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W er deutschsprachige Län- der und Regionen bereist, wird auf Schritt und Tritt darauf aufmerksam: Die gesproche- ne deutsche Nationalsprache ist kein einheitliches, sondern höchst vielgestaltiges Gebilde, geprägt von regionalen Unterschieden. Die Dialekte des Deutschen tragen zur Buntheit und Eigenart der deut- schen Sprache bei – und das nicht erst seit gestern. Die wissenschaftliche Beschäfti- gung mit den Dialekten des Deut- schen und ihrer regionalen Verbrei- tung begann im 19. Jahrhundert. Genau genommen war es der Mar- burger Sprachwissenschaftler Georg Wenker, der im Jahr 1876 mit einer flächendeckenden Erhebung der deutschen Dialekte begann. Er legte eine Kartensammlung an, die als „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ bekannt wurde und bis heute als die weltweit umfang- reichste Dokumentation der Dialek- te einer Einzelsprache wissen- schaftlich ausgewertet wird. Wen- kers Methode war einfach und erfolgreich zugleich: Er verfasste ein Formular mit hochdeutschen Sätzen, das er mit der Bitte um Übersetzung in den jeweiligen Ortsdialekt an alle Schulen des deutschen Kaiserreichs versandte. Erste Erhebungen unternahm Wen- ker in der Region um Düsseldorf. Nach erfolgreichem Abschluss wurde zusätzlich Westfalen in den Blick genommen, dann die Daten- sammlung auf Nord- und Mittel- deutschland und schließlich auf Süddeutschland ausgeweitet. So wurden im Verlaufe von elf Jahren die Dialekte von fast 45 000 Orten (Dörfer, Städte mit Stadtteilen) do- kumentiert, was einer Totalerhe- bung der deutschen Dialekte gleichkam. Für die meisten Orte stellt das Material noch heute die einzige historische Sprachdoku- mentation dar. Da auch Sprachma- terial in den ehemaligen preußi- schen Ortsgebieten erhoben wurde, sind auch bereits untergegangene oder im Verschwinden begriffene Dialekte teilweise konserviert. Die gesammelten Daten wurden von Wenker und seinen Mitarbeitern auf Sprachkarten übertragen, auf denen die sprachlichen Unterschie- de der deutschen Dialekte offen zu- tage treten. Bis zur Einstellung der Arbeiten im Jahr 1923 lagen 1643 handgezeichnete Sprachkarten vor. Das Format der Karten von 140 x 140 Zentimeter und die verwende- 12 forschung 3 / 2006 Geisteswissenschaften Bruder, Broder, Brauder – Dialekte in Deutschland Flächendeckend und präzise dokumentiert der „Sprachatlas des Deutschen Reiches“ die Dialekte des 19. Jahrhunderts. Die vollständige Digitalisierung der Sprachkarten eröffnet der internationalen Forschung neue Möglichkeiten

Dialekte in Deutschland

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Dialekte in Deutschland

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Page 1: Dialekte in Deutschland

Wer deutschsprachige Län-der und Regionen bereist,wird auf Schritt und Tritt

darauf aufmerksam: Die gesproche-ne deutsche Nationalsprache istkein einheitliches, sondern höchstvielgestaltiges Gebilde, geprägtvon regionalen Unterschieden. DieDialekte des Deutschen tragen zurBuntheit und Eigenart der deut-schen Sprache bei – und das nichterst seit gestern.

Die wissenschaftliche Beschäfti-gung mit den Dialekten des Deut-schen und ihrer regionalen Verbrei-tung begann im 19. Jahrhundert.Genau genommen war es der Mar-burger Sprachwissenschaftler GeorgWenker, der im Jahr 1876 mit einerflächendeckenden Erhebung derdeutschen Dialekte begann. Erlegte eine Kartensammlung an, dieals „Sprachatlas des DeutschenReichs“ bekannt wurde und bisheute als die weltweit umfang-reichste Dokumentation der Dialek-te einer Einzelsprache wissen-schaftlich ausgewertet wird. Wen-kers Methode war einfach underfolgreich zugleich: Er verfassteein Formular mit hochdeutschenSätzen, das er mit der Bitte umÜbersetzung in den jeweiligenOrtsdialekt an alle Schulen desdeutschen Kaiserreichs versandte.Erste Erhebungen unternahm Wen-ker in der Region um Düsseldorf.Nach erfolgreichem Abschlusswurde zusätzlich Westfalen in denBlick genommen, dann die Daten-sammlung auf Nord- und Mittel-deutschland und schließlich aufSüddeutschland ausgeweitet. Sowurden im Verlaufe von elf Jahren

die Dialekte von fast 45 000 Orten(Dörfer, Städte mit Stadtteilen) do-kumentiert, was einer Totalerhe-bung der deutschen Dialektegleichkam. Für die meisten Ortestellt das Material noch heute dieeinzige historische Sprachdoku-mentation dar. Da auch Sprachma-terial in den ehemaligen preußi-schen Ortsgebieten erhoben wurde,sind auch bereits untergegangeneoder im Verschwinden begriffeneDialekte teilweise konserviert. Diegesammelten Daten wurden vonWenker und seinen Mitarbeiternauf Sprachkarten übertragen, aufdenen die sprachlichen Unterschie-de der deutschen Dialekte offen zu-tage treten. Bis zur Einstellung derArbeiten im Jahr 1923 lagen 1643handgezeichnete Sprachkarten vor.

Das Format der Karten von 140 x140 Zentimeter und die verwende-12

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Geisteswissenschaften

Bruder, Broder, Brauder –Dialekte in DeutschlandFlächendeckend und präzise dokumentiert der „Sprachatlas des Deutschen Reiches“ die Dialekte des 19. Jahrhunderts. Die vollständige Digitalisierung der Sprachkarteneröffnet der internationalen Forschung neue Möglichkeiten

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ten 22 Farben machten eine voll-ständige Publikation des Werkes alsgedruckter Atlas von vornhereinaussichtslos. Weil die Karten undFormulare aber von hohem Quel-lenwert sind, sahen sich Dialektfor-scher aus aller Welt immer wiedergezwungen, für ihre Studien an dasvon Wenker begründete „For-schungsinstitut für deutsche Spra-che – Deutscher Sprachatlas“ nachMarburg zu reisen, in dessen Ar-chivräumen das Material lagert.Nach weit über 100 Jahren undstarker Nutzung stellen sich dortauch archivalische Probleme: Die

aufgetragenen Farben sind teil-weise verblasst, das Papier trotzguter Qualität angegriffen. An die-sem Punkt begann das von derDeutschen Forschungsgemein-schaft geförderte Projekt, welchesheute in Fachkreisen als DigitalerWenker-Atlas bekannt ist. Es be-deutete eine Sicherungsaktion, diezur vollständigen Digitalisierungund Verfilmung des gesamten Ma-terials während der Jahre 2001 bis2003 führte. Darüber hinaus konntedie Digitalisierung eine Publikationdes gesamten Materials im Internetermöglichen. Darauf aufbauendsollte die wissenschaftliche Aufar-beitung des Materials vorangetrie-ben werden. So hat sich mittlerwei-le aus dem veröffentlichten Karten-bestand ein Informationssystem zurSprachgeographie entwickelt, mitdem die Dynamik und der Wandeldes Deutschen auf einer breiten Da-tengrundlage untersucht werdenkönnen.

Warum sind Dialektdaten des 19.Jahrhunderts heute noch von Inter-esse? Die Antwort lautet: Die Dia-lektdaten des 19. Jahrhunderts do-kumentieren einen „Sprachstand“,der seit Ausbildung der frühneu-zeitlichen Territorien nur wenigeVeränderungen erfahren hat. Erstmit den technischen, politischenund sozialen Veränderungen des20. Jahrhunderts sind die Dialektemit der hochdeutschen Standard-sprache in neuer Weise in Konkur-renz getreten. Eine wichtige Rollespielen dabei die mit Industrialisie-rung und Kriegsfolgen verbunde-nen massiven Wanderungsbewe-gungen oder die Verbreitung desgesprochenen Hochdeutschen überden Rundfunk seit den 1920er Jah-ren. Die von Wenker erhobenenDaten dokumentieren deshalb densprachlichen Ausgangspunkt füreine Entwicklung, die heute nochandauert, und sie dokumentierenihn ortspunktgenau. Für die sprach-liche Situation jedes heutigen Orts-dialekts bieten Wenkers Daten dashistorische Bezugssystem. Aberauch zum Verständnis der histori-schen Entwicklungen bis zum 19.Jahrhundert lassen sich aus denSprachkarten Erkenntnisse ablei-ten. In dieser Hinsicht ist das Mate-rial für das Verständnis vomSprachwandel und seinen Mecha-nismen einzigartig.

Die Publikation des historischenKartenwerks im Internet stellt eineungewöhnlich anspruchsvolle tech-nische Herausforderung dar. Gra-fikdateien in einem Volumen vonbis zu zwei Gigabyte werden überdas Internet transportiert und jenach Forschungsinteresse virtuellkombiniert, das heißt, verschiedeneSprachkarten können interaktivsteuerbar überblendet und analy-siert werden. Dabei wurde auf Me-thoden zurückgegriffen, die für dieVerarbeitung von Satellitenbildernentwickelt wurden. Ein speziellesKartographieprogramm rechnet ineinem mehrstündigen Prozess alleBildpunktkoordinaten in geogra-phische Koordinaten um. Das Er-gebnis dieses Prozesses, der „Geo-referenzierung“ genannt wird, istein Kartenbild, das für jeden belie-bigen Bildpunkt die exakten Orts-koordinaten bereithält. Damit kön- 13

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Mithilfe eines „Spektrogramms“ machenSprachforscher die sich wandelnde Energie-konzentration in der menschlichen Stimmesichtbar. Hier wurde im rheinfränkischenDialekt der Satz gesprochen „Da werdendie Trauben abgeladen und gemahlen“.Unten: Ausschnitt aus einer Sprachkarte.Sie veranschaulicht detailliert, welcheFormen das Wort „Bruder“ regional undlokal annimmt.

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nen geographische Informationenmit den sprachlichen Themen in Be-ziehung gesetzt werden. So ist esetwa möglich, die Sprachkarten miteinem dreidimensionalen Höhen-modell oder Karten historischer Ter-ritorialgrenzen zu kombinieren, umräumliche Abhängigkeiten zu visu-alisieren. Die geographische Exakt-heit ermöglicht präzise Analysenzum Sprachwandel. Für dendeutschsprachigen Raum gibt eszahlreiche regionale Sprachatlan-ten, die seit den 1970er Jahren er-stellt wurden und die den Sprach-stand der Dialekte nach und während der Umwälzungen des 20. Jahrhunderts dokumentieren.Diese Informationen können in dasSystem integriert und die Kartendes 19. mit denen des 20. Jahrhun-derts kombiniert werden. DerSprachwandel der letzten 100 Jahrewird damit unmittelbar sichtbar.Die Ergebnisse solcher Vergleichesind höchst informativ. Wie sichzeigt, haben viele Dialekte in ihremSprachsystem keine großen Verän-derungen erfahren. Was sich vor-rangig ändert, ist die Zahl der Spre-cher: Sprecher, die ihren Ortsdia-lekt muttersprachlich erworbenhaben, werden zwar seltener, je-doch ist ihr heutiger Dialekt demDialekt des 19. Jahrhunderts sehrähnlich. In manchen Regionen zei-gen sich aber dennoch markanteVeränderungen. Die Richtung desWandels gibt dann meist das Hoch-deutsche vor. Besonders aufschluss-reich sind die seltenen Fälle, indenen sich die Dialekte sogar ent-gegen die Hochsprache entwickeln.Sie sind für die Analyse des Sprach-wandels von besonderem Interesse.

Der Digitale Wenker-Atlas als In-formationssystem zur Sprachgeo-graphie integriert neben histori-schen und modernen Sprachkartenumfangreiche Zusatzmaterialienwie Erhebungsformulare, Tonauf-

nahmen oder bibliographische Ein-träge, die sich per Mausklick abru-fen lassen. Während die Erhe-bungsformulare dazu dienen, allehistorischen Daten eines Ortes imOriginalzusammenhang zu präsen-tieren, stellen die Tonaufnahmenden Ausgangspunkt für die wissen-schaftliche Analyse gesprochenerSprache dar. Auch wenn die Ton-aufzeichnungen erst einige Jahr-zehnte nach Wenker erfolgten, sokann dieses Material dem Laienden Charakter eines Dialekts ein-drucksvoller erfahrbar machen alsjede Erhebung in Schriftform. Eineweitere Besonderheit stellt die On-line-Bibliographie dar. Darin sollenin den nächsten Jahren alle publi-zierten und unpublizierten Studienzu den deutschen Dialekten sowieangrenzenden Wissenschaftsdiszi-

plinen, insgesamt mehr als 10 000Einzeltitel, aufgenommen werden.Damit setzt der Digitale Wenker-Atlas einen über die Sprachwissen-schaft hinausreichenden Maßstabund bietet ein interdisziplinäres In-formationssystem zur Sprachgeo-graphie, das jedem Interessiertenim Internet kostenfrei zugänglich ist.

Dr. Alfred LameliForschungsinstitut für deutsche Sprache MarburgDr. Stefan RabanusUniversität Verona, Italien

Das Projekt „Digitale Aufbereitung undelektronische Publikation von Georg Wen-kers ‚Sprachatlas des Deutschen Reichs’“wird von der DFG im Rahmen des Pro-gramms „Retrospektive Digitalisierung vonBibliotheksbeständen“ gefördert.

www.diwa.info ▼14

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Handgeschriebener Antwortbogen ausdem pfälzischen Ort Kirchheim am Eck. Seit1876 verschickte der Sprachforscher Georg

Wenker ein Formular mit hochdeutschen Sätzen und bat, diese in den jeweiligen

Ortsdialekt zu übersetzen. Darunter: Imdreidimensionalen Modell: Verlauf einer

Sprachgrenze im Gebiet des Oberrhein-grabens quer über den Kaiserstuhl.