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VL Friedens-‐ und Konflik1orschung
Der Wohlfahrtsstaat:
Auslauf-‐ oder Zukunftsmodell?
Prof. Dr. Annette Henninger
Alle reden von Krise ...
• Transforma*on vom fordis*schen Wohlfahrts-‐staat zum na*onalen We8bewerbsstaat im Pos<ordismus (Hirsch/Roth 1986)
• Neoliberale Kampagne führte zum Ab-‐ und Umbau des WFS (Bu8erwegge 2008): – Leistungsabbau – Priva*sierung – mehr Kontrolle + Sank*onen
Alle reden von Krise ...
• ‚Spätkapitalismus’-‐These (Offe 1984): Der Kapitalismus kann weder mit noch ohne Wohlfahrtsstaat exis*eren
Ø chronische Krise des WFS aufgrund immanenter Widersprüche
• Konjunktur von Krisendiskursen im Zeichen neuer Rhetoriken (Lessenich 2000)
Alle reden von Krise ...
• Frage: Kommt es angesichts von Finanz-‐ und Wirtscha_skrise zu einer Zuspitzung der Krise des Wohlfahrtsstaates?
• These: Der Wohlfahrtsstaat wird nicht abgebaut, sondern
umgebaut – Kürzungen bei Sozialversicherungsleistungen – Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungen
-‐> neue Widersprüche und Ambivalenzen
Au;au 1. Theorieteil
1.1 Was ist ein Wohlfahrtsstaat (WFS)?
1.2 Die Regime-‐Typologie von Esping-‐Andersen
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.1 Entstehungsphase (Ende 19. Jhd.)
2.2 Ausbauphase (1949-‐1998)
2.3 Umbauphase (1998-‐heute)
3. Wie weiter – Umbau oder Abbau des WFS?
1.1 Was ist ein Wohlfahrtsstaat?
Sozialpoli;k -‐ Summe punktueller Eingriffe des Staates in gesellscha_liche Verhältnisse aufgrund der Diagnose sozialer Probleme
Sozialstaat -‐ zuständiges ins*tu*onelles Ensemble des deutschen Sozial(versicherungs)staates
Wohlfahrtsstaat -‐ interna*onal gebräuchlicher Begriff; umfasst unterschiedliche Ausprägungen von Wohlfahrts-‐staatlichkeit
(Lessenich 2000)
1.1 Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Antwort 1: Ein WFS ist ein Staat, der für die Wohlfahrt seiner BürgerInnen sorgt. „Unter dem Begriff wohlfahrtsstaatlicher Poli*k lässt sich derjenige Teil der Staatstä;gkeit subsumieren, der darauf gerichtet ist, materielle Verelendung zu verhindern, vor den Wechselfällen des Lebens zu schützen und krasse soziale Ungleichheit der Lebensführungschancen zu lindern oder ihre Folgen einzudämmen. Wohlfahrtsstaatliche Poli*k erfolgt durch Eingriffe in die Einkommensverteilung (…), aber auch durch Dienst-‐leistungen (…) sowie durch Gebote und Verbote“.
(M.G. Schmidt u.a. 2006: 16; Hervorhebungen: AH)
1.1 Was ist ein Wohlfahrtsstaat? Antwort 2: Der WFS ist die Verbindung von Kapitalismus und Demokra*e. Der WFS steht für einen in der Nachkriegszeit entstandenen Gesellscha_styp, der Demokra;e und Kapitalismus ver-‐bindet, einen ausgebauten, zentral-‐staatlich regulierten Sozialsektor aufweist und auf dessen Leistungen ein Rechtsanspruch besteht.
(Lessenich 2000)
1.2 ‚The three worlds of welfare‘ Gøsta Esping-‐Andersen (1990)
Klassenkoali;ons-‐These: Mobilisierung der Arbeiterklasse und Koali*onen mit anderen Gruppen führten in Verbindung mit na*onal dominanten Ideen zur Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten Ø konflikt-‐/interessentheore*sche Erklärung
1.2 ‚The three worlds of welfare‘ Gøsta Esping-‐Andersen (1990)
Regimetyp
Vergleichsdimension
Liberal (Bsp.: USA)
Korpora;s;sch (Bsp.: Deutschland)
Sozialdemokra;sch (Bsp.: Schweden)
Dekommodifizierung
Minimal Individueller Markt-‐ erfolg bes*mmt Einkommensverteilung
Mi8el Sozialversicherung -‐> an Klasse/Status gebundene soziale Rechte
Hoch universalis*sche, an den Staatsbürgerstatus geknüp_e soziale Rechte
Stra*fizierung
Hoch S*gma*sierung und Bestrafung der Armen wg. Bedür_igkeits-‐ prüfung
Mi8el Wenig Umverteilung wg. Beitragsäquivalenz
Niedrig soziale Rechte als Bürgerrechte, hoher Inklusionsgrad
Markt-‐Staat-‐Familie
Markt als zentrale Instanz
Subsidiaritätsprinzip (Familie, Staat)
Staat als zentrale
Instanz
Quizzfrage: • Welches Land führte als erstes eine soziale Absicherung für Arbeiter ein?
