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MedR 1998, Heft 11 497 AUFSÄTZE Eva Schumann und Adrian Schmidt-Recla Die Abschaffung der embryopathischen Indikation – eine ernsthafte Gefahr für den Frauenarzt? Seit dem 1. 10. 1995 1 ist nach § 218a II StGB „ein mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorge- nommener Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berück- sichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebens- verhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“. Nach der amtlichen Begründung soll diese medi- zinisch-soziale Indikation des § 218a II StGB die ehemals eigenständig geregelte embryopathische Indikation 2 auf- fangen 3 : „Von einer embryopathischen Indikation ist abgesehen worden. Vor allem die Äußerungen von Behindertenver- bänden hatten nämlich aufgezeigt, daß eine derartige Rege- lung zu dem Mißverständnis geführt hat, die Recht- fertigung ergebe sich aus einer geringeren Achtung des Lebensrechtes eines geschädigten Kindes. Zwar beruhten seit jeher die Regelungen betreffend die embryopathische Indikation demgegenüber auf der Erwägung, daß sich in solchen Fällen eine unzumutbare Belastung für die Schwangere ergeben kann. Durch die Formulierung der medizinischen Indikation in § 218a Abs. 2 StGB … können diese Fallkonstellationen aufgefangen werden. Damit wird klargestellt, daß eine Behinderung niemals zu einer Minde- rung des Lebensschutzes führen kann.“ Demzufolge scheint der Gesetzgeber nur auf die Ausfor- mulierung der embryopathischen Indikation, nicht jedoch auf diese Indikation als Rechtfertigungsgrund verzichten zu wollen; jedenfalls geht das Schrifttum und die Kommentar- literatur davon aus 4 . Die Unterschiede zwischen der ehemals eigenständig geregelten embryopathischen Indikation und der medi- zinisch-sozialen Indikation, deren Voraussetzungen vom Gesetzgeber durch das SFHÄndG 1995 nicht geändert wurden, liegen darin, daß sich erstens die beiden Indi- kationen inhaltlich nicht deckten 5 , insbesondere die em- bryopathische Indikation keinen Unterfall der medizi- nisch-sozialen Indikation darstellte, wobei allerdings be- stimmte Fallgruppen der embryopathischen Indikation zu- gleich die Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indi- kation erfüllten. Zweitens konnte bei Vorliegen einer em- bryopathischen Indikation der Arzt mit Einwilligung der Schwangeren nur bis zur 22. Schwangerschaftswoche p. c. 6 straffrei einen Abbruch vornehmen 7 , während die medi- zinisch-soziale Indikation damals wie heute keine Frist setzt 8 . Die vom Gesetzgeber unter den genannten Vorausset- zungen unbefristet eingeräumte Zulässigkeit eines Schwan- gerschaftsabbruchs stellt die Ärzte strafrechtlich vor das Pro- blem des „Ob“ des Abbruchs und medizinisch vor das Pro- blem des „Wie“, wobei die Entscheidung für letzteres er- hebliche strafrechtliche Konsequenzen haben kann. I. Straffreier Schwangerschaftsabbruch nach § 218a II StGB (1) Tatbestandsverwirklichung des § 218 I StGB Der Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs setzt voraus, daß sich der vorsätzliche Eingriff des Arztes gegen das un- geborene Leben richtet, das strafrechtlich noch nicht die Qualität des Menschseins erreicht hat. 1. Objektiver Tatbestand Die Abgrenzung zwischen Mensch und Leibesfrucht wird bisher als diejenige zwischen § 217 I StGB a. F. einerseits und § 218 I StGB andererseits verstanden. Mit Beginn der Geburt wandle sich die Leibesfrucht zum Kind, der Schwangerschaftsabbruch zum Tötungsdelikt. Nach ständi- ger Rechtsprechung des BGH sollen bei dieser Abgrenzung weder Handlung noch Erfolg maßgeblich sein, vielmehr sei allein entscheidend, ob die Einwirkung auf das Objekt der Tat vor oder nach dem Beginn der Geburt erfolge 9 : „Gegenstand des Schwangerschaftsabbruchs ,ist die noch nicht abgestorbene Frucht im Mutterleibe vor demjenigen Momente, welcher in § 217 StGB mit den Worten in der Geburt bezeichnet wird‘ …, während … eine Straftat nach den §§ 211, 212, 217 StGB vorliegt, wenn das Kind durch einen Angriff nach Beginn der Geburt getötet wird. Wan- delt sich die Rechtsqualität des Opfers nach dem Eingriff von der Leibesfrucht zum Menschen, so ist der Zeitpunkt Wiss. Ass. Dr. iur. Eva Schumann; Wiss. Mitarb. Adrian Schmidt-Recla, Juristenfakultät Leipzig, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht (Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern), Otto-Schill-Straße 2, D-04109 Leipzig 1) Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) v. 21. 8. 1995, BGBl. I S. 1050. 2) Die embryopathische Indikation war seit dem 15. Strafrechtsände- rungsgesetz von 1976 in § 218a II Nr. 1 StGB, seit dem SFHG v. 27. 7. 1992 (BGBl. I S. 1398) bis zum Inkrafttreten des SFHÄndG v. 21. 8. 1995 in § 218a III StGB geregelt. 3) BT-Dr. 13/1850, S. 25 f., zu § 218a II, III StGB. 4) So etwa Otto, Jura 1996, 135, 141 f.; Tröndle, NJW 1995, 3009, 3014 f.; Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem. §§ 218 ff., Rdnrn. 8, 37; § 218a, Rdnrn. 20, 26, 37, 43; Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1997, § 218a, Rdnrn. 14, 16. Kritisch Beckmann, MedR 1998, 155 ff. 5) So auch Beckmann, MedR 1998, 155, 156. 6) 22. Schwangerschaftswoche post conceptionem, i.e. 24. Schwan- gerschaftswoche post menstruationem. 7) Wobei die Zahl der Abbrüche aufgrund embryopathischer Indika- tion seit 1977 stark rückläufig war; vgl. insoweit Holzgreve, Zeit- schrift für ärztliche Fortbildung 1993, 837, 838. 8) Weiterhin war die embryopathische Indikation an eine Beratungs- pflicht gebunden und als eigene Indikation statistischer Erfassung und Kontrolle zugänglich. Vgl. dazu Beckmann, MedR 1998, 155, 159; sowie BT-Dr. 13/5364, S. 8. 9) BGHSt 31, 348, 352. Vgl. auch Lüttger, NStZ 1983, 481, 483; sowie OLG Karlsruhe, MDR 1984, 686, 687.

Die Abschaffung der embryopathischen Indikation–eine ernsthafte Gefahr für den Frauenarzt?

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Page 1: Die Abschaffung der embryopathischen Indikation–eine ernsthafte Gefahr für den Frauenarzt?

MedR 1998, Heft 11 497

AU F S Ä T Z E

Eva Schumann und Adrian Schmidt-Recla

Die Abschaffung der embryopathischen Indikation– eine ernsthafte Gefahr für den Frauenarzt?

Seit dem 1. 10. 19951 ist nach § 218a II StGB „ein mitEinwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorge-nommener Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig,wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berück-sichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebens-verhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnisangezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder dieGefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung deskörperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes derSchwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eineandere für sie zumutbare Weise abgewendet werdenkann“. Nach der amtlichen Begründung soll diese medi-zinisch-soziale Indikation des § 218a II StGB die ehemalseigenständig geregelte embryopathische Indikation2 auf-fangen3:

„Von einer embryopathischen Indikation ist abgesehenworden. Vor allem die Äußerungen von Behindertenver-bänden hatten nämlich aufgezeigt, daß eine derartige Rege-lung zu dem Mißverständnis geführt hat, die Recht-fertigung ergebe sich aus einer geringeren Achtung desLebensrechtes eines geschädigten Kindes. Zwar beruhtenseit jeher die Regelungen betreffend die embryopathischeIndikation demgegenüber auf der Erwägung, daß sich insolchen Fällen eine unzumutbare Belastung für dieSchwangere ergeben kann. Durch die Formulierung dermedizinischen Indikation in § 218a Abs. 2 StGB … könnendiese Fallkonstellationen aufgefangen werden. Damit wirdklargestellt, daß eine Behinderung niemals zu einer Minde-rung des Lebensschutzes führen kann.“

Demzufolge scheint der Gesetzgeber nur auf die Ausfor-mulierung der embryopathischen Indikation, nicht jedochauf diese Indikation als Rechtfertigungsgrund verzichten zuwollen; jedenfalls geht das Schrifttum und die Kommentar-literatur davon aus4.

Die Unterschiede zwischen der ehemals eigenständiggeregelten embryopathischen Indikation und der medi-zinisch-sozialen Indikation, deren Voraussetzungen vomGesetzgeber durch das SFHÄndG 1995 nicht geändertwurden, liegen darin, daß sich erstens die beiden Indi-kationen inhaltlich nicht deckten5, insbesondere die em-bryopathische Indikation keinen Unterfall der medizi-nisch-sozialen Indikation darstellte, wobei allerdings be-stimmte Fallgruppen der embryopathischen Indikation zu-gleich die Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indi-kation erfüllten. Zweitens konnte bei Vorliegen einer em-bryopathischen Indikation der Arzt mit Einwilligung derSchwangeren nur bis zur 22. Schwangerschaftswoche p. c.6straffrei einen Abbruch vornehmen7, während die medi-zinisch-soziale Indikation damals wie heute keine Fristsetzt8.

Die vom Gesetzgeber unter den genannten Vorausset-zungen unbefristet eingeräumte Zulässigkeit eines Schwan-gerschaftsabbruchs stellt die Ärzte strafrechtlich vor das Pro-blem des „Ob“ des Abbruchs und medizinisch vor das Pro-blem des „Wie“, wobei die Entscheidung für letzteres er-hebliche strafrechtliche Konsequenzen haben kann.

I. Straffreier Schwangerschaftsabbruch nach § 218a II StGB

(1) Tatbestandsverwirklichung des § 218 I StGBDer Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs setzt voraus,daß sich der vorsätzliche Eingriff des Arztes gegen das un-geborene Leben richtet, das strafrechtlich noch nicht dieQualität des Menschseins erreicht hat.

