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WDDAVIES DIEBE G PREDIGT Exegetische Untersuchung ihrer jüdischen und frühch ristlichen Elemente Claudius

Die Bergpredigt Exegetische Untersuchung Ihrer Judischen Und Fruhchristlichen Elemente

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Page 1: Die Bergpredigt Exegetische Untersuchung Ihrer Judischen Und Fruhchristlichen Elemente

WDDAVIES DIEBE G PREDIGT

Exegetische Untersuchung ihrer

jüdischen und frühch ristlichen

Elemente

Claudius

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· . . das maßgebende Werk über die Bergpredigt in unserer Generation . . . - hat man das 1964 erschienene Werk "The Setting of th.e Sermon on the Mount" (Cambridge University Press) von W. D. Davies, damals Professor für Neues Testament am Union Theological Seminary in New York, genannt. Reinhold und Ursula Niebuhr würdigten es in einem Artikel der "New York Times", die ange­sehene Literaturbeilage der "Times" , "Times Literary Supplement" widmete ihm eine umfangreiche Besprechung, als einem Werk von "immenser Gelehrsamkeit", evangelische und katholische Wis­senschaftler in vielen Ländern rühmten es gleicherweise als eine wissenschaftliche Arbeit von größter Bedeutung tür jeden Exegeten des Matthäus-Evangeliums, darüber hinaus aber von höchstem Wert tür jeden an der Exegese des Neuen Testamentes interessier­ten Leser, - als "ein überaus kostbares und unentbehrliches Werkzeug". . 1966 ließ Professor Davies seinem Monumentalwerk ein schmales Bändchen folgen, unter dem Titel "The Sermon on the Mount", das, aus Gastvorlesungen des Verfassers an verschiedenen Uni­versitäten hervorgegangen, eine auf das Wesentlichste beschränkte Zusammenfassung von "The Setting of the Sermon on the Mount" darstellt. Dieses Werk legt der Claudius Verlag nun in deutscher Sprache vor. Die deutsche Ausgabe unterscheidet sich von der englischen Paper­back-Ausgabe jedoch dadurch, daß ihr ein umfassender Anhang beigegeben ist, der, von Professor Davies autorisiert, von Professor X. Leon-Dufour für die französische Ausgabe des Werkes "Pour comprendre le Sermon sur la Montagne" (Editions du Seuil, Paris 1970) erstellt wurde. Der Anhang enthält die wichtigsten Anmer­kungen aus dem englischen Hauptwerk zu den wes~ntlichsten Punkten von Davies' exegetischer Beweisführung, sowie ein kleines Lexikon rabbinischer und anderer Begriffe, ein ausführliches Abkürzungsverzeichnis und ein Sachregister. Damit genügt die deutsche Ausgabe allen wissenschaftlichen An­forderungen, die an ein Werk von derartigem Rang gestellt werden müssen. Der deutsche wissenschaftlich arbeitende und interessierte Theologe aber hat nun die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zu einem der bedeutendsten exegetischen Werke unserer Zeit.

William David Davies, 1911 in Wales geboren, studier bridge und war nach dem Abschluß seiner Studien ein Geistlicher der Kongregationalistenkirche in Eng land täti r

wirkte er als Professor für Neues Testament an ver Universitäten in den Vereinigten Staaten, so an der Duk in Durharn, North Carolina, wo er heute wieder lehrt, versität von Princeton und am Union Theological Semi York. Seine Veröffentlichungen beschäftigen sich vor a Erforschung der Beziehungen zwischen dem frühen und dem Spät judentum.

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William David Davies v'

Die Bergpredigt

Exegetische Untersuchung

ihrer jüdischen und frühchristlichen Elemente

Mit einem Geleitwort von

Prof. Dr. Ulrich Wilckens

Claudius Verlag München

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Diese Ausgabe enthält auf Wunsch des Autors und mit Genehmigung des Originalverlages Anmerkungen und Än­derungen, sowie ein Kleines Lexikon rabbinischer und an­derer Begriffe, zusammengestellt von P. Leon-Dufour, dem Herausgeber der französischen Ausgabe dieses Buches, die unter dem Titel "Pour comprendre le Sermon sur la Mon-

tagne" bei Editions du Seuil, Paris, erschienen ist.

Die Bibelzitate sind, wenn nicht anders vermerkt, der revi­dierten Lutherübersetzung von 1956/64 entnommen. D. ü.

Das Buch gibt Vorlesungen wieder, die im Rahmen der Sir D. Owen Evan's Lectures an dem University College of Wales, Aberystwyth 1957 und der Reinicker Lectures am Episcopal Theological Seminary, Alexandria, Virginia, USA

1964 gehalten worden sind.

Aus dem Englischen von Gertraud und Günter Reim (D. Phil., Oxon.)

Titel der englischen Originalausgabe: W. D. Davies, M. A., D. D.: "The Sermon on the Mount"

© 1966 Cambridge University Press, London Library of Congress Catalogue Card Number: 66-17057

1. Auflage 1970 Einbandentwurf: Werner Richter

Alle Rechte der deutschen Ausgabe, auch die des auszugsweisen Nach­drucks und der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Druck: Claudius Verlag GmbH München

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Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zur deutschen Ausgabe von Professor Dr. Ulrich Wilckens 7

Vorwort...................................... 11

J. Die Bergpredigt im Kontext des Matthäusevangeliums .......... 13 A. Die Pentateuchtheorie .................... 18 B. Der neue Mose .......................... 22 C. Der neue Exodus ........................ 30 D. Die überbietung der mosaischen Kategorien 39

11. Die Bergpredigt im Kontext der jüdischen Messiaserwartung .... 45 A. Das Alte Testament ...................... 48

1. Der neue Bund und die Tora . . . . . . . . . . . . .. 48 2. Der Knecht Gottes und sein Gesetz ........ 49 3. Zion und die Tora ...................... 51

B. Apokryphen und Pseudepigraphen .......... 51 1. Abschnitte, die die Ausgießung der Weisheit

mit der idealen Zukunft oder dem messiani­schen Zeitalter in Verbindung bringen .... 51

2. Von bestimmten Personen wird erwartet, daß sie das Gesetz in der Zukunft auslegen werden 54

C. Die Rollen vom Toten Meer und die Damaskusschrift .................. 56

D. Die rabbinischen Quellen .................. 60 1. Die Rolle Elias in der Endzeit ............ 63 2. Abänderungen,

die an der Tora vorgenommen werden sollen 64 3. Die Tora soll vollkommen verstanden werden 69 4. Die Vorstellung von einer neuen Tora .... 71 5. Ein Zeitalter ohne Tora ................ 73

Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 77

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IH. Die Bergpredigt im Kontext des zeitgenössischen Judentums 79 A. Die Gnosis .............................. 80 B. Die Sekte vom Toten Meer. . . . .. . . . . . . . ... 91 C. J amnia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 98

IV. Die Bergpredigt im Kontext der frühen Kirche ................ 107 A. Matthäus und Paulus ...................... 108

1. Anti-Paulinismus? ...................... 108 2. Paulus und die Tradition ................ 111

B. Die Quelle Q: Radikalismus ................ 117 C. Die Quelle M: Regeln .................... 123 D. Das vierte Evangelium:

Das eine Prinzip: Liebe 132

V. Die Bergpredigt im Kontext des Wirkens Jesu ................ 143 A. Die Weitergabe der Worte J esu ............ 143 B. Der Lehrer .............................. 146 C. Der eschatologische Prediger ................ 148 D. Der Rabbi .............................. 151 E. Die Forderung Jesu und ihr Sitz im Leben .... 155

VI. Schluß .................................... 169

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175

Kleines Lexikon rabbinischer und anderer Begriffe .. 185

Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 193

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 198

Verzeichnis der Abkürzungen .................... 199

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Geleitwort zur deutschen Ausgabe

Daß Bücher wie dieses durch eine deutschsprachige Aus­gabe einem breiteren, theologisch interessierten Leserkreis zugänglich werden, ist sehr zu begrüßen. Trägt es doch dazu bei, den schlimmen Provinzialismus, der trotz öku­menischem Zeitalter, trotz regem Schüler- und Studenten­austausch, aufs ganze gesehen, immer noch das theologische Klima hierzulande bestimmt, wenigstens an einer Stelle zu durchstoßen. Von dem engsten Kreis der Fachgelehrten ab­gesehen, kennt auch heute noch der Normaltheologe fast durchweg nur "deutsches Schrifttum", der Problemhorizont seines Fragens und Denkens ist im allgemeinen durch das festgelegt, was man in Deutschland fragt, denkt und arbei­tet. Das macht deutsche Theologen bei internationalen Be­gegnungen häufig so unbeweglich und gibt ihnen den Anschein von Blasiertheit, der doch nur in mangelnder Reichweite, in Abkapselung auf den Bereich des Eigenen begründet ist. Umgekehrt wissen etwa amerikanische Theo­logen oft viel weitreichender und präziser über wichtige Vorgänge in der deutschen Theologie Bescheid als die unsrigen über die "drüben". Die Zahl englischsprachiger Ausgaben deutscher Bücher überwiegt die deutscher Über­setzungen englischsprachiger Bücher bei weitem. William David Davies gehört zu den Neutestamentlern, die international einen großen Namen haben, bei uns in Deutsch­land aber leider kaum einem Studenten oder Pfarrer be­kannt geworden sind. Er ist zunächst bekannt geworden durch eine Untersuchung über jüdische Vorstellungen und Überlegungen im Blick auf eine veränderte Bedeutung und Funktion des Mosegesetzes in der messianischen Endzeit (Torah in the Messianic Age andlor the Age to Come, 1952). Die Frage zielt auf das Problem, ob sich vielleicht die ver­schiedenen Stellungnahmen im Urchristentum zum jüdi­schen Gesetz von diesem jüdischen Hintergrund aus besser

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und konkreter verstehen lassen. Aus diesen und ähnlichen Vorarbeiten erwuchs die große Monographie über die rab­binische Denk- und Sprachheimat der paulinischen Theo­logie (Paul and Rabbinic J udaism 1954, 1955) sowie das materialreiche, großartige Werk über den theologischen Denkzusammenhang, in dem die Bergpredigt Mt 5-7 an ihrem geschichtlichen Ort zu sehen ist (The Setting of the Sermon on the Mount, 1964). Das hier vorliegende Buch ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse jenes Werkes, die der Autor für einen Zyklus von Gastvorlesun­gen ausgearbeitet hat. Der Verfasser beschränkt sich keineswegs, wie der Titel zunächst vermuten lassen könnte, auf die Bergpredigt; er sucht vielmehr den Ort zu umschreiben, der dieser Lehrrede J esu zunächst im Rahmen der Konzeption des Matthäus­evangeliums, dann aber darüber hinaus im Rahmen zeit­genössischer jüdischer messianischer Gesetzeslehre, und schließlich im Rahmen der verschiedenen Positionen der urchristlichen Umgebung zukommt (Paulus, Redenquelle Q und ihre spätere katechetische Erweiterung in der Quelle M, Johannesevangelium). Alle diese Ortsbestimmungen laufen jedoch auf die entscheidende Frage hinaus, in wel­chem Verhältnis die matthäische Bergpredigt zur Verkündi­gung und Lehre des historischen Jesus steht. Der Horizont des Buches ist also sehr weit; gleichwohl gilt das theolo­gische Interesse durchaus gezielt der Bergpredigt selbst: Der Verfasser möchte nämlich im gegenwärtigen Konzert der Theologie der Ethik J esu die ihr gebührende zentrale Stel­lung verschaffen, die ihr seiner Meinung nach gegenwärtig weithin nicht eingeräumt wird. über einer einseitigen Herr­schaft der paulinischen Rechtfertigungslehre "ohne des Ge­setzes Werke" werde allzu leicht vergessen, daß schon Pau­lus selbst, besonders intensiv aber der Matthäusevangelist das Gesetz als das Zeugnis des Willens Gottes christlich bewahren, es nicht außer Kraft setzen, sondern es vollenden wollte; vor allem aber sei J esu Verkündigung nicht richtig verstanden, wenn sie nicht als messianische Auslegung des Gesetzes aufgrund intuitiven Erfassens des vollkommenen Gotteswillens interpretiert und zur Geltung gebracht werde.

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Der deutsche Leser wird auf fast jeder Seite ungewohnten Thesen, Fragestellungen, Aspekten, Methoden begegnen. Er wird sich ärgern, widersprechen, er wird sich aber auch zur Kritik eigener, eingefahrener Wege und Ansichten an­regen lassen. Er wird einen Partner finden, der zur Aus­einandersetzung lockt.

Ulrich Wilckens

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Vorwort

Eine Einladung, die Reinicker-Vorlesungen am Protestant Episcopal Theological Seminary in Alexandria, Virginia, zu halten, gab mir die Möglichkeit, die Hauptargumente meiner Arbeit "The Setting of the Sermon on the Mount" (Cambridge 1964) in zugänglicherer und kürzerer Form darzulegen. Ich denke mit wirklichem Vergnügen und mit Dankbarkeit an die gute Aufnahme, die die Vorlesungen gefunden haben und an das Entgegenkommen von Fakultät und Studenten gleicherweise während meines Besuches. Der jetzige Titel dient nur dazu, diesen Band von dem voraus­gehenden umfangreicheren zu unterscheiden. Teile der Vorlesungen sind auch an der Theological School, Johnson C. Smith University, Charlotte, North Carolina, gehalten worden, wo mir wiederum Fakultät und Studenten mit größter Zuvorkommenheit begegneten und mir sehr aufmerksames und verständnisvolles Gehör zuteil wurde. Ich möchte meinem Tutor Assistenten am Union Seminary, E. Parish Sanders, jetzt Assistant Professor of Religion an der McMaster University in Hamilton, Ontario, für seine bereitwillige Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskriptes für die Drucklegung, für die Zusammenstellung des Re­gisters und für manch andere Freundlichkeit danken. Hinzuzufügen bleibt nur noch, daß diesem Band ein Preis der "Christian Research Foundation" für das Jahr 1964/65 zuerkannt wurde. Ich möchte dieser Stiftung für diese Ehrung meinen Dank aussprechen.

3. Februar 1966 W.D.D.

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I. Die Bergpredigt im Kontext des Matthäusevangeliums

Der Teil des Neuen Testamentes, mit dem wir uns in die­sem Buch befassen, ist Mt 5 -7, gewöhnlich als Bergpredigt (= Bp) bezeichnet. Die Bergpredigt ist sehr unterschiedlich bewertet worden. Einige haben in ihr ein unheilvolles Do­kument gesehen, das unabsehbaren Schaden angerichtet hat, weil es eine ganz unmögliche Ethik vorlegte. Andere haben in ihr die schönste Darlegung der höchsten Moral, die die Menschheit kennt, gefunden. So verschieden diese Urteile sind, so haben sie doch eine gemeinsame Voraussetzung, daß nämlich Mt 5 -7 als ein Ganzes betrachtet werden könne, das sein eigenes Geheimnis zu offenbaren hat; dieses Ge­heimnis als solches aber ist die ethische Lehre des J esus von N azareth. Aber gerade diese Annahme ist durch moderne kritische Studien sehr erschwert worden. Die Ansichten, die von Gelehrten unserer Tage über Inhalt und Struktur von Mt 5-7 vertreten werden, scheinen zu dem Schluß zu zwingen, daß der ganze Abschnitt nur eine Sammlung von unzusammenhängenden Aussprüchen verschiedenen U r­sprungs sei, ein Flickwerk, das unmöglich die hervorragende Bedeutung beibehalten kann, die ihm einst - als der maß­geblichen Quelle für die Lehre J esu - zuerkannt wor­den war. Drei Disziplinen sind für diese kritische Haltung der Bp gegenüber hauptsächlich verantwortlich. Erstens macht sich der Einfluß der Quellenkritik bemerk­bar. Protestantische Gelehrte haben im allgemeinen die Ansicht vertreten, daß hinter der Bp, wie auch hinter dem übrigen Mt, drei Hauptquellen stehen, aus denen Mt sein Material bezogen hat. Diese Quellen sind Markus (Mk), wahrscheinlich in Rom nach 65 n. Chr. geschrieben, eine weitere schriftliche oder mündliche Sammlung der Aus­sprüche Jesu, gewöhnlich um 50 n. Chr. datiert und als Q*

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bezeichnet und drittens eine Quelle namens M*, die wahr­scheinlich aus der J erusalemer Kirche stammt. Material aus allen drei Quellen, Mk, Q und M, ist in der Bp wie auch sonst im Mt kombiniert worden. Man muß jedoch noch mit mehr als der Vielfalt der Quel­len rechnen. Es gibt auch verschiedene Ansichten über die Priorität, die Mt ihnen eingeräumt hat. Während die mei­sten die Ansicht vertreten haben, daß er Material von M in einen Rahmen, den Q abgegeben hat, einfügte, haben andere vorgebracht, daß von ihm Material aus Q in einen Rahmen, den M stellte, eingefügt worden ist. Auf jeden Fall wird der ,Flickwerk-Charakter' der sogenannten ,Pre­digt' deutlich genug sichtbar. Die Frage ist unumgänglich, ob wir Mt 5-7 überhaupt als eine Einheit betrachten kön­nen, wenn die Kapitel so offensichtlich ein Agglomerat von Quellen sind. Am wenigsten können sie für eine ,Predigt' gehalten werden. Es ist höchstens möglich, sie als eine Sammlung von Aussprüchen anzusehen, die aus Reden herausgenommen wurden, die zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen gehalten wurden. Daß diese Reden unbedingt auf J esus selbst zurückgehen, das ist von der nächsten Disziplin, die wir zur Kenntnis zu neh­men haben, infrage gestellt worden. Zweitens also, abgesehen von der ,Pest' Quellenkritik, gibt es etwas, was man als ,Alptraum Formkritik' bezeich­net hat. Ehe die Überlieferung dessen, was J esus tat und sagte, schriftlich niedergelegt wurde, war sie mindestens zwei Jahrzehnte lang in mündlicher Form im Umlauf. Und, wie der Name sagt, hat sich die Formkritik damit befaßt, die Formen zu prüfen, die die J esus-Überlieferung in der Zeit annahm, ehe sie aufgeschrieben wurde. Diese Formen haben zwar sehr verschiedene Einordnungen erfahren, eine allgemeine Überzeugung erscheint jedoch in den meisten Arbeiten der Formkritik. Diese Überzeugung gründet auf der Annahme, daß die Tradition über J esus von der christ­lichen Gemeinde bewahrt, geformt und deshalb dem­entsprechend beeinflußt wurde. Was die Kirche für Predigt, Lehre, Apologetik, Propaganda, katechetische Unterwei­sung, bei Taufen und bei anderen Gelegenheiten brauchte,

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aIl das bestimmte, was an Inhalt und Form überliefert wurde. Einige Formkritiker schreiben nicht nur die Bewahrung der Tradition, sondern sogar ihre Entstehung in großem Maße der Kirche zu. Wie dem auch sei, nur durch die Augen der frühen Christen können wir J esus von N azareth sehen und nur durch ihre Ohren können wir ihn hören. Wie die Form­kritik, als sie die Frage nach dem historischen J esus stellte, oft einen tiefwurzelnden Skeptizismus weckte - hinsichtlich der Möglichkeit, herauszufinden, was tatsächlich im Leben J esu geschah, so hat sie auch Bemühungen, den genauen Inhalt der Lehre J esu festzustellen, beeinflußt - um nicht zu sagen: beeinträchtigt. Bultmann1 z. B., einer der führenden Prak­tiker der Formkritik, sieht sich gezwungen, die Bp auf eine Vielzahl von Perikopen oder Traditionsstücken, die eine be­stimmte Form angenommen haben und deren Inhalt nicht auf J esus selbst, sondern auf die frühe Kirche zurückgeführt werden muß, zu reduzieren. So haben die Formkritik wie die Quellenkritik Versuche erschwert, Mt 5 -7 als Einheit zu ver­stehen, weil sie die Bp in kleine Abschnitte zerlegten, deren Echtheit sehr verschieden eingeschätzt wird. Drittens steht die Arbeit jener Forscher in naher Beziehung zur Formkritik, die liturgische Faktoren bei der Bildung der Tradition des Evangeliums betonen2• Nach ihnen wurde die Tradition um Jesus geformt durch die Notwendigkeit, die Kirche mit Material für Schriftlesungen zu versorgen, d. i. Material, das in den Gottesdiensten der Kirche für öffent­liche Schriftlesungen verwendet werden konnte. Werk und Worte Jesu wurden so in eine kalendarische Form gezwun­gen, damit sie den Anforderungen eines jeden Sonntags im Jahr gerecht wurden, und die Bp wurde wahrscheinlich als Lesung für eine bestinlmte Zeit im Kirchenjahr zusammen­gestellt. Daraus folgt nicht nur ganz klar, daß es unklug wäre, der Reihenfolge, nach der das Leben Jesu in den Evangelien abläuft, unangemessene Geschichtlichkeit anzudichten, son­dern auch, besonders für unseren Zweck, daß das Material der Bp beachtliche Anpassungen durchmachen mußte. Es wurde für den Gebrauch öffentlicher Lesungen in den Gottesdiensten der Kirche zurechtgeschnitten.

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Wir haben die drei Hauptdisziplinen, Quellen-, Form- und liturgische Kritik, die die Auslegung von Mt 5-7 als einer Einheit sehr erschweren, bereits angegeben. Aufgrund ihrer Wirkung wird es zweifelhaft, ob es richtig ist, die Kapitel der Bp als miteinander in Beziehung stehende Einheit, die von der wirklichen Lehre J esu abgeleitet wurde, zu ver­stehen. Andererseits kann diese Wirkung auch nicht igno­riert werden. Mt 5-7 ist aus Material, das von verschie­denen Quellen stammt, zusammengestellt worden. Es ist verhältnismäßig leicht zu trennen und man kann das in jedem Handbuch über die Evangelien zusammengestellt finden. Die Bedürfnisse der Kirche haben weitgehend die Form und möglicherweise Teile des Inhalts dieses Materials diktiert, wenn nicht sogar geschaffen. Liturgische Elemente sind zweifellos in den Abschnitt mit hineingekommen. Um eine einzige Illustration zu bringen, wollen wir die Form des "Vater Unser" vergleichen, wie es bei Mt steht und wie bei Lukas. Sie lautet folgendermaßen:

Mt 6,9-13 Unser Vater

in dem Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe auf Erden 'Wie im Himmel. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Lk 11,2-4

Vater,

dein Name werde geheiligt, dein Reich komme,

unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Sünden, wie wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung.

Deshalb ist es irrig, Mt 5-7 als literarische Einheit zu be­trachten. Es ist die Schwäche zweier kürzlich erschienener Arbeiten über die Bp, daß sie das tun. Morton Smith3 von der Columbia Universität argumentierte, daß der Abschnitt nach rabbinischen oder Synagogenpredigten geformt wor­den sei und Austin Farrer4 von der Universität Oxford ent­deckte in Mt 5 -7 ein kompliziertes literarisches Muster.

