen Gentleman kennen gelernt … Habe ich Gentleman gesagt? Ein elender Schuft! Er hat mit den Brief eines Edelmannes gezeigt, der, so sagte er, in einem trebizonianischen Gefängnis sitze. Wenn wir das Lösegeld bezahlen und ihn befreien würden, würde er uns das Versteck eines gewaltigen Schatzes verraten. Wir würden gerecht teilen … Ach, es gibt keinen Grund, die Einzelheiten meiner Schande vor der ganzen Welt auszubreiten. Das Geld ist weg. Oh, wenn ich den Kerl noch mal in die Finger bekomme!

Also bin ich noch einmal vorbeigekommen, um Euch abermals Lebewohl zu sagen, Prinzessin. Und auch dir, mein Junge. Muskete wartet ungeduldig darauf aufzubrechen. Ich wage zu behaupten, dass ihr zwei vollauf damit beschäftigt seid, eure eigenen Pläne zu schmieden.«

»Ich habe keine«, sagte Theo. »Aber Dr. Torrens hat einen Plan für mich. Ich habe Bohnenstange – der Prinzessin – gerade erzählt, dass ich mich entscheiden muss. Dr. Torrens will, dass ich in Westmark herumreise.«

»Und diesmal wirst du das mit Stil machen«, sagte Las Bombas. »Besser als wir auf jeden Fall.«

»Nein. Ganz im Gegenteil. Er will, dass ich alleine losziehe und mir ansehe, wie das Königreich wirklich ist. Er glaubt, auf diese Weise herausfinden zu können, was das Volk will und wie man dem entsprechen kann. Aber ich weiß

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nicht, ob ich das kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob Florian Recht hat oder die Monarchie.«

»Gestatte mir zu sagen«, warf Las Bombas ein, »das soll natürlich keine Beleidigung sein, aber eine Prinzessin, die Pfeife raucht, wie ein Soldat flucht und sich kratzt, wo auch immer es sie juckt, könnte ein Segen für das Königreich sein. Selbst Florian könnte sich vermutlich damit anfreunden.«

»Was wenn…« Theo ergriff Bohnenstanges Hand. »Was wenn wir beide, du und ich, gemeinsam losziehen würden? Du weißt so viel mehr als ich über die Welt da draußen. Genau genommen bin ich gerade erst von Dorning weg.«

Die Augen des Mädchens tanzten, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich werde hier bleiben. Im Augenblick jedenfalls. Ich habe meinen Eltern schon einmal das Herz gebrochen. Ich will das nicht noch einmal tun. Als du damals weggegangen bist, hat es mir nicht gefallen, jetzt macht es mir nicht mehr so viel aus. Es ist keine große Sache. Tu, um was Dr. Torrens dich gebeten hat. Du willst es. Das sehe ich dir an.«

»Ich will dich nicht verlassen.« »Das wirst du auch nicht«, entgegnete Bohnenstange.

»Nenn es ›eine Weile getrennte Wege gehen‹.« Die Hofdamen eilten herbei und bestanden darauf, dass

die Prinzessin zurück in den Palast gehen sollte. Zuerst leistete Bohnenstange ihnen Widerstand, dann ließ sie sich jedoch hineinführen. Einmal drehte sie sich noch um und streckte die Hände nach Theo aus.

»Finde, was du suchst. Ich werde dich finden.«

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