1. Objektiver TatbestandDie Abgrenzung zwischen Mensch und Leibesfrucht wirdbisher als diejenige zwischen § 217 I StGB a. F. einerseitsund § 218 I StGB andererseits verstanden. Mit Beginn derGeburt wandle sich die Leibesfrucht zum Kind, derSchwangerschaftsabbruch zum Tötungsdelikt. Nach ständi-ger Rechtsprechung des BGH sollen bei dieser Abgrenzungweder Handlung noch Erfolg maßgeblich sein, vielmehr seiallein entscheidend, ob die Einwirkung auf das Objekt derTat vor oder nach dem Beginn der Geburt erfolge9:

„Gegenstand des Schwangerschaftsabbruchs ,ist die nochnicht abgestorbene Frucht im Mutterleibe vor demjenigenMomente, welcher in § 217 StGB mit den Worten in derGeburt bezeichnet wird‘ …, während … eine Straftat nachden §§ 211, 212, 217 StGB vorliegt, wenn das Kind durcheinen Angriff nach Beginn der Geburt getötet wird. Wan-delt sich die Rechtsqualität des Opfers nach dem Eingriffvon der Leibesfrucht zum Menschen, so ist der Zeitpunkt

Wiss. Ass. Dr. iur. Eva Schumann; Wiss. Mitarb. Adrian Schmidt-Recla,Juristenfakultät Leipzig, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht (Prof. Dr. Bernd-Rüdiger Kern), Otto-Schill-Straße 2, D-04109 Leipzig

1) Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) v. 21. 8. 1995, BGBl. I S. 1050.

2) Die embryopathische Indikation war seit dem 15. Strafrechtsände-rungsgesetz von 1976 in § 218a II Nr. 1 StGB, seit dem SFHG v. 27. 7. 1992 (BGBl. I S. 1398) bis zum Inkrafttreten des SFHÄndGv. 21. 8. 1995 in § 218a III StGB geregelt.

3) BT-Dr. 13/1850, S. 25 f., zu § 218a II, III StGB.4) So etwa Otto, Jura 1996, 135, 141 f.; Tröndle, NJW 1995, 3009,

3014 f.; Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997,Vorbem. §§ 218 ff., Rdnrn. 8, 37; § 218a, Rdnrn. 20, 26, 37, 43;Lackner, Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1997, § 218a, Rdnrn. 14, 16.Kritisch Beckmann, MedR 1998, 155 ff.

5) So auch Beckmann, MedR 1998, 155, 156.6) 22. Schwangerschaftswoche post conceptionem, i.e. 24. Schwan-

gerschaftswoche post menstruationem.7) Wobei die Zahl der Abbrüche aufgrund embryopathischer Indika-

tion seit 1977 stark rückläufig war; vgl. insoweit Holzgreve, Zeit-schrift für ärztliche Fortbildung 1993, 837, 838.

8) Weiterhin war die embryopathische Indikation an eine Beratungs-pflicht gebunden und als eigene Indikation statistischer Erfassungund Kontrolle zugänglich. Vgl. dazu Beckmann, MedR 1998, 155,159; sowie BT-Dr. 13/5364, S. 8.

9) BGHSt 31, 348, 352. Vgl. auch Lüttger, NStZ 1983, 481, 483;sowie OLG Karlsruhe, MDR 1984, 686, 687.

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der Einwirkung auf das Opfer, nicht der des Todeseintrittsmaßgebend für die Frage, ob eine vorsätzliche Tötungeines Menschen oder ein Schwangerschaftsabbruch anzu-nehmen ist. Diese für die Abgrenzung von vorsätzlichemTötungsdelikt und Schwangerschaftsabbruch entwickelteRechtsprechung vermeidet, daß es von dem für den Täterganz zufälligen Ablauf des physiologischen Vorgangs – Ein-tritt des Todes vor oder nach Beginn der Geburt – abhängt,ob er ggf. wegen Mordes oder wegen Abtreibung zu be-strafen ist.“

Im Anschluß an diese Entscheidung hat der BGH dienoch offene Frage des Beginns der Geburt und damit desMenschseins i.S.d. § 217 I StGB a. F. beantwortet10:

„Bei regulärem Geburtsverlauf wird die Leibesfruchtzum Menschen im Sinne der Tötungsdelikte mit dem Ein-setzen der Eröffnungswehen …“

Die Verwirklichung des Tatbestandes des § 218 I StGBist somit nur dann möglich, wenn vor dem Einsetzen derEröffnungswehen auf die Leibesfrucht eingewirkt wird unddieses Einwirken zum Tod der Leibesfrucht führt11. Vomjuristischen Standpunkt aus begründet diese Zäsur keineAbgrenzungsschwierigkeiten12, aus medizinischer Sicht istjedoch das „Einwirken“ zu spezifizieren.

Vor der 12. Schwangerschaftswoche p. c. erfolgt der Ab-bruch durch Vakuumaspiration oder Kürettage, also durchAbsaugen oder Ausschaben der Gebärmutter. Nach der 12.,jedoch vor der 20. Schwangerschaftswoche p. c. erfolgt derAbbruch durch medikamentöse Weheninduktion mit demZiel der Spontanausstoßung von Frucht und Plazenta sowienachfolgender instrumenteller Ausräumung, um die kom-plette Entleerung des Uterus sicherzustellen. Nach der 20. Schwangerschaftswoche p. c. ist diese Methode insofern„untauglich“, als die bloße Weheninduktion ein lebensfähi-ges Kind hervorbringen kann, das der abbrechende Arztdann am Leben erhalten muß13. Ab der 20. Schwanger-schaftswoche p. c. kann ein Schwangerschaftsabbruch mitdem Ziel des tödlichen Einwirkens auf die Leibesfruchtregelmäßig nur durch chemisches oder medikamentöses Ab-töten des Foetus14 erfolgen15. Die modernere Gynäkologieund Pränataldiagnostik haben für die hierfür verwendeteMethode der Wahl den Begriff „Fetozid“ eingeführt16, derschon sprachlich den Tötungshandlungen (Homizid undSuizid) angelehnt ist. Die Methoden, mit denen der intra-uterine Tod der Leibesfrucht herbeigeführt werden kann,sind entweder die sonographsich unterstützte Injektion vonKaliumchlorid in das fetale Herz, welches die Herztätigkeitdurch Lähmung zum Stillstand bringt, oder die ebenfalls so-nographisch unterstützte Applikation von Fibrinkleber indas Herz des Feten, der als Klumpen den Blutfluß mecha-nisch unterbricht17. Sofern die tote Leibesfrucht nicht durchSchnittentbindung aus dem Mutterleib entfernt wird, müs-sen medikamentös Eröffnungswehen hervorgerufen werden,die zu einer Ausstoßung der abgestorbenen Frucht führen18.

2. Subjektiver TatbestandDer subjektive Tatbestand verlangt ein vorsätzliches Ein-wirken auf die Leibesfrucht. Dabei reicht es auch im Falleeiner Beendigung der Schwangerschaft durch Geburtsein-leitung aus, wenn der Arzt den Tod des Kindes billigend inKauf nimmt. Den subjektiven Tatbestand erfüllt jedochnicht, wer die Geburt zur Beendigung der Schwangerschaftaus medizinischen Gründen einleitet, aber gleichzeitig dasLeben des Kindes retten will19.

(2) Rechtfertigung nach § 218a II StGBDer Rechtfertigungsgrund nach § 218a II StGB setzt –neben der Einwilligung der Schwangeren - voraus, daß derAbbruch nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um „dieGefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegen-den Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Ge-

sundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und dieGefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abge-wendet werden kann“.

1. Lebens- oder Gesundheitsgefahr für die SchwangereEs bedarf keiner Diskussion über den „Wert“ eines behin-derten Lebens, um feststellen zu können, daß im Einzelfalldie Gewißheit um das Austragen und die Geburt einesschwerstgeschädigten Kindes oder eines Kindes mit einerLebenserwartung von nur wenigen Jahren20 zu einerschwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oderseelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren führenkann und in Einzelfällen sogar Suizidgefahr besteht21. DieBeurteilung dieser Gefährdung ist unter Berücksichtigungder Lebensverhältnisse der Schwangeren und des Gradesder Schädigung grundsätzlich ärztlicher wie richterlicherErkenntnis zugänglich22.

Insofern ergeben sich keine Unterschiede zur ehemali-gen medizinisch-sozialen Indikation, denn auch nach der

10) BGHSt 32, 194 (Leitsatz) = BGH, MedR 1985, 83, mit Pro-blemstellung von Koch, S. 84 f.

11) So auch Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), § 218, Rdnrn. 19 ff.;Tröndle, Strafgesetzbuch, 48. Aufl. 1997, Vor § 211, Rdnr. 2. ZurAbgrenzung zwischen Leibesfrucht und Mensch bei Schnittent-bindung vgl. Hiersche, MedR 1983, 53, 56; Cremer, MedR 1993,421 ff.; sowie dazu Ratzel/Hiersche/Opderbecke, MedR 1994, 472 ff.

12) Wohl aber bestehen ethische und verfassungsrechtliche Bedenkenhinsichtlich des strafrechtlichen Schutzes der Leibesfrucht bis zumMoment der Qualifizierung als Mensch. Vgl. dazu OLG Bam-berg, NJW 1988, 2963, 2964; Eberbach, JR 1989, 265, 267; Weiß,GA 1995, 373, 377. Dabei darf nicht vergessen werden, daß dieZäsur historisch bedingt ist (vgl. die Nachweise bei Lüttger, JR1971, 133, 137) und aus Zeiten übernommen wurde, denen dieheutigen medizinischen Kenntnisse und Möglichkeiten nochfehlten.

13) Vgl. 5. Medizinisch-Ethische Klausur- und Arbeitstagung „Präna-tale Medizin im Spannungsfeld von Ethik und Recht“, DerFrauenarzt 1998, 321, 322; Lackner (Fn. 4), § 218a, Rdnr. 16;Hiersche/Jähnke, MDR 1986, 1, m.w.N.; Lüttger, JR 1971, 133,138 f.; Hanack, in: GS für Peter Noll, Zürich 1984, S. 197, 203;sowie den von Beckmann (MedR 1998, 155, 158 f.) geschilderten„Oldenburger Fall“.