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Vom rein literarischen Standpunkt aus ist die Bp jedoch nicht interessant und bei beiden Gelehrten ist die Beweis­führung zu gezwungen, als daß sie überzeugend wäre. Es ist möglich, mit Morton Smith den Gedanken der Ein­heit der Bp zu weit zu führen und von der Bp eine logische Predigtsequenz zu verlangen, die sie gar nicht bieten will und es ist möglich, mit Austin Farrer zu weit zu gehen und in ihr literarische Feinheiten zu entdecken. Trotzdem - und das soll betont werden - haben beide Gelehrte, Morton Smith und Austin Farrer uns dazu verholfen, wieder etwas zu betonen, was die vorausgehende Kritik gerne übersehen hat. Mit Nachdruck soll darauf hingewiesen werden, daß Mt und die übrigen Verfasser der Evangelien nicht als Herausgeber zu betrachten sind, die ihre Quellen mit Schere und Kleister bearbeiteten, um sozusagen ein Mosaik aus Schnipseln herzustellen, sondern im vollen Sinn als Autoren. Sie waren von einer Tradition abhängig, aber sie haben sie nicht passiv übermittelt. Durch die Art, wie sie die Tradition bewahrten, wie sie sie änderten und vor allem, wie sie sie anordneten, haben sie sie geprägt. Das trifft besonders für Mt zu. Er (und bei Mt beziehe ich mich sowohl auf ein Mt-Schule, falls eine solche bestand als auch auf eine Einzelperson, die für das Evangelium weitgehend verantwortlich gewesen sein mag) war kein phantasieloser ZusammensteIler oder ein sklavischer Herausgeber. Er hat die Tradition gestaltet mit der Absicht, sie so darzubieten, daß sie den Bedürfnissen der Kirche, so wie er diese sah, gerecht wurde. Im Hinblick darauf müssen wir darauf be­stehen, daß Mt, der endgültige Autor des Evangeliums (man beachte, daß wir Autor schreiben, nicht Herausgeber), Mt 5-7 selbst als Einheit ansah. Die abschließende Formel in Kapitel 7,28-29 macht das klar. Der Abschnitt endet mit den Worten: ,Und es begab sich, da J esus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über seine Lehre, denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten.' Mt 5 -7 ist keine Predigt. Mt hat seine Quellen jedoch für seine eigenen Zwecke benützt, so daß er in 5-7 eine wesensmäßige Einheit sieht. Unsere erste Aufgabe bei der Untersuchung des Abschnittes ist es des-

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halb, zu fragen, welche Bedeutung er für Mt selbst hatte: Wie wollte er ihn verstanden wissen? Wie können wir das herausfinden? Es gibt bestimmte Do­kumente, die so leicht verbunden geformt sind, daß es mög­lich ist, ihre Einzelteile, herausgelöst aus dem Ganzen, angemessen betrachten zu können. So können vielleicht bestimmte Teile des Mk behandelt werden. Es gibt aber auch andere Dokumente, die so fest zusammenhängend gestaltet sind, daß ihre Teile nur im Blick auf das Ganze richtig verstanden werden können. Das trifft für das Vierte Evangelium zu und auch für Mt. Das Mtev zeigt eine pein­lich gen aue Anordnung seiner Details und eine architekto­nische Größe in seiner Ganzheit. Seine verschiedenen Teile können so wenig voneinander getrennt werden wie die eines gut geplanten und gut gebauten Hauses. Deshalb muß jeder Versuch, Mt 5 -7 in starker Isolierung vom übrigen Evangelium zu betrachten, als unangemessen verurteilt werden. Man muß an die Bp herangehen, wie sie sich inner­halb der Struktur des Mt als Ganzes zeigt.

A. Die Pentateuchtheorie

Erstens also: wie ist die Struktur des Mt? Eine Tradition, die auf Papias (Bischof von Hierapolis in Kleinasien, der ungefähr zwischen 60 und 130 n. ehr. lebte) zurückgeht, ist teilweise wenigstens in unserer Zeit wieder aufgelebt. Die Ansicht wurde geltend gemacht, daß, abgesehen vom Pro­log in 1-2 und dem Epilog in 26-28, das übrige im Evan­gelium verwandte Material in folgende fünf Gruppen oder Bücher zerfällt:

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Präambel oder Prolog: 1-2: Die Geburtsgeschichte Buch 1: (a) 3,1-4,25: Erzählendes Material (b) 5,1-7,27: Die Bergpredigt Formel in 7,28 f.: ,Und es begab sich, da J esus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über seine Lehre; denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten. '

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Buch 2: (a) 8,1-9,35: Erzählendes Material (b) 9,36-10,42: Gespräch über Mission und Martyrium Formel in 11,1: , Und es begab sich, da J esus solch Ge­bot an seine zwölf Jünger vollendet hatte ... ' Buch 3: (a) 11,2-12,50: Erzählendes Material u. Streitgespräche (b) 13,1-52: Lehre über das Himmelreich Formel in 13,53 : "Und es begab sich, da J esus diese Gleichnisse vollendet hatte ... ' Buch 4: (a) 13,54-17,21: Erzählendes Material u.Streitgespräche (b) 17,22-18,35: Gespräch über Verhalten in der Kirche Formel in 19,1: , Und es begab sich, da J esus diese Re­den vollendet hatte ... ' Buch 5: (a) 19,2-22,46: Erzählendes Material u. Streitgespräche (b) 23,1-25,46: Gespräch über Eschatologie: Abschiedsrede Formel in 26,1: ,Und es begab sich, da Jesus alle diese Reden vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern ... ' Epilog: 26,3-28,20: Vom Abendmahl zur Auferstehung

Jedes der in obiger Tabelle aufgezeigten Bücher wird mit einer Formel beendet, die, wie man sieht, in fast gleicher Form in 7,28 11,1 13,53 19,1 und 26,1 auftaucht. Diese fünf Materialbläcke erinnern natürlich an die fünf Bücher des Gesetzes am Anfang des AT, nämlich Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Das Gesetz be­steht aus diesen fünf Büchern mit Vorschriften des Mose: In jedem Buch wird die jeweilige Gesetzessammlung durch eine Erzählung eingeleitet, die sich vorwiegend mit Zeichen und Wundern befaßt, die J ahwe getan hat, um sein Volk aus Ägypten zu führen. In etwa taucht dasselbe Schema im Mtev auf. Jedes seiner fünf Bücher beginnt mit einer ein­leitenden Erzählung und endet mit einer stereotypen For­mel, die das Gespräch mit dem nächsten erzählenden Ab-schnitt verbindet. .

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Die Annahme liegt deshalb nahe, daß Mt die Absicht hatte, sein Evangelium in der Form eines neuen Pentateuch oder als neues Gesetzesbuch5 darzustellen. Dementsprechend sah er J esus als neuen Mose an und in dem Berg, auf dem die Predigt gehalten wurde, sah er das Gegenstück zum Berg Sinai, auf dem Mose sowohl das mündliche als auch das geschriebene Gesetz gegeben hatte. Ob es einen geographi­schen Berg gegeben hat, von dem aus J esus eine lange Rede gehalten hat oder von dem aus er gewohnheitsmäßig zu denen sprach, die ihm nachfolgten, muß eine offene Frage bleiben. Für Mt selbst ist nicht der geographische Berg von Bedeutung, sondern der Berg als ein Symbol eines neuen Sinai, von dem aus der neue Mose sein neues Gesetz oder seine Lehre verkündigte6•

Beim Verfolgen dieser Theorie zeigen sich Schwierigkeiten, die selten beachtet werden7• Erstens: Ist es korrekt, an­zunehmen, daß die Worte, die am Ende der fünf Reden stehen, mehr sein wollen als eine Überleitungsformel, ein literarisches Bindeglied? Möglicherweise war die Formel für Mt selbst unbedeutend und man sollte kein großes Ge­wicht auf sie bei der Auslegung seines Werkes legen. Es ist zweitens möglich, daß Mt diese fünffache Teilung von seinen Quellen herleitete8• Solch eine Teilung ist in der jüdischen Tradition weitverbreitet. Es gibt fünf Psalm­bücher (Psalm 1-41; 42-72; 73-89; 90-106; 107-150). Jedes dieser fünf Bücher schließt mit einer Lobesformel, die, wenn auch nicht in jedem Fall identisch, durchaus vergleich­bar sind. Ps 41,3 am Ende des ersten Buches schließt z. B.: ,Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen! Amen!' Ferner steht im Ps 72,18 am Ende des dritten Buches: ,Gelobt sei Gott der Herr, der Gott Israels, der allein Wunder tut!' Auch im Prediger gibt es fünf Abschnitte, fünf in den Sprüchen, im ersten Henoch und in der ursprünglichen Form der Pirqe Aboth. Deshalb ist es möglich, daß die Fünf teilung für Mt nur traditionell war und keine tiefere Bedeutung für ihn hatte. Es ist eine bequeme Einteilung, keine mit theologi­scher Absicht.

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Und weiter muß drittens gesagt werden, daß die An­nahme eines starren Parallelismus zwischen der Anordnung des Materials bei Mt und im Pentateuch einer Prüfung nicht standhält. Wenn Mt einen streng detaillierten schema­tischen Parallelismus zum Pentateuch im Sinn gehabt hätte, wäre das deutlicher hervorgetreten. Wie sollen diese Schwierigkeiten mit der Pentateuchtheorie bei Mt bewertet werden? Ich denke, daß die Formel am Ende jeder Rede ernst genommen werden muß. Ihre regel­mäßige Einfügung weist auf eine besondere Wichtigkeit hin und ihre Länge zeigt unmißverständlich, daß sie beab­sichtigt ist. Sie sieht nicht so aus, als wäre sie nur ein Ver­bindungsstück oder einfach eine liturgische Formel. Wenn die Fünf teilung nur als etwas angesehen wird, was Mt von seinen Quellen übernommen hat, dann muß gesagt werden, daß es schwierig ist, sowohl in Q als auch in M irgend etwas wie eine Fünf teilung zu finden. Beim dritten Ein­wand befinden wir uns auf gefährlichem Boden. Der Paral­lelismus zwischen Mt und den fünf Büchern Mose kann überbetont werden. Bei einer Theorie, die auf einen detail­lierten Parallelismus abzielt, müßte das erste Kapitel des Mt Genesis 1,1 entsprechen. Das ist tatsächlich der Fall, wie wir später auf den Seiten 24 ff. sehen werden. Bei der Theorie von den fünf Büchern aber, von der wir ausgehen, stehen Mt 1 und 2 außerhalb des Parallelismus. Diese Tat­sache macht die Theorie schwer haltbar. Die Geburts­geschichten in Mt 1 und 2, die den Prolog des Evangeliums bilden, die Passions- und Auferstehungsgeschichte und der Epilog des Evangeliums stehen außerhalb der Hauptstruk­tur. Das wäre schon schwerwiegend genug, wenn es nur den Prolog, die Geburtsgeschichten beträfe, es müßte aber direkt als fatal angesehen werden, wenn, was - nach dieser These - sehr wahrscheinlich, wenn nicht sogar sicher ist, die fundamentalsten Elemente in der Lehre der frühen Kirche, Tod und Auferstehung Jesu, als eine Art Nachwort oder Anhängsel behandelt würden. So bleibt, wenn man die erwähnten Schwierigkeiten im Blick behält, die Fünf-Bücher-Theorie des Mt oder die Theorie von seiner Pentateuchstruktur für sich allein genommen

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fragwürdig, auch wenn sie sehr attraktiv ist. Wir müssen deshalb, bevor wir sie annehmen oder ablehnen, fragen, ob es im Evangelium andere Elemente gibt, die zur Unter­stützung der Theorie beitragen könnten. Gibt es Abschnitte, die darauf hinweisen, daß für Mt J esus von N azareth der neue Mose eines neuen Sinai war?

B. Der neue Mose

Wir wollen uns zuerst dem Prolog des Evangeliums in Ka­pitel 1 und 2 zuwenden. Dort finden wir die Weihnachts­geschichte. Diese enthält die Genealogie J esu, den Bericht von der Jungfrauengeburt, von den Weisen aus dem Mor­genland, der Flucht nach Ägypten wegen des Kindermordes und der Rückkehr von dort. Wie im AT erleuchten auch im NT die Prologe zu den verschiedenen Dokumenten oft ihren Inhalt. Im Hiobsbuch zum Beispiel spricht der Pro­log von der Tätigkeit des Satans, der die Erde ,hin und her durchzieht' und bringt dem Leser so die Ursache von Hiobs Leiden zum Bewußtsein, nämlich die Tätigkeit des Satans, auch wenn diese Ursache dem Leidenden selbst und den Menschen um ihn verborgen bleibt. So erklären auch im NT die Prologe des Markus- und des vierten Evange­liums die Themen dieser beiden Dokumente, während der Prolog bei Lukas das Ziel des Autors klarmacht, nämlich in guter Ordnung alles zu schreiben, was J esus betrifft (Lk 1,1-4). Wir sind deshalb berechtigt, anzunehmen, daß das auch für Mt zutrifft. Wir könnten sogar annehmen, daß das für sein Evangelium wegen seines schematischen Cha­rakters besonders gilt. Wir werden nun untersuchen, ob besondere Motive, die im Prolog auftauchen, helfen könn­ten, das übrige Evangelium und besonders die Bp zu ver­stehen. Wir nehmen hier an, daß die ersten zwei Kapitel des Mt nicht nur Anhängsel an das Evangelium sind und daß das Evangelium nie ohne sie kursierte. Der Prolog ist eine wohlüberlegte Einheit und ein wesentlicher Teil des Evan­geliums. Welche Motive durchziehen den Prolog? Es gibt

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drei Möglichkeiten, wie man an diese Frage herangehen kann. Man kann den Prolog so betrachten, als stellte er eine historische Einheit dar und man kann annehmen, daß er streng biographische Details bieten will. Seine Einheit kann ferner als mythologische betrachtet werden. Seine Einheit kann auch in seinem interpretierenden oder, um einen Fachausdruck gebrauchen, in seinem Midrasch-Cha­rakter gefunden werden. Daß Interpretation in dem Prolog steckt, wird kaum jemand leugnen. Können wir diese Inter­pretation herauslösen? Einige haben angenommen, daß ein apologetisches Motiv die Kapitel beherrscht9• Die ganze Absicht des Matthäus sei es gewesen, angesichts der umgehenden Verleumdungen zu zeigen, daß die Abstammung des Messias von Gott geord­net und vom Gesetz her legitim war, während die Ge­schichte von der Jungfrauengeburt beabsichtigte, jüdische Verleumdungen hinsichtlich einer unehelichen Geburt J esu außer Kraft zu setzen. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob das Ziel, jüdische Verleumdungen wegen der Geburt J esu ab­zuwehren, eine so große Rolle bei der Zusammenstellung der Geburtsgeschichten spielte. Die Verleumdungen ge­hören einer späteren Zeit an. Die Annahme, daß gerade die Geburtsgeschichten selbst es waren, die solche Verleum­dungen in Umlauf brachten, kann auch nicht ausgeschlossen werden. Wie dem auch sei, das Motiv, Angriffe gegen Marias Keuschheit abzuwehren, reicht nicht aus, um die Reichhaltigkeit der Kindheitsgeschichten zu erklären10•

Wenn wir zu der Geschichte von den Weisen und zu an­deren Ereignissen in Kapitel 2 weitergehen, finden wir ähn­liche Versuchell , das Ziel dieser Kapitel darin zu sehen, den Anspruch Jesu auf die Völkerwelt herauszustellen. Viele Kirchenväter benützten tatsächlich die Geburtsgeschichten S012. Aber hier muß man wieder erkennen, daß diese Er­zählungen Schwierigkeiten bereiten konnten und bereitet haben. Eine Kirche, die sich gegen astrologische Spekulationen wehren muß, würde kaum die Geschichte von dem Stern von Bethlehem zu ihrer Verteidigung anführen. Die Ge­burtsgeschichten waren ein Stein des Anstoßes, weil SIe

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J esus - so konnte man sie interpretieren - unter die Herr­schaft der Sterne stellten, eine Feststellung, die die Christen wegerklären mußten13•

Im Hinblick auf all das ist es gut, die streng apologetischen und polemischen Motive der Geburtsgeschichten nicht zu sehr zu betonen. Sie wenden sich möglicherweise nicht an die Welt, sondern an die Kirche. Ihr Ziel ist es nicht, Ver­leumdungen abzuwehren und in der Heidenwelt Eindruck zu machen, sondern das Mysterium Christi durch seine Ge­burt der Kirche selbst zu erläutern14• Von diesem Ansatz­punkt aus wollen wir jetzt den Prolog prüfen. Drei Motive scheinen in den Kindheitsgeschichten aufzutauchen: Erstens kann das Interesse an der Feststellung registriert werden, daß das Eintreten Jesu von Nazareth in die Ge­schichte eine neue Ära oder eine neue Schöpfung herauf­führt. Der allererste Vers des Evangeliums beginnt: ,Dies ist das Buch von der Geschichte J esu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams.' Im Griechischen be­deutet dieser Vers wörtlich übersetzt: ,Das Buch von der Genesis Jesu Christi'. Dieser Satz ist auf die verschiedenste Weise übersetzt worden und seine Bedeutung wird immer noch diskutiert. Die jüngsten Forscher betrachten ihn als den Titel des Geschlechtsregisters oder der Aufstellung, die in Kapitel 1,2-16 folgt. Abstammung, ,Genesis',bedeutet oft Genealogie. Bei dieser Ansicht ergeben sich zwei Schwie­rigkeiten. Den einleitenden Worten: ,Das Buch des Ge­schlechts' folgt im AT gewöhnlich eine Liste von N achkom­men, nicht von Ahnen und Vorvätern. Außerdem, wenn die Einleitungsformel gebraucht wird, um eine Genealogie einzuleiten, steht sie gewöhnlich im Plural. Ich möchte des­halb vorschlagen, den Begriff ,Genesis' wörtlich zu nehmen als Schöpfung. Er zielt darauf ab, uns zum Beginn des AT zurückzuweisen, zum ersten Buch der Genesis, zu der Schöp­fung des Universums selbst in Gen 1,1-2,3 oder zu der Erschaffung oder Genesis des ersten Adam in Gen 2,4 ff (s. Gen 2,4-5,1 ff). Der Evangelist hat sein Evangelium be­wußt mit einem Satz begonnen, der auf die Parallele zwi­schen J esus und dem ersten Adam hinweisen soll und noch mehr, auf die Schöpfung des Universums selbst. Mt hat die

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Absicht, im Prolog darauf aufmerksam zu machen, daß das Kommen Jesu eine neue Schöpfung war. Die Bedeutung des Prologs liegt darin, daß er darauf hinweist, die Geburt J esu könne nur mit der Schöpfung des Universums angemessen verglichen werden. Der erste Satz bei Mt ist nicht nur eine Überschrift für eine Genealogie, sondern für das ganze Evangelium von der neuen Schöpfung oder der neuen Ge­neSIS.

Das wird durch die Geschichte von der Jungfrauengeburt untermauert:

Die Geburt Jesu Christi geschah aber also: Als Maria, seine Mutter, dem Joseph vertrauet war, erfand sich's, ehe er sie heimholte, daß sie schwanger war von dem heiligen Geist . . . denn das in ihr geboren ist, das ist von dem heiligen Geist. . . Mt 1,18-25

Die Vorstellung vom Heiligen Geist wird in den synop­tischen Evangelien selten erwähnt, aber hier ist sie vor­herrschend. Der Heilige Geist wird als treibende Kraft bei der Geburt Jesu aus Maria dargestellt. Warum? Der Zu­sammenhang von Heiligem Geist und Schöpfung wird in Gen 1,1 f deutlich: ,Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Was­ser.' Hier schwebt der Geist Gottes über Materiellem und es mag sein, daß wir die Wirksamkeit des Geistes in einem lebenden Menschen, nämlich in Maria, nicht mit der Wirk­samkeit in der unbelebten Natur vergleichen sollten. Das hieße aber übergenau sein. Es kann kaum in Frage gestellt werden, daß der Gedanke an eine neue Schöpfung, analog der ersten, in der der Geist Gottes tätig war, die Rolle des Geistes in Mt 1,18-25 bestimmt15• So ist auch der Name Immanuel in 1,23 zu sehen. ,Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären und sie werden sei­nen Namen Immanuel, das bedeutet, Gott mit uns, heißen.' Das legt die Anwesenheit desselben Gottes nahe, der in der Schöpfung aktiv war und es jetzt bei seinem Volk, durch Jesus ist. Die Ursache dafür, daß die Gedanken des Mt zu der Schöp-

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fung der Welt zurückgehen, liegt möglicherweise in einem gewissen Parallelismus zwischen dem Anfang des Mtev und Gen 1 und 2. Gen 1 gibt eine geordnete übersicht über die Entwicklung, die in der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes ihren Höhepunkt findet. Gen 2 gibt eine primitivere Beschreibung der Erschaffung des Menschen, indem ein ziemlich detaillierter Bericht von dem Akt der Erschaffung gegeben wird. Solch einen Unterschied gibt es auch zwischen Mt 1 und 2, nur daß hier der Verlauf um­gekehrt ist. Zuerst bekommen wir von Mt eine Aufzählung der Vorfahren, die in dem geschichtlichen J esus ihren Höhe­punkt findet. Der erdhafte Vorgang von der Erschaffung Christi wird gezeigt, wie er war. In Kapitel 1,18-25 wird dann peinlich genau beschrieben, wie dieser Mensch ins Le­ben kam: Er beweist sich als der aus dem Geist aus der Höhe geborene Sohn Gottes. Mt wie Paulus befassen sich zuerst mit dem menschlichen Jesus-in Mt 1,1-17 u.l,18-25 - und stellen dann seinen göttlichen Ursprung heraus. Man vergleiche hierzu Paulus:

Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib. Wie geschrieben steht: Der erste Mensch, Adam ,ward zu einer lebendigen Seele', und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht. Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche. Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der andere Mensch ist vom Himmel. 1. Kor 15,44b-47

Aus dem restlichen Prolog können wir die spezifische Auf­fassung, daß Christus die neue Schöpfung ist, nicht heraus­lesen und so gehen wir weiter zu dem zweiten Motiv, näm­lich, daß J esus der Sohn Davids, der königliche Messias ist. Die Ahnenreihe in Kapitel 1 wird von Abraham zu David geführt, von David bis zum Exil, vom Exil zum neuen David, der J esus Christus ist. Die Reihe wird in drei Ab­schnitte von je 14 Generationen eingeteilt. Im Hebräischen ergibt das Wort David nach seinem Zah­lenwert die Zahlen 4+6+4 = 14 und es ist nicht unmög­lich, daß der Autor des Evangeliums möchte, daß wir in der

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Genealogie ein Zeichen dafür sehen, daß Christus der neue David ist. Wichtiger jedoch als diese zweifelhafte Mut­maßung sind die wiederholten Anspielungen auf David in den weiteren Kapiteln:

. .. siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Joseph, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Gemahl, zu dir zu nehmen ...

Mt 1,20

und in Kapitel 2,2 suchen die Weisen Jesus als den König der Juden. Weiter wird im allerersten Vers Jesus Christus als der Sohn Davids bezeichnet. Es kann deshalb wenig Zweifel bestehen, daß im Prolog Jesus sowohl als der An­fänger einer neuen Welt oder Schöpfung gezeigt wird, als auch als Sohn Davids, d. h. als messianischer König, als Repräsentant der messianischen Zeit. Es gibt aber noch ein anderes wichtiges Motiv im Prolog, das beachtet werden muß. J esus ist auch der neue Mose. Es wird eine Parallele zwischen seiner Geburt und der des Mose gezogen. Und an diesem Punkt ist es unmöglich, die Bedeutung, die Mose für das Judentum hatte, zu übertrei­ben. Er war ein wahrer Kolossus, der Vermittler des Ge­setzes, das als die endgültige Offenbarung Gottes an die Menschen angesehen wurde. Wenn J esus als neuer Mose proklamiert wurde, so bedeutete das, daß ihm wahrschein­lich die höchste Ehre zuerkannt wurde, die das Judentum zu vergeben hatte. Wie entfaltet Matthäus dieses Thema? Möglicherweise besteht eine Parallele zwischen Herodes in der Geburtsgeschichte und Pharao in der Geschichte des Mose: Die Massaker an den männlichen Kindern durch Pharao, als der erste Mose geboren wurde und durch Hero­des, als der neue Mose geboren wurde, sind sehr ähnlich. Die Flucht nach Ägypten und die Rückkehr von dort, die mit den Worten endet: ,Auf daß erfüllt würde, was der Herr durch die Propheten gesagt hat: ,Aus Ägypten rief ich meinen Sohn' (Hos 11,1) deutet zumindest eine Verbin­dung zwischen dem Exodus und dem Leben J esu an. Dieses Leben wiederholt in sich selber die Geschichte des Volkes Israel: Er ist Israel. Man beachte deshalb, daß hier

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die Kategorie des neuen Mose die Bedeutung der Schrift­stelle nicht vollkommen erschöpft. Im Prolog wird einem Motiv wie dem des neuen Mose nicht ein solcher Vorrang gegeben. In ihm wirken verschiedene Motive zusammen. Das Gleiche wird offenbar, wenn wir uns dem Epilog des Mtev in Kapitel 26-28 zuwenden. Bei Matthäus trägt die Geschichte vom Tod Jesu für unseren Zweck nicht viel aus, abgesehen von der Tatsache, daß, wie bei Mk und an an­deren Stellen im NT, die Geschichte vom letzten Mahl die Erinnerung an das jüdische Passah wachruft:

Da sie aber aßen, nahm J esus das Brot, dankte und brach's und gab's den Jüngern und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib. Und er nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus; das ist mein Blut des neuen Testaments, welches ver­gossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.