• Wann war das?
1.2 ‚The three worlds of welfare‘ Gøsta Esping-‐Andersen (1990)
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat 1. Entstehungsphase: Bismark
Land Unfallversicherung Krankenversicherung Rentenversicherung Arbeitslosenversicherung
Australien 1902 1948 1908 1944
Belgien 1903 1894 1900 1920
Deutschland 1884 1883 1889 1927
Dänemark 1898 1892 1891 1907
Finnland 1895 1963 1937 1917
Frankreich 1898 1928 1910 1905
Griechenland 1914 1922 1934 1945
Großbritannien 1897 1911 1908 1911
Irland 1987 1911 1911 1908
Island 1925 1936 1909 1936
Italien 1898 1943 1919 1919
Japan 1911 1927 1941 1947
Kanada 1930 1977 1927 1940
Luxemburg 1902 1901 1911 1921
Neuseeland 1908 1938 1898 1930
Niederlande 1901 1931 1919 1916
Norwegen 1895 1909 1936 1906
Österreich 1887 1888 1907 1920
Portugal 1913 1935 1935 1975
Schweden 1901 1891 1913 1934
Schweiz 1918 1911 1946 1982
Spanien 1900 1942 1919 1919
USA 1930 1965 1935 1935
Mittelwert 1905 1924 1917 1929
• ‚soziale Frage‘, Mobilisierung der Arbeiterklasse • Na*onbuilding: Einbindung der Arbeiter durch
Gewährung sozialer sta+ poli*scher Rechte • 3-‐Klassen-‐Wahlrecht • Sozialisten-‐Gesetze
• Protestan*smus, katholische Soziallehre; konserva*ve Geschlechternormen
→ „Zuckerbrot und Peitsche“: konserva*ve Sozialreformen von oben
→ Staatszentrierte (ins*tu*onalis*sche) Erklärung
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat 2.1 Entstehungsphase: Bismarck
Konstruk*onsprinzipien: • Keine universalen Leistungen, sondern Sozialversicherung für Arbeiter (+ Angestellte)
• Beitragsfinanzierung; Rechtsanspruch • eigenständige Versicherungsins*tu*onen in Selbstverwaltung
• kompensatorische sta8 präven*ve Leistungen
→ Statuserhalt; geringe Umverteilung → Geschlechterbias als Konstruk*onsfehler
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat 2.1 Entstehungsphase: Bismarck
Geschlechterleitbilder im Sozialstaat
‚Sozialstaatsgebot‘ im Grundgesetz (1949) Ar*kel 20 GG (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokra*scher
und sozialer Bundesstaat.
Ar*kel 28 GG (1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den
Grundsätzen des republikanischen, demokra*schen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.2 Ausbauphase
• Soziale Marktwirtscha_ als wirtscha_s-‐ und sozialpoli*sches Konzept der Adenauer-‐CDU – 1951 Montan-‐Mitbes*mmungsgesetz – 1952 Betriebsverfassungsgesetz – Paritä*sche Selbstverwaltung in der Sozialversicherung
• Ausbau der Sozialversicherung – 1957 große Rentenreform
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.2 Ausbauphase
Familienpoli;k • Kampagne gegen Mü8er-‐ erwerbstä*gkeit • 1955 Kindergeld • 1958 Ehega8enspliwng
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.2 Ausbauphase
Große Koali;on (1966-‐1969) • 1967 Stabilitätsgesetz: ‚Magisches Viereck’
2.2 Ausbauphase 2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
Sozial-‐liberale Koali;on (1969-‐1982) • Modernisierung des Familienbildes („Familie ist dort, wo Kinder sind“)
• Bildungsreform • 1969 Arbeitsförderungsgesetz • 1973 Ölkrise Stabilitätspoli*k und Kürzung von Sozialleistungen
2.2 Ausbauphase 2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
Konserva;v-‐liberale Koali;on (1982-‐1998) • Haushaltskonsolidierung • Ausbau der Familienpoli*k
– 1986 Erziehungsgeld – 1987 Anrechnung Erziehungszeiten für Rente – 1995 Pflegeversicherung
• Abfederung Strukturwandel durch Kurzarbeit + Vorruhestand
• Finanzierung der Wiedervereinigung aus den Sozialbudgets
2.2 Ausbauphase 2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