14) Freilich handelt es sich dabei um keine neue Begehungsform,denn schon die Gesetzesfassungen von 1871 und 1926 unter-schieden beim Straftatbestand „Abtöten der Leibesfrucht“ zwi-schen der „Tötung im Mutterleib“ und der „Tötung durch Ab-treibung“. Vgl. dazu Lüttger, JR 1971, 133, 138.

15) Vgl. dazu insgesamt Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), § 218, Rdnr.20; Stegner, Gynäkologie und Geburtshilfe, 5. Aufl. 1994, 178 f.;5. Medizinisch-Ethische Klausur- und Arbeitstagung „PränataleMedizin im Spannungsfeld von Ethik und Recht“, Der Frauen-arzt 1998, 321, 322.

16) Vgl. dazu Dumler/Kolben/Schneider, Ultrasound in Obstetrics andGynecology 1996, 213 ff.; Hansmann, Zeitschrift für ärztlicheFortbildung 1993, 839; 5. Medizinisch-Ethische Klausur- undArbeitstagung „Pränatale Medizin im Spannungsfeld von Ethikund Recht“, Der Frauenarzt 1998, 321, 322; Weise, Der Frauen-arzt 1997, 1218, 1219.

17) Hierzu Dumler/Kolben/Schneider, Ultrasound in Obstetrics andGynecology 1996, 213–215; Hülsmann, NJW 1992, 2331, 2333;Hansmann, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1993, 839, 842 ff.

18) Auch wenn die Eröffnungswehen künstlich hervorgerufen wer-den, gilt der Geburtsbeginn des § 217 I StGB a. F., vgl. OLGKarlsruhe, MDR 1984, 686, 687.

19) Vgl. hierzu Tröndle (Fn. 11), § 218, Rdnr. 6; Schönke/Schröder-Eser(Fn. 4), § 218, Rdnrn. 19, 41.

20) Zu dieser zweiten Fallgruppe vgl. Hiersche/Jähnke, MDR 1986, 1, 2.

21) Zur Gesundheits- und Lebensgefahr vgl. Schönke/Schröder-Eser(Fn. 4), § 218a, Rdnrn. 28 ff.

22) Vgl. dazu Hülsmann, NJW 1992, 2331, 2335; Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), § 218a, Rdnr. 39.

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Schumann/Schmidt-Recla, Die Abschaffung der embryopathischen Indikation MedR 1998, Heft 11 499

bis zum Inkrafttreten des SFHÄndG 1995 geltenden Rege-lung konnte nach Ablauf der Frist eines zulässigen Ab-bruchs aufgrund embryopathischer Indikation (22. Schwan-gerschaftswoche p. c.) ein Schwangerschaftsabbruch imRahmen der medizinisch-sozialen Indikation vorgenom-men werden, wenn die Kenntnis von der Schädigung desKindes bei der Schwangeren eine Gefahr für ihr Lebenoder ihre Gesundheit hervorgerufen hatte23.

Mit dieser Interpretation des § 218a II StGB wäre dieembryopathische Indikation allerdings 1995 abgeschafftworden. Freilich bliebe dann offen, welche Fallkonstellatio-nen der embryopathischen Indikation nach der eingangszitierten amtlichen Begründung „durch die Formulierungder medizinischen Indikation … aufgefangen werden“ soll-ten24. Bei näherer Betrachtung besteht aber nur scheinbarein Widerspruch. Die Gesetzgebungsgeschichte belegtjedenfalls deutlich, daß die Abschaffung der embryopathi-schen Indikation durchaus gewollt ist.

Noch das SFHG in der Fassung vom 27. 7. 1992 orien-tierte sich hinsichtlich der Unterscheidung von medizi-nisch-sozialer und embryopathischer Indikation weitgehendan den seit dem 15. Strafrechtsänderungsgesetz von 1976geltenden Indikationen. Allerdings kennzeichnete dasSFHG 1992 die Indikationen ausdrücklich als Rechtferti-gungsgründe25, verlangte aber weiterhin für den gerechtfer-tigten Schwangerschaftsabbruch aufgrund embryopathischeIndikation die Beratung der Schwangeren. Im übrigenblieb die embryopathischen Indikation innerhalb der ehe-maligen 22-Wochen-Frist eigenständig neben der medizi-nisch-sozialen Indikation erhalten. Das BVerfG hat sichdaran in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1993 nicht ge-stört und die medizinische, embryopathische und krimino-logische Indikation als Rechtfertigungsgründe und damitals zulässige Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot desSchwangerschaftsabbruchs anerkannt26.

Die Unterschiede zwischen der bis 1995 gesetzlich ge-regelten embryopathischen Indikation und der medizi-nisch-sozialen Indikation liegen darin, daß bei der embryo-pathischen Indikation festgestellt werden mußte, ob derSchwangeren aufgrund der Schädigung des Kindes dieFortsetzung der Schwangerschaft zugemutet werden dürfe,ohne daß hierfür eine Gefahr für das Leben oder die Ge-sundheit der Schwangeren erforderlich war. Gerade aus derTrennung zwischen medizinisch-sozialer und embryopathi-scher Indikation schloß die Kommentarliteratur, „daß sichdie Belastung der Schwangeren nicht unbedingt in psychi-schen Nöten oder gesundheitlichen Beeinträchtigungenniederschlagen muß, sondern auch zeitliche, kräftemäßigeoder finanzielle Überforderungen bei Mitversorgung einesunheilbaren geschädigten Kindes ausreichen sollen“27. Da-bei wurden zu den Schädigungen relativ großzügig körper-liche Schäden wie „Mißbildungen von Gliedmaßen, Ver-krüppelungen, Stoffwechselkrankheiten“ ebenso wie see-lische oder geistige Leiden („Psychosen, Epilepsie, …Schwachsinn, Schizophrenie“), aber auch „irreparable De-menzen (wie Taubstummheit oder Blindheit)“ gerechnet28.Zusätzlich konnte zwar auch die medizinisch-soziale Indika-tion erfüllt sein, diese erlangte jedoch nur dann praktischeBedeutung, wenn die 22-Wochen-Frist überschritten war.

Vor diesem Hintergrund führt die von der Fraktion derSPD29 angeregte Streichung der embryopathischen Indika-tion unter gleichzeitiger Beibehaltung der bisherigen Vor-aussetzungen der medizinisch-sozialen Indikation zu demSchluß, daß es eine embryopathische Indikation nicht mehrgibt. Dies deckt sich mit den Ausführungen des Abgeordne-ten Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU) zur jetzigen Fassungder medizinisch-sozialen Indikation nach § 218a II StGB30:

„Es wird künftig nur noch zwei Indikationen geben,nach denen ein rechtmäßiger Schwangerschaftsabbruchmöglich sein wird, eben diese medizinische Indikation und

die kriminologische Indikation. Wir haben uns nach sehrsorgfältiger Prüfung und Beratung mit vielen Fachleutendazu entschlossen, die embryopathische Indikation abzuschaffen,weil damit das Mißverständnis … verbunden war, daß letzt-lich die embryopathische Indikation eine Tötung rechtferti-ge, weil das Kind behindert sei. Ein solches Mißverständniskann sich eine Rechtsordnung nicht leisten. Um dies ohnejeden Zweifel klarzustellen, war es uns ein wichtiges Anlie-gen, dem dringenden Wunsch der Kirchen, der Behinder-tenverbände und anderer nachzukommen, die in der Tathöchst mißverständliche embryopathische Indikation abzuschaf-fen. Wer jetzt behauptet, wir würden über die Hintertüreiner medizinischen Indikation die embryopathische Indika-tion ohne Frist wieder einführen, dem muß ich unterstellen,daß er den Gesetzestext nicht gelesen hat, geschweige denn

23) So Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 24. Aufl. 1991, § 218a, Rdnr. 30.

24) BT-Dr. 13/1850, S. 26.25) Aufgrund des Wortlauts des § 218a StGB in der Fassung des

15. Strafrechtsänderungsgesetzes war umstritten, ob die Indikatio-nen dogmatisch als Rechtfertigungsgründe oder als Strafausschlie-ßungsgründe einzuordnen seien, vgl. nur Lackner, Strafgesetz-buch, 19. Aufl. 1991, § 218a, Rdnrn. 1 ff.

26) BVerfGE 88, 203, 256 f., 261 f. Vgl. dazu Gropp, GA 1994, 147,149 f., 152 f., 154 (dortige Fn. 53); Tröndle (Fn. 11), § 218a,Rdnr. 9b; Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), § 218a, Rdnrn. 21 f.

27) Schönke/Schröder-Eser (Fn. 23), § 218a, Rdnr. 27; vgl. auchRdnrn. 29 f. Ähnlich Lackner (Fn. 25), § 218a, Rdnr. 14: „Für dieFrage, ob die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt wer-den kann, … ist vielmehr (entscheidend), ob diese Schädigungnach Art und Schwere … so erheblich ist, daß die Pflege und Er-ziehung des kranken Kindes auch bei voller Anerkennung seinesLebensrechts eine zeitlich, kräftemäßig oder wirtschaftlich unzu-mutbare Überforderung der Schwangeren … bedeuten würde.“

28) Schönke/Schröder-Eser (Fn. 23), § 218a, Rdnr. 22. Kritisch aberHiersche, MedR 1989, 304, 305.

29) BT-Dr. 13/27 v. 17. 11. 1994, S. 10; anders dagegen noch dieEntwürfe der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P., vgl.BT-Dr. 12/6643 v. 20. 1. 1994, S. 7 f.; 13/268 v. 20. 1. 1995, S. 8; 13/285 v. 24. 1. 1995, S. 8. Ende Juni 1995 haben die Frak-tionen der CDU/CSU und der F.D.P. dem Vorschlag der Strei-chung der embryopathischen Indikation zugestimmt, vgl. BT-Plenarprotokoll 13/47, S. 3795. Zur Gesetzgebungsgeschichtevgl. auch Beckmann, MedR 1998, 155 f.

30) BT-Plenarprotokoll 13/47, S. 3782 (Hervorhebung durch d.Verf.). Vgl. auch die Äußerung der Abgeordneten Wettig-Daniel-meier (SPD): „CDU/CSU und F.D.P. sind unserem Vorschlaggefolgt, die embryopathische oder eugenische Indikation entfallenzu lassen. Wir begrüßen das sehr, zumal wir seit 1990 mit unse-rem Vorschlag eher auf Zurückhaltung gestoßen sind. … DieVorwürfe gegen die neue medizinische Indikation zeigen, wieirrational dieses Thema immer noch behandelt wird. Schließlichhandelt es sich um die ,alte‘ Indikation, die jahrzehntelang nichtzum Mißbrauch geführt hat“ (S. 3758). Unmißverständlich istauch die Aussage der Abgeordneten Eichhorn (CDU/CSU): „Ins-besondere die Behindertenverbände, aber auch die Kirchenhaben uns immer wieder aufgefordert, auf eine embryopathischeIndikation zu verzichten. … In Zukunft gibt es daher nur nochdie medizinische und die kriminologische Indikation“ (S. 3756).Lediglich die Abgeordneten Hüppe (CDU/CSU) und Lanfermann(F.D.P.) hatten Zweifel, ob mit der neuen Regelung eine Ab-schaffung der embryopathischen Indikation gewollt sei. Lanfer-mann ging davon aus, „daß sich in der Praxis für die betroffenenFrauen“ nichts ändere (S. 3761), während Hüppe befürchtete, daßin Zukunft bei Aufnahme der embryopathischen Indikation indie medizinische „auch bis zur Geburt behindertes Leben getötetwerden“ dürfe (S. 3777). Vgl. weiter BT-Plenarprotokoll 13/19,S. 1278, 1285; 13/47, S. 3775, 3785 f. Eindeutig hingegen isteine Stellungnahme der Bundesregierung v. Juli 1996 (BT-Dr.13/5364, S. 15): „Die embryopathische Indikation ist mit Inkraft-treten des SFHÄndG entfallen. Mit dem Wegfall der embryopa-thischen Indikation ist keine Änderung der Voraussetzungen dermedizinischen Indikation im Vergleich zu der vor dem Inkraft-treten des SFHÄndG geltenden Fassung erfolgt.“

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500 MedR 1998, Heft 11 Schumann/Schmidt-Recla, Die Abschaffung der embryopathischen Indikation

die Begründung. Denn die medizinische Indikation, die wirjetzt beschließen wollen, entspricht wörtlich der von 1976bis 1992 in der Bundesrepublik Deutschland geltenden,vom Verfassungsgericht nicht beanstandeten Indikation. Anihr hat es … von den Kirchen und von anderen Stellen vielKritik gegeben, aber niemals hat jemand behauptet, die me-dizinische Indikation, die wir jetzt wörtlich übernehmen,erlaube und rechtfertige die Tötung eines Kindes, weil esbehindert sei. Dies ist abstrus. Wahr ist, daß jede Indikation… mißbraucht werden kann, wie leider überhaupt Rechts-normen häufig mißbräuchlich angewendet werden können.Aber die medizinische Indikation verlangt als Voraussetzungfür die rechtfertigende Wirkung, daß nach ärztlicher Er-kenntnis und gerichtlich überprüfbar entweder eine Gefahrfür das Leben der Schwangeren oder eine Gefahr einerschwerwiegenden Beeinträchtigung der körperlichen oderseelischen Gesundheit vorliegt.“

Bei diesem Verständnis des § 218a II StGB begründet die Feststellung der Schädigung eines Kindes nach der 12. Schwangerschaftswoche p. c. nur dann einen gerecht-fertigten Abbruch, wenn diese unter Berücksichtigung dergegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse derSchwangeren nach ärztlicher Erkenntnis zu einer Lebens-oder Gesundheitsgefahr für die Schwangere führt. Beisämtlichen anderen Fallkonstellationen der ehemaligenembryopathischen Indikation, die nicht gleichzeitig diemedizinisch-soziale Indikation erfüllen, ist hingegen nachder 12. Schwangerschaftswoche p. c. ein straffreier Abbruchnicht mehr möglich31.

Freilich scheint sich diese Erkenntnis bisher noch nichtdurchgesetzt zu haben. So wird im Heft Nr. 9/1998 desMagazins Focus (S. 66) von einem Schwangerschaftsab-bruch im 5. Monat berichtet, weil die Schwangere kein be-hindertes Kind wollte, und dies wie folgt kommentiert:„Frauen dürfen in Deutschland bis zum Tag der Geburt ab-treiben, wenn ihnen das Austragen eines kranken oder be-hinderten Kindes unzumutbar erscheint.“ Das Kriteriumder Lebens- oder Gesundheitsgefahr, das Voraussetzung fürdie Annahme einer medizinisch-sozialen Indikation ist,wird offenbar für nicht erforderlich gehalten32. Allerdingswird in den Reihen der Frauenärzte die Problematik in-zwischen erkannt und auf das Mißverständnis zu § 218a IIStGB hingewiesen33:

„Nachdem die embryopathische Indikation weggefallenist, wird heute, auf dem Boden dieser unzutreffenden Auf-fassung, verbreitet davon ausgegangen, daß auch nach einerPränataldiagnostik zu einem späteren Zeitpunkt derSchwangerschaft allein wegen eines auffälligen Befundesbeim Kind eine Beendigung der Schwangerschaft medizi-nisch indiziert sein kann.“

Diese Einsicht ist der strafrechtlichen Literatur noch fern,wenngleich vereinzelt auf Unstimmigkeiten hingewiesenwird, so etwa von Lackner 34:

„Die Ausgestaltung der sozial-medizinischen Indikationals Auffangtatbestand für die embryopathische bringt diegebotene Klärung nicht. Sie erweitert nur die Möglichkeiterlaubter Eingriffe zu Lasten des Lebensschutzes, und zwarvor allem dadurch, daß sie wegen ihrer größeren Unbe-stimmtheit … zum Mißbrauch einlädt …“

Tröndle hingegen hält die von ihm – unter Auslassungeiner Heranziehung der Gesetzgebungsgeschichte und derBeachtung des Wortlautes – falsch interpretierte medizi-nisch-soziale Indikation für verfassungswidrig35:

„Dieser Akt gesetzgeberischer Verhüllungskunst soll ver-decken, … daß jede Schwangere, die ein (möglicherweise)behindertes Kind erwartet, einen Rechtsanspruch daraufhat, es allein wegen seiner (unzumutbaren) Behinderungtöten zu lassen: eine evidente Benachteiligung Behinderter,die Art. 3 III GG … ausdrücklich untersagt. Schon aus die-sem Grunde hätte die embryopathische … Indikation er-

satzlos gestrichen werden müssen und ihr nicht in der me-dizinisch-sozialen ,Unterschlupf‘ gewährt werden dürfen.“

2. Unzumutbarkeit anderweitiger AbwendungsmöglichkeitenLiegt nach ärztlicher Erkenntnis eine Lebens- oder Ge-sundheitsgefahr vor, so ist der Schwangerschaftsabbruch ge-rechtfertigt, wenn die Gefahr nicht auf zumutbare Weiseabgewendet werden kann. Die Alternative zum Schwan-gerschaftsabbruch wäre trotz bestehender Suizid- oder Ge-sundheitsgefahr das Austragen und Gebären des schwerstge-schädigten Kindes unter medizinischer, psychiatrischer undsozialer Hilfe oder Betreuung. Dies wird der Schwangerennur ausnahmsweise zuzumuten sein36.

3. Fetozid als zulässiges Mitteleines gerechtfertigten Schwangerschaftsabbruchs?Schließlich ist unter dem Eindruck des Fortschritts der Prä-nataldiagnostik zu diskutieren, ob der in Deutschland erstseit wenigen Jahren praktizierbare Fetozid, der das Straf-recht zur Anpassung an die medizintechnische Entwicklungzwingt, vom Tatbestand des Rechtfertigungsgrundes des § 218a II StGB erfaßt wird. Es stellt sich die Frage, ob § 218a II StGB „weit“ (unter Einschluß des Fetozids) oder„eng“ (unter Ausschluß desselben) auszulegen ist. Einersolchen Auslegung sind auch die Strafgesetze zugänglich,wenn der Wortlaut wie hier verschiedene Interpretationenzuläßt37. Während sich der Fetozid auf der Tatbestandsseiteunter Berücksichtigung des Verhältnisses von § 217 I a. F.StGB zu § 218 I StGB unter den Begriff des Schwanger-schaftsabbruchs subsumieren läßt, tatbestandlich also beiVornahme eines Fetozids vor Beginn der Eröffnungswehenkein Tötungsdelikt vorliegt, sondern ein Abbruch derSchwangerschaft, ist auf der Rechtfertigungsebene zu über-prüfen, ob der Fetozid vom Rechtfertigungsgrund des § 218a II StGB umfaßt wird.

Mittel der Wahl ist der Fetozid ab der 20. Schwanger-schaftswoche p. c. nur deshalb, weil das ungeborene Lebennicht mehr untrennbar mit dem mütterlichen Organismusverbunden ist38 und das Kind bei einem Abbruch derSchwangerschaft durch Einleitung der Geburt überlebenkönnte, wobei im letzten Schwangerschaftsdrittel die Über-lebenschancen gut sind39. Bei Lebensfähigkeit des Kindes

31) Insoweit besteht Übereinstimmung mit der nach Inkrafttreten des SFHÄndG geäußerten Auffassung der Bundesregierung, vgl.BT-Dr. 13/5364, S. 15.

32) Ähnlich Beckmann, MedR 1998, 155, 157 f. (dortige Fnn. 33, 36).33) 5. Medizinisch-Ethische Klausur- und Arbeitstagung „Pränatale

Medizin im Spannungsfeld von Ethik und Recht“, Der Frauen-arzt 1998, 321, 322.

34) Lackner (Fn. 4), § 218a, Rdnr. 16.35) Tröndle (Fn. 11), § 218a, Rdnr. 9a.36) Vgl. dazu Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), § 218a, Rdnrn. 34 f.37) Vgl. zur verfassungskonformen Auslegung Tröndle (Fn. 11), § 1,

Rdnr. 10a; BVerfGE 57, 250, 262.38) Von diesem Gesichtspunkt ließ sich auch der BGH (BGHSt 10,

291, 292) leiten, als er im Anschluß an das RG (DR 1939, 365,Nr. 13) feststellte, daß ein infolge einer Abtreibung lebend gebo-renes Kind die Menschseinsqualität hat, wenn es unabhängig vomLeben der Mutter – wenn auch nur für kurze Zeit – in mensch-licher Weise lebt. Vgl. dazu Koch, MedR 1985, 84; Lüttger, JR1971, 133, 136, 138; sowie Weiß, GA 1995, 373, der darauf hin-weist, daß nach „§ 29 Abs. 2 und 3 der Ausführungsverordnungzum Personenstandsgesetz (VOPStG) … seit dem 1. 4. 1994 aucheine nur 500 Gramm schwere totgeborene Leibesfrucht nichtmehr als Fehlgeburt, sondern ,als ein totgeborenes oder in derGeburt verstorbenes Kind‘ (gilt)“.

39) Vgl. Cramer, ZRP 1992, 136, 138 m.w.N.; 5. Medizinisch-Ethi-sche Klausur- und Arbeitstagung „Pränatale Medizin im Span-nungsfeld von Ethik und Recht“, Der Frauenarzt 1998, 321, 322.Zur Problematik von Abtreibung und Überlebenschancen Früh-geborener vgl. auch Beckmann, MedR 1998, 155, 157.

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Schumann/Schmidt-Recla, Die Abschaffung der embryopathischen Indikation MedR 1998, Heft 11 501

außerhalb des Mutterleibes muß daher das Ziel desSchwangerschaftsabbruchs hinterfragt werden. Soll derSchwangeren durch den Abbruch die Fortsetzung derSchwangerschaft, das Gebären oder das Haben des Kindeserspart werden?

Die Fortsetzung der Schwangerschaft kann durch Ge-burtseinleitung abgewendet werden. Der Geburtsvorgangselbst kann der Schwangeren nicht erspart werden, sie istlediglich vor die Alternative gestellt, ein schwerstgeschädig-tes Kind oder die tote Leibesfrucht zu „gebären“. Hinge-gen wird im Unterschied zur Geburtseinleitung durch denFetozid sichergestellt, daß die Schwangere nicht zur Muttereines ungewollten Kindes wird. Aus diesem Grund wirdauch in der Kommentarliteratur darauf hingewiesen, daßdie Schwangere bei Vorliegen der Voraussetzungen dermedizinisch-sozialen Indikation nicht auf die Einleitung derGeburt verwiesen werden dürfe, wenn die Lebens- oderGesundheitsgefahr gerade auch durch die nachgeburtlichenSorge- und Einstandspflichten der Schwangeren begründetsei40. Diese Prognose kann aber nur insofern von Bedeu-tung sein, als sie zu dem Ergebnis führt, daß angesichts dernachgeburtlichen Belastungen bei der Schwangeren eineschwerwiegende Beeinträchtigung der Gesundheit zu be-fürchten ist, die ein weiteres Austragen der Schwanger-schaft nach ärztlicher Erkenntnis als unzumutbar verbietet.Die nachgeburtliche Sorgepflicht mag daher ein Kriteriumder Prüfungspunkte „Lebens- oder Gesundheitsgefahr“bzw. der „Zumutbarkeit“ sein, nicht hingegen führt sie zurAnnahme der Zulässigkeit eines Fetozids in der zweitenHälfte der Schwangerschaft als Mittel eines gerechtfertigtenund damit rechtmäßigen Handelns41.

Besonders deutlich wird dies bei einem Vergleich mitder klassisch medizinischen Indikation42, die schon nach § 218a II StGB a. F. unbefristet unter dem Vorbehalt derZumutbarkeit anderweitiger Abwendungsmöglichkeitenzulässig war. Bei Verneinung der Zumutbarkeit der Fort-setzung der Schwangerschaft wird vorzeitig die Geburt ein-geleitet, wobei das Bemühen des Arztes regelmäßig auf dieErhaltung des Lebens von Mutter und Kind gerichtet ist.Nur wenn der Arzt billigend in Kauf nimmt, durch die Ge-burtseinleitung das Leben des Frühgeborenen zu gefährden,liegt tatbestandlich ein Schwangerschaftsabbruch vor43.Dennoch ist sein Ziel das Beenden der Schwangerschaft,wobei dieses Beenden mit dem Risiko behaftet ist, daß dasFrühgeborene nicht überlebt. Bei der embryopathischenIndikation ist hingegen das Ziel das Abtöten der Leibes-frucht, mit der Folge, daß die Schwangerschaft beendetwird44.

Zu Recht weisen vor allem Gynäkologen darauf hin, derGesetzgeber habe bei seiner Aussage, die embryopathischeIndikation werde in der medizinisch-sozialen Indikationaufgehen, übersehen, „daß die bisherige klassische medizi-nische Indikation nie und zu keiner Zeit der Medizinge-schichte als eigentliches Ziel die Abtötung des Kindes hatte.Im Gegenteil, bei medizinisch gegebener Notwendigkeitdes Schwangerschaftsabbruches wurde je nach Schwanger-schaftsalter versucht, Mutter und Kind zu retten. Bei Le-bensfähigkeit des Kindes sprechen Gynäkologen daher garnicht von einem Schwangerschaftsabbruch, sondern voneiner vorzeitigen Geburtseinleitung, die natürlich begriff-lich auch den Willen beinhaltet, das Kind zu retten und vorSchaden zu bewahren.“45 Diese Erkenntnis ist auch beieinigen Juristen vorhanden46:

„Essential der medizinischen Indikation war nämlich,daß die Tötung des Kindes nicht das Ziel der Handlungwar. Es ging darum, die durch die Schwangerschaft für dasLeben oder die Gesundheit der Mutter begründeten Gefah-ren durch Abbruch der Schwangerschaft zu beseitigen, wasallerdings im Regelfall auch zum Tod des Kindes führte.Bei der embryopathischen, kriminologischen und sozialen

Indikation geht es hingegen nicht darum, die Mutter vonder Last der Schwangerschaft, sondern von der Last desKindes zu befreien. Ziel der Handlung ist daher der Toddes ungeborenen Kindes, Mittel der Realisierung diesesZiels der Schwangerschaftsabbruch.“

Diese Zielsetzung weist die Bundesregierung freilich –nach Abschaffung der embryopathischen Indikation auchfolgerichtig – von sich und antwortete auf die Anfrage, ob„aufgrund der im dritten Schwangerschaftstrimenon regel-mäßig anzunehmenden extrauterinen Lebensfähigkeit desungeborenen Kindes bei Abtreibungen solche Methodenangewandt (werden), die auf eine Tötung des Kindes nochim Mutterleib abzielen, bevor es auf die Welt kommt?“47:

„Ziel der Behandlung ist demnach (gemeint ist der zuvorzitierte § 218a II StGB, d. Verf.) die Beendigung derSchwangerschaft aus den genannten Gründen, darf jedochnicht die Tötung des Kindes sein. Der Schwangerschafts-abbruch erfolgt in der Regel durch die Induktion einerWehentätigkeit.“

Auch auf weitere Nachfrage wird zu anderen Methodendes Schwangerschaftsabbruchs nicht Stellung genommen,insbesondere die Methode des Fetozids nicht erwähnt48:

„Bei einem späten Schwangerschaftsabbruch aufgrundder medizinischen Indikation erfolgt der Abbruch nachdem Stand der medizinischen Wissenschaft durch die In-duktion einer Wehentätigkeit. Ob darüber hinaus die inder Frage geschilderten Methoden Anwendung finden,entzieht sich der Kenntnis der Bundesregierung.“

40) So Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), § 218a, Rdnr. 34.41) Diese Probleme treten hingegen regelmäßig nicht auf, wenn sau-

ber zwischen embryopathischer und medizinisch-sozialer Indika-tion getrennt wird. So führt das BVerfG (BVerfGE 88, 203, 269)zu beiden Indikationen aus: „Die Notlage ist hier greifbar, wennärztlich festgestellt ist, daß sich die Frau mit der Fortsetzung derSchwangerschaft einer beachtlichen Gefahr für ihre Gesundheitaussetzt oder die erhebliche Gefahr einer schweren Schädigungdes Kindes besteht …“. Bei der ehemaligen embryopathischenIndikation mußte gerade nicht die nur schwer feststellbare Beur-teilung getroffen werden, ob das Haben eines schwerstgeschädig-ten Kindes und die damit verbundenen Sorge- und Einstands-pflichten eine nur durch Schwangerschaftsabbruch abwendbareGesundheits- oder Lebensgefahr begründen.

42) Diese wurde erstmals 1927 vom Reichsgericht (RGSt 61, 242,252) als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund mit Rechtferti-gungscharakter anerkannt, und zwar bei Vorliegen eines „Zu-stand(s) gegenwärtiger Gefahr für das Rechtsgut des Lebens oderder Gesundheit der Schwangeren, der nicht anders beseitigt wer-den kann, als durch einen den äußeren Tatbestand einer straf-baren Handlung erfüllenden Eingriff in das Rechtsgut des Lebensder Leibesfrucht“ (S. 248). Klassisches Beispiel hierfür ist derGebärmutterhalskrebs bei der Schwangeren, vgl. Dreher, Straf-gesetzbuch, 37. Aufl. 1977, § 218a, Rdnr. 9; Weise, Der Frauen-arzt 1997, 1218, 1219.

43) Leitet der Arzt hingegen aus medizinischen Gründen die Geburtein mit dem Ziel, das Kind zu retten, so ist für den Fall, daß dasKind die Geburt nicht überlebt, § 218 I StGB mangels Vorsatzesnicht erfüllt. Da eine solche vorzeitige Geburtseinleitung schonkeinen Straftatbestand verwirklicht, stellt sich die Frage nach demVorliegen eines Rechtfertigungsgrundes nicht. Vgl. dazu schonoben, sub I. (1) 2.

44) Auch Tröndle (Fn. 11), § 218a, Rdnr. 9b, weist darauf hin, daßdie embryopathische Indikation im Gegensatz zur „gänzlich an-ders motivierte(n) … medizinisch-soziale(n) Indikation … ledig-lich vom Gedanken der ,Früheuthanasie‘ bestimmt“ sei.

45) Weise, Der Frauenarzt 1997, 1218, 1219. Vgl. auch 5. Medizi-nisch-Ethische Klausur- und Arbeitstagung „Pränatale Medizinim Spannungsfeld von Ethik und Recht“, Der Frauenarzt 1998,321, 322.

46) Otto, Jura 1996, 135, 142. Ähnlich auch Tröndle, NJW 1995,3009, 3015; Beckmann, MedR 1998, 155, 158.

47) BT-Dr. 13/5364, S. 13.48) BT-Dr. 13/5364, S. 16.

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Ist nun die Ignoranz der Bundesregierung gegenüber dermedizinischen Praxis oder die der Medizin gegenüber demgesetzgeberischen Willen größer? Den Ärzten kann wenig-stens zugute gehalten werden, daß sie ihre Bedenken for-muliert haben. Seit Beginn diesen Jahres liegt eine Er-klärung aus den Reihen der Frauenärzte vor, wonach dieÄrzteschaft einen Fetozid aufgrund Pränataldiagnostik nachder 20. Schwangerschaftswoche p. c. „für unzumutbar undmit dem ärztlichen Ethos nicht vereinbar“ hält49. Deshalbfordern die Ärzte, daß dieser Zeitpunkt „grundsätzlich alszeitliche Begrenzung für Schwangerschaftsabbrüche nachPränataldiagnostik angesehen (werden muß), sofern das Zieldes Abbruchs der Tod des Ungeborenen ist“50. Als Reak-tion hierauf hat der Präsident des Berufsverbandes derFrauenärzte e.V. mitgeteilt, daß dieser Standpunkt „imWiderspruch zu geltendem Vertragsarztrecht“ stehe51. Hin-gewiesen sei in diesem Zusammenhang vor allem auf § 12Schwangerschaftskonfliktgesetz, wonach niemand verpflich-tet ist, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, essei denn, es liege eine anders nicht abwendbare Gefahr desTodes oder einer schweren Gesundheitsschädigung vor.Damit sind Ärzte und ärztliches Personal in den hier disku-tierten Fällen aber „nur“ verpflichtet, die Schwangerschaftzu beenden, offen bleibt nach dem Wortlaut wiederum, obdurch Geburtseinleitung oder durch Fetozid.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine weite Aus-legung des § 218a II StGB ergeben sich – unabhängig vonder Zielsetzung des Fetozids – vor allem daraus, daß dieserbis unmittelbar vor dem Erreichen der Menschseinsqualitätmöglich wäre. Das BVerfG läßt Ausnahmen von dem zumSchutz des ungeborenen Lebens grundsätzlich bestehendenVerbot des Schwangerschaftsabbruchs vor allem wegen desbesonderen Verhältnisses von Mutter und Leibesfrucht zu.Aufgrund dieser „Zweiheit in Einheit“ sei „jedenfalls in derFrühphase der Schwangerschaft … ein wirksamer Schutzdes ungeborenen menschlichen Lebens nur mit der Mutter,aber nicht gegen sie möglich“52. Mit dem Fortschreiten derSchwangerschaft kehrt sich dieser Satz um. Je weiter dieSchwangerschaft fortgeschritten ist, desto weniger bedarf diestaatliche Gemeinschaft der Mutter, um das ungeboreneLeben zu schützen. Im ersten Urteil des BVerfG zu § 218StGB wurde dies noch deutlicher als im zweiten formuliert53:

„Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelndeLeben in Schutz zu nehmen, besteht grundsätzlich auch ge-genüber der Mutter.“

Diese Erkenntnis trägt dem Gedanken Rechnung, daßdas geborene Kind zwar primär unter der Verantwortungder Schutzgemeinschaft seiner Eltern steht, wo dieserSchutz aber versagt, legitimiert und verpflichtet die Verfas-sung (Art. 6 II 2 GG) den Staat zum Schutz des Kindesgegen seine Eltern. Der Übergang vom ungeborenenLeben zum Menschen ist aber fließend.

Ein Vergleich mit der Situation in oder unmittelbar nachder Geburt mag dies verdeutlichen. Anstelle der oben ge-nannten Methoden des Fetozids wäre es ungefährlicher fürdie Schwangere und einfacher für den behandelnden Gynä-kologen54, wenn zunächst die Geburt eingeleitet und dannwährend des Geburtsvorganges eine mit dem Leben desKindes nicht zu vereinende Protrahierung der Geburt be-trieben würde55. Das Handlungsunrecht scheint nicht größerals bei einem medikamentös herbeigeführten Fetozid vorEinleitung der Geburt, die strafrechtliche Beurteilung dieserHandlung ist aber eine völlig andere. Auch der Erfolg bei-der Handlungen ist nur scheinbar gleich, denn strafrechtlichist das Totgeborene bei einem Fetozid unmittelbar vor Ein-setzen der Eröffnungswehen eine tote Leibesfrucht, bei einerKindstötung in der Geburt ein totes Kind. Mit dem töd-lichen Einwirken in der Geburt ist der Tatbestand des § 212StGB verwirklicht; eine Rechtfertigung nach § 218a IIStGB ist nicht möglich. Der Lebensschutz des Kindes geht

nun etwaigen Lebens- oder Gesundheitsgefahren für dieMutter, die sich aus dem Haben eines schwerstgeschädigtenKindes ergeben können, vor.

Praktischer dürfte jedoch die Verwirklichung einesTötungsdeliktes durch Unterlassen sein, wenn der Abbruch– wie in 7 % aller Fälle im zweiten Schwangerschaftsdrit-tel56 – insofern „mißlungen“ ist, als das Kind nach Einleitungder Eröffnungswehen noch lebt. Stirbt das Kind in jedemFall in oder nach der Geburt an den Folgen der Einwir-kung, so ist die Handlung des Arztes mit der Rechtsprechungdes BGH nach den §§ 218 f. StGB zu beurteilen57. Könnteder Arzt hingegen mit Aussicht auf Erfolg medizinisch ange-zeigte Maßnahmen ergreifen, die zum Erhalt des Lebens desKindes führten, und unterläßt er diese, so ist entweder derTatbestand des § 212 StGB oder der des § 222 StGB durchUnterlassen verwirklicht58. Dabei macht es strafrechtlichkeinen Unterschied, ob die lebenserhaltenden Maßnahmennoch in oder erst nach der Geburt unterlassen werden59.

Nach Beginn der Eröffnungswehen muß der Arzt dasLeben eines Kindes retten, dessen Leben er nur kurz zuvorals Leibesfrucht gerechtfertigt beenden zu dürfen glaubte.Auch aus diesem Grund kann der Fetozid an einem lebens-fähigen Kind keinen Rechtfertigungsgrund darstellen.Wäre der Fetozid zulässiges Mittel eines gerechtfertigtenSchwangerschaftsabbruchs und schlüge er fehl, so bestündeeinerseits die strafrechtliche Pflicht, das Kind am Leben zuerhalten. Andererseits sähe sich der Arzt bei Überleben desKindes zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen wegenVerletzung des Behandlungsvertrages ausgesetzt60.

Diese Überlegungen zeigen deutlich, daß der Gesetz-geber mit der Streichung der embryopathischen Indikationund seiner mißverständlichen Formulierung in der Bundes-tagsdrucksache 13/1850 den Ärzten mehr noch als bei deralten Indikationslösung den „schwarzen Peter“ zugeschoben

49) 5. Medizinisch-Ethische Klausur- und Arbeitstagung „PränataleMedizin im Spannungsfeld von Ethik und Recht“, Der Frauen-arzt 1998, 321, 322. Hierzu FAZ v. 14. 3. 1998, S. 5.

50) 5. Medizinisch-Ethische Klausur- und Arbeitstagung „PränataleMedizin im Spannungsfeld von Ethik und Recht“, Der Frauen-arzt 1998, 321, 322.

51) Malter, Der Frauenarzt 1998, 321.52) BVerfGE 88, 203, 253, 266.53) BVerfGE 39, 1, 42. Vgl. auch Kern, NJW 1994, 753, 754.54) Laut Focus (9/1998, S. 66, 68) beherrschen nur wenige Speziali-

sten in Deutschland den Fetozid.55) Gemeint ist damit das sog. Steckenlassen, das darin besteht, die

Geburt bis zum Eintritt des Kindstodes hinauszuzögern. Angeb-lich wird diese Methode – neben dem Abklemmen der Nabel-schnur bei Beckenendlage des Kindes – als Alternative zum Feto-zid vereinzelt noch praktiziert. Strafrechtlich bestehen dabei keineUnterschiede zur sog. „Eimergeburt“, die bis in die 50er Jahre inder BRD und bis in die 80er Jahre in der DDR zum Einsatz kam(vgl. dazu Weise, Der Frauenarzt 1997, 1218, 1219).

56) Vgl. die Angaben in Focus, 9/1998, S. 66.57) Vgl. auch Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), Vorbem. §§ 211 ff.,

Rdnrn. 14 f.; § 218, Rdnrn. 22 f.58) Zum sog. Liegenlassen vgl. Beckmann, MedR 1998, 155, 158 f.59) Vgl. dazu insgesamt auch BT-Dr. 13/5364, S. 14: „Der Arzt ist

grundsätzlich verpflichtet, das zur Erhaltung des Lebens Erforder-liche zu tun. Dies gilt auch für den Arzt, dessen auf einenSchwangerschaftsabbruch zielende Maßnahme zur Lebendgeburtdes Kindes führte. Bei einer Lebendgeburt muß das Kind nachdem geltenden medizinischen Standard versorgt werden … DerUmstand, daß eine medizinische Indikation für einen Schwanger-schaftsabbruch im Spätstadium der Schwangerschaft gegeben war,vermag es keinesfalls zu rechtfertigen, auf lebenserhaltende Maß-nahmen für das Kind zu verzichten. Verletzt der Arzt seine Ver-pflichtung, so kann er sich damit eines Unterlassungsdelikts, d. h.im Einzelfall auch wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktesstrafbar machen.“

60) Vgl. auch Weise, Der Frauenarzt 1997, 1218, 1219; Beckmann,MedR 1998, 155, 158.

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Schumann/Schmidt-Recla, Die Abschaffung der embryopathischen Indikation MedR 1998, Heft 11 503

hat61. Der von Weise62 gezogene Vergleich mit der Situationder Grenzsoldaten in der ehemaligen DDR scheint daher soabwegig nicht zu sein. Auch die Mauerschützen glaubtenim Rahmen des damals geltenden Rechts gerechtfertigt zuhandeln. Heute müssen sie sich vorwerfen lassen, sie hättendamals schon erkennen müssen, daß sie in grober Weisegegen Grundgedanken der Menschlichkeit verstoßenhaben63. Es ist – und auch dies begründet Bedenken gegeneine weite Auslegung des § 218a II StGB – nicht auszu-schließen, daß den heute handelnden Ärzten in naher Zu-kunft dieser Vorwurf gemacht wird64.

So ließe sich vertreten, daß § 218a II StGB bei weiterAuslegung unter Anwendung der sog. Radbruch’schenFormel auch auf „normale“ Tötungsdelikte – die freilich„extreme Ausnahmen“ darstellen müssen65 – einen offen-sichtlichen und unerträglichen Verstoß gegen elementareGebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich ge-schützte Menschenrechte darstelle66. Es ist zwar nicht zubefürchten, daß die Strafrechtsprechung in absehbarer Zeithierzu schreiten wird, weil die Radbruch’sche Formel je-denfalls bisher nur auf sog. „staatsverstärkte Kriminalität“angewendet wird. In Anbetracht des Schutzgutes Leben,das den höchsten Wert der Rechtsordnung des Grundge-setzes verkörpert, liegt es aber nicht fern, die Zulässigkeitdes Fetozids als Bestandteil eines Rechtfertigungsgrundesbei extrauteriner Lebensfähigkeit als einen Verstoß gegenelementare Gebote der Gerechtigkeit anzusehen, zumal dergedankliche Schritt vom Fetozid zur Tötung mißgebildeter,aber lebensfähiger Neugeborener nur klein sein dürfte67.Auch beim Fetozid nimmt der Arzt den Abbruch im Be-wußtsein der extrauterinen Lebensfähigkeit des Opfers vor.Schon im ersten Trimester der Schwangerschaft vorgenom-mene selektive Mehrlingsreduktionen belasten den Arzt,wenn er „unter Ultraschallkontrolle dem ausweichendenKind mit der Punktionsnadel folgen muß, bis nach even-tuell mehrfacher Punktion der Herzstillstand eintritt“68.Um wieviel größer ist die Belastung im dritten Trimester,wenn der Arzt weiß, daß das Kind, dessen Herz er punk-tiert, bei Spontangeburt leben könnte.

Diese Überlegungen führen zu dem Schluß, daß einFetozid bei Lebensfähigkeit des Kindes außerhalb des Mut-terleibes, d. h. ab der 20. Schwangerschaftswoche, nichtzulässige Methode eines gerechtfertigten Schwangerschaftsab-bruchs sein kann69. Dabei sei auf die Bedeutung, die dieZulassung des Fetozids als Mittel eines Rechtfertigungs-grundes hätte, hingewiesen. Mit der Rechtsprechung desBVerfG ist festzuhalten, daß „das Strafrecht … das allge-meine Bewußtsein von Recht und Unrecht am deutlich-sten prägt. Wenn das Strafrecht einen Rechtfertigungs-grund vorsieht, muß das im allgemeinen Rechtsbewußtseinso verstanden werden, als sei das im Rechtfertigungstatbe-stand bezeichnete Verhalten erlaubt.“70

Dieses Ergebnis begründet keinen Verstoß gegen dasstrafrechtliche Analogieverbot oder den Grundsatz „nullumcrimen, nulla poena sine lege“. Denn anders als für denStraftatbestand gelten die genannten Grundsätze nicht um-fassend für Rechtfertigungsgründe. Der Strafrichter ist nichtstreng an den Wortlaut des Rechtfertigungsgrundes gebun-den, sondern muß sich bei der Auslegung vom Zweck derNorm leiten lassen71. Da der Rechtfertigungsgrund des § 218a II StGB mit den obigen Erwägungen unter Achtungdes verfassungsrechtlichen Lebensschutzes nicht den Feto-zid nach Pränataldiagnostik bei extrauteriner Lebensfähig-keit umfaßt, laufen Ärzte und ärztliches Personal Gefahr,sich nach § 218 I StGB strafbar zu machen.

(3) ZusammenfassungAufgrund der dargelegten Erwägungen wäre es Aufgabe desGesetzgebers gewesen, zum Schutz des ungeborenen Le-bens und zum Schutz der Ärzte vor Strafverfolgung den

Rechtfertigungsgrund des § 218a II StGB eindeutig zu be-stimmen, denn der Anwendungsbereich der medizinisch-sozialen Indikation ist viel enger, als es die Kommentarlite-ratur glauben machen will72. Erstens läßt sich ein Schwan-gerschaftsabbruch bei Feststellung einer Schädigung desKindes nach Ablauf der 12-Wochen-Frist nur dann recht-fertigen, wenn es nach ärztlicher Erkenntnis unzumutbarist, die Mutter trotz der ihr drohenden Lebens- oder Ge-sundheitsgefahr auf die Fortsetzung der Schwangerschaft zuverweisen. Zweitens läßt der Wortlaut des § 218a II StGBoffen, ob die medizinisch-soziale Indikation einen Schwan-gerschaftsabbruch durch Fetozid zu rechtfertigen vermag,wenn die Schwangerschaft auch durch die Geburt eineslebensfähigen Kindes beendet werden kann. Dies läßt sich– ohne Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege – mit guten Gründen verneinen.

II. Thesen einer Reform

Der Gesetzgeber muß sich die Unbestimmtheit des Recht-fertigungsgrundes des § 218a II StGB nach der 20. Schwan-gerschaftswoche aufgrund pränataler Diagnostik zum Vor-wurf machen lassen. Sofern der Gesetzgeber wollte (wofürsich allerdings keine Anhaltspunkte ergeben), daß der erstseit Mitte der 80er Jahre mögliche Fetozid Mittel eines ge-rechtfertigten Schwangerschaftsabbruchs auch bei extra-uteriner Lebensfähigkeit sein darf, so gewährleistet er – unterVerpflichtung der nunmehr sich wehrenden Ärzteschaft73 –

61) Weise, Der Frauenarzt 1997, 1218, spricht daher von einer „Zu-mutung für die Frauenärzteschaft“.

62) Weise, Der Frauenarzt 1997, 1218, 1219 f.63) Zu den Mauerschützenprozessen vgl. Tröndle (Fn. 11), Vor § 3,

Rdnrn. 52a ff.64) So auch Weise, Der Frauenarzt 1997, 1218, 1219 f.65) So BGHSt 39, 1, 15; 41, 101, 108.66) BGHSt 39, 1, 15 f.; 39, 168, 183; 40, 218, 232.67) Vgl. auch BT-Plenarprotokoll 13/47, S. 3778, mit Verweis auf die

Rechtslage in den Niederlanden; sowie Weise, Der Frauenarzt 1997,1218, 1219: „Von der faschistischen Euthanasie … unterscheidetsich dieses Vorgehen nur durch zwei Merkmale: – Die Tötungerfolgt nicht auf staatliche Anordnung, sondern auf Wunsch bzw.Verlangen eines einzelnen (Schwangere), aber trotzdem auf ge-setzlicher Grundlage. – Die Tötung erfolgt bei Lebensfähigkeitdes Kindes vor der Geburt und nicht am geborenen Kind.“

68) Zit. nach Hülsmann, NJW 1992, 2331, 2332.69) Tröndle (Fn. 11), § 218a, Rdnr. 16, hingegen diskutiert die Einlei-

tung der Geburt – anstelle des Fetozids – als Mittel des Schwan-gerschaftsabbruchs im Bereich des Prüfungspunktes „Zumutbar-keit anderweitiger Abwendung“. So wohl auch Schönke/Schröder-Eser (Fn. 23), § 218a, Rdnrn. 15, 17; ders. (Fn. 4), Vorbem. §§ 218 ff., Rdnr. 39, und § 218a, Rdnr. 42. Die Bundesregierungbehilft sich damit, „daß die medizinische Indikation zu einemSchwangerschaftsabbruch insbesondere in einem späten Stadium(nach der 24. Woche) äußerst streng gestellt und auf Fälle be-schränkt werden soll, in denen das Leben der Mutter in Gefahrist“ (BT-Dr. 13/5364, S. 8; Hervorhebung durch d. Verf.). BeideAnsätze vermögen dogmatisch nicht zu überzeugen.

70) BVerfGE 88, 203, 273. Vgl. auch Beckmann, MedR 1998, 155,160, der „eine restriktive, verfassungskonforme Auslegung dermedizinischen Indikation“ empfiehlt.

71) So Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 1997, § 5,Rdnr. 42, und § 10, Rdnr. 20.

72) Schönke/Schröder-Eser (Fn. 4), Vorbem. §§ 218 ff., Rdnrn. 8, 37,und § 218a, Rdnrn. 20, 26, 37, 39; Lackner (Fn. 4), § 218a,Rdnrn. 14, 16; sowie – unter Hinweis auf verfassungsrechtlicheBedenken – Tröndle (Fn. 11), § 218a, Rdnrn. 9a, 9b.

73) Gegen diese Verpflichtung haben sich die Mitglieder der 5. Me-dizinisch-Ethischen Klausur- und Arbeitstagung „Pränatale Medi-zin im Spannungsfeld von Ethik und Recht“ (Der Frauenarzt1998, 321, 324) gewandt: „Eine medizinische Indikation zumSchwangerschaftsabbruch kann – abgesehen von den Fällen vita-ler Lebensgefährdung der Schwangeren – weder von der Schwan-geren noch von anderen eingefordert werden.“

Page 8: Die Abschaffung der embryopathischen Indikation–eine ernsthafte Gefahr für den Frauenarzt?

504 MedR 1998, Heft 11 Schumann/Schmidt-Recla, Die Abschaffung der embryopathischen Indikation

nicht hinreichend den verfassungsrechtlich garantiertenSchutz des ungeborenen Lebens in der zweiten Hälfte derSchwangerschaft. Sofern – wie hier vertreten – der Fetozidnach extrauteriner Lebensfähigkeit nicht als eine Möglich-keit zur gerechtfertigten Beendigung einer Schwangerschaftangesehen wird, machen sich Frauenärzte, die diese Me-thode praktizieren, schon derzeit nach § 218 I StGBstrafbar74. Daher gilt es, die vom BVerfG aufgestellte Nach-besserungspflicht75 ernst zu nehmen und die Rechtferti-gungsgründe so zu fassen, daß sie auch bei einem Schwan-gerschaftsabbruch aufgrund pränataler Diagnostik verfas-sungsrechtlich und ethisch unbedenklich sind.

(1) Es muß klargestellt werden, daß eine Schwangerschaftbei medizinisch-sozialer Indikation nach der 20. Schwan-gerschaftswoche p. c. grundsätzlich nur durch Geburtsein-leitung beendet werden darf76. Ausnahmen von diesemGrundsatz müssen für sog. todgeweihte Kinder gelten, d. h.für solche Kinder, die die Geburt nur um wenige Stundenüberleben und bei denen keine Behandlungspflicht be-steht77. Sobald ein Sterbenlassen nach der Geburt erlaubtwäre, sollte zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft auchein Fetozid möglich sein78, und zwar unabhängig vom Vor-liegen der Voraussetzungen der medizinisch-sozialen Indi-kation79. Vielmehr sollte der Wunsch der Mutter, das tod-geweihte Kind nicht länger auszutragen, genügen. Insoweitbedarf es allerdings eines Kataloges, wobei hier die Medizi-ner die feindiagnostische Definitionsarbeit leisten müßten80.

(2) Die bis 1995 geltende und vom BVerfG nicht bean-standete embryopathische Indikation sollte wieder einge-führt, allerdings bis zur 20. Schwangerschaftswoche p. c.befristet werden81. Die embryopathische Indikation ver-stößt nicht gegen den Gleichheitssatz der Verfassung82. So-weit Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot des Schwan-gerschaftsabbruchs in der Frühphase der Schwangerschaftzugelassen werden, ist nach dem SFHÄndG die Motivationder Schwangeren grundsätzlich unbeachtlich. Sie kannstraffrei bis zur 12. Schwangerschaftswoche p. c. einen Ab-bruch vornehmen, weil sie sich mit einem Kind überfor-dert fühlt, weil sie meint, sich ein Kind nicht leisten zukönnen, oder weil sie kein behindertes Kind haben möch-te. Bis zur 12. Schwangerschaftswoche p. c. werden dahergesunde wie geschädigte Feten gleichbehandelt. Eine Ver-längerung der Frist bis zur 20. Schwangerschaftswochedient gerade einem umfassenderen Lebensschutz Ungebo-rener und ist daher als Abweichung vom Gleichbehand-lungsgrundsatz sachlich gerechtfertigt83. Denn die Schwan-gere sollte ausreichend Zeit haben, nach einer Beratung84

das Für und Wider eines Schwangerschaftsabbruchs abzu-wägen. Dieser Aspekt kann jedoch bei der Prognose einerSchädigung des Kindes85 nur dann sinnvoll berücksichtigtwerden, wenn die erforderliche Diagnostik abgeschlossenist. Bestimmte Diagnosen können aber erst nach der 12. Schwangerschaftswoche p. c. hinreichend sicher getrof-fen werden86. Eine Verlängerung der Frist eines straffreienSchwangerschaftsabbruchs zur Wahrnehmung pränatalerDiagnostik bei einem Verdacht der Schädigung des Kindesdient daher – unter Sicherstellung einer umfassenden Be-ratung der Schwangeren – dem Schutz des ungeborenenLebens in jener Vielzahl von Fällen, in denen sich der Ver-dacht zwischen der 12. und der 20. Schwangerschaftswochep. c. als unbegründet herausstellt87.

der anderen anstelle eines zu befürchtenden Verlustes sämtlicherFeten) und der Zeitpunkt der Vornahme (regelmäßig keineextrauterine Lebensfähigkeit der Feten) erheblich wenigerverfassungsrechtliche Bedenken aufwerfen, hat der Gesetzgeberdurch das 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz (§ 1 INrn. 3, 4) die Übertragung von mehr als drei Embryonen oderdie Befruchtung von mehr als drei Eizellen unter Strafe verboten(vgl. Hülsmann, NJW 1992, 2331, 2332). Freilich besteht darüberhinaus noch Regelungsbedarf.

75) BVerfGE 88, 203, 269.76) Zumal dies offenbar dem Willen des Gesetzgebers (jedenfalls dem

Willen der damaligen Bundesregierung) entspricht (BT-Dr.13/5364, S. 13): „Der Schwangerschaftsabbruch erfolgt nach denInformationen, die der Bundesregierung vorliegen, in der Regeldurch die Induktion einer Wehentätigkeit durch Prostaglandinoder Oxytoxin. Danach wird das Ausstoßen des Kindes abgewar-tet. Bei diesem Vorgehen wird die Schmerzempfindlichkeit desungeborenen Kindes berücksichtigt, denn diese Methode ent-spricht dem normalen Geburtsverlauf eines Frühgeborenen.“

77) Vgl. dazu Cramer, ZRP 1992, 136, 138; Eberbach, JR 1989, 265,267 f.; Lackner (Fn. 4), Vor § 211, Rdnr. 5; Schönke/Schröder-Eser(Fn. 4), § 218a, Rdnr. 43.

78) Vgl. auch Hiersche, MedR 1989, 304, 306: „Wenn ein todkrankesNeugeborenes nicht behandelt werden muß, dann kann es auchnicht sinnvoll sein und nicht rechtens sein, einen todkrankenFeten, dessen entsprechendes Leiden erst nach der 22. SSW er-kannt worden ist, über diesen Zeitpunkt hinaus bis zur Geburtaustragen zu lassen.“ Zu dieser Frist führen Hiersche/Jähnke(MDR 1986, 1, 4) aus: „Die Frist ist bestimmt, weil es sonst zurAbtreibung lebensfähiger Kinder kommen könnte. Der Schutzdes – vielleicht behinderten, aber möglichen – künftigen Lebenssteht im Mittelpunkt. Die Erhaltung lebensunfähiger Feten wirdvon diesem Zweck nicht gedeckt.“ Ähnlich auch Cramer, ZRP1992, 136, 139: „Eine Befristung führte also dazu, daß dieSchwangere ein Kind mit dem alleinigen Ziel austragen muß, esunmittelbar nach der Geburt alsbald wieder zu verlieren.“ Vgl.weiter Eberbach, JR 1989, 265, 268; Hanack (Fn. 13), S. 197, 203 f.;kritisch Peters, Der Schutz des neugeborenen, insbesondere desmißgebildeten Kindes, 1988, S. 247 ff.

79) So auch Hiersche/Jähnke, MDR 1986, 1, 4; wohl auch Cramer,ZRP 1992, 136, 139.

80) Vgl. dazu auch Hiersche, MedR 1984, 215, 216; Eberbach, JR1989, 265, 268.

81) Zum Für und Wider einer Frist vgl. Cramer, ZRP 1992, 136, 137 ff.

82) Art. 3 III 2 GG: „Niemand darf wegen seiner Behinderung be-nachteiligt werden.“ Vgl. dazu aber auch Tröndle, NJW 1995,3009, 3015, der die Streichung der embryopathischen Indikationals „zwingende Folge aus Art. 3 III 2 GG“ ansieht; sowie Beck-mann, MedR 1998, 155, 159 f.

83) Unseres Erachtens auch unerläßlich i.S. von BT-Dr. 12/8165, S. 29.

84) Zur Notwendigkeit einer Beratung auch bei embryopathischerIndikation vgl. 5. Medizinisch-Ethische Klausur- und Arbeitsta-gung „Pränatale Medizin im Spannungsfeld von Ethik undRecht“, Der Frauenarzt 1998, 321, 323; Beckmann, MedR 1998,155, 159.

85) Zur Feststellung der ehemaligen embryopathischen Indikationgenügte die Prognose einer Schädigung des Kindes, vgl. Hüls-mann, NJW 1992, 2331, 2335.

86) So kann z. B. die Amniozentese sinnvoll erst in der 15./16. Schwangerschaftswoche p. c. vorgenommen werden, vgl.Holzgreve, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1993, 837; einzweites Ultraschallscreening ist ebenfalls erst nach der 12.Schwangerschaftswoche p. c. möglich.

87) Vgl. nur Holzgreve, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 1993,837: „Inzwischen ist eindeutig erwiesen, daß die Pränataldiagno-stik sich vorrangig zu einer Methode entwickelt hat, die derLebenserhaltung dient, da durch die Möglichkeit des direktenNachweises infauster Erkrankungen immer seltener Abbrüche ausbloßer Angst bei anamnestischen oder spezifischen Schwanger-schaftsrisiken durchgeführt werden. … Auf diese Weise konnte z. B. in unserem Münsteraner Pränatal-Programm bei 92 Schwan-gerschaften, die zum Schwangerschaftsabbruch wegen solchermütterlicher Infektionen überwiesen wurden, dieser Abbruch inüber 90 % der Fälle verhindert werden, da nur in 10 % der Nach-weis einer Viruspassage geführt wurde.“

74) Für letzteres spricht auch die Reaktion des Gesetzgebers aufMehrlingsreduktionen mittels Fetozids. Die infolge einer Steri-litätsbehandlung auftretenden Mehrlingsschwangerschaften wer-den seit den 80er Jahren – regelmäßig innerhalb des ersten Tri-mesters der Schwangerschaft – durch selektiven Fetozid reduziert(vgl. dazu Eberbach, JR 1989, 265, 269 ff.). Obwohl hierbei dasZiel des Fetozids (Tötung eines oder mehrerer Feten zur Rettung