Mt 26,26ff

In diesem Zusammenhang ruft der Begriff ,Testament' die Erinnerung an den ersten Bund wach, der am Sinai ge­schlossen wurde. Für Mt, wie auch für die frühe Kirche überhaupt, ist die christliche Befreiung ein neuer Exodus, der durch Jesus als dem neuen Mose zuwegegebracht wur­de. Abgesehen von diesem selbstverständlich sehr bedeuten­den Abschnitt Mt 26,26 ff gibt es in der Passionsgeschichte des Mt keine Betonung Christi als des neuen Mose. Mög­licherweise findet sich eine Andeutung dieser Gestalt in Mt 28,16-20, der Schlußszene der Auferstehung:

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Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin J esus sie beschieden hatte. Und da sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; etliche aber zweifelten. Und J esus trat zu ihnen, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende! Mt 28,16-20

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Der Gehalt dieses Berichtes ist wichtig. Er drückt möglicher­weise die Wahrheit der Auferstehung und ihre Bedeutung für Mt aus und offenbart weitgehend sein Verständnis des Evangeliums. Für ihn ist der auferstandene Herr der neue Gesetzgeber. Zunächst findet sich hier wieder die Anspielung auf den Berg. Sie weckt die Frage, weshalb an dieser Stelle der Berg, wie in Kapitel 5,1 und in 17,1 erwähnt wird. Es handelt sich wahrscheinlich nicht um einen gewöhnlichen, geogra­phischen Berg. Der Berg ist der Berg des neuen Mose, des neuen Sinai. Wie in Mt 5,1, so scheint uns der Berg hier in 28,16-20 zurückzuweisen auf den alten Sinai, der jetzt durch einen neuen abgelöst wird. Nicht alle Forscher akzeptieren diese Auffassung, man kann sie aber nicht einfach abtun. Zweitens werden die Jünger hier ausgesendet, um - unter anderem - zu lehren, was Christus befohlen hat. Er ist, kurz gesagt, die Quelle der neuen Gebote, unter denen die Kirche zu leben hat. Der Satz: ,Was ich euch befohlen habe', weist zurück auf Mt 5-7, wo die Worte J esu neben die des Mose gestellt werden. Daß die abschließenden Verse des Matthäusevangeliums uns auf den Anfang des Evangeliums zurückweisen, wird klar durch den dritten Punkt, der herausgestellt werden muß. Die letzten Worte in Mt 28,20 lauten: ... ,Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.' Diese Worte erinnern an jene in Kapitel 1,23: ,Und sie werden seinen Namen Immanuel heißen, das ist verdolmetscht: Gott mit uns.' Diese Anspielung auf den Prolog im Epilog ist nicht zufällig und wir sollten darauf ge faßt sein, zu den Spuren des neuen Mose, die wir im Prolog gefunden haben, im Epilog Parallelen zu finden. An dieser Stelle muß jedoch wieder zur Vorsicht gemahnt werden. Das Motiv des ,neuen Mose' ist sicherlich nicht das einzige und nicht das Hauptelement im Epilog. Der Ab­schnitt weist vielmehr auf die Beschreibung des triumphie­renden Menschensohnes in Dan 7; und er zeichnet J esus als den triumphierenden Menschensohn, dem alle Autorität im Himmel und auf Erden bereits gegeben ist. Folglich kann Jesus in Mt 28,16-20 der neue Mose sein. (Die Substanz

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einer solchen Gestalt ist da, wenn auch nicht der Name.) Er kann aber auch jemand anderes sein. Die Kategorie des neuen Mose erschöpft die Bedeutung des auferstandenen Herrn nicht.

c. Der neue Exodus

So könnte man, vorsichtig ausgedrückt, im Prolog und im Epilog mit einiger Berechtigung eine Unterstützung der Pentateuch theorie insofern finden, als dort J esus als der neue Mose dargestellt wird. Wie steht es mit dem übrigen Evangelium? Dafür bleiben mindestens zwei weitere Mög­lichkeiten. Erstens finden wir in Kapitel 8 und 9 bei Mt zehn Wunder, die Jesus getan hat. Diese sind:

Die Heilung eines Aussätzigen; Die Heilung des gichtbrüchigen Knechtes des Haupt-

manns zu Kapernaum; Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus; Die Stillung des Sturms; Die Austreibung der Teufel in die Gardarener

Schweine; Die Heilung des Gichtbrüchigen; Die Auferweckung des Töchterleins des J airus; Die Heilung des blutflüssigen Weibes; Die Heilung zweier Blinder; Die Austreibung des Teufels aus einem Stummen.

Es wurde behauptet, daß die oben genannten Wunder den 10 Plagen, die über die Ägypter verhängt wurden und den 10 Wundern, die Mose zur Zeit des ersten Exodus voll­brachte, antithetisch entsprechen. In dieser Entsprechung sah man die Erfüllung von Mi 7,15: ,Laß uns Wunder sehen wie zur Zeit, als du aus Ägyptenland zogst.' Einer solchen Ansicht stellen sich jedoch viele Schwierigkeiten entgegen. Nicht alle haben in Mt 8-9 zehn Wunder gefun­den und selbst wenn man zugibt, daß in diesen Kapiteln tatsächlich zehn Wunder stehen, deuten sie dann auf den Exodus? Die Anzahl von zehn Wundern - zehn ist eine

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in jüdischen Quellen häufig verwendete Zahl - kann rein zufällig sein und muß deshalb keine theologische oder sym­bolische Bedeutung haben. Bei allen Wundern ist es nicht so sehr das Wirken Gottes während des Exodus, an das erinnert wird, sondern das schöpferische Wort von Gen 1,1 f (vgl. Mt 8,14; 8,9; 8,13; 8,28-34). überall in dem Abschnitt Mt 8-9, in fast all seinen Teilen, werden wir nicht so sehr an den Exodus als an Gen 1 erin­nert und mit der Hilfe des einen konfrontiert, der durch sein Wort, durch sein schöpferisches Wirken an das Wirken Gottes erinnert und der zur gleichen Zeit der Menschen­sohn ist (besonders in Kapitel 8,18 ff). Darüber hinaus wird die ganze Wunderserie mit Worten abgeschlossen, die un­angebracht wären, wenn die Absicht bestünde, eine Parallele zwischen J esus und Mose zu ziehen. Sie lauten: ,Solches ist noch nie in Israel gesehen worden' (9,33). Und die aller­letzten Worte in Kapitel 9,34 können indirekt unsere Wei­gerung, in dem Abschnitt 8,1-9,34 ein Exodus-Motiv zu sehen, eher noch bestätigen. Beim Exodus sollen Zauberer und dgl. im Wirken Mose den Finger Gottes erkennen (Ex 8,19), die Pharisäer jedoch sehen in dem Wirken Jesu nur ein Zeichen dafür, daß er der oberste der Teufel ist. Matthäus widerlegt an dieser Stelle die Anklage nicht, aber er tut es an anderer Stelle in einer Terminologie, die für unseren Zweck von höchster Bedeutung ist. Man vergleiche die folgenden Verse aus Lk mit Mt, wo wir seine Wider­legung lesen: Wenn aber ich die Geister durch Beelzebub austreibe, durch wen treiben euere Söhne sie aus? Dar­um werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch Gottes Fin­ger die bösen Geister austreibe, so ist: ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Lk 11,19ff.

Wenn ich aber die bösen Geister durch Beelzebub austreibe, durch wen treiben euere Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen. Mt 12,27ff.

Die Fassung des Lukas ist wahrscheinlich die ursprüng­lichere16• Auf jeden Fall sieht Lukas die Geisteraustreibun­gen J esu im Licht des Exodus, während Mt, der Q absicht­lich geändert haben mag, sie mit dem Geist Gottes verbindet,

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d. h. er denkt von ihnen in Begriffen des schöpferischen Wirkens Gottes in Gen 1,1. Dieser Unterschied zwischen Lk und Mt an diesem Punkt ist ein starkes Anzeichen dafür, daß bei Mt Schöpfungs­motive mindestens genau so stark wirkten wie Exodus­motive. In einem Abschnitt des Mt jedoch können wir ziemlich sicher sein, daß das Motiv des neuen Exodus vorliegt, wenn nicht sogar betont wird. Das ist der Abschnitt von der Ver­klärung Jesu (vgl. Mk 9,2-8; Mt 17,1-8; Lk 9,28-36). Hier finden wir ein greifbareres Zeichen für das Interesse des Matthäus am Exodusmotiv. Man hat behauptet, daß an diesem Punkt alle drei synoptischen Berichte J esus offen­sichtlich im Licht des Exodus und des ersten Mose sehen. Als Beleg dafür wurde aus dem Bericht des Mk, der hinter dem des Mt steht, folgendes angeführt17 :

a) In Kapitel 9,2 ist der Ausdruck ,nach sechs Tagen' sym­bolisch. Wie in Ex 24,16 Mose durch den Herrn den Be­fehl erhielt, die Stiftshütte zu bauen, so wird in den drei Männern, die J esus auf den Berg der Verklärung begleiten, nach sechs Tagen der Wunsch wach, Zelte zu bauen (9,5). . b) Die Stimme Gottes ertönt aus der Wolke (Ex 24,15 ff und Mk 9,7), ebenso wie Mose auf einem Berg, der von der ,Wolke' bedeckt war, Gottes Gebote empfing. c) So wie in Ex 24,1 f, Mose von einer kleinen Gruppe, Aaron, N adab, Abihu und den siebzig Ältesten begleitet wird, während das ganze Volk am Fuß des Berges zurück­bleibt, so wird J esus von Petrus, Jakobus und J ohannes begleitet, während die übrigen Jünger und die Menge unten bleiben. Auf dem Sinai verkehrt nur Mose mit dem Herrn oder ist in enger Gemeinschaft mit dem Unsichtbaren -und auf dem Berg der Verklärung tut dies nur J esus. d) Es ist bemerkenswert, daß die Gestalten, die neben J esus auf dem Berg auftauchen, die zweier Männer sind, die mit Gott auf dem Berg Sinai sprachen: Mose in Ex 33,17 ff und Elia in 1. Kön 19,9-13. Sie erscheinen nun, so sollen wir wahrscheinlich denken, auf einem neuen Sinai. e) Das Glänzen des Angesichts des Mose bei seinem Ab-

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stieg vom Berg Sinai (Ex 34,29f) wird durch Mk 9,2 wie­der in Erinnerung gerufen: ... ,und ward vor ihnen ver­klärt. Und seine Kleider wurden ganz leuchtend weiß, wie sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann.' f) In Mk 9,7 wird der Befehl gegeben, daß Jesus genauso gehorcht werden soll, wie Mose gehorcht wurde. Der Vers scheint auf Dtn 18,15 zurückzuweisen. J esus wird nun als Prophet wie Mose gesehen. Darauf aber legt Mk keinen Nachdruck. Die bloße Tat­sache, daß nur Mk Elia vor Mose erwähnt, zeigt das an. Kurz, die Verklärung bei Mk wird wahrscheinlich am besten verstanden in Verbindung mit der Betonung der Passion, die im vorhergehenden Kapitel 8 angekündigt wird. J esus, dem es bestimmt ist zu leiden, wird trotzdem in der Verklärung als Messias, Knecht, Menschensohn pro­klamiert. Die Proklamation bei der Taufe wird nun über­höht: J esus ist der Menschensohn, so wie er im Danielbuch gesehen wird. So ist die Verklärung bei Mk sowohl auf die Passion als auch auf die Auferstehung hin ausgerichtet. Das wird klar aus dem Bestehen auf dem Kreuz des Menschen­sohnes (9,12); aus dem Vorrang, der Elia gegeben wird, der mit dem Täufer, dessen Tod ein Hinweis auf den Tod Jesu war, identifiziert wird (9,12); aus der Ähnlichkeit zwischen der Verklärung und dem Kampf in Gethsemane, wobei die Zeugen bei beiden Ereignissen identisch sind (9,12; 14,33); und durch die Verwandlung Jesu in 9,2, die auf die Herr­lichkeit der Auferstehung hinweist (14,12; vgl 1. Petr 1,16 bis 18). All das bedeutet nicht, daß die Gestalt des Mose den Bericht des Mk von der Verklärung nicht beeinflußt hat. Ganz klar unterscheidet sich J esus von Mose, der zusam­men mit Elia durch seine Anwesenheit für ihn Zeugnis ab­legt. Er wird aber auch in Parallele zu ihm gesetzt, als Prophet wie er. Aber sogar in diesem Parallelismus könnte ein Unterschied sein. Der Inhalt der Lehre Jesu bei Mk 9,30-32 ist das Leiden des Menschensohnes, es sind nicht ethische Gebote. (Diese aber, obgleich nicht ausdrücklich erwähnt, könnten vielleicht in dem ,Ihn sollt ihr hören' enthalten sein, so daß auf diesen letzten Punkt nicht zu viel

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Gewicht gelegt werden sollte.) Jedenfalls stellt Mk Jesus bei der Verklärung nicht als mosaischen Lehrer dar, son­dern als leidenden und triumphierenden Herrn. Wir können jetzt fragen, wie Mt mit dem Bericht des MIr umgegangen ist. Wir müssen bedeutende Änderungen in Einzelheiten und in der Anordnung feststellen. a) Mt ändert die Anordnung des Mk, indem er Mose vor Elia erwähnt (17,3). Das ist nicht nebensächlich. Zumindest ergibt sich daraus, daß die Bedeutung des Elia nicht als vor­rangig angesehen wird wie bei Mk und daß wahrscheinlich die Anspielung auf Mose als besonders betont genommen werden muß. b) Während Mk nur auf die ,Kleider Jesu' anspielt, die so glänzend weiß wurden, wie ,sie kein Bleicher auf Erden so weiß machen kann' (Mk 9,3), fügt Mt hinzu: ,Und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne' (Mt 17,2). Das erinnert an Ex. 34,29-35, wo es im Hebräischen heißt: ,Die Haut des Angesichtes (Mose) glänzte, weil er mit Gott geredet hatte.' Dieses Phänomen wird bei Mt nicht wie bei den Rabbinen nach Art eines Midrasch oder einer Haggada ausgeschmückt18• Nur eine Tatsache bewegt Mt, daß näm­lich auf dem Angesicht J esu die Herrlichkeit des Gesetzes­vermittlers Mose zu sehen ist ( und in späterer rabbinischer Tradition ist das nichts anderes als die Herrlichkeit des Ge­setzes selbst). c) Beim Beschreiben der , Wolke' die auftaucht, gebraucht Mt das gleiche Verb wie Mk und Lk, nämlich überschatten. Aber er fügt ein bezeichnendes Adjektiv hinzu. Die Wolke ist eine ,lichte' Wolke. So drückt er ein Paradoxon aus: ein helles Licht über­schattet. - Können wir herausfinden, warum er dieses Adjektiv hinzufügt? Tut er es nicht deshalb, um über allen Zweifel hinaus deutlich zu machen, daß er hieran die Sche­china deutet, die Anwesenheit Gottes, die die Stiftshütte in der Wüste erfüllte und die oft als Begleiterscheinung star­kes Licht hatte, ,intensiver als die Sonne zur Sommersonnen­wende'? d) Der Höhepunkt der Geschichte ist bei Mt besonders eindrucksvoll. Erstens zeigt sich in der Erklärung: ,Das ist

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mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe' aus Mt 17,5 ein bedeutender Unterschied zu Mk 9,7: ,Das ist mein lieber Sohn', und zu Lk: ,Dies ist mein auserwählter Sohn'. Mk und Lk gehen hauptsächlich auf Ps 2,7 zurück, während Mt sich an dieser Stelle, wie bei dem Bericht von der Taufe Jesu, sowohl auf Ps 2,7 als auch auf Jes 42,1 be­zieht: ,Siehe, das ist mein Knecht - ich halte ihn - und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat ... ' Mt scheint den Satz: ,An dem ich Wohlgefallen habe' anzufügen, um Jesus als den zu zeigen, der dazu bestimmt war, den Völkern das Gesetz zu bringen (J es 42,4). Nimmt man diese Vermutung für sich allein, so kann auf sie nicht zu viel Nachdruck gelegt werden, denn der Satz: ,An dem ich Wohlgefallen habe' ist nicht ein direktes Zitat von Jes 42,1. Andererseits gibt es bestimmte Elemente beim Höhepunkt der Verklärungsgeschichte, die diese Ver­mutung bestätigen können. Zweitens: Die Schlußäußerung der Stimme aus dem Himmel ist ein Befehl, nämlich J esus als dem Sohn Gottes zu gehorchen. Bei Mt besteht von vornherein kaum ein Zweifel daran, daß das ein Hinweis darauf ist, daß J esus als ein ethischer Lehrer wie Mose an­gesehen werden soll. Während der Inhalt der Lehre J esu bei Mk 9,30-32 ausdrücklich dargestellt wird als das Leiden des Menschensohnes und während diese Auffassung bei Lk entsprechende Berücksichtigung findet, hat Mt, obgleich er von der Bedeutung der Passion weiß, seinen Hinweis auf sie in 17,22-23 so gemildert und gekürzt, daß er die Passion ihres Vorranges völlig beraubt hat. Ein Vergleich zwischen den Abschnitten läßt keinen Zweifel daran.

Da sie aber versammelt waren in Galiläa, sprach J esus zu ihnen: Es wird geschehen, daß des Menschen Sohn überantwortet wird in der Menschen Hände, und sie werden ihn töten, und am dritten Tag wird er auf­erstehen. Und sie wurden sehr betrübt. Mt 17,22 f Und sie gingen von da hinweg und zogen durch Gali­läa; und er wollte nicht, daß es jemand wissen sollte. Denn er lehrte seine Jünger und sprach zu ihnen: Des Menschen Sohn wird überantwortet werden in der

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Menschen Hände, und sie werden ihn töten; und wenn er getötet ist, so wird er nach drei Tagen auferstehen. Sie aber verstanden das Wort nicht und fürchteten sich, ihn zu fragen. Mk 9,30-32 Da sie sich aber alle verwunderten über alles, was er tat, sprach er zu seinen Jüngern: Nehmet zu Ohren diese Rede: Des Menschen Sohn muß überantwortet werden in der Menschen Hände. Aber das Wort ver­standen sie nicht, und es war vor ihnen verborgen, so daß sie es nicht begriffen. Und sie fürchteten sich, ihn zu fragen um dieses Wort. Lk 9,43 b-45

Dementsprechend scheint es deutlich zu sein, daß Mt nach der Verklärung nicht schnell genug zu dem Abschnitt mit den Reden Jesu in 17,24-18,35 gelangen kann, um die Lehre J esu darzustellen. Nach der Verklärung beschäftigt er sich in erster Linie nicht mit dem Passionsmotiv, sondern mit der ,Lehre' J esu (obwohl er Mk zu treulich nachfolgt, als daß er das Passionsmotiv ganz unter den Tisch fallen lassen könnte, denn es war in der Tradition zu fest ver­ankert; Mt konnte es hier nicht ignorieren). Das ,Den sollt ihr hören' aus 17,5 weist zurück auf Kapitel 5-7 und voraus auf 17,5-18,35. Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß wir den Satz im Licht von Dtn 18,15 verstehen müssen: ,Einen Propheten wie mich wird der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern; dem sollt ihr gehorchen' (vgl. 18,15). Das Futurum ist Gegenwart ge­worden. Aber drittens: Während die Gestalt des Mose über die Verklärungsszene weitgehend Aufschluß gibt, wird sie doch eindeutig zurückgedrängt. Mose und Elia verschwinden schließlich und J esus bleibt allein. Diese Tatsache, die sich bei allen Synoptikern findet, wird bei Mt besonders betont. Für Mt ist J esus der Lehrer schlechthin geworden, der ,neue Mose' . Und schließlich ist es wichtig, eine Änderung, die Mt in der Anordnung des Materials an dieser Stelle vorgenommen hat, festzustellen, in einem Abschnitt, der von den meisten Kommentatoren viel zu leichtfertig abgetan wird. Mk gibt der ,Furcht', die die Jünger ankommt, sehr bald im Verlauf der Erzählung

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Ausdruck, unmittelbar nach der Verklärung J esu, und die Vision des Elia und des Mose - in dieser Reihenfolge -wird ihnen zusammen mit J esus gewährt. Nicht die Tat­sache, daß man ihm hören soll, wird betont, sondern daß er verklärt wurde. Bei Lk ist das Herabsteigen der ,Wolke' die Ursache der Furcht (9,34 b). Bei Mt ist es anders: Er hält die Erwähnung der Furcht des Petrus, Jakobus und Johannes zurück, bis unmittelbar nach den Worten: ,Den sollt ihr hören.' Und es ist eine Furcht, die sie auf die Knie zwingt. Zum Zeichen ihrer Verehrung fallen sie auf ihr Angesicht, wie es bei Epiphanien üblich war (siehe Gen 17,3 - Abraham vor Gott; 1 Sam 24,9 - David vor Saul; 2 Sam 9,6 - Mephiboscheth, der Sohn des Jonathan, vor David; Dan 10,9 - Daniel vor einem, ,der einem Menschen gleich war'). Zuletzt rührt Jesus in dieser Geschichte die Jünger an und sagt: ,Stehet auf und fürchtet euch nicht.' Unsere Untersuchung der Verklärungsgeschichte ist ab­geschlossen. Hier scheint Mt überzeugender als bei irgend­einem anderen Material, das wir bisher untersucht haben, das Material des Mk geändert und neugeordnet zu haben, nicht nur aus Motiven einfacher Ehrfurcht heraus (wie bei dem vorzugsweisen Gebrauch des Wortes ,Herr' in 17,4 statt dem Wort Rabbi bei Mk 9,5 und Meister bei Lk 9,33, und des Zusatzes ,Willst du' in 17,4 statt des weniger höf­lichen ,wir wollen Hütten machen' in Mk 9,5), sondern mit der besonderen Absicht, J esus als Mose zu zeigen, wenn auch als einen Mose, den J esus, der einzigartige und end­gültige Lehrer der Menschheit ablöst. (Es ist dieser mo­saische und doch noch mehr als mosaische Charakter des Jesus bei Mt, der bewirkte, daß ,Rabbi' in 17,4 durch ,Herr' ersetzt wurde.) Unsere Untersuchung ergibt so, daß Mt sich der Interpreta­tion Christi, die ihren Prototyp in Mose fand, ganz bewußt war und daß er an bestimmten Punkten dieser Interpre­tation erlaubt hat, sein Evangelium zu beeinflussen. Die Zurückhaltung, mit der das Motiv des neuen Exodus und des neuen Mose gebraucht wird, kann jedoch festgestellt werden. Beweise für diese zwei Motive sind nicht durch­schlagend genug, um die Pentateuch-Hypothese von Bacon

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ausreichend zu stützen, die deshalb weiterhin fragwürdig, wenn auch möglich bleibt. Diese Motive haben das Evange­lium des Mt zwar beeinflußt, aber es wird nicht deutlich genug, daß sie es ganz gestaltet oder geformt hätten. Das wird auch klar, wenn wir Mt 5-7 betrachten. Diese Elemente, auf die wir bereits verwiesen haben, besonders im Prolog und in der Verklärung, unterstützen die Ansicht, daß wir in der Bp einen neuen Sinai finden sollen. Aber der nur versuchs­weise und zurückhaltende Gebrauch des Exodusmotivs bei Mt ist auffallend. Es gibt keine ausschließliche Anspielung auf den Berg Sinai; Züge aus dem Bericht von der Gesetz­gebung in Ex 19, wie sie z. B. in Heb 12,18ff sich finden, erscheinen in 5,1 ff nicht; und nirgends, außer in den direk­ten Zitaten aus dem Gesetz in den Antithesen in 5,21 ff, wird direkt an die Ereignisse am Sinai angeknüpft. Alle, die darauf hinweisen, tun dies doch sehr zögernd. Obgleich beim Schreiben eines Evangeliums nicht die gleiche Freiheit der Ausarbeitung gegeben war wie bei einer Epistel, etwa beim Hebräerbrief, müssen wir doch fragen, ob Mt seinen Mosaismus nicht deutlicher hätte ausdrücken können, wenn die Idee eines neuen Mose wirklich eine große Rolle beim Schreiben des Evangeliums gespielt hätte. Es scheint, daß der Fall so liegt: Während die Kategorie eines neuen Mose und eines neuen Sinai in 5 -7 wie an anderen Stellen bei Mt vorhanden ist, wurden die streng mosaischen Züge in der Gestalt des Christus bei Mt, hier in 5-7 und in anderen Teilen des Evangeliums, in einen umfassenderen Kontext gebracht. Er ist nicht so sehr der als Messias gekommene Mose, wenn wir es einmal so sagen wollen, sondern eher der Messias, der Menschensohn, der Immanuel, der die mosaische Funktion in sich aufgenom­men hat. Die Bp ist deshalb zweideutig: voll von dem Ge­setz eines neuen Mose, bringt sie doch auch das autoritäre Wort des Herrn, des Messias - sie ist die messianische Tora.