Bilanz der Ausbauphase: → ‚dual transforma*on‘: Einschränkung bei
‚klassischen‘ Sozialversicherungsleistungen, Ausbau von Familienpoli*k
→ fortbestehender gender bias → ungelöste Finanzierungsprobleme → Globalisierung: Standortkonkurrenz,
Beschränkung staatl. Steuerungsfähigkeit → anhaltend hohe Arbeitslosigkeit
2.2 Ausbauphase 2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
3. Gründungskrise
Rot-‐Grüne Koali;on (1998-‐2005) • 1999 Schröder-‐Blair-‐Papier, ‚Dri8er Weg‘ • 2002-‐2005 Hartz-‐Reformen • 2001 Riester-‐Rente • 2001 Elterngeld-‐Reform • Ausbau der Kinderbetreuung • 2003 Gesundheitsreform (Praxisgebühr, Einschränkung von KV-‐Leistungen)
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.3 Umbauphase
Große Koali;on (2005-‐2009) • 2007 Rente mit 67; Elterngeld-‐Reform • 2008 Unterhaltsreform; Pflegezeitgesetz • Weiterer Ausbau der Kinderbetreuung • 2009 Gesundheitsfonds • 2010 Sparpaket, Zusatzbeiträge GKV
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.3 Umbauphase
konserva;v-‐liberale Koali;on (seit 2009) • Dauerbaustellen: Arbeitsmarkt, Rente, Gesundheit, Bildung, Armut ...
• 2010 Zusatzbeiträge GKV • Sparpaket 2010: Sozialpoli*k im Scha8en der Finanzkrise
2. Der deutsche Sozialversicherungsstaat
2.3 Umbauphase
Bilanz der Reformen: Fortsetzung der ‚dual transforma;on‘ • Einschränkung von Sozialversicherungs-‐Leistungen,
Vermarktlichung und Priva*sierung • Arbeitsmarkt: Ak*vierung, Eigenverantwortung,
Deregulierung, Prekarisierung -‐> Abbau
• Familienpoli*k: Paradigmenwechsel vom Ernährermodell zum Doppelverdiener-‐Modell
• Ausbau von Dienstleistungen (Pflege, Kinderbetreuung) -‐> Ausbau
3. Wie weiter? Abbau oder Umbau des WFS
Prognose: Auch der ‚Humankapitalismus‘ kommt nicht ohne Wohlfahrtsstaat aus – und dies geht mit neuen Ambivalenzen und Widersprüchen einher.
• Arbeitsmark*ntegra*on aller Erwachsenen – Prekarisierung vs. Chancen für gefragte Arbeitskrä_e – Tendenzielle Verallgemeinerung und Individualisierung der Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit
• Fortwirken tradi*oneller Geschlechterleitbilder im Sozial-‐ und Steuerrecht (Bedarfsgemeinscha_, Ehega8enspliwng)
• Vereinbarkeitsprobleme, ‚crisis of care‘ • Zunehmende Bedeutung von Humankapital vs. Vererbung
von (Bildungs-‐)Armut
3. Wie weiter? Abbau oder Umbau des WFS
3. Wie weiter? Umbau oder Abbau des WFS
Literaturhinweise
Gerhard, Ute, 2003: Geschlecht: Frauen im Wohlfahrtsstaat. In: Lessenich, Stephan, 2003: Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 267-‐286.
Schmid, Josef, Daniel Buhr, Chris*an Roth, Chris*an Steffen (2006): Wirt-‐scha_spoli*k für Politologen. Paderborn u.a.: Schöningh UTB.
Schmidt, Manfred G., Tobias Ostheim, Nico A. Siegel und Reimut Zohlnhöfer (2006) (Hg.): Der Wohlfahrtsstaat: Eine Einführung in den historischen und interna*onalen Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenscha_en.
1.2 Theoretische Erklärungen zur Entstehung von Wohlfahrtsstaaten (Lessenich 2008)
Erklärungsansatz Womit wird erklärt?
Funktionalistisch a) Industrialisierung b) Modernisierung c) Kapitalistische Gesellschaftsformation
Interessen-‐/ konflikttheoretisch
a) Demokratisierung, Massendemokratie b) Klassenpolitik / Sozialdemokratie c) Risikogruppen/-‐koalitionen
d) Parteiendemokratie
Institutionalistisch
Exogen: a) Staatenwettbewerb Endogen:
b) Nationalstaatsbildung c) Staatstrukturen
d) Rückkoppelungseffekte
Ideenpolitisch (cultural turn)
Ideen und Ideale sozialpolitischen Handelns Deutungskämpfe