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Literatur und Kunst 28.01.12 / Nr. 23 / Seite 69 / Teil 01 NZZ AG Die Arithmetik des Grauens Der Schwede Steve Sem-Sandberg literarisiert die Ghetto-Chronik von Lodz Die Darstellung von Unmenschlichkeit ist eine der Kernaufgaben von Literatur. Steve Sem-Sandberg hat sich am Holo- caust-Drama des Ghettos von Lodz ver- sucht – mit zwiespältigem Resultat. Ulrich M. Schmid Das Ghetto von Lodz war mit 164 000 Gefangenen nach dem Warschauer Ghetto das zweitgrösste im Nazi-besetzten Polen. Kulturhistorische Bedeu- tung hat es durch eine detaillierte Chronik erlangt, die in den Jahren 1941 bis 1944 von der jüdischen Verwaltung in deutscher und polnischer Sprache geführt wurde. Seit 2007 liegt dieses beeindru- ckende Dokument vollständig in fünf Bänden vor. Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sand- berg hat es unternommen, aus diesem umfang- reichen Material einen Roman zu verfassen. Damit stellt er sich einem grundsätzlichen Problem: Darf der Holocaust als historisches Ereignis überhaupt fiktionalisiert werden? Ist eine andere literarische Gestaltung als das Ablegen eines Zeugnisses über- haupt möglich? Wie sensibel die Öffentlichkeit auf willkürliche Literarisierungen des Holocaust re- agiert, zeigte sich im Jahr 1995 in der Affäre Wilko- mirski: Der Schweizer Schriftsteller Bruno Gros- jean hatte sich in die Identität eines KZ-Insassen hineinphantasiert und den Holocaust als Metapher für seine eigene traumatische Kindheit in einem Schweizer Waisenhaus eingesetzt. Rumkowskis Strategie Sem-Sandberg ist weit von einer solchen Verein- nahmung des Holocaust entfernt. Er verfolgt ein anderes literarisches Erkenntnisinteresse. Er stellt vor allem die Frage nach der Selbstkorrumpierung der jüdischen Ghetto-Leitung. Im Zentrum seines Romans steht der Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski, der alle Befehle der Nazis umzuset- zen hatte. Rumkowski war eine äusserst schillernde Gestalt: Während das Ghetto hungerte, führte er seinen grossbürgerlichen Lebensstil aus der Zwi- schenkriegszeit weiter. Dabei war er mit Kinder- losigkeit geschlagen: Er suchte sich zuerst eine junge Frau, die jedoch nicht schwanger wurde, und adoptierte später während einer Selektion im Ghetto einen Knaben. Rumkowskis Strategie bestand darin, das Ghet- to in Lodz zu einer Arbeiterstadt zu machen – er hoffte, das Überleben der Juden durch ihre kriegs- entscheidende Arbeitsleistung zu sichern. Eine der grossen Qualitäten des Romans liegt im literari- schen Nachweis, wie diese ursprünglich durchaus verständliche Strategie sich allmählich selbst per- vertiert. Die Forderungen der Nazis an das Ghetto werden immer unverschämter, und Rumkowski versucht die Juden von Lodz mit einer verqueren Rhetorik zu überzeugen, sich den Befehlen zu beu- gen. Einen Tiefpunkt von Rumkowskis paternalis- tischer Haltung markiert seine Rede vom 4. Sep- tember 1942, in der er die Ghetto-Insassen aufruft, die eigenen Kinder zur Deportationsrampe zu bringen. Rumkowski ist in Sem-Sandbergs Darstel- lung aber nicht einfach ein Schurke, sondern das Opfer seines eigenen Tuns: Er ist überzeugt, dass nur absolute Servilität die Juden von Lodz retten kann. Er ordnet alles andere diesem einen Ziel unter und merkt nicht, dass er sich als Organisator der Rettung letztlich selber zum Ausführungsgehil- fen des Holocaust macht. Dasselbe gilt auch für die endgültige Liquida- tion des Ghettos, die im August 1944 stattfand. In der Hoffnung, ihre eigene Haut retten zu können, durchkämmten jüdische Hilfspolizisten das Ghetto und lieferten ihre Leidensgenossen an die Nazis aus. In ihrer verzweifelten Lage wollten sie um jeden Preis daran glauben, dass sie für ihre Mithilfe belohnt würden – obwohl ihnen eigentlich klar sein musste, dass sie einfach als Letzte die Deporta- tionszüge würden besteigen müssen. Als Roman zu wenig radikal Es gibt zwei Gefahren, denen Sem-Sandberg in sei- nem literarischen Holocaust-Projekt erfolgreich ausweicht: Er gleitet weder in eine Abenteuer- geschichte noch in ein Melodram ab. Das promi- nenteste Beispiel für den ersten Sündenfall ist Leon Uris’ monumentale Heldenerzählung des Warschauer Ghettoaufstandes «Mila 18», der zwei- te Sündenfall wurde von Steven Spielberg mit «Schindlers Liste» ins Werk gesetzt. Trotzdem ver- mag auch Sem-Sandbergs Roman nicht endgültig zu überzeugen. Wahrscheinlich liegt das ästheti- sche Unbehagen bei der Lektüre dieses Buchs dar- an, dass sich Sem-Sandberg zu wenig radikal für die Romandarstellung entschieden hat. Er hält sich sehr eng an die chronologische Ordnung der Ghetto-Chronik und schaltet bisweilen auch Origi- naldokumente in seine Erzählung ein. Zwar konzentriert sich auch Steve Sem-Sand- berg auf die tragischen Schicksale einiger Protago- nisten – gleichzeitig folgt er aber auch dem domi- nanten Stilprinzip der Ghetto-Chronik und listet das Elend der Juden in der Form von Katalogen auf. Auch die Chronologie ist möglicherweise nicht das beste Gestaltungsprinzip für sein literarisches Projekt: Sem-Sandberg arbeitet sich Monat für Monat auf der Zeitachse voran und springt zwi- schen den einzelnen Schicksalen hin und her. Durch diese poetische Unentschiedenheit verlie- ren aber die Einzelschicksale ihre tragische Würde und werden letztlich zu Anschauungsbeispielen des allgemeinen Horrors degradiert. Genau da- durch büsst aber der Roman an Gewicht ein: Der Eindruck des Tragischen droht in der schieren Masse des Mordens unterzugehen. Trotz dieser grundsätzlichen Problematik bie- tet der Roman eine erschütternde Lektüre. Er er- innert an eine finstere Zeit, in der auch das Han- deln der Opfer in kaum lösbare moralische Dilem- mata führte. In Sem-Sandbergs Darstellung wird

Die Arithmetik des Grauens · 2016. 2. 27. · Literatur und Kunst 28.01.12 / Nr .23 / Seite 69 / T eil 01! NZZ A G Die Arithmetik des Grauens Der Schwede Steve Sem-Sandber g literarisiert

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Literatur und Kunst 28.01.12 / Nr. 23 / Seite 69 / Teil 01

! NZZ AG

Die Arithmetik des GrauensDer Schwede Steve Sem-Sandberg literarisiert die Ghetto-Chronik von

Lodz

Die Darstellung von Unmenschlichkeit isteine der Kernaufgaben von Literatur.Steve Sem-Sandberg hat sich am Holo-caust-Drama des Ghettos von Lodz ver-sucht – mit zwiespältigem Resultat.

Ulrich M. Schmid

Das Ghetto von Lodz war mit 164 000 Gefangenennach dem Warschauer Ghetto das zweitgrösste imNazi-besetzten Polen. Kulturhistorische Bedeu-tung hat es durch eine detaillierte Chronik erlangt,die in den Jahren 1941 bis 1944 von der jüdischenVerwaltung in deutscher und polnischer Sprachegeführt wurde. Seit 2007 liegt dieses beeindru-ckende Dokument vollständig in fünf Bänden vor.

Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sand-berg hat es unternommen, aus diesem umfang-reichen Material einen Roman zu verfassen. Damitstellt er sich einem grundsätzlichen Problem: Darfder Holocaust als historisches Ereignis überhauptfiktionalisiert werden? Ist eine andere literarischeGestaltung als das Ablegen eines Zeugnisses über-haupt möglich? Wie sensibel die Öffentlichkeit aufwillkürliche Literarisierungen des Holocaust re-agiert, zeigte sich im Jahr 1995 in der Affäre Wilko-mirski: Der Schweizer Schriftsteller Bruno Gros-jean hatte sich in die Identität eines KZ-Insassenhineinphantasiert und den Holocaust als Metapherfür seine eigene traumatische Kindheit in einemSchweizer Waisenhaus eingesetzt.

Rumkowskis StrategieSem-Sandberg ist weit von einer solchen Verein-nahmung des Holocaust entfernt. Er verfolgt einanderes literarisches Erkenntnisinteresse. Er stelltvor allem die Frage nach der Selbstkorrumpierungder jüdischen Ghetto-Leitung. Im Zentrum seinesRomans steht der Judenälteste Mordechai ChaimRumkowski, der alle Befehle der Nazis umzuset-zen hatte. Rumkowski war eine äusserst schillerndeGestalt: Während das Ghetto hungerte, führte erseinen grossbürgerlichen Lebensstil aus der Zwi-schenkriegszeit weiter. Dabei war er mit Kinder-losigkeit geschlagen: Er suchte sich zuerst einejunge Frau, die jedoch nicht schwanger wurde, undadoptierte später während einer Selektion imGhetto einen Knaben.

Rumkowskis Strategie bestand darin, das Ghet-to in Lodz zu einer Arbeiterstadt zu machen – erhoffte, das Überleben der Juden durch ihre kriegs-entscheidende Arbeitsleistung zu sichern. Eine dergrossen Qualitäten des Romans liegt im literari-schen Nachweis, wie diese ursprünglich durchausverständliche Strategie sich allmählich selbst per-vertiert. Die Forderungen der Nazis an das Ghettowerden immer unverschämter, und Rumkowskiversucht die Juden von Lodz mit einer verquerenRhetorik zu überzeugen, sich den Befehlen zu beu-gen. Einen Tiefpunkt von Rumkowskis paternalis-

tischer Haltung markiert seine Rede vom 4. Sep-tember 1942, in der er die Ghetto-Insassen aufruft,die eigenen Kinder zur Deportationsrampe zubringen. Rumkowski ist in Sem-Sandbergs Darstel-lung aber nicht einfach ein Schurke, sondern dasOpfer seines eigenen Tuns: Er ist überzeugt, dassnur absolute Servilität die Juden von Lodz rettenkann. Er ordnet alles andere diesem einen Zielunter und merkt nicht, dass er sich als Organisatorder Rettung letztlich selber zum Ausführungsgehil-fen des Holocaust macht.

Dasselbe gilt auch für die endgültige Liquida-tion des Ghettos, die im August 1944 stattfand. Inder Hoffnung, ihre eigene Haut retten zu können,durchkämmten jüdische Hilfspolizisten das Ghettound lieferten ihre Leidensgenossen an die Nazisaus. In ihrer verzweifelten Lage wollten sie umjeden Preis daran glauben, dass sie für ihre Mithilfebelohnt würden – obwohl ihnen eigentlich klar seinmusste, dass sie einfach als Letzte die Deporta-tionszüge würden besteigen müssen.

Als Roman zu wenig radikalEs gibt zwei Gefahren, denen Sem-Sandberg in sei-nem literarischen Holocaust-Projekt erfolgreichausweicht: Er gleitet weder in eine Abenteuer-geschichte noch in ein Melodram ab. Das promi-nenteste Beispiel für den ersten Sündenfall istLeon Uris’ monumentale Heldenerzählung desWarschauer Ghettoaufstandes «Mila 18», der zwei-te Sündenfall wurde von Steven Spielberg mit«Schindlers Liste» ins Werk gesetzt. Trotzdem ver-mag auch Sem-Sandbergs Roman nicht endgültigzu überzeugen. Wahrscheinlich liegt das ästheti-sche Unbehagen bei der Lektüre dieses Buchs dar-an, dass sich Sem-Sandberg zu wenig radikal für dieRomandarstellung entschieden hat. Er hält sichsehr eng an die chronologische Ordnung derGhetto-Chronik und schaltet bisweilen auch Origi-naldokumente in seine Erzählung ein.

Zwar konzentriert sich auch Steve Sem-Sand-berg auf die tragischen Schicksale einiger Protago-nisten – gleichzeitig folgt er aber auch dem domi-nanten Stilprinzip der Ghetto-Chronik und listetdas Elend der Juden in der Form von Katalogenauf. Auch die Chronologie ist möglicherweise nichtdas beste Gestaltungsprinzip für sein literarischesProjekt: Sem-Sandberg arbeitet sich Monat fürMonat auf der Zeitachse voran und springt zwi-schen den einzelnen Schicksalen hin und her.Durch diese poetische Unentschiedenheit verlie-ren aber die Einzelschicksale ihre tragische Würdeund werden letztlich zu Anschauungsbeispielendes allgemeinen Horrors degradiert. Genau da-durch büsst aber der Roman an Gewicht ein: DerEindruck des Tragischen droht in der schierenMasse des Mordens unterzugehen.

Trotz dieser grundsätzlichen Problematik bie-tet der Roman eine erschütternde Lektüre. Er er-innert an eine finstere Zeit, in der auch das Han-deln der Opfer in kaum lösbare moralische Dilem-mata führte. In Sem-Sandbergs Darstellung wird

Page 2: Die Arithmetik des Grauens · 2016. 2. 27. · Literatur und Kunst 28.01.12 / Nr .23 / Seite 69 / T eil 01! NZZ A G Die Arithmetik des Grauens Der Schwede Steve Sem-Sandber g literarisiert

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das Ghetto von Lodz erkennbar als Signatur einerexistenziellen Enge, die durch Deportationen undTeilliquidationen noch weiter zugeschnürt wird. Inder Gestaltung dieser tragischen Situation liegenauch die literarischen Chancen dieses Roman-themas, die Sem-Sandberg allerdings nicht mit dererforderlichen Radikalität genutzt hat.

Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lodz. Roman.Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta,Stuttgart 2011. 652 S., Fr. 38.70.