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D. Die überbietung der mosaischen Kategorien

Eine wirkliche Würdigung der Bp als mosaische und dar­über hinaus als eine mehr als mosaische, d. h. als eine mes­sianische Tora, kann nur erreicht werden, wenn wir zwei weitere Fragen stellen. Erstens, wie ist ihr Verhältnis zu den moralischen Forderungen, die Mt an anderen Stellen des Evangeliums anführt und zweitens, was genau tragen die literarischen ,Formeln' innerhalb der Bp zum Verständ­nis ihres Wesens bei? Die Antwort auf die erste Frage ist klar: für Mt ist christ­liches Leben ein Leben in der Nachfolge oder ein Lernen unter dem Joch Christi (11,29). Die Kirche ist eine Ge­meinschaft von Jüngern (13,52; 23,8; 28,20), die Propheten, Weise und Schriftgelehrte anerkennen (23,34): Sie ist eine Schule, die von Christus herkommt, weil in ihr das Recht des Bindens und Lösens, d. h. das Recht der gesetzgebenden Funktion ausgeübt wird (18,18). Christen stehen unter dem ,neuen Sinai' eines neuen Mose. Aber ihr Verhältnis zu diesem neuen Mose muß sorgfältig beachtet werden. Das Gesetz, dem sie gehorchen, ist in J esus in einer Weise per­sonifiziert, wie das Gesetz des Judentums nie in Mose personifiziert war (7,24). Und so ist jedes christliche Leben personifiziert, es ist vor allem ein Leben im ,Glauben' an Jesus (23,23), ein Leben in der Nachfolge (19,16-20). Und das schließt die Nachahmung Christi ein, nicht in einem streng wörtlichen Sinn, sondern so, daß die Merkmale des Lebens J esu in dem seiner Nachfolger wiedergefunden wer­den können. So scheint J esus in seinen Anweisungen an die Zwölf in Mt 10 über das Leben seiner Apostel das auszu­sagen, was für ihn selbst in der Passion Wirklichkeit wurde. Und, abgesehen von der Passion im engeren Sinne, sollen Christen durch andere, ähnliche Merkmale seines Lebens, charakterisiert sein: durch die Bereitschaft, zu leiden (10,17 ff; 16,24ff), arm zu sein (19,23ff; 16,19ff), demütig zu sein (18,lff), zu lieben (23,31ff), durch die Bereitschaft, weltliche Ehrungen abzulehnen (23,7ff), und zu dienen (20,20ff). So gelten als ethische Norm für die Christen nicht nur die Worte, sondern auch das Leben dessen, der

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sie gesagt hat. Der Schatten des Lebens J esu liegt über der ganzen Predigt. Doch wir müssen noch weiter gehen: Jesus ist für Mt nie nur Lehrer. Der normale Titel, den er für Jesus gebraucht, ist ,Herr'. Tatsächlich wird Jesus nur von Judas Ischariot Rabbi oder Lehrer genannt. Die rein mo­saische oder didaktische Funktion J esu wird überboten. Es ist wahr, daß Christen Jünger Christi sind, aber sie sind das innerhalb des größeren Zusammenhangs der Inkorpo­ration in J esus und sie beten ihn als ihren Herrn an. Es läßt sich eine Art von Identität feststellen zwischen dem Chri­sten bei Mt und seinem Herrn, die nicht unähnlich ist dem Verständnis, Christen als ,in Christus seiend' zu sehen, das wir bei Paulus finden (10,40; 18,5; 15,31ff; 25,30-46). Es ist klar, daß der Zusammenhang der Bp mit dem gesamten Evangelium - wenn man nach Aussagen über das Wesen des christlichen Lebens sucht -, den Versuch, sie ausschließ­lich oder vorwiegend ,mosaisch' betrachten zu wollen, ver­bietet. Der J esus bei Mt ist nie nur Lehrer. Wenn wir uns dem Wesen der Terminologie zuwenden, die Mt eingeführt hat, um die Bp zu gestalten, ist eine Tatsache von höchster Bedeutung. Mk (1,21-2,8) hatte die Lehre J esu als neue Lehre dargestellt. Mt aber vermied diesen Satz, als er Mk wiedergab. Das bedeutet, daß für ihn die Lehre J esu kein revolutio­näres Phänomen war. Sie war nicht radikal ,neu'. Diese Tatsache wird durch die bekannten Verse bestätigt:

,Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde ver­gehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.' Mt 5,17-20

Das Gesetz bleibt in Kraft. Es stimmt, daß die sogenann­ten Antithesen in 5,21-48 Teile des Gesetzes zu annullieren

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scheinen, aber die Bedeutung dieser Antithesen muß sorg­fältig beachtet werden. Tatsache ist, daß in keiner der Anti­thesen die Absicht besteht, die Anordnungen des Gesetzes zu annullieren, sie sollen vielmehr zu ihrer tiefsten Bedeu­tung gelangen. Daube hat das folgendermaßen ausgedrückt: " ... die von Mt gegebene Form ist stärker abgemildert, weniger revolutionär, als man zunächst glauben möchte ... Mit diesen Erklärungen: ,Ihr habt gehört - Ich aber sage euch ... ' soll J esus als Stütze des Gesetzes gezeigt werden, nicht als Zerstörer. Die Beziehung zwischen den beiden Teilen der Form besteht nicht aus reinem Kontrast. Die Forderung, daß man mit seinem Bruder nicht zürnen soll, wird nicht als gänzlich unvereinbar mit dem Verbot zu töten angesehen. Im Gegenteil, auch wenn sie weiter und tiefer sein mag, wird sie doch in gewissem Sinn so dar­gestellt, als wenn sie aus dem alten Gesetz resultierte und es gewiß mit einschlösse. Sie ist die Offenbarung einer tieferen Bedeutung für ein neues Zeitalter. Der zweite Teil entfaltet den ersten eher, als daß er ihn wegwischte. "19

Es streng und gen au zu interpretieren bedeutet nicht, das Gesetz zu annullieren, sondern vielmehr, es entsprechend seiner eigenen Absicht zu verändern. Von diesem Stand­punkt aus können wir, wie Daube zeigt, nicht davon spre­chen, daß das Gesetz in den Antithesen außer Kraft gesetzt wird, sondern nur, daß es in seinen Forderungen vertieft oder auf einer höheren Ebene neu interpretiert wird. Dieses Verständnis des Gesetzes bei Mt wird bestätigt, wenn wir die drei Abschnitte untersuchen, in denen die Einstellung J esu zum Gesetz mit besonderem Nachdruck gezeigt wird: in Mt 12,1-14, wo das Halten des Sabbats diskutiert wird, in 15,1-20, wo es um die Reinigungsgesetze und in 19,1-19, wo es um die Scheidung geht. In allen drei Abschnitten macht Mt klar, daß die Lehre Jesu nicht im Gegensatz zu dem geschriebenen Gesetz des Mose steht, auch wenn sie der mündlichen Tradition kritisch begeg­net: sie bringt eher die volle Interpretation des Früheren als seine Annullierung. Damit stimmt überein, daß durch das ganze Mtev hindurch das Gesetz Moses das Gesetz Gottes bleibt (vgl. Mk 7,10

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und Mt 15,4; Mk 12,26 und Mt 22,31. Jesus wird nicht als Gegensatz Mose gegenüber gestellt. Moses Worte bleiben Gottes Worte). Auf der gleichen Linie liegt es, daß die­j enigen in Israel, die in besonderer Weise als Ausleger des Mose angesehen wurden, bei Mt nicht gänzlich abgetan werden. Er verdammt ihre Praxis, aber nicht ihre Lehre. Das wird in den bekannten Abschnitten 23,1-7 und 15,1 ff offensichtlich, wo wiederum nicht das Festhalten der Pha­risäer am Gesetz Moses verdammt wird, sondern nur ihre falsche Auslegung dieses Gesetzes. Das Verständnis des Gesetzes Moses sowohl innerhalb als auch außerhalb der Bp bei Mt verbietet es, auf eine Antithese zu dem Gesetz Moses Nachdruck zu legen. Man muß zugeben, daß dieses Verständnis, zusammen mit den oben erwähnten Faktoren, den Eifer eindämmt, der im matthäischen J esus einen neuen Mose, der dem ersten entgegengesetzt ist, sehen möchte. Die Fäden unserer Untersuchung müssen nun zusammen­geführt werden. Um sie besser zu verstehen, haben wir versucht, den Zusammenhang der Bp mit dem gesamten Evangelium so genau wie möglich zu zeigen. Es ist auf­gewiesen worden, daß das Motiv vom neuen Exodus und vom neuen Mose Mt zwar beeinflußte, daß es aber seine Gestaltung des Evangeliums nicht ernstlich bestimmte. So­mit kann seiner fünffältigen Struktur nicht mit Sicherheit eine theologische Bedeutung gegeben werden, d. h., es er­gibt sich aus ihr nicht eindeutig, daß die Interpretation des Evangeliums als neuer Pentateuch oder, in seiner Gesamt­heit, als Gegenstück zu den fünf Büchern Mose beabsichtigt ist. An dieser Stelle, wenn auch sicherlich nicht an anderen, erscheint es angebracht, den ehrfurchtgebietenden Geist Bacons aus den Untersuchungen des Mtev zu vertreiben. Gleicherweise wird die Bp selbst nicht geboten als ein ,neues', revolutionäres Gesetz, das in scharfem Gegensatz zu dem am Sinai gegebenen steht. Tatsächlich scheint Mt den Ausdruck ,neue Lehre' zur Beschreibung der Worte J esu absichtlich vermieden zu haben. Er präsentiert diese vielmehr als die wahre Interpretation des jüdischen Ge­setzes. Nicht Antithese, sondern Vervollkommnung drückt

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das Verhältnis zwischen dem Gesetz Moses und der Lehre Jesu aus. Es ist aber nicht genug, wenn das nur erkannt wird. Die volle Bedeutung dieses Sachverhalts für das Verständnis des Mt muß erfaßt werden. Für ihn ist die erwähnte Beziehung die der Vervollkommnung (Reformation ist dafür ein zu schwaches Wort), nicht der Revolution. Er hat aber ganz klar, mit unmißverständlicher Absicht und mit massiver und majestätischer Eindrücklichkeit die Lehre J esu in den Vordergrund seines Evangeliums gestellt. Er stellt sich Christus unbedingt auf dem Berg vor, als Lehrer der Ge­rechtigkeit. Gleichzeitig hatte der Anspruch, den der Chri­stus bei Mt an anderen Stellen des Evangeliums an seine Jünger stellte, den Charakter einer persönlichen Beziehung zu ihm selbst, die in der Sprache der Gebote nicht vollkom­men Ausdruck finden konnte. Zusammen mit den Geboten drückt dieser Anspruch aber das Wesen des Herrn aus. Trotz ihrer didaktischen Isolierung erhält die Bp durch ihren Zusammenhang mit der Interpretation des gesamten Evangeliums bei Mt die Qualität eines "Personalismus" "in Christus". Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Mt die Absicht hatte, die Bp als messianische Tora darzustellen. Damit meint er nicht ein neues, d. h. ein vom alten ver­schiedenes Gesetz, sondern eine neue Auslegung des alten Gesetzes. Diese neue Interpretation J esu können wir mit dem gleichen Recht als ,Tora' bezeichnen, wie die Inter­pretationen von Rillel und Schammai als solche bezeichnet werden (Tos. So. 14,9). Aber, obgleich die Worte J esu genau genommen Interpre­tationen sind, sind sie doch auf neue Weise autoritativ (7,28). Daube, der mehr als jeder andere uns beim Anwen­den des Begriffs ,Antithese' für die Forderungen der Bp Vorsicht gelehrt hat, hat auch das Element von etwas Neuem in den Worten Jesu gefunden: ,Es geht darum, daß wir bei Mt nicht eine gelehrte Ausarbeitung einer fort­schrittlichen Interpretation einiger Rabbinen vor uns ha­ben, die gegen eine denkbar enge gestellt wird, sondern eine Darlegung der maßgebenden Forderungen durch J esu höchste Autorität. Diese Forderung steht im Gegensatz zu

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einem Standpunkt, der, ganz gleich ob von Freunden oder Feinden eingenommen, in dem genauen Wortlaut der Lehre der Schrift einen Maßstab für die Lebensführung sieht. J esu höchste Autorität stellt die maßgebenden Forderungen auf. Aus ihr erwächst das: ,Ich aber sage euch, wer mit seinem Bruder zürnt ... ' Diese Forderung steht im Gegensatz zu einem Standpunkt, der von denen eingenommen wird, ge­gen die sich J esus wendet, einem Standpunkt, der in dem genauen Wortlaut einer Verordnung die Grundlage sieht. Daher kommt das: ,Ihr habt wörtlich verstanden, was ge­sagt ist' usw. Der Sitz im Leben für die rabbinische Form ist die dialektische Darlegung des Gesetzes. Für die mat­thäische Form ist er die Verkündigung des wahren Ge­setzes ... '20

So können wir nicht daran zweifeln, daß die Bp das ,Ge­setz' Jesu, des Messias und Herrn ist. Unsere Untersuchung endet damit zweideutig. Mt stellt J esus als den dar, der ein messianisches Gesetz auf einem Berg gibt, aber er ver­meidet das klare Konzept einer neuen Tora und eines neuen Sinai. Er hat um seinen Herrn den Mantel eines Lehrers der Gerechtigkeit geworfen, aber er vermeidet den ausdrück­lichen, respekteinflößenden Titel ,neuer Mose'. Können wir diese Zweideutigkeit verstehen? Warum wird in einem Evangelium, wo so vieles die Anwendung dieser Begriffe herauszufordern scheint, wo die Substanz des neuen Ge­setzes, des neuen Sinai, des neuen Mose gegenwärtig ist, offensichtlich gezögert, diesen Begriffen deutlich Ausdruck zu verleihen? Vielleicht können eschatologische Erwartun­gen und Verhältnisse innerhalb des Judentums des ersten Jahrhunderts diese Zweideutigkeit klären und die Vorsicht des Mt erklären. In dieser Hoffnung werden wir beides in den nächsten zwei Kapiteln erforschen.

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11. Die Bergpredigt im Kontext der jüdischen Messiaserwartung

In dem vorausgehenden Kapitel behaupteten wir, daß die Ansicht, nach der Mt sein Evangelium in fünf Bücher ein­geteilt habe, um den fünf Gesetzesbüchern zu entsprechen, so daß J esus für ihn, wie in der Bp dargelegt, ein neuer Mose ist, der sein neues Gesetz von einem neuen Sinai aus gibt, für sich allein genommen infrage gestellt werden muß. In den Geburtsgeschichten, im Epilog, möglicherweise in den zehn Wundern in Kap. 8 und 9 und in der Verklä­rungsgeschichte zeigen sich jedoch Elemente, die diese An­sicht nahezulegen scheinen, auch wenn sie sie nicht aus­drücklich fordern. Nichtsdestoweniger können wir mit Recht fragen: ist das nicht alles recht phantastisch? Das Beweismaterial kann verschieden interpretiert werden. Die Parallele zwischen Christus und Mose wird nie deutlich gezogen. Nicht einmal im Prolog, in 2,15, können wir diese Entsprechung ohne jeden Zweifel feststellen. Und selbst wenn wir das Recht hätten, an dieser Stelle so zu verfah­ren, könnte doch das Motiv des neuen Mose hier nicht klar und selbst nicht einmal als vorherrschend gefunden werden. Wie wir gesehen haben, steht es innerhalb eines Kontextes, der, wie das andere untersuchte Material, die Ankunft Christi als den Beginn einer neuen Schöpfung sieht, als Ankunft des messianischen Königs, und schließlich des triumphierenden Menschensohnes. Weiter, können wir wirklich die Rolle J esu auf dem Berg mit der des Mose auf dem Sinai vergleichen? Mose war dort der Überbringer des Gesetzes, das er von Gott erhalten hatte. J esus jedoch gibt in der Bp entweder ein neues Gesetz oder eine neue Inter­pretation des Gesetzes und das aus eigener Autorität. Auf der gleichen Linie liegt es, daß, wenn in 28,16-20 eine Paral-

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lele zwischen J esus und Mose bestehen sollte, so doch auch ein Kontrast da ist. Mose betrat das Land der Verheißung nicht, aber J esus, der auferstandene Herr des Mt, besitzt das Land bereits. ,Alle Macht' wurde ihm schon gegeben. Darüber hinaus, - selbst wenn wir das Vorhandensein des ,neuen Mose'-Motivs bei Mt anerkennen, so haben wir doch gesehen, daß es nahezu zweitrangig ist, weil sich in ihm die Christus-Darstellung bei Mt bei weitem nicht erschöpft. Das zeigt sich klar in 18,20, wo es heißt: ,Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.' Hier erfüllt Christus selbst die Funktion der göttlichen Gegenwart. Er ist mehr als der neue Mose: er symbolisiert die neue Sche­china, die Anwesenheit Gottes selbst. Für Mt war J esus, so sehr er in ihm auch den neuen Mose sah, doch unvergleich­lich. Von seinen Worten und Taten sagt er: ,Solches ist noch nie in Israel gesehen worden.' Was berechtigt uns nun, angesichts dieser Schwierigkeiten, weiter daran festzuhalten, daß für Mt die Bp das Gesetz des neuen und größeren Mose ist, der der Messias ist, das messianische Gesetz? Die Beantwortung dieser Frage erfor­dert Phantasie, denn man muß versuchen, in den Begriffen derer zu denken, die in Palästina im ersten Jahrhundert lebten. Kurz gesagt: das Judentum war von einer Erinne­rung und von einer Erwartung beherrscht - für die Juden wurde die Zukunft von der Vergangenheit diktiert. Das Judentum des ersten Jahrhunderts sah zurück und vor­wärts. Was es in der Vergangenheit sah, färbte die Vision von der Zukunft. Die Zukunft sollte tatsächlich die Ver­gangenheit auf einer größeren und ruhmvolleren Ebene sein. Erinnerung und Erwartung waren die zwei Pole des jüdischen religiösen Denkens. Und das traf besonders für das messianische Denken der Zeit J esu zu. Die Juden er­warteten eine Zukunft, in der Gott seine Herrschaft auf­richten würde und wo, statt des Elends der Gegenwart, die Segnungen der idealen Zukunft eintreten würden. Diese stellte man sich verschieden vor. Die ideale Zukunft würde entweder ein Paradies auf Erden sein, das durch eine menschliche Gestalt aus dem Stamme Davids, dem Messias,

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eingeleitet wird, oder sie könnte ein übernatürlicher Zu­stand sein, der durch eine übermenschliche Gestalt, den Menschensohn, eingeleitet wird. Es gab keine einzelne jüdische Erwartung. Eine Vielzahl von Konzepten standen in der Vorstellung des Volkes und der Gebildeten gegen­einander. Etwas aber kennzeichnete alle Erwartungen: Das Ende sollte so sein wie der Anfang. Und so sollte der Mes­sias, wenn er käme, so sein wie die großen Gestalten der Vergangenheit. Und wer waren die großen Gestalten der jüdischen Geschichte? Es waren wenigstens zwei: David, der König, der Israels Grenzen am weitesten ausgedehnt und Mose, der Israel das Gesetz gegeben hatte. Der Pro­phet aber, der am Ende der Tage erstehen sollte, mußte wie Mose sein. Die ideale Gestalt der Zukunft würde der idealen Gestalt der Vergangenheit entsprechen. Im Licht dieser jüdischen Erwartung müssen wir verstehen, wie Mt Jesus sah und - für unseren Zweck besonders -wie er J esus als neuen und größeren Mose verstand. Für einen Juden des ersten Jahrhunderts, der Christ geworden war, war das der natürliche Weg, seine überzeugung und die seiner Kirche auszudrücken, daß Jesus von N azareth die endgültige Gestalt war, der Initiator der idealen Zukunft. J esus als den neuen Mose sehen bedeutete, ihn als eschato­logische Person, als Person des Endes, zu erklären. Unser Interesse an der Bp veranlaßt eine weitere Frage. Wie wir gesehen haben, vermeidet es Mt ausdrücklich, die moralischen Forderungen J esu als neues Gesetz oder neue Lehre zu beschreiben, obwohl er, wie wir gesehen haben, J esus für den Messias hält und obwohl er nahelegt, daß er der neue Mose ist. Warum? Nach unserer Auffassung war ein Grund dafür der, daß Mt offen für das Judentum und die messianischen Erwartungen seines eigenen Volkes, des Volkes der Juden, war. Die Zweideutigkeit der jüdischen Erwartungen ist in den Text des Mt eingedrungen. Um klar zu machen, was das bedeut~t, wollen wir untersuchen, wie das Judentum über die Rolle des Gesetzes in der messiani­schen Zeit dachte.

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A. Das Alte Testament

Das Alte Testament weiß von der Erwartung eines mes­sianischen Zeitalters, wenn alles vollkommen geändert und neu werden würde. Erwartete es, daß das Gesetz in dieser Zeit neu werden würde? Die folgenden Abschnitte sind hier von Wichtigkeit.

1. Der neue Bund und die Tora

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloß, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern, noch ein Bruder den andern lehren und sagen: ,Erkenne den Herrn', sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, klein und groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken. J er 31,31-3 4

Die bedeutenden Faktoren sind folgende: Für J eremia wird das Verhältnis zwischen J ahwe und seinem Volk in ,den Tagen, die kommen sollen' bündnishaft sein. Der Bund, der dann geschaffen werden soll, wird ein neuer sein. Ein Ele­ment in ihm wird, wie bei allen Bündnissen, die Tora sein. Aber während in den früheren Bündnissen die mit ihnen verbundene Tora auf sichtbares Material geschrieben war und im besonderen der Bund, den J eremia im Sinn hatte, auf Steintafeln geschrieben war, wird bei dem neuen Bund die Tora ,in das Herz' oder ,in das Innere' geschrieben wer­den; und während das Niederschreiben der früheren Tora mit menschlichen Mitteln zuwegegebracht wurde, wird es nicht nötig sein, daß der neue Bund durch menschliche Leh-

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rer gelehrt wird, denn alle, die an dem Bund beteiligt sind, werden den Herrn ,kennen' und sie werden an dieser Kennt­nis teilhaben, weil die Barriere zu diesem Teilhaben, die Sünde, durch Gott vergeben worden ist. Als Ergebnis all dessen wird Israel das Volk J ahwes werden und er ihr Gott. Unser Hauptinteresse gilt der Tora, die J ahwe in das ,Innere' oder ,in die Herzen' seines Volkes schreiben wird. Man kann nun folgendermaßen argumentieren: der Bund, der von J eremia für die Zukunft vorausgesehen wird, würde ein neuer Bund sein, der eine neue Art von Tora er­fordert, offensichtlich eine Art von Tora, die wahrscheinlich am besten geistlich genannt wird, was bedeutet, daß mit ihr die Wirksamkeit eines inneren spontanen Prinzips ge­geben ist. Andererseits gibt es jedoch Gründe dafür, die scharfe Antithese zu der alten geschriebenen Tora in Frage zu stellen, die von manchen unterstellt worden ist. Wir müssen eine gewisse Spannung in der Auffassung des J ere­mia von der geschriebenen Tora und der Tora, die im ,Neuen Bund' gehandhabt wird, feststellen, aber wir kön­nen diese Spannung nicht als einen vollkommenen Gegensatz darstellen. Uns liegt daran zu betonen, daß die Tora in gewissem Sinn neu und doch nicht gänzlich von der alten Tora, d. h. einer äußeren Tora, getrennt, Teil der Hoff­nung Jeremias für die ,letzten Tage' ist. Für Jeremia würde für den N euen Bund wahrscheinlich beides nötig sein, der Buchstabe und der Geist.

2. Der Knecht Gottes und sein Gesetz

In Deutero-Jes (42,1-4; 49,1-6; 50,4-11; 52,13-53,12) taucht eine Gestalt auf, die Knecht Gottes genannt wird. Diese Ge­stalt wurde auf verschiedene Weise gedeutet: als sich auf ganz Israel beziehend, als ein ideales Israel innerhalb des gan­zen Volkes und als ein Individuum. Einige sahen in dem Knecht sowohl eine Gemeinschaft, als auch eine individuelle Gestalt. Was für unseren Zweck von Bedeutung ist, ist die Tatsache, daß die frühe Kirche diesen Titel J esus zuschrieb (Apg 8,3-52; 1, Petr 2,21-23), d. h., sie identifizierte den

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Messias mit dem Knecht. Es ist möglich, daß diese Identi­fizierung bereits im AT gemacht wurde. Es ist auffallend, daß der Knecht Gottes im AT ein Ge­setzeslehrer ist. Das kann besonders im Hinblick auf das erste Gottesknechtslied festgestellt werden:

Siehe! Mein Knecht, den ich halte, Mein Erwählter, an dem ich Freude habe! Ich habe ihn mit meinem Geist begabt, Er soll den Völkern Gericht ankündigen, Er soll nicht schreien noch Geschrei machen, Noch soll seine Stimme auf der Straße gehört werden; Ein angeknicktes Rohr soll er nicht zerbrechen, Und den glimmenden Docht soll er nicht auslöschen, In Treue soll er das Gericht ankündigen. Er glimmt nicht und wird selbst nicht geknickt, Bis er Gerechtigkeit auf der Erde aufgerichtet hat. Und auf seine Weisung warten die fernen Küsten mit Spannung. Jes 42,1-41

Der hebräische Terminus, der von North mit ,Weisung' übersetzt wird, lautet in Jes 42,4 ,tora' und wird gewöhn­lich mit ,Gesetz' wiedergegeben. Hier haben wir einen kla­ren Bezug auf das Gesetz des Knechtes. Vielleicht betont das besitzanzeigende Fürwort ,sein Gesetz', daß die Inseln auf ein spezielles Gesetz warten, das der Knecht bringen soll. Die Erteilung von Tora (Gesetz) ist eine zentrale Funktion des Gottesknechtes: Diese Tora wird an die Welt gerichtet sein. Damit stimmt überein, daß die Züge eines ,Lehrers' am Knecht deutlich sichtbar werden. Folgendes sind die Hauptanzeichen dafür: Wie die Propheten, so ist auch der Knecht mit dem Geist begabt (42,1); er erteilt Tora (42,4); er ist entweder Schüler eines anderen Prophe­ten oder eines mit dem Geist Gottes Begabten (50,4); er ist, wie andere Propheten, (Jer 1,5) von seiner Mutter Leib an zu dieser Aufgabe berufen; er öffnet seine Ohren täglich für Offenbarungen (50,4) und durch seine Botschaft, wie auch durch sein Leiden, wirkt er Heil (Jes 42,4). Wenn im AT der Knecht mit dem Messias identifiziert

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worden ist, so hat man das messianische Zeitalter als durch seine Tora oder sein Gesetz gekennzeichnet aufgefaßt.

3. Zion und die Tora

Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hü­gel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, laßt uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, daß er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von J erusa­lern. Und er wird richten unter den Heiden ...

Jes 2,1-5; vgl. Mi 4,1-5

J erusalem wird hier als religiöses Zentrum der Welt in messianischen Zeiten (d. i. ,zur letzten Zeit') vorgestellt, von dem aus Gott selber die Menschen in seinen Wegen unter­weisen will. Die Tora soll von Zion ausgehen und sein Wort von Jerusalem. Die ,Weisung' oder ,Tora' aus dem zukünftigen J erusalem würde zweifelsohne der Tora vom Sinai entsprechen.

B. Apokryphen und Pseudepigraphen

Das Material, das unter dieser überschrift besprochen wird, ist verwirrend und die folgende Anordnung wird nur zur Erleichterung gemacht.

1. Abschnitte, die die Ausgießung der Weisheit mit der idealen Zukunft oder dem messianischen Zeitalter

in Verbindung bringen

Das Judentum begann Weisheit mit dem Gesetz schon in früher Zeit zu identifizieren: Beide stehen schon im Dtn nebeneinander:

So haltet sie nun und tut sie! Denn dadurch werdet ihr als weise und verständig gelten bei allen Völkern, daß,

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wenn sie alle diese Gebote hören, sie sagen müssen: Ei, was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! Dtn 4,6

Es ist also eine vertretbare Annahme, wenn man davon ausgeht, daß die Vorstellung bestand, im messianischen Zeitalter würde man zu einer reicheren Kenntnis des Ge­setzes kommen. Die folgenden Abschnitte belegen das deut­lich: Kommen wir zunächst zum 1. Henoch2• In einer Vision, die er eine Vision der Weisheit nennt, darf Henoch die Zukunft sehen. Ihm wird das kommende Gericht über die Bösen offenbart (38), die Bleibe des Auserwählten, der durch Gerechtigkeit gekennzeichnet ist (39), und später wird ihm offenbart, daß dieser Auserwählte oder der Men­schensohn nicht nur sehr eng mit Gerechtigkeit, sondern auch mit der Weisheit verbunden ist.

Und an jenem Ort sah ich die Quelle der Gerechtigkeit, die unerschöpflich war: Und um sie herum waren viele Quellen der Weisheit: Und alle Durstigen tranken von ihnen und wurden mit Weisheit erfüllt, und ihre Wohnung war bei den Gerechten und Heiligen und Auserwählten. Und zu jener Stunde wurde der Menschensohn mit Namen genannt in der Gegenwart des Herrn der Geister und sein Name vor dem Haupt der Tage3• 1. Hen 48,1

Etwas später werden Macht und Weisheit des Auserwähl­ten genannt, der der Richter über Gerechte und Böse ,in jenen Tagen', die kommen sollen, sein wird.

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Denn Weisheit wird ausgegossen wie Wasser und an Herrlichkeit ist vor ihm kein Mangel ewiglich. Denn er ist mächtig in allen Geheimnissen der Gerech­tigkeit und Ungerechtigkeit wird wie ein Schatten verschwin­den und wird keine Fortdauer haben. . . 1. Hen 49,1 f

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Und der Auserwählte wird in jenen Tagen auf meinem Thron sitzen und sein Mund soll ausschütten alle Geheimnisse der Weisheit und des Rates: Denn der Herr der Geister hat (sie) ihm gegeben ...

1. Hen 51,3

In allen diesen Belegen findet sich, zugegebenermaßen, kein spezifischer Bezug auf die Tora. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß für den Autor der Bildreden die Ge­rechten jene sind, die der Tora treu gewesen sind und wir gehen sicher in der Annahme, daß der Auserwählte in über­einstimmung mit der Tora richten wird (vgl. 38,2; 39,6; 46,2; 53,6). Die Verbindung des Auserwählten mit der Weisheit mag auch von Bedeutung sein, weil von früher Zeit an Weisheit mit Tora assoziiert worden ist, wie in Dtn 4,6 und weil schon bald, nämlich seit J esus Sirach, Weisheit und Tora tatsächlich identifiziert worden sind.

Ich bin vom Munde des Höchsten ausgegangen und schwebte über der ganzen Erde wie die Wolken ... Ich allein wandelte allenthalben, so weit der Himmel ist und so tief der Abgrund ist, allenthalben im Meer, allenthalben auf Erden und unter allen Leuten, unter allen Heiden. Bei diesen allen habe ich Wohnung gesucht, daß ich eine Stätte fände. Da gebot mir der Schöpfer aller Dinge, und der mich geschaffen hat, bestellte mir eine Wohnung und sprach: In Jakob sollst du wohnen, und in Israel soll dein Erbe sein. Sir 24,3 ff

Etwas später wird die Identifikation von Weisheit mit Tora ausdrücklich vollzogen: "Dies alles ist eben das Buch des Bundes, mit dem höchsten Gott gemacht, nämlich das Ge­setz, welches Mose dem Hause Jakob zum Schatz befohlen hat." Sir 24,23

Hier hat die Weisheit die ihr vollkommen entsprechende Wohnung gefunden: In der Tora auf Erden. Im 1. Henoch

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findet man diese Ansicht nicht. Stattdessen haben wir einen seltsamen Abschnitt, der wie ein Einschub in den jetzigen Kontext aussieht, wo die Ansicht ausgesprochen wird, daß die Weisheit die Erde vergeblich nach einer zufriedenstel­lenden Wohnung durchsucht habe und daraufhin in den Himmel zurückgekehrt sei. Der Abschnitt lautet:

Die Weisheit fand keinen Platz, wo sie wohnen könnte, da wurde ihr ein Platz in den Himmeln zugewiesen. Die Weisheit ging aus, um ihre Wohnung unter den Menschenkindern zu nehmen und fand keine Wohnung: Die Weisheit kehrte zu ihrem Ort zurück und nahm ihren Sitz unter den Engeln ein ...

1. Hen 42,1 ff Damit stimmt überein, daß es mehrere Stellen gibt, in de­nen der Anspruch vertreten wird, daß die Weisheit in ihrer Fülle Zeichen der messianischen Existenz ist, vgl. 48,1; 49,lf; vgl. V. 8; 91,10; 2. Bar 44,14. Charles kommentiert zur Weisheit in 42,lf., daß ,sie in messianischen Zeiten wieder­kehren wird'4; und mit der Weisheit zusammen, so können wir mit gutem Grund feststellen, findet sich die Tora in ihrer Vollkommenheit. Der Menschensohn wird deswegen, wenn \er kommt, von der Weisheit begleitet sein oder mit ihr begabt werden. Während aber 1. Hen den Charakter die­ser Weisheit, so läßt sich wohl sicher sagen, als Kenntnisse der göttlichen Geheimnisse betont, die seit der Schöpfung der Welt verborgen sind und als Wissen um das, was Gott mit der Welt vorhat, muß man vermuten, daß sie sicher auch Kenntnis des Gesetzes bedeutet, weil der Menschen­sohn ,mächtig' war ,in allen Geheimnissen der Gerechtig­keit'5.

2. Von bestimmten Personen wird erwartet, daß sie das Gesetz in der Zukunft auslegen werden

Es gibt zwei Abschnitte im 1. Makk (um 100 v. Chr. ge­schrieben), die einen kommenden Propheten erwarten, der zu irgend einer Zeit in der Zukunft gewisse Schwierigkeiten, die die Interpretation des Gesetzes in der gegenwärtigen Welt bereitet, klären wird:

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Und Judas wählte einen Haufen, den Feinden in der Burg zu wehren, daß sie nicht herausfielen, während er das Heiligtum reinigen ließe. Und er nahm dazu Prie­ster, die sich nicht verunreinigt hatten, sondern bestän­dig im Gesetz geblieben waren. Diese reinigten das Heiligtum und trugen die unreinen Steine weg an unh eilige Orte. Und weil der Altar des Brandopfers entheiligt war, hielten sie Rat, wie sie es damit halten sollten. Und fanden einen guten Rat, nämlich, daß man ihn ganz einreißen sollte, daß nicht Ärgernis davon käme, weil ihn die Heiden entheiligt hatten; darum ward er ganz eingerissen. Und sie verwahrten die Steine auf dem Berge bei dem Haus an einem beson­deren Ort, bis ein Prophet käme, der anzeigte, was man damit tun sollte. 1. Makk 4,41-46

Und im zweiten Abschnitt (1. Makk 14,25-49) sind die Worte, auf die es uns vor allem ankommt, folgende:

... Und daß das jüdische Volk und ihre Priester ein­gewilligt hatten, daß Simon ihr Fürst und Hoherprie­ster sein sollte für und für, so lange, bis ihnen Gott einen rechten Propheten erweckte. . . 1. Makk 14,41

Beide Abschnitte überlassen Schwierigkeiten in der Inter­pretation des Gesetzes einem kommenden Propheten, der eine Anweisung von Gott haben sollte, die sie lösen würde. Der Bezug auf einen kommenden Propheten mag seine Grundlage in Dtn 18,15 haben, aber es gibt keinen zwin­genden Grund dafür, daß ,der Prophet' in diesen Texten messianisch verstanden werden muß. Sie mögen trotzdem zur Untermauerung der Ansicht zitiert werden, daß man das Gesetz zumindest in der Zukunft besser verstehen wür­de als in der Gegenwart und daß die prophetische Offen­barung, die das Gesetz deuten würde, Teil der Hoffnung des Judentums war.

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c. Die Rollen vom Toten Meer und die Damaskusschrift

Wenden wir uns den Rollen vom Toten Meer und der Damaskusschrift zu, deren vorchristliche Datierung von den meisten Wissenschaftlern angenommen wird6• Sie zei­gen eine Gruppe von Menschen, die in Erwartung des Endes sich als Volk des Neuen Bundes konstituieren. Ihre Handlungsweise scheint durch das Konzept eines neuen Exodus, parallel zum ersten, bestimmt gewesen zu sein. Ihre Hauptbeschäftigung mit dem Gesetz des Mose tritt klar hervor. Was uns hier interessiert, ist, ob wir in den Schriften einen Aufweis dafür entdecken können, daß man sich einer Notwendigkeit oder Hoffnung auf Änderungen im Gesetz oder auf ein neues Gesetz bewußt war.

Und von keinem Rat des Gesetzes sollen sie abweichen, um in aller Verstocktheit ihres Herzens zu wandeln, sondern sie sollen nach den früheren Bestimmungen gerichtet werden, durch welche im Anfang die Männer der Gemeinschaft in Zucht gehalten worden sind, bis daß der Prophet und die Gesalbten Aarons und Israels kommen. 1 QS 9,9-11 7

Die Gemeinschaft, die, wie wir aus 1 QS 8,13 f wissen, auf der Grundlage von Jes 40,3 gebildet worden war, sollte also durch in der Gemeinderegel festgelegte Satzungen regiert werden, bis ,ein Prophet und die Gesalbten' - einer aus Aaron und einer aus David - aufstehen würden. Wäh­rend nichts im Text darauf hinweist, daß der kommende Prophet ein N eu es Gesetz bringen würde, besagt er doch ganz klar, daß die Regeln, die das Leben der Gemeinschaft regieren, bei des Propheten Kommen für Veränderungen offen sein würden. Die Satzungen der Gemeinderegel stel­len also ein Interimprogramm dar. Dasselbe Konzept eines Interimprogrammes taucht in der Damaskusschrift auf. Am Anfang dieses Dokumentes, 1,10-12 lesen wir nach einer Aussage über die ursprünglichen Mit­glieder der Gemeinschaft (die, obwohl auf ihre Weise eifrig, ,wie Blinde waren und solche, die nach dem Weg tasten, zwanzig Jahre lang') folgendes:

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Und Gott achtete auf ihre Werke, denn mit vollkom­menem Herzen hatten sie ihn gesucht, und erweckte ihnen den Lehrer der Gerechtigkeit, um sie auf den Weg seines Herzens zu führen. Und er machte kund den späteren Geschlechtern, was er am letzten Ge­schlecht, der Gemeinde der Abtrünnigen, tun wird8•

Wir müssen wahrscheinlich annehmen, daß die Instruktio­nen über ,den Weg', die von dieser Gestalt, dem Lehrer der Gerechtigkeit gegeben worden sind, in der Damaskusschrift enthalten sind. Werden diese als für ewig verbindlich an­gesehen ? Worte in der Damaskusschrift 6,14 lassen vermu­ten, daß man sie nicht so ansah. Sie boten eher eine In­terimsethik dar. Nach ihr sollen die Sektenangehörigen dar­auf achten, ,der Deutung des Gesetzes entsprechend zu han­deln zur Zeit der Gottlosigkeit'. Über ,die Zeit der Gottlosigkeit' hinaus, so soll damit ge­sagt werden, galt das gegenwärtig Geschriebene nicht. Aber eines ist sicher. In 1 QS und in der Damaskusschrift wird eine Zukunft ins Auge gefaßt, in der man eine Änderung der Gesetze, die die Gemeinde regierten, erwartet hat. Die be­nutzte Ausdrucksweise macht nicht deutlich, wie das Gesetz in der messianischen Zeit wirken sollte. Es ist uns sicher nicht erlaubt, anzunehmen, daß das Gesetz zu jener Zeit aufhören würde oder daß es ein neues Gesetz geben würde, sondern nur, daß die geläufigen Interpretationen veraltet sein würden. Das bedeutet jedoch, daß das ,Gesetz' für die Sekte nicht vollkommen entsprechend war - ob wir nun Stufen annehmen, wie oben angedeutet, oder nicht. Ein starkes Bewußtsein war vorhanden, daß die Tage des Mes­sias Änderungen in den Gesetzen, die die Gemeinschaft regierten, mit sich bringen würden. Können wir noch weiter gehen? Es gibt einen ausführlichen Abschnitt, der vielleicht einen radikalen Bruch im messiani­schen Zeitalter nahelegt. Die betreffenden Worte lauten:

,Denn zu gleichen Teilen hat sie Gott gesetzt bis zur bestimmten Zeit und zur neuen Schöpfung . .. '

(1 QS 4,25)

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Heißt das ,zur neuen Schöpfung' in diesem Abschnitt, daß auch das Gesetz selber eingeschlossen ist? Das ist eine wirk­liche Möglichkeit, weil die Sekte sich der Spannung unter dem Gesetz bewußt war. Die unbarmherzige und strenge Konzentration auf den Gehorsam gegenüber dem Gesetz und das intensive Sündenbewußtsein, die diese Spannung begleiten, zeigen sich in gleicher Weise. In keinen anderen Quellen des Judentums im ersten Jahrhundert läßt sich die Unfähigkeit, die Gerechtigkeit des Gesetzes zu erlangen, besser erkennen und werden zugleich die Forderungen des­selben Gesetzes mit größerer Unbarmherzigkeit gestellt9•

Ob es so war, daß dieser Zustand zu der Hoffnung geführt haben mag, daß das messianische Zeitalter Abhilfe bringen würde? Diese Möglichkeit kann man vielleicht auch in der Sehnsucht nach der Fülle des Wissens in messianischer Zeit, wie sie in dem oben zitierten Abschnitt zum Ausdruck kommt, wahrnehmen. Das Hauptziel des Menschen ist hier als Erkenntnis Gottes definiert, d. h. an der Weisheit der himmlischen Heerscha­ren teilzuhaben. Wie soll man diese Erkenntnis verstehen? Ist sie mehr Erkenntnis im Gesetz und durch es oder ist sie eine Erkenntnis über das Gesetz hinaus? In den Rollen gibt es Hinweise, daß die ,Erkenntnis', die die Endzeit kenn­zeichnet, eschatologisch nicht nur in dem Sinne ist, daß sie zur Endzeit gehört, sondern in dem Sinn, daß sie Einsicht in die Bedeutung der Ereignisse jener Zeit gibt. Sollen wir noch weiter gehen und unter den Sektenanhängern eine Sehnsucht nach einer Erkenntnis finden, die in sich selber ,ewiges Leben' birgt, die die Erkenntnis übersteigt, die das Gesetz, wie es in dieser gegenwärtigen Zeit bekannt ist, darbietet? Zum mindesten können wir behaupten, daß das Judentum hier an der Leine des Gesetzes zerrt. Die Rollen zeigen es am ,Siedepunkt'lO. Zu bemerken ist, daß der Mittler, der das neue Verständnis des Gesetzes, das in der idealen Zukunft gegeben werden soll, ein Prophet sein sollte, der vielleicht den Messias be­gleitet, der aber selbst nicht messianisch zu verstehen ist. Das wird klar aus dem Abschnitt in 1 QS 9,9-11, den wir schon zitiert haben. Wir können gewiß sein, daß die Sekten-

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anhänger von Qumran vom messianischen Zeitalter erwar­teten, daß es die Mängel ihres Gesetzesverständnisses besei­tigen würde. Obwohl sich keine Andeutung dafür findet, daß sie irgend ein neues Gesetz erwarteten (1 QS 4, 18ff wird das kaum enthalten), so entging das Gesetz doch im Hin­blick auf die ,neue Schöpfung' ihrer Aufmerksamkeit nicht: Auch das Gesetz benötigte Erlösung, zum mindesten in 'seiner Auslegung. Und wenigstens eine eschatologische Gestalt, der Prophet als neuer Mose, sollte ein neues Ver­ständnis des Gesetzes eröffnen. Unser überblick über AT, Apokryphen und Pseudepigra­phen ist damit abgeschlossen. Wenn wir danach fragen, welchen Aufweis er erbringt hinsichtlich der Rolle, die die Tora in messianischer Zeit spielen würde, können wir fest­stellen, daß man dieses Zeitalter als einen Zeitabschnitt erwartete, in dem die Empörung ,Israels' abgetan und die Gerechtigkeit inthronisiert sein würde. Wir haben keinen Grund gefunden, anzunehmen, daß in den meisten, wenn nicht in allen Fällen, diese Gerechtigkeit von der durch die Tora geforderten verschieden sein würde. Wir können die Worte Moores wenigstens insoweit bestä­tigen, was das AT, die Apokryphen und Pseudepigraphen betrifft, daß, ,soweit die Tage des Messias die religiöse und auch die politische Erfüllung der nationalen Geschichte sind und, wie idealisiert auch immer, zu der Welt, in der wir leben, gehören, ist es natürlich, daß das Gesetz nicht nur im messianischen Zeitalter in Kraft bleiben, sondern auch besser studiert und beachtet werden sollte als je zuvor; und das war unzweifelhaft allgemeiner Glaube'l1. Wir haben jedoch beachtenswerte Züge der messianischen Hoffnung, soweit sie unsere Frage betreffen, festgestellt. Der Glaube wurde offensichtlich lebendig erhalten, daß die Tora auf eine zufriedenstellendere und herrlichere Weise interpretiert werden würde und auch die Heiden in ihre Herrschaft mit einschließen würde. Es ist uns nicht gelun­gen, endgültig zu entscheiden, ob J eremias Hoffnung auf einen neuen Bund eine neue Tora mit einschloß oder ob sie nur besseren Gehorsam gegenüber der alten Tora bein­haltete oder wiederum, ob J eremia eine Lage der Dinge

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erwartete, in der kein äußeres Gesetz irgendwelcher Art notwendig sein würde. Wir gaben jedoch zu bedenken, daß eine gewisse Spannung zwischen geschriebener Tora und der Tora, die den N euen Bund kennzeichnen würde, durch J eremia wahrscheinlich nicht gelöst wurde, obwohl seine Nachfolger seine Worte so verstanden zu haben scheinen, daß sie sich immer noch auf die alte Tora bezögen. Weiter ist klar, daß die Hoffnung auf einen Neuen Bund als dyna­misches Element im Judentum, wie sie durch die Rollen vom Toten Meer bezeugt wird, bestand12• Dort besonders sind Änderungen in der Interpretation des Gesetzes in mes­sianischer Zeit vorausgesehen worden und es ist gut, wenn wir uns wiederum auf den reichen Komplex von Anschau­ungen - vom Bundesgedanken, von der Mose-Vorstellung oder vom Exodus-Motiv herrührend - besinnen. Sie mach­ten die eschatologischen Hoffnungen des Judentums aus, von deren Hintergrund wir bei dieser Untersuchung aus­gingen.

D. Die rabbinischen Quellen

Wenn wir uns bei unserem Versuch, zu entdecken, welche Rolle die Tora im messianischen Zeitalter spielen sollte, den rabbinischen Quellen zuwenden, so müssen wir erst einmal gewisse Allgemeinplätze feststellen. Es ist erstens immer gefährlich, eine bestimmte Denkart dem Judentum über­zustülpen: dieses konnte nämlich die größten Verschieden­heiten und Widersprüchlichkeiten von Glaubensweisen er­tragen. Man muß weiter zur Kenntnis nehmen, daß unsere rabbinischen Quellen Repräsentanten des Sieges einer ein­zigen Richtung innerhalb des Judentums, nämlich der pha­risäischen Richtung sind, noch genauer: nur einer Strö­mung innerhalb der einen Richtung, der des Rabbi J ohanan ben ZakkaP3. Man muß daher mit der Möglichkeit rechnen, daß manche Schwergewichte und Tendenzen im Judentum des ersten Jahrhunderts in unseren rabbinischen Quellen nicht aufgezeichnet sind; und das ist eine Möglichkeit, die

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wir bei dieser Untersuchung nicht vernachlässigen dürfen, wenn wir auf den Kampf blicken, der sich zwischen dem alten Israel und seiner Tora und dem neuen Israel mit sei­nem neuen Gebot erhob. Es ist möglicherweise vieles aus der Tradition über Art und Rolle der Tora in messianischer Zeit entweder ignoriert oder mit Absicht unterdrückt oder geändert worden. Wir haben an anderer Stelle14 die Hete­rogenität des Judentums im ersten Jahrhundert betont. Darauf ist in den Werken von Daube, Goodenough, Lie­berman und Morton Smith genügend Nachdruck gelegt worden15, als daß man es in dieser Frage übersehen könnte. Auf der anderen Seite ist auch beobachtet worden, daß etwa im ersten Jahrhundert jene Bewegung, die ihren größten Impuls von Esra bekommen hatte und dazu bestimmt war, aus dem jüdischen Volk ein Volk der Tora zu machen, zum Ziel gekommen war: Der Pharisäismus war wohl etabliert, auch wenn seine Bedeutung im ersten Jahrhundert oft über­betont worden ist16•

Und für viele Juden war die Tora zum Eckstein des Lebens geworden. Wie wahr das ist, kann man nicht nur an jenen Episoden in der jüdischen Geschichte erkennen, wo Loyali­tät gegenüber der Tora der entscheidende Faktor war, der die religiöse Tätigkeit in Politik und anderen Bereichen bestimmte. Man kann es auch der Verherrlichung der Tora in vielen Zeugnissen jüdischen Gedankenguts entnehmen. Wie Moore deutlich genug gezeigt hat17, war die Tora für das Judentum so zentral, daß es sich weder von der Gegen­wart noch von der Vergangenheit noch von der Zukunft Vorstellungen machen konnte, ohne an die Tora zu denken. Die Bedeutung der Tora für die Gegenwart zeigt sich an­schaulich daran, wie das gesamte Leben bis in seine klein­sten Kleinigkeiten in Übereinstimmung mit der Tora gere­gelt wurde, was letztlich zur Kodifizierung der Mischna18

führte, einer Kodifizierung, die nicht plötzlich aus dem Boden geschossen ist, sondern die die Frucht vieler voraus­gehender Kodifizierungen war, die zumindest bis in das erste Jahrhundert zurückgehen19• Die Bedeutung der Tora in der Vergangenheit wurde nicht nur durch die Entwick­lung des Glaubens gesichert, daß die Tora präexistent sei -

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wie auch andere zentrale Dinge -, sondern daß sie auch -und das war wesentlicher - bei der Erschaffung der Welt mitgewirkt habe20• Die Belege dafür brauchen hier nicht wiederholt zu werden, da wir uns nur mit der Tora in der Zukunft beschäftigen, und der Platz für die Tora in der Zukunft wurde durch die Entwicklung der ,Lehre' garan­tiert, die wir als die Lehre von der Unveränderlichkeit der Tora kennen. Diese ,Lehre' wollen wir kurz auf folgende Weise charak­terisieren. Die Tora, sei sie geschrieben oder mündlich, war Mose durch J ahwe gegeben worden. Als Gabe J ahwes und als Grundriß des Universums konnte sie nichts anderes als vollkommen und unveränderlich sein. Es war unmöglich, daß sie je vergessen werden konnte. Kein Prophet konnte jemals aufstehen, der sie verändern würde, und kein neuer Mose würde jemals erscheinen, um ein anderes Gesetz ein­zuführen, das die Tora ersetzt21• Das war nicht nur palä­stinensischer Glaube, sondern es war auch der Glaube des hellenistischen Judentums. Philo schreibt in einem Abschnitt, wo er die unveränderliche Tora den ständig sich verändern­den Gesetzen anderer Nationen gegenüberstellt: ,Die Bestimmungen allein dieses Gesetzes, beständig, un­bewegt, unerschütterlich, wie mit dem Siegel der Natur selbst versehen, bleiben fest von dem Tag an, an dem sie geschrieben wurden bis jetzt, und wir erwarten, daß sie auch für die Zukunft durch alle Zeit hindurch unsterblich bleiben, so lange wie Sonne und Mond und der ganze Him­mel und die Welt bestehen22.' Moore hat vorgeschlagen, anzunehmen, daß die Verbindung von Tora und Weisheit bei der Entwicklung dieser Ansicht mitgespielt hat23• Wie wir später ausführen werden, sind wir versucht, anzuneh­men, daß ein gewisses polemisches Motiv später dazu bei­trug, auf dieser ,Lehre' zu beharren. Aber was auch die verschiedenen Faktoren beim Entstehen dieser Lehre gewe­sen sein mögen, sie ist bereits zu ausgeprägt und sie ist auch in zu früher Zeit entstanden, als daß sie bloß polemische Reaktion auf christliches Lehren sein könnte. Wir können sicher sein, daß die Worte in Mt 5,18a angemessen ausdrük­ken, was dann zur herrschenden ,Lehre' des rabbinischen Ju-

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dentums wurde. Folglich war das ausgebildete (rabbinische) Judentum, wie es uns unsere Quellen zeigen, nicht der Bo­den, auf dem der Glaube an irgend welche radikale Ände­rungen der bestehenden Tora wachsen konnte und auch nicht der Boden, der eine neue Tora willkommen heißen würde. Einerseits sollte uns schon eine nur vorläufige Über­legung über die Fähigkeit des Judentums, vielerlei verschie­dene Strömungen aufzunehmen auf eine Vielfalt vorbe­reitet sein lassen, was die Interpretation der Tora betrifft, andererseits freilich sollte auch eine nur vorläufige Über­legung - was das Dominieren der Lehre von der U nver­änderlichkeit der Tora, auch schon in vorchristlichen Zei­ten, betrifft - uns zögern lassen, einer anderen Sicht der Dinge allzu leicht zuzustimmen. Nachdem wir diese zwei Vorüberlegungen angestellt haben, können wir jetzt an unsere Aufgabe herangehen. Folgende Faktoren sind be­deutsam:

1. Die Rolle Elias in der Endzeit

Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Er soll das Herz der Väter bekehren zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern, auf daß ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.

Mal 3,23 f

Schon im vorchristlichen Judentum war Elia zu einer Ge­stalt der Endzeit geworden. Obwohl, streng genommen, selbst keine messianische Gestalt, war er ein Vorläufer des Messias. Bei den Rabbinen wurde die Gestalt des Elia rabbinisiert, so daß er in rabbinischen Quellen als einer erscheint, der Punkte der Tora, die den Rabbinen Rätsel aufgaben, erklären würde. Dafür gibt es viele Belege. Einer genügt für unsere Zwecke: Er zeigt nicht nur auf, daß die Bedeutung des Elia eine lebendige Frage für das Judentum des ersten Jahrhunderts war, sondern daß sie möglicher­weise auch eine lebendige Frage im Dialog mit der Christen­heit war.

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R. Joschua sagte: Ich habe als überlieferung von Rab­ban J ohanan b. Zakkai empfangen, der es von seinem Lehrer gehört hat und der wieder von seinem Lehrer als eine Halacha, Mose vom Sinai her gegeben, daß Elia nicht kommen wird, um für unrein oder rein zu erklären, um wegzurücken oder nahezubringen, son­dern um jene (Familien) zu entfernen, die durch Gewalttätigkeit nahegebracht worden sind und jene (Familien) nahezubringen, die durch Gewalttätigkeit entfernt worden sind. Die Familie von Beth Zerepha war im Land jenseits des Jordan und Ben Zion ent­fernte sie mit Macht. Und noch eine andere (Familie) war da und Ben Zion brachte sie mit Macht nahe. Ähnlich wird Elia kommen, um Hir unrein oder rein zu erklären, um zu entfernen oder nahezubringen. R. Juda sagt: Um nahezubringen, aber nicht um zu entfernen. R. Simeon sagt: Um übereinstimmung zu bringen, wo Streit ist. Die Weisen sagen: Weder um zu entfernen noch um nahezubringen, sondern um Frieden in der Welt zu machen, wie geschrieben ist: ,Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia ... der soll das Herz der Väter bekehren zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern'.

Mischna Eduyoth 8,724

Zwei Aufgaben werden hier dem Elia c}urch die verschie­denen im Abschnitt genannten Rabbinen zugesprochen. Er soll über Fragen der legitimen israelitischen Abstammung entscheiden, d. h., erklären, was rein und unrein ist, und er soH Frieden bringen. Elia würde das Instrument für Ver­änderungen im Verständnis der Tora in messianischen Zei­ten sein.

2. Abänderungen, die an der Tora vorgenommen werden sollen

Obwohl die Tora unveränderlich war, zeigen unsere Quel­len ein Wissen davon auf, daß trotzdem Modifikationen verschiedener Art, zumindest in bestimmten Details, not­wendig sein würden25•

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Wir ordnen das Material folgendermaßen an: (a) Stellen, die an die Aufhebung von bestimmten Rechts­sätzen, Feste und dergleichen betreffend, denken lassen. Es gab einige, die die Anschauung vertraten, daß in der mes­sianischen Zeit die Sünde nicht existieren würde und daraus folgte, daß der größte Teil der Opfer, die natürlich mit dem Makel der Sünde zu tun hatten, belanglos sein würde.

R. Pinehas, R. Levi und R. J ohanan sagten im Namen des R. Menahem von Gallia: In der künftigen Zeit werden alle Opfer aufgehoben werden, nur das der Danksagung wird nicht aufgehoben werden, und alle Gebete werden aufgehoben werden, nur (das der) Danksagung wird nicht aufgehoben werden. Darauf ist (hingewiesen durch) das, was geschrieben ist: Jer 33, 1126• Levitikus Rabba, 9,7 zu Lev 7,11 f

Der Passus "in der künftigen Zeit" bezieht sich hier wahr­scheinlich auf das messianische Zeitalter und das Alter die­ser Stelle ist 165-200 n.Chr. Dazu eine Stelle aus Yalqut zu den Sprüchen 9,2, aus der Zeit zwischen 80-120 n.Chr.:

Alle Feste außer dem Purimfest sollen aufhören, denn es heißt (Esther 9,28): , ... diese Tage sind zu halten ... bei allen Geschlechtern ... und ... sollen unter den Juden nicht untergehen ... ' R. Eleazar sagte: Auch der Versöhnungstag wird nicht aufgehoben werden, denn es heißt (Lev 16,34): ,Das soll euch eine ewige Ord­nung sein.' Yalqut zu Spr 9,2

In der messianischen Zeit sollen unter den Festen nur die zwei Feste Purim und Versöhnungstag überleben. Das schließt ein, daß man an radikale Veränderungen bei den Festen in jener Zeit dachte. (b) Stellen, die Änderungen in den Gesetzen, die unreinen und reinen Dinge usw. betreffend, nahezulegen scheinen. Wir beginnen mit einem Midrasch:

Der Herr wird die Bande lösen (Ps 146,7). Was mei­nen die Worte im Vers ,die Bande lösen'? Einige sagen, daß der Heilige, gesegnet sei er, über jedes Tier, dessen

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Fleisch in dieser WeIt zu essen verboten ist, in der künftigen Zeit erklären wird, daß das Essen seines Fleisches erlaubt ist. In dem Vers, Was geschehen ist, eben das wird her­nach sein und was gegeben worden ist, wird hernach gegeben werden' (Pred Sal 1,9) nämlich beziehen sich die Worte ,was gegeben worden ist' auf die Tiere, die als Nahrung vor der Zeit der Söhne N oahs gegeben worden sind, denn Gott hat gesagt: ,Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich's euch alles gegeben' (Gen 9,3). Das heißt doch: ,Wie ich grünes Kraut allen als Nahrung gege­ben habe, so habe ich einst sowohl wilde Tiere und Vieh allen zur Nahrung gegeben.' Aber warum hat Gott das Fleisch mancher Tiere für verboten erklärt? Um zu sehen, wer seine Gebote annimmt und wer sie nicht annimmt. In der .künftigen Zeit jedoch wird Gott das Essen des Fleisches, das er verboten hat, wieder erlauben. Andere sagen, daß Gott das in der künftigen Zeit nicht erlauben werde, denn es heißt: , ... die Schweinefleisch essen, greuliches Getier und Mäuse, die sollen mit­einander weggerafft werden, spricht der Herr' (Jes 66,17). Wenn Gott also die Menschen, die verbotenes Fleisch essen, ausschließen und verderben will, wird er sicherlich dasselbe auch an den verbotenen Tieren sel­ber tun. Worauf sonst sollen sich die Worte ,wird die Bande lösen' beziehen? Obwohl nichts strenger verbo­ten ist als der Verkehr mit einer menstruierenden Frau - denn wenn eine Frau Blut sieht, verbietet sie der Heilige, gesegnet sei er, ihrem Manne - wird Gott in der künftigen Zeit solchen Verkehr erlauben. Wie die Schrift sagt: ,Zu der Zeit, spricht der Herr Zebaoth ... will ich auch die Propheten und allen Geist der Unrein­heit aus dem Lande treiben' (Sach 13,2), ,unrein' meint hier klar eine menstruierende Frau und von der heißt es: ,Du sollst nicht zu einer Frau gehen, solange sie ihre Tage hat, um in ihrer Unreinheit mit ihr Umgang zu haben' (Lev 18,19).

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Wieder andere sagen, daß in der künftigen Zeit Ge­schlechtsverkehr vollkommen verboten sein wird. Du kannst selber sehen, warum das so sein wird. An dem Tag, an dem der Heilige, gesegnet sei er, sich auf dem Berge Sinai offenbarte, um den Kindern Israel die Tora zu geben, verbot er für drei Tage den Geschlechts­verkehr, wie es heißt: ,Seid bereit für den dritten Tag, und keiner rühre eine Frau an!' (Ex 19,15). Wenn also Gott, als er sich nur für einen Tag offenbarte, den Geschlechtsverkehr für drei Tage verbot, wird in der künftigen Zeit, wenn die Anwesenheit Gottes ständig inmitten Israels wohnt, der Geschlechtsverkehr nicht vollkommen verboten sein? Was denn anderes ist mit ,Bande' in ,er wird die Bande lösen' gemeint? Die Bande des Todes und die Bande der niederen Welt. Midrasch Tehillim zu Ps 146,727

Hier werden die Unterschiede zwischen reinen und unrei­nen Tieren im messianischen Zeitalter aufgehoben. Dieses wird als eine Rückkehr zur ersten und ursprünglichen Be­schaffenheit der Welt vor der Flutkatastrophe gezeichnet. Die Idee, daß das Ende dem Anfang entspricht, ist ein Ge­meinplatz der Apokalyptik und das Prinzip, das auch hier am Werke zu sein scheint. Was uns jedoch vor allem interessiert, ist die Tatsache, daß der Text uns die Möglichkeit einer Änderung im Gesetz in der Zukunft vermuten läßt. Leider ist das Alter dieser Stelle unbekannt. Hier ist der beste Ort, auch noch eine Stelle zu zitieren, von der wir mit ziemlicher Gewißheit annehmen, daß sie das Kommen einer neuen Tora im messianischen Zeitalter im­pliziert.

R. Juda b. R. Simeon sagte: Behemoth und Leviathan werden sich in der künftigen Zeit in einen wilden Tier­streit vor den Gerechten verwickeln und wer noch nicht Zuschauer bei einem Kampf wilder Tiere bei den Heidenvölkem in dieser Welt gewesen ist, dem wird die Wohltat zugedacht werden, einen in der künftigen Welt zu sehen. Wie werden sie dahinge-

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schlachtet werden? Der Behemoth wird mit seinen Hörnern den Leviathan niederziehen und zerreißen und der Leviathan wird mit seinen Flossen den Behe­moth niederziehen und durchstechen. Die Weisen ha­ben gesagt: Ist das denn eine richtige Methode zu schlachten? Haben wir nicht folgendes in der Mischna gelernt: Alle können schlachten und jeder kann zu allen Zeiten (des Tages) schlachten und mit jedem Instrument, ausgenommen mit einer Sense oder mit einer Säge oder mit Zähnen (in einem Kiefer, den man aus einem toten Tier geschnitten hat), weil sie Schmerz verursachen wie beim Erwürgen, oder mit einem N a­gel (eines lebendigen Körpers)? R. Abin b. Kahana hat gesagt: Der Heilige, gesegnet sei er, hat gesagt: Unterweisung (Tora) wird von mir ausgehen (Jes 51,4) ( das heißt, eine außergewöhnliche, vorübergehende Regelung wird von mir ausgehen).

Levitikus Rabba 13,3 zu Lev 11,228

Die obige übersetzung Israelstams ignoriert die Texte der Wilnaer und Warschauer Ausgaben der Mischna, die die übersetzung erfordern: ,Neue Tora soll von mir ausgehen.' Viele sind der Meinung, daß hier das Konzept einer neuen messianischen Tora ausgedrückt wird29• R. Abin b. Kahana muß man wahrscheinlich mindestens um 300 n. ehr. datie­ren. Die oben aufgezeigten Belege berechtigen ausreichend die Behauptung, daß trotz der ,Lehre' von der Unveränder­lichkeit der Tora auch gelegentlich der Hoffnung Ausdruck verliehen wurde, die Tora werde in messianischer Zeit der Modifikation unterliegen. Es gab einige Halachoth, die in jenem Zeitalter aufhören würden, zur Anwendung zu kom­men; andere würden im Gegenteil neue Relevanz gewin­nen. Es ist jedoch wichtig, daß ausdrücklich erkannt wird, daß die meisten, wenn nicht sogar alle ins Auge gefaßten Ver­änderungen als innerhalb der bestehenden Tora sich ereig­nend, gedacht werden und die Dauer ihrer Gültigkeit voraussetzen. Mehr noch, die beabsichtigten Veränderun-

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gen schließen keine notwendige Erleichterung dessen, was wir als Härte des Joches der Tora bezeichnen möchten, ein. Im Gegenteil, in manchen Stellen hat man erwartet, daß jenes Joch sogar in diesem Zeitalter schwerer werden würde30• Zusätzlich müssen wir darauf hinweisen, daß vieles an der traditionellen christlichen Interpretation einiger zitierter Stellen dem Text Gewalt antut und zurück­gewiesen werden muß. An dieser Stelle kann es auch hilf­reich sein, wenn festgestellt wird, daß in allen bisher zitier­ten Abschnitten wahrscheinlich auf das messianische Zeitalter als solches Bezug genommen wird.

3. Die Tora soll vollkommen verstanden werden

Der dritte entscheidende Faktor, den wir zur Kenntnis neh­men müssen, ist der, daß man das messianische Zeitalter, wie wir es erwarten können, als eine Ära beschreibt, in der bestimmte Schwierigkeiten und Unbegreiflichkeiten, die die Tora in dieser Zeit bereitet hat, angemessen erklärt und begriffen würden: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem. dunklen Wort, aber dann wird die Dunkelheit be­seitigt sein31•

Viele Forderungen der Tora schienen unerklärbar und irrational zu sein: Die Gründe, warum bestimmte Dinge verboten oder geboten waren, waren undurchsichtig und die Tatsache, daß die Juden nicht immer eine zufrieden­steIlende Apologie für vieles in ihrem Verhalten geben konnten, machte sie verwundbar gegenüber dem Zynismus und der Kritik der Heiden. Von daher entwickelte sich not­wendigerweise eine beträchtliche Aktivität in der Zeit der Tannaiten und möglicherweise schon davor als ein Versuch, zu erklären, warum bestimmte Dinge geboten worden waren, die auf den ersten Blick einfach töricht schienen. Manche waren so eifrig, die ,Gründe und Ursachen für die Forderungen der Tora' darzulegen, daß sie in der Gefahr waren, ihre Texte zu manipulieren und folglich in Verdacht gerieten. Die maßgebende Position, zu der man gekommen war, besagte, daß den Forderungen der Tora in dieser Welt Gehorsam geleistet werden müßte, weil sie befohlen waren;

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das war Grund genug, sie zu beachten. Das wird aus Wor­ten des Rabbi J ohanan b. Zakkai klar, weil sie die Art von Kritik illustrieren, die an den Forderungen der Tora geübt wurde:

Ein Götzendiener fragte R. J ohanan b. Zakkai: Die Riten, die du vollziehst, sehen wie eine Art Hexerei aus. Du nimmst eine Färse, verbrennst sie, zerstampfst sie und nimmst ihre Asche. Wenn jemand von euch durch einen Leichnam verunreinigt ist, sprengst du zwei oder drei Tropfen auf ihn und sagst zu ihm: ,Du bist rein.' E. Johanan fragte ihn: ,Hat der Geist des Wahn­sinns dich jemals besessen?' ,Nein!', antwortete er. ,Hast du jemals einen Mann gesehen, von dem der Geist des Wahnsinns Besitz ergriffen hat?' ,Ja', sagte er. , Und was tut ihr in einem solchen Fall?' ,Wir neh­men Wurzeln', antwortete er ,und lassen sie unter ihm rauchen, dann sprengen wir Wasser auf den Dämon und er flieht.' Da sagte R. J ohanan zu ihm: ,Laß deine Ohren hören, was dein Mund gesprochen hat: Genau ist dieser Geist ein unreiner Geist, wie geschrieben ist: ,Und ich will auch die Propheten und allen Geist der Unreinheit aus dem Lande treiben' (Sach 13,2). Reini­gungswasser wird auf den unreinen Geist gesprengt und der Geist flieht.' Als der Götzendiener weg war, sagten die Jünger des R. J ohanan zu ihrem Meister: ,Meister! Diesen Mann hast du nur behelfsmäßig ab­gespeist, aber welche Erklärung wirst du uns geben?' Da sagte er zu ihnen: ,Bei eurem Leben! Weder der Tod verunreinigt noch reinigt das Wasser. Der Heilige, gesegnet sei er, sagt lediglich: ,Ich habe eine Ordnung niedergelegt, ich habe eine Anordnung erlassen. Ihr dürft meine Anordnung nicht überschreiten'; wie ge­schrieben steht: ,Dies ist die Ordnung des Gesetzes!'

Numeri Rabba 19,8 u. 19,2 zu Nu 19,232

Aber obwohl die Rabbinen meinten, daß es nicht ihre Sache sei, in dieser Welt Erklärungen für das ,Warum' abzuge­ben, waren sie doch überzeugt, daß die messianische Zeit eine Erklärung der unerklärbaren Forderungen, die die

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Tora stellte, mit sich bringen würde. Wir haben zuvor schon Stellen aus dem AT zitiert, in denen das messianische Zeitalter als eine Zeit, in der Gott selbst sein Volk lehren würde, ausgemalt wurde. Das war auch die feste überzeugung der Rabbinen. Zur Illustration wollen wir noch eine Stelle aus Numeri Rabba trotz ihres späten Datums zitieren. Dort wird zwar nicht ausdrücklich auf das messianische Zeitalter, sondern auf die kommende Endzeit Bezug genommen:

Daß sie zu dir führen eine rötliche Kuh (19,2). R. Jose b. Hanina (zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts) erklärte: Der Heilige, gesegnet sei er, sagte zu Mose: ,Dir werde ich den Grund für die Kuh angeben, aber für jeden anderen handelt es sich um eine Satzung.' Denn R. Huna sagte: Es steht geschrieben: Wenn meine Zeit gekommen ist (d. h., die der zukünftigen Welt), werde ich recht richten (Ps 75,3; d. h. die Gründe für meine Gesetze offenbaren), und es steht auch ge­schrieben: Und es soll an jenem Tag geschehen, daß kein Licht sein soll, sondern schwere Wolken und dick - wekippa'on (Sach 14,6). Die geschriebene Form ist ,yekippa'on', als um zu sagen: Die Dinge, die in dieser Welt vor euch verborgen sind, werdet ihr in der zu­künftigen Welt sehen, wie ein blinder Mann, der sein Gesicht wiedererlangt, wie geschrieben steht (J es 42,16): Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen. . . Numeri Rabba 19,6 zu Nu 19,233

Wir gehen zur nächsten Materialgruppe über.

4. Die Vorstellung einer neuen Tora

Jene Abschnitte, die wir bis jetzt untersucht haben, haben trotz der Modifikationen, die in ihnen zum Ausdruck kommt, was die Substanz und die Interpretation der Tora betrifft, nur einen geringen, wenn überhaupt einen Aufweis für die Erwartung einer neuen Tara in messianischer Zeit erbracht. Es sollte zwar Veränderungen in Details und ein Wachstum des Verständnisses geben, aber ein Ersatz der

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alten Tora durch eine neue ist nicht ins Auge gefaßt wor­den. In diesem Abschnitt müssen wir die Stellen behandeln, von denen man annimmt, daß in ihnen möglicherweise aus­drücklich auf eine neue Tora hingewiesen wird. (a) Der Targum zu 1es 12,3: "Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen. " Der ganze Kon­text der Stelle ist messianisch.

1 Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr, daß du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest. 2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und mein Heil. 3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus dem Heilsbrunnen. Jes 12,1-3

Der Targum gibt 12,3 so wieder: ,Und ihr sollt mit Freu­den neue Unterweisung empfangen von dem Erwählten der Gerechtigkeit'34, aber der Ausdruck, der hier mit ,neue Unterweisung' übersetzt wird, kann auch gut ,neue Tora' meinen. Die Abfassungszeit des Targums ist etwa 200 n. Chr. (b) In Yalqut zu J es 26,235 gibt es eine ausgesprochene An­spielung auf eine neue messianische Tora, die nicht nur für Israel, sondern auch für die Völker bestimmt ist. Aber da die betreffende Stelle wahrscheinlich ins 13. Jahrhundert n. Chr. datiert werden muß, ist sie zu spät, um hier von Nutzen zu sein. Wir brauchen hier nur anzumerken, daß es andere, ältere Stellen gibt, die sich auf die Teilhaberschaft der Heiden an den Segnungen durch die Tora im messiani­schen Zeitalter beziehen. Es gab verschiedene Ansichten, welche Forderungen an die Heiden gestellt werden würden. Nach einigen würden alle kleinsten Kleinigkeiten der Tora den Heiden auferlegt wer­den. Nach anderen würden nur drei Verordnungen für sie bindend sein. Nach wieder anderen würden die noachitischen Gebote ihnen aufgegeben werden. Wir brauchen uns hier

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nicht auf Einzelheiten einzulassen. Das Faktum ist von Be­deutung, daß nach der Meinung zumindest einiger Rabbinen die Heiden sich in messianischer Zeit unter das Joch der Tora begeben würden36•

5. Ein Zeitalter ohne Tora

Als nächstes haben wir zu fragen, ob es Stellen gibt, von denen man annahm, daß sie nicht nur Veränderungen in der Tora in messianischer Zeit vermuten lassen, sondern daß diese vollkommen aufgehoben werden würde. Die HauptsteIle, die wir hier betrachten müssen, kommt aus dem babylonischen Talmud Sanhedrin:

Der Tanna debe Eliyyahu lehrte: Die Welt muß sechs­tausend Jahre bestehen. In den ersten zweitausend Jahren gab es Verwüstung. Zweitausend Jahre blühte die Tora. Und die nächsten zweitausend Jahre ist die messianische Zeit (97 b); aber durch unsere vielen Un­gerechtigkeiten sind alle diese Jahre verloren· gegan­gen. Bb. Sanhedrin 97 a37

Dieser Text stammt wahrscheinlich aus der Zeit vor 200 n. ehr. Manche haben argumentiert, diese Stelle impliziere, daß eine messianische Zeit ohne Tora dieser gegenwärtigen Ära entgegengestellt wird. Aber die Stellen, die man ge­wöhnlich zur Stützung dieser Ansicht hinzuzog, überzeugen alle miteinander nicht. Die Stelle kann einfach bedeuten, daß dieses Zeitalter dem messianischen Zeitalter gegenüber­gestellt wird, nicht daß letzteres ohne Tora sein werde. In den oben untersuchten Stellen haben wir versucht heraus­zufinden, welche Rolle die Tora in der idealen Zukunft, -vorgestellt als messianisches Zeitalter oder als letztes Zeit­alter, das kommen soll, - spielen sollte. Wir wiederholen: Wir fanden im AT, in den Apokryphen und Pseudepigra­phen und in den rabbinischen Quellen die tiefe Überzeu­gung, daß Gehorsam gegenüber der Tora ein dominieren­des Kennzeichen des messianischen Zeitalters sein würde. Beim Propheten J eremia fanden wir eine gewisse Span­nung, ob dieser Gehorsam spontan, d. h. nicht durch ein

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äußeres Gesetzbuch dirigiert oder redigiert werden oder ob irgendeine Art äußerer Tora noch in Geltung sein würde. Im großen und ganzen jedoch offenbarten unsere Quellen die Erwartung, daß die Tora in ihrer bestehenden Form bis ins messianische Zeitalter bestehen würde, wo ihre dunklen Stellen klargemacht werden und wo gewisse natürliche An­passungen und Veränderungen vorgenommen werden wür­den, und wo nach der Meinung einiger, die Heiden zu denen mit hinzugerechnet werden würden, die das Joch der Tora auf sich genommen haben. Die klarste und verbreitetste Erkenntnis der Notwendigkeit von Gesetzesänderungen im messianischen Zeitalter wird in den Rollen vom Toten Meer erkennbar. Der Aufweis für die Erwartung einer neuen Tora, die der Messias bringen würde, war nicht genügend klar und ein­deutig, als daß er uns hätte gewiß machen können, daß sie ein gut definiertes und anerkanntes Element in der messianischen Hoffnung gewesen wäre, aber eine solche Vermutung war auch nicht undenkbar und nicht fraglich genug für uns, als daß wir eine solche Erwartun,g einfach nur als späte Entwicklung in einem vom Christentum be­einflußten Judentum hätten abweisen können - ein Punkt, auf den wir später zurückkommen werden. Wir können zumindest bestätigen, daß es im Anfangsstadium der mes­sianischen Hoffnung des Judentums Elemente gab, die es einigen ermöglichten, das messianische Zeitalter als durch eine neue Tora gekennzeichnet zu verstehen, eine neue Tora jedoch nicht in dem Sinne, daß sie gegen die alte Tora gerichtet gewesen wäre, aber auch nicht nur in dem Sinne, daß sie die alte Tora nur auf neuer Ebene bestätigt hätte, sondern neu in der Weise, daß das Adjektiv ,neu', das man der Tora zugesellte, wirklich berechtigt sein würde. (Mög­licherweise hat J eremia an eine Tora, die neu in ihrer Art war, gedacht, aber sogar er, so vermuteten wir, hat nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, daß diese neue Art von Tora zur selben Zeit ein äußerliches Element ähnlich dem der alten Tora an sich haben würde.) Wir müssen hier aller­dings auf gewisse Schwierigkeiten hinweisen, die jene Stel­len betreffen, die sich mit einer neuen Tora beschäftigen.

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Sie sind nachchristlich llnd spät. Das bedeutet, daß man sie iiur mit äußerster Vorsicht auf das NT anwenden kann. Sie sind in ihrem Charakter auch haggadisch, d. h. homiletisch. Sie gehören nicht zu den halachischen, d. h. den streng ge­setzlichen Quellen des Judentums. Nach den meisten rab­binischen Autoritäten bedeutet das, daß man sie in theo­logischer Hinsicht nicht so ernst nehmen darf, sondern sie eher als spielerische Phantasie ansehen muß. Um diese bei­den Schwierigkeiten jedoch auszugleichen, sind gewisse überlegungen wichtig. Wir müssen erstens betonen, daß das Schweigen unserer Quellen hinsichtlich eines früh­zeitigen Glaubens an eine neue Tora auf eine vorsätzliche Absicht zurückgeführt werden kann. Als die Christen begannen, die Forderung Jesu als eine neue Lehre und als das Gesetz des Messias zu betonen, hat das Judentum mit Absicht solche Ideen vermieden. Es gibt eine Parallele dazu in der Tatsache, daß in dem Maße, in dem das Christentum den Gedanken des neuen Bundes ent­wickelte, die Idee des Bundes in rabbinischen Kreisen immer weniger vertreten wurde. Es gibt zweitens rabbinische Gelehrte, die darauf bestehen, daß die Haggada (homiletisches Material) und nicht nur die Halacha (Material gesetzlicher Art) theologisch ernst genommen werden muß. An diesem Punkt müssen wir zur Bp zurückkehren. Das oben gebotene Material ist überzeugend genug, um uns das matthäische Verständnis der Bergpredigt zu erhel­len. Matthäus war sich, wie andere frühe Christen, bewußt, im messianischen Zeitalter zu leben. Deshalb beschäftigte ihn notwendigerweise die Rolle des Gesetzes. Wir sahen, daß für ihn das christliche Heilsgeschehen unter anderem das AT zwar einerseits verneint, es andererseits aber be­stätigt und erfüllt - das meint nämlich die Bp. Matthäus beansprucht zwar nicht ausdrücklich, eine neue Tora erhal­ten zu haben, obwohl für ihn die Substanz einer neuen messianischen Tora deutlich gegeben ist. Wie die Rabbinen, besonders aber die Sektenanhänger vom Toten Meer er­warteten, hatte für Matthäus das messianische Zeitalter eine Lehre mit eschatologischer Autorität gebracht. Durch seine

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Betonung der messianischen Lehre in der Bp weist Mat­thäus vielleicht eine besondere Nähe zu den Sektenanhän­gern auf, die die ,Weisungen' (Mischpatim), nach denen sie geleitet würden, nachdem der Prophet und die Messiasse von Aaron und Israel gekommen sein würden, unmißver­ständlich genug den vorläufigen, denen man bis dahin unter­worfen sein würde, entgegenstellten. Aber - es sei denn, daß man den Messias von Aaron mit dem Elia redivivus gleichsetzt, was unwahrscheinlich ist - die Sektenanhänger hatten die Gabe dieser erwarteten neuen Weisungen dem Propheten zugeschrieben, d. h., die messianische Funktion war nicht direkt mit der Bekanntgabe neuer Gesetze ver­bunden. Darin unterscheidet sich Matthäus von den Sektenanhän­gern, daß er J esus als Messias in besonderer Weise mit der Erteilung der Lehre in Verbindung bringt. In der Bp ist -nach der Sicht des Matthäus - in viel größerem Maße die Lehre des Messias zu finden als dies bei den Sektenanhän­gern der Fall gewesen wäre, wenn sie erkannt hätten, daß ihr Messias gekommen sei. Dadurch daß Matthäus davon weiß, welche Bedeutung der moralischen Lehre Jesu - als zur messianischen Zeit gehörig, - zukommt, steht er in der Nähe der Sektenanhänger, aber indem er sie auf Jesus als den Messias selbst bezieht, weicht er von der Erwartung der Sektenanhänger ab. Schließt er sich an genau diesem Punkt dann der rabbini­schen Erwartung an? Die Stellen, die wir herangezogen haben, rechtfertigen die Ansicht, daß in einigen rabbinischen Kreisen der Messias eine lehrende Funktion hatte. Und genau diese Betonung empfand Matthäus als kongenial. Sein Christus ist in diesem Sinne ein rabbinischer Christus, dessen Worte für ihn H alacha waren und die Grundlage für H alacha sowohl für Israel als auch für die Heidenwelt. Sowohl Israel als auch die Heidenwelt werden in diesen Worten J esu angesprochen. An diesem Punkt ist es wie­derum unmöglich, Matthäus auf ein einziges Milieu fest­zulegen. Er weist sowohl Nähe zu den Sektenanhängern als auch zu den Rabbinen auf. Eines ist klar: Auch wenn die Annahme einer neuen Tora in messianischer Zeit im Juden-

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tum vor Christus nicht ausgesprochen worden ist (das ist jedoch keineswegs sicher), war ihre Gestalt doch ein Ka­talysator, der dem zum Leben verhalf, was rudimentär schon da war. Mit ihr kam auch ein ,Gesetz des Messias'. Aber trotz seines Gefühls für die didaktische Bedeutung des Messias J esus, bleibt Matthäus empfänglich für die Schön­heiten der Hoffnungen des Judentums. Zum Teil wenig­stens war es diese Empfänglichkeit, die ihn wohl zögern ließ, den Begriff ,neue Lehre' oder ,neues Gesetz des Mes­sias' zu benutzen. Die Mehrdeutigkeit jüdischer Hoffnung ist so in die Darstellung der messianischen Zeit durch den Evangelisten eingedrungen. Trotzdem tauchte der Begriff ,neue Tora' im Judentum auf und mag bereits im ersten Jahrhundert innerhalb des pha­risäischen Judentums aufgetaucht sein. Paulus hat nicht ge­zögert, vom ,Gesetz Christi' zu sprechen und J ohannes von dem ,neuen Gebot'. Es ist deshalb möglich, daß es nicht nur seine Empfänglichkeit für die Schönheit rabbinischer und sektiererischer eschatologischer Erwartungen war, die Mat­thäus veranlaßt hat, die ,neue Lehre' in Mk 1,27 in die ,Lehre' in 7,27 abzuändern. Es muß in seiner 'Velt noch andere Faktoren gegeben haben, die ihn veranlaßten, seine Sprache in dieser Weise zu zügeln. Wir werden diese Faktoren im nächsten Kapitel untersuchen.

Anmerkung

Der Versuch von N orman Perrin38, in seiner Arbeit mit dem Titel Tbe Kingdom of God in tbe Teacbing of Jesus (Westminster Press, Philadelphia 1963 S. 76-78) zu be­weisen, daß bei der Sekte vom Toten Meer die Erwartung einer neuen Tora vorherrsche, muß zurückgewiesen wer­den. Perrin kann diese Sicht nur durch etwas aufrechterhal­ten, was nach meinem Urteil eine Fehlübersetzung eines der liturgischen Gebete ist. Perrin übersetzt eines der liturgi­schen Gebete folgendermaßen39 :

In der Zeit deines Wohlgefallens wirst du dir selbst ein Volk erwählen, denn du hast an deinen Bund gedacht

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und du wirst veranlassen, daß sie als heilig und unter­schieden von allen Völkern zu dir beiseite gesetzt wer­den und du wirst deinen Bund erneuern für sie mit einer Schau der Herrlichkeit und mit Worten deines heiligen Geistes, mit Werken deiner Hand und einem Schreiben deiner rechten Hand, um ihnen die Unter­weisung der Herrlichkeit und der Höhen der Ewig­keit zu offenbaren ... für sie ein treuer Hirte.

1 Q 34 2,2

Aber das Hebräische unterstützt eine solche Über­setzung nicht. Abgesehen davon, daß es zweifelhaft ist, ob man die Worte ,In der Zeit deines Wohlgefallens' als Endzeit interpretieren darf (S.77 Anm. 4), beziehen sich die Verben, die Perrin im Futur wiedergibt, in Wirklichkeit auf die Vergangenheit. Ich schließe mich folgender Wiedergabe des gesamten Fragmentes durch MilIar Burrows4o an: Aber du hast dir in der Zeit deines Wohlgefallens ein Volk erwählt; denn du hast an deinen Bund gedacht. Du hast getan . . . sie, indem du sie für dich absonder­test als heilig von allen Völkern. Und du hast deinen Bund für sie in einer Vision der Herrlichkeit und die Worte deines heiligen Geistes mit den Werken deiner Hände und dem Schreiben deiner rechten Hand er­neuert, um ihnen die Regel der Herrlichkeit und die Stufen der Ewigkeit bekanntzugeben ... ihnen ein treu er Hirte ... demütig ...

Es gibt hier keinen Grund für Perrin's Annahme, daß uns in den Rollen die Erwartung eines neuen Gesetzes ent­gegentritt.

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111. Die Bergpredigt im Kontext des zeitgenössischen Judentums

In einem seiner Schauspiele, das von komplizierten häus­lichen Verhältnissen handelt, behauptet T. S. Eliot, daß wir, um eine Situation verstehen zu können, ihren ganzen Zu­sammenhang kennen müssen:

Es ist oft der Fall, [sagt O'Reilly, der Psychiater] daß meine Patienten nur Teile einer Gesamtsituation sind, die ich zu ergründen habe ... 1

Das trifft für jedes Dokument zu, das wir studieren müssen und besonders für die Dokumente des NT, weil diese ge­schaffen wurden, um den Bedürfnissen' einer Gemeinschaft zu dienen und zwar einer Gemeinschaft - der Kirche -, die nicht in sich selbst verschlossen, sondern ständig darauf be­dacht ist, ihren Glauben der Welt darzulegen. Deshalb hat die moderne Forschung mit Recht darauf bestanden, daß die verschiedenen Elemente im NT mit ihrem ,Sitz im Le­ben' in Beziehung gesetzt werden müssen. Dieser Begriff ,Sitz im Leben' kann in einem engen oder weiten Sinn aufgefaßt werden. Im engen Sinne ist der ,Sitz im Leben' für jedes Dokument des NT nur dessen Vordergrund inner­halb des Lebens der Kirche oder der Kirchen, aus dem es auftauchte: Gottesdienst, Katechese, besondere Bedürfnisse und Umstände. Im weiten Sinne bezieht ,der Sitz im Leben' die gesamte Umwelt eines Dokumentes mit ein: Die Ge­samtheit der kirchlichen, ideologischen, sozialen und poli­tischen Umstände, unter deren Druck es geschaffen wurde, mit anderen Worten: Die Gesamtheit seines Hintergrundes in der zeitgenössischen Welt. Das gilt gerade auch für das Matthäusevangelium. Sein Vordergrund - so wird man wohl behaupten dürfen -

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ist das Leben der Kirche in Syrien oder Palästina irgend­wann zwischen 75 und 100 n. Chr.2, sein Hintergrund ist die Gesamtheit dessen, was in jener Zeit geschieht. Da ich mich hier nicht mit dem Evangelium als Ganzem beschäftigen kann, will ich mich auf einen bezeichnenden Teil daraus beschränken, mit der Bergpredigt. Welche Ein­flüsse führten dazu, daß die Bp zu ihrer beherrschenden Stellung in der zweiten Auflage des Markus, die wir Mat­thäus nennen, aufrückte ? Welche Kräfte veranlaßten diese konzentrierte und streng geformte Darstellung der mora­lischen Forderungen des Evangeliums?

A. Die Gnosis

Da ist zuerst die Möglichkeit, daß die Gnosis ein Faktor bei der Darstellung des Evangeliums in der besonderen Umgebung des Matthäus war, mit dem gerechnet werden muß, und wir müssen dann die Behauptungen untersuchen, im Matthäusevangelium seien antignostische Motive vor­handen. Aber ehe wir das tun können, müssen wir aufzei­gen, was mit dem Begriff Gnosis gemeint ist. In der briti­schen und in der amerikanischen Forschung3 wird der Be­griff gebraucht, um abgeirrte christliche Bewegungen des zweiten Jahrhunderts und späterer Jahrhunderte zu be­zeichnen. Da Mt wahrscheinlich im ersten Jahrhundert ge­schrieben worden ist, kann Gnosis, im Sinne dieser Defini­tion, auf Mt keinen Einfluß gehabt haben. Gnosis hat zweitens jedoch eine weitere Bedeutung. Be­sonders in der deutschen und in der europäischen Forschung' wird der Begriff im Blick auf eine weitverbreitete Be­wegung benutzt, die vorchristlich war und sogar das J uden­turn vor der Zeit J esu beeinflußt hat. Diese Bewegung be­tonte ,Erkenntnis', wie ihr Name sagt, gnosis als Mittel zum Heil. Aber ,Erkenntnis' wovon? Die Erkenntnis, die ,rettete', bestand hauptsächlich in der Erkenntnis über den Ursprung des Menschen, die Natur des Übels und den Weg, wie man dem Übel entfliehen könne. Die Mythen, an denen die Gnostiker sich erfreuten, erzählen mit mannig-

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faltigen Variationen das Schicksal der Seele. Die Seele hat ihren Ursprung oben in der Welt des Lichtes. Aber ihr tragisches Schicksal war es, daß sie von der oberen Welt des Lichtes in die Sphäre dieser Erde fiel. Sie wurde so ein Fremdling~ im Körper eingekerkert. Aber weil Gott mit der Seele in ihrer Verlorenheit in dieser Welt Erbarmen hat, sendet er seinen himmlischen Sohn hernieder, um die Seele zu erlösen. So ist eine Rückkehr in die Welt des Lichtes ermöglicht worden. Der gnostische Mythos nahm vielfältige Formen an, und es ist oft nicht klar, ob man alles, was zur Gnosis gerechnet wird, wirklich so bezeichnen sollte. Neh­men wir aber einmal für einen Augenblick das hauptsächlich kontinentale Verständnis von Gnosis - als vorchristlichen Ursprungs - an, so müssen wir feststellen, daß in ihr An­sichten vertreten wurden, die oft zu großer moralischer Lax­heit führten. Der Gnostiker war versucht, zu glauben, daß das Wissen, das er besaß, ihn über die Welt erhob. Und diese überlegenheit konnte sich auf zweierlei Weise aus­drücken, entweder in einer Indifferenz gegenüber der Welt, die zu moralischer Zügellosigkeit führte, zum Mißbrauch des Fleisches, oder in einer Verachtung der Welt, was zu falschem Asketenturn führte. Der Mangel an moralischem Ernst in der Gnosis und die große Bedeutung dieser Tat­sache für die Christenheit stehen uns in der Apostel­geschichte vor Augen, wo der Zauberer Simon, der von den Kirchenvätern als Begründer der Gnosis5 angesehen wird, das Angebot macht, die Macht des heiligen Geistes mit Geld zu erkaufen.

Philippus aber kam hinab in die Hauptstadt Samariens und predigte ihnen von Christus. Das Volk aber neigte sich dem, was Philippus sagte, einmütig zu, wie sie hörten und sahen, was er für Zeichen tat. Denn die unsauberen Geister fuhren aus vielen Besessenen aus mit großem Geschrei, auch viele Gichtbrüchige und Lahme wurden gesund gemacltt; und ward eine große Freude in derselben Stadt. Es war aber ein Mann mit Namen Simon, der zuvor in dieser Stadt Zauberei trieb und bezauberte das samaritische Volk und gab vor, er wäre

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etwas Großes. Und sie hingen ihm alle an, klein und groß, und sprachen: Der ist die Kraft Gottes, die da groß heißt. Sie hingen ihm aber an, weil er sie lange Zeit mit seiner Zauberei bezaubert hatte. Da sie aber glaubten den Predigten des Philippus von dem Reich Gottes und von dem Namen J esu Christi, ließen sich taufen Männer und Frauen. Da ward auch Simon gläu­big und ließ sich taufen und hielt sich zu Philippus. Und als er sah die Zeichen und großen Taten, die da geschahen, verwunderte er sich. Da aber die Apostel hörten zu J erusalem, daß Sam arien das Wort Gottes angenommen hatte, sandten sie zu ihnen Petrus und J ohannes. Die kamen hinab und beteten für sie, daß sie den heiligen Geist empfingen. Denn er war noch auf keinen von ihnen gefallen, sondern sie waren allein getauft auf den Namen des Herrn J esus. Da legten sie die Hände auf sie, und sie empfingen den heiligen Geist. Da aber Simon sah, daß der Geist gegeben ward, wenn die Apostel die Hände auflegten, bot er ihnen Geld an und sprach: Gebt mir auch die Macht, daß, wenn ich jemand die Hände auflege, derselbe den hei­ligen Geist empfange. Petrus aber sprach zu ihm: Daß du verdammt werdest mitsamt deinem Gelde, weil du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt. Du hast weder Teil noch Anrecht an diesem Wort, denn dein Herz ist nicht rechtschaffen vor Gott. Darum tue Buße für diese deine Bosheit und bitte den Herrn, ob dir vergeben werden möchte die Tücke deines Herzens. Denn ich sehe, daß du bist voll bitterer Galle und ver­strickt in Ungerechtigkeit. Da antwortete Simon und sprach: Bittet ihr den Herrn für mich, daß der keines über mich komme, davon ihr gesagt habt. Apg 8,5 ff

Es kann kein Zweifel daran sein, daß der Verfasser der Apg hier Simon als ein Symbol für die gnostische Heraus­forderung der Kirche gebraucht. Gnosis bedeutet den Er­satz moralischen Ernstes durch esoterische gnosis. Zweifels­ohne gab es Gnostiker von hohem moralischen Rang. Im großen ganzen jedoch opferten sie die Moral der spekula-

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tiven oder besser, der VISIOnären Wahrheit und wurden dadurch zu einer Bedrohung für die Kirche. Man hat behauptet6, daß die gnostische Bewegung für die :Kirche zu einer ernsthaften Bedrohung geworden war, als Matthäus sein Evangelium vorbereitete. Dadurch, daß die

-Gnosis· verkünaig-te~- ~Erkenritnis' -- nicht Gehorsam . gegen (fen Willen -Gottes ='--sei &lS Mittel zunlHe~l, ha~te ßie zu

---=-grs>ßer-- moralischer La:xl~._elt __ g~fü]1.rt. Dementsprechend wurd-edarauf hingewiesen, daß es die Notwendigkeit war, diese Bewegung niederzuschlagen, die Matthäus veranlaßt habe, die moralischen Forderungen des Evangeliums7 zu betonen. Die Bergpredigt sei der Protest des Matthäus und seiner Kirche gegen den Ersatz der Moral durch Spekula­tion, Ekstase und esoterische Erkenntnis. Wir wollen jetzt die Belege für diese antignostische Sicht des Matthäus prüfen. Unsere Aufmerksamkeit wird zuerst auf die Geburts-

--------geschichten in Mt 1 und 2 gelenkt . . Iffi-MarKusevangelium gibt es keine Erzählung von der Geburt J esu. Von Anfang an wird J esus als erwachsener Mann geschildert, der kam, um von J ohannes dem Täufer im Jordan getauft zu werden. Seine Geburt, seine Kindheit und Jugend, sowie sein frühes Mannesalter werden nicht erwähnt. Und manche Christen der ersten Generation mein­ten, daß gerade diese Auslassung bei Markus sehr bedeut­sam sei. Denn so konnte in der Tat der Anspruch erhoben werden, daß Markus durch seine Auslassung zum Beweis dafür beigetragen hat, daß J esus in Wirklichkeit überhaupt kein Mensch gewesen ist, er schien nur einer zu sein. Das Markusevangelium wurde so eine Waffe für Christen, die das Fleisch verachteten und sich weigerten, J esus irgend­eine fleischliche Realität zuzuschreiben. Diese Christen wur­den als Doketen bekannt, aber sie sind mit den Gnostikern eng verbunden. Ihr Einfluß nötigte die Kirche, auf der. Wirklichkeit der Geburt Jesu zu bestehen. Und sie tat dies im Evangelium des Matthäus, einer revidierten Version des Markusevangeliums. Die Geburtsgeschichten, die auf der menschlichen Geburt J esu bestehen, sind nach dieser Sicht dazu bestimmt, gnostischem Asketenturn und Doketismus

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entgegenzuwirken. Das war die Ansicht von B. W. Bacons. Er bezog sich zum Beweis dafür auf den Doketen Kerinth (einen gnostischen Häretiker, etwa um 100 n. Chr.), der, nach dem Kirchenvater Irenäus (Bischof von Lyon, etwa 130-200) seine Ansicht, es scheine nur so, als ob Jesus ein Mensch sei, allein auf das Markusevangelium stützte. Aber die Stellen bei Irenäus, die von Kerinth handeln, nehmen keinen ausdrücklichen Bezug auf Markus9• Es wird erklärt, daß die Ansichten des Kerinth denen ähnlich seien, die von Judenchristen (den Ebioniten) vertreten wurden. Von denen aber heißt es, daß sie nur das Matthäusevangelium benutzt hätten. Darüberhinaus muß man feststellen, daß selbst die Geschichte der Geburt J esu bei Matthäus zu Zweifeln über das wirkliche Menschsein J esu geführt haben mag, da es von ihm heißt, er sei vom Geist geboren wor­den. Die Geburtsgeschichte bei Matthäus ist nicht die Art von Geschichte, die man in ein Evangelium eingefügt hätte, um die Gnosis zu bekämpfen. Im übrigen muß man den Doketen Kerinth auf jeden Fall mit Ephesus, nicht mit Syrien oder Palästina 10 in Verbindung bringen. Die Ansicht, daß der Zweck der Geburtsgeschichten bei Matthäus antignostisch sei, kann deshalb nicht bewiesen werden. Es ist jedoch weiter vorgebracht worden, daß die vielen Bezugnahmen auf falsche Christusse und falsche Lehrer bei Matthäus auf Lehrer der Gnosis anspielten. Man beachte folgende Texte:

Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie er­kennen. Mt 7,15 u. 16a

Hier treffen wir unzweifelhaft auf falsche christliche Pro­pheten. Aber es ist nicht gerechtfertigt, diese ganz all­gemeine Stelle auf Gnostiker im besonderen einzuengen. Ausdrücklich wird kein Einwand gegen den Anspruch auf Erkenntnis gemacht.

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Und es werden sich viele falsche Propheten erheben und werden viele verführen ...

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Denn mancher falsche Christus und falsche Propheten werden aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, so daß, wenn es möglich wäre, auch die Aus­erwählten verführt würden. Mt 24,11-24

Matthäus bekämpft falsche Lehrer und Christusse inner­halb der Kirche, aber die hier angewandten Begriffe sind wiederum zu vage, als daß man sie präzise auf die Gnosis anwenden könnte.

Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und werden viele ver­führen. Mt 24,5

Das ist der wichtigste Abschnitt. Es sind Versuche unter­nommen worden, dieses Wort mit Si mon Magus in Verbin­dung zu bringen, dem Vater der Gnosis, über den wir bereits gesprochen haben. Aber Simon Magus hat nicht beansprucht, daß er ,der Christus' sei, noch hat er irgend­einen Anspruch erhoben, daß er im Namen Christi komme. Hätte Matthäus sich mit einer so spezifischen Person wie Simon in 24,5 befassen wollen, wäre der Bezug deutlicher gewesen. Wir müssen also wiederum schließen, daß die Hinweise auf falsche Propheten und falsche Christusse bei Matthäus nicht solcher Gestalt sind, daß sie uns erlauben würden, diese mit Gnostikern zu identifizieren. Es ist weiter behauptet worden, daß die Hinweise auf die ,Gesetzlosigkeit' bei Matthäus antignostisch seien: er be­kämpfe damit die Unmoral und Morallosigkeit der Gno­stiker. Das Wort selbst taucht an folgender Stelle auf:

Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister aus­getrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Taten getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weichet von mir, ihr Übeltäter (Täter der Gesetzlosigkeit). Mt 7,22 f

Die Leute, die hier verdammt werden, sind falsche Prophe­ten, die prophezeiten, Dämonen austrieben und Wunder im

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N amen Christi vollbrachten. Trotzdem sind sie Täter der Gesetzlosigkeit. Es wird klar gemacht, daß sie gesetzlos sind, weil sie gefehlt haben, den Willen Gottes zu tun, d. h., den Forderungen des Vaters zu gehorchen, die durch Jesus offenbart worden sind. Das Problem, das hier auftaucht, ist klar. Es ist die Diskrepanz zwischen Leben und Anspruch derer, die das Evangelium predigen und lehren, aber nicht dessen Früchte vorzeigen. Das kann aus dem Leben des Paulus illustriert werden. Am Ende des Abschnittes, der sich mit seiner Arbeit als einem Prediger des Evangeliums befaßt, erkennt Paulus, daß es für ihn möglich war, anderen zu predigen und dabei selbst nicht einwandfrei zu sein. Und diese furchtbare Möglichkeit, die ein Echo der Warnung in Mt 7,15 ff ist, spornt den Apostel zu größeren Anstren­gungen in der Selbstdisziplin an: ,Sondern ich züchtige mei­nen Leib und zähme ihn, daß ich nicht den anderen predige und selbst verwerflich werde' (1 Kor 9,27). Ähnlich weist auch das im NT zu findende Interesse an den Verleugnungen des Petrus und an den Unstimmigkeiten in seiner Laufbahn auf dieselbe Besorgnis in der Kirche hin. Von Anfang an war sich die Kirche der Diskrepanz bewußt, die zwischen der wirklichen Natur derer, die äußerlich christlichen Gottesdienst in Predigt, Exorzismus und Wun­dern verrichteten und zwischen dem Glauben, den sie be­kannten, bestand. Sie waren oft wie faule Früchte. Wie konnte denn überhaupt ein schwankender Petrus die Kirche leiten oder ihr Fels sein? Dieses Problem der Integrität der Leiter der Kirche wurde mit dem Auftauchen der Gnosis äußerst akut, aber es kennzeichnete auch das orthodoxere Leben der Kirche. Es tauchte schon in sehr früher Zeit in paulinischen und palästinensischen Gemeinden auf, so daß es nicht nötig ist, die Bedrohung durch die Gnosis dafür ver­antwortlich zu machen. Mehr noch, wir stellen hier die Ab­wesenheit jeglichen Bezuges bei Matthäus auf die Erkennt­nis, die aufbläht, fest. Die übrigen Stellen, die von Gesetzlosigkeit sprechen, sind:

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Des Menschen Sohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alle, die Ärgernis

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geben und die da Unrecht tun (Täter der Gesetzlosig­keit). Mt 13,41 Und weil der Unglaube wird überhandnehmen, wird die Liebe in vielen erkalten. Mt 24,12 So auch ihr: von außen scheinet ihr vor den Menschen fromm, aber inwendig seid ihr voller Heuchelei und übertretung (Gesetzlosigkeit). Mt 23,28

In all diesen Stellen gibt es keinen offensichtlichen Bezug auf Gnostiker. Der Begriff ,Gesetzlosigkeit' bezeichnet für Matthäus die Sünde, denn Sünde ist für ihn das Brechen des Gesetzes, nicht des jüdischen Gesetzes, sondern des Ge­setzes, das Gottes Wille ist und in den Worten J esu offen­bart worden ist. Matthäus kannte eine Art christliches Ge­setz der Liebe, das Gottes Willen darstellte. Innerlicher und äußerlicher Ungehorsam dagegen - das ist Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit. Aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß er damit irgendeine gnostische Absage an jegliche ge­setzesbedingte Zurückhaltung bekämpfte. Die Unfähigkeit, dem wahren Willen Gottes zu gehorchen, war für Matthäus Gesetzlosigkeit, ob unter Schriftgelehrten und Pharisäern, in der Kirche und auch sonst, und er inter­pretierte solches Versagen innerhalb der Kirche, das den Verfall der Liebe bedeutete, als ein Zeichen für das Ende der Welt. Bis jetzt also scheint es, daß weder die Geburtsgeschichten noch die Bezugnahme auf falsche Lehrer und auf Gesetz­losigkeit darauf hinweisen, daß Matthäus notwendiger­weise und im besonderen sich gegen die Gnosis wendet. Aber man hat noch andere Möglichkeiten dafür, daß das dennoch der Fall sei, vorgebracht. Da ist zunächst die Versuchungsgeschichte:

Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden. Und er antwortete und sprach: Es steht geschrieben: ,Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.' Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und

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sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben: ,Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.' Da sprach J esus zu ihm: Wiederum steht auch· geschrieben: ,Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht ver­suchen.' Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich an­betest. Da sprach J esus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben: ,Du sollst an­beten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.' Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten die Engel zu ihm und dienten ihm. Mt 4,3-11

Was ist die Bedeutung der Versuchungsgeschichte ? Ein deutscher Gelehrter, Schlatterl1, hat gemeint, ihr Zweck sei es, den Erlöser der Christen den Erlösern der Gnostiker gegenüberzustellen. Der Erlöser der Christen, J esus Chri­stus, mußte den Konflikt in sich selbst erleiden, der Ver­suchung zum Bösen in seinem eigenen Willen begegnen. Darin unterschied er sich von den gnostischen Erlösern, die grundlegende mythologische Konflikte mit Satan und dem Bösen durchmachen mußten. Aber diese Interpretation der Versuchung kann man aus zwei Gründen nicht akzep­tieren. Zum ersten: Es gibt ein mythologisches Element in der Ge­schichte von der Versuchung J esu. Die frühen Kirchen­väter12 fanden in ihr das Gegenstück zur Geschichte Adams. Christus tritt hier als zweiter Adam auf, der der Ver­suchung nicht unterliegt. Wenn Matthäus bewußt versucht hätte, Mythologie an dieser Stelle zu vermeiden, hätte er jede Möglichkeit einer solchen Interpretation vermieden. Aber abgesehen davon wird die Versuchungsgeschichte bei Mt weitgehend von dem Bezug auf Dtn 8 bestimmt. Eines ihrer Teilziele ist es, zu zeigen, wie die Erfahrung des Vol­kes Gottes unter dem alten Bund in der Erfahrung J esu wiederholt wird: J esus selber bringt die Geschichte seines

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eigenen Volkes neu zum Leben und wird so in sich selber das Volk Gottes und der Initiator des neuen Bundes. In Verbindung damit zielt die Geschichte nicht so sehr ;~f eIne Verwerfung der -GnosIs alS ~viefmehr aur-cIle-Verwer-

WnicJ~~it~diironenenJüilisclien-Me~sl11!iisinus.-.bas-Haupt­motiv hinter der V:er~Jlcbl.ll1gsgeschichte ist die Notwendig­keit, den Jüngern über die Natur des Messiasturns Jesu und über die solchem Messiasturn angemessenen Methoden Auf­klärung zu gebenls.

Aber es gibt zwei weitere wichtige Stellen, wo die Gegner­schaft zur Gnosis, wie man behauptet, bei Matthäus durch­bricht. Zuerst in der Auferstehungsszene:

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und da sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; etliche aber zweifelten. Und Jesus trat zu ihnen, redete mit ihnen und sprach: ,Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.' Mt 28,16-20

Nach Schlatter14 wird J esus hier als der lebendige Herr ge­schildert, der allein die Autorität besitzt, die die gnostischen Erlöser zu besitzen beanspruchen: Er allein hat jene über­natürliche Kraft, die aus einer unmittelbaren Vision des Göttlichen geboren wird. J esus allein ist Autorität gegeben worden (nicht den gnostischen Erlösern), weil er allein die gnosis hat, die diese Kraft verleiht. Es gibt leider keinen Beweis für diese Theorie. Sie ist eine reine Vermutung. Die Auferstehungsszene in 28,16ff ist nicht gegen die Gnostiker gerichtet, sondern weist auf Dan 7,14, wo der endgültige Triumph des Menschensohnes ge­schildert wird. Die Szene in 28,16ff will bestätigen, daß J esus als auferstandener Herr bereits der siegreiche, in der Höhe inthronisierte, Menschensohn ist, der nun seine Boten aussendet, um die Völker unter seinen Gehorsam zu brin­gen .. Er ist die Erfüllung der Menschensohnvision in Dan

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7,14: "Der gab ihm Macht, Ehre und Reich, daß ihm alle Völker und Leute aus so vielen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende." Hier nun die zweite Stelle, die oft als gegen die Gnosis ge­richtet angesehen wurde:

Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. N ehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht. Mt 11,27-30

Man hat angenommen, daß hier das Bestehen auf der Er­kenntnis Gottes, die der Sohn besitzt und die Weitergabe des Wissens an die Seinen durch den Sohn den Anspruch belegen, daß J esus der Herr eines neuen Geheimnisses sei, der eine Erkenntnis schenkt, die im Gegensatz steht zu der Erkenntnis, die durch die Gnostiker gegeben wird. Aber im Hinblick auf Belege, die hier nicht angeführt werden kön­nen, ist es am besten, wenn man diesen Abschnitt auch auf die Tradition vom Menschensohn bei Daniel oder dem Pre­diger Salomo bezieht15• J esus wird hier nicht dem gnosti­schen Erlöser gegenübergestellt, sondern der Tradition vom Gesetz. ,N ehmet auf euch mein Joch und lernet von mir', d. h., nicht das Joch des alten Gesetzes, sondern das des Messias. Der oben gegebene kurze Überblick dürfte deutlich ge­macht haben, daß es nicht nötig ist, Matthäus als von anti­gnostischer Haltung bestimmt anzusehen. Hier lag nicht der Grund für seine Betonung der ethischen Lehre J esu. Matthäus hat innerhalb einer Kirche geschrieben, die durch falsche Lehrer, Gesetzlosigkeit und Fehlen von Liebe zer­rissen war. Sogenannte ,gnostische' Elemente mögen vor­handen gewesen sein und Matthäus mag den Ersatz des Liebesgebotes durch spekulative oder ekstatische Erfahrung

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bekämpft haben, aber wir können nicht annehrrien, daß speziell die Gnosis die Gedanken des Matthäus bestimmt und ihn veranlaßt hat, die Bergpredigt zu gestalten.

B. Die Sekte vom Toten Meer

Der soeben geäußerte Hinweis auf Mt 11,25-30 führt uns nun zu einer überlegung über den zweiten Einfluß, der Matthäus bestimmt haben könnte, die Bergpredigt zu for­mulieren. Ich habe an anderer Stelle16 darauf hingewiesen, daß diese Schriftstelle für uns durch die kürzlich entdeckten Handschriften gewöhnlich als Handschriften vom Toten Meer bezeichnet, erhellt wird. Diese Rollen stammen ver­mutlich von einer hochorganisierten nonkonformistischen Sekte, die bis in das Judentum des ersten Jahrhunderts hinein bestanden hat17, und man muß nun notwendiger­weise fragen, ob Einflüsse der Qumransekte entweder po­sitiv oder negativ im Matthäusevangelium am Werk ge­wesen sind. Kam Matthäus unter dem Eindruck dieser gesetzlichen Gruppe mit ihrer Tradition von einem Lehrer der Gerechtigkeit dazu, seinen Herrn als einen Lehrer der Gerechtigkeit darzustellen und aus der Lehre J esu messia­nisches Gesetz zu machen? Die Zahl der Sektierer in Qum­ran und woanders war groß. Ortliche Gruppen der Sekten waren offensichtlich nach der Zehnzahl organisiert, aber die Sekte als ganze zählt nach Tausenden. Eines muß besonders betont werden: Nach 68 n. Chr., d. h. in der Zeit als das Mtev geschrieben wurde, lebten sehr wahrscheinlich die Mitglieder der Sekte vom Toten Meer überall verstreut. Zu jener Zeit wurde ihr Hauptquartier in Qumran an­gegriffen und verwüstet. Das geschah durch die 10. römi­sche Legion im Krieg der Römer gegen die Juden, der zum Fall Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. führte. Wir wissen nicht genau, was aus den Sektierern wurde, aber es ist an­zunehmen, daß viele von ihnen sich der Kirche anschlossen. Abgesehen von einem möglichen Eintritt von Sektierern in die Kirche, kann man auf jeden Fall den Kontakt zwischen der Sekte vom Toten Meer und den ersten Christen als

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fast sicher ansehen. Nach dem oben erwähnten Datum verstärkte er sich sicherlich. Historische Wahrscheinlichkeit deutet darauf hin, wie auch die vielen Parallelen, die zwi­schen vielen Teilen des NT und den Dokumenten der Sekte gezogen worden sind18• Findet sich bei Matthäus auf irgend­eine Weise ein Echo auf diese Sekte? Besonders, weil Philo von Alexandrien (etwa 20 v. Chr. bis 50 n. Chr.) die Essener, die zumindest unseren Sektenanhängern sehr ähnlich waren, mit Syrien verbindet, wo wir auch versucht sind, das Mat­thäusevangelium zu lokalisieren, könnten wir das erwarten. Wir müssen hier auf ein Buch verweisen, das 1954 von Kri­ster Stendahl veröffentlicht worden ist19• Bei Matthäus gibt es eine besondere Betonung der Erfüllung von Prophe­zeiungen und Matthäus bezieht sich auf die Erfüllung des AT in einer besonderen Weise. Er benutzt an elf Stellen eine irgendwie fixierte Formel, um seine Zitate aus dem AT einzuleiten .

. . . siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Joseph, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Gemahl, zu dir zu ,nehmen; denn das in ihr geboren ist, das ist von dem heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, des Namen sollst du J esus heißen, denn ,er wird sein Volk retten von ihren Sünden'. Mt 1,20f

Matthäus fügt hinzu: Das ist aber alles geschehen, auf daß erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: ,Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Immanuel heißen' . .. Mt 1,22

Und kurz danach lesen wir: Und kam und wohnte in der Stadt, die da heißt Na­zareth; auf daß erfüllt würde, was da gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazarener heißen. 2,23

Man vergleiche damit die folgenden Zitate: 2,5f; 2,15; 2,17f; 4,14-16; 8,17; 12,17-21; 13,35. Die Form dieser Zitate bei

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Matthäus hat dazu geführt, daß man sie ,Reflexionszitate' genannt hat. Stendahl hat sie alle bis ins Detail untersucht und kommt als Resultat seiner Studien und eines Vergleichs dieser matthäischen Zitate mit dem Gebrauch der Schrift durch die Sekte vom Toten Meer zu der Ansicht, daß Matthäus aus einer Schule von Auslegern stammt, die Me­thoden der Exegese anwandten, die den in Qumran be­nutzten ähnlich waren. Wir können zumindest sagen, daß die Arbeiten von Brownlee20, Bleddyn Roberts21 und von Stend~hl im besonderen es möglich gemacht haben, zu ver­muten, Matthäus habe seine Methode, das AT zu benutzen, von der Sekte übernommen. Die Arbeit Stendahls erlaubt es uns, nach weiteren Spuren sektiererischen Einflusses im Matthäusevangelium zu suchen. Es gibt viele Möglichkeiten, die nur erwähnt werden kön­nen: etwa die Vorstellung von der Vollkommenheit22 in Mt 5,48: ,Darum sollt ihr auch vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist', und in 19,21 die Worte an den reichen Jüngling: ,Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!' Beide Zitate erinnern an Schriften der Sekte, die zu ,Die im Weg Vollkommenen' gehörten. ,So verhält es sich auch mit dem Bezug auf die Erkenntnis in Mt 11,25-30, wie ich an anderer Stelle23 gezeigt habe. Ich möchte aber besonders auf zwei Materialgruppen hinwei­sen, in denen Sekteneinflüsse bei Matthäus wahrscheinlich durchbrechen. Da gibt es zunächst fünf Stellen bei Matthäus, an denen das eigene, besondere Verständnis des Evangelisten von der Kirche sichtbar wird. Es sind das:

13,24-30: Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen 13,47-50: Das Gleichnis vom Fischnetz 16,17-19: Die Bezeichnung des Petrus als Fels bei Cäsarea

Philippi 18,15-20: Das Verhalten gegen sündige Brüder. Gemein­

sames Beten 28,16-20: Der Missionsbefehl

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Der letzte Abschnitt, 28,16-20 handelt von der Auf­erstehung. Selbstverständlich hat hier Matthäus einen spezi­fisch christlichen Zug, der in den Rollen vom Toten Meer fehlt, so daß wir 28,16-20 aus unseren überlegungen aus­schließen können. Die anderen vier Abschnitte jedoch, von denen jeder tiefe Bedeutung für die Anschauung des Mat­thäus von der Kirche hat, können dazu dienen, Erinnerun­gen an das wachzurufen, was man das Milieu der Sekte nennen könnte. Wir behandeln hier nur den einen Abschnitt, der von der in der Kirche geübten Disziplin handelt.

Sündigt aber dein Bruder, so gehe hin und halte es ihm vor zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er dich nicht, so nimm noch einen oder zwei zu dir, auf daß jegliche Sache stehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund. Hört er die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er die Ge­meinde nicht, so sei er dir wie ein Heide und Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein. Weiter sage ich euch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Mt 18,15-20

Man vergleiche damit einen Abschnitt aus der Gemeinde­regel:

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Keiner soll zum anderen sprechen in Zorn oder Mur­ren oder Halsstarrigkeit (oder im Eifer) gottlosen Gei­stes. Und er soll ihn nicht hassen in seinem (un­beschnittenen) Herzen, sondern am seIben Tage soll er ihn zurechtweisen, aber nicht soll er seinetwegen Schuld auf sich laden. Ferner soll niemand gegen sei­nen Nächsten eine Sache vor die Vielen bringen, wenn es nicht vorher zur Zurechtweisung vor Zeugen ge­kommen ist. 1 QS V, 26-VI,124

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Es gibt offensichtliche Unterschiede zwischen diesen beiden Stellen. Trotzdem stimmen ihre Methoden beim Vorgehen gegen einen Übertreter im wesentlichen überein: Persön­liche Zurechtweisung soll bei beiden von einer Zurecht­weisung vor Zeugen gefolgt werden, wenn nötig vor der Kirche oder der Sekte als ganzer. Man kann nicht leugnen, daß die Parallele zwischen den beiden Texten sehr eng ist, und es ist nicht zuviel gesagt, wenn man hinter 18,15 ff ein ähnliches Milieu wie das in den Rollen vom Toten Meer bezeugte findet, eine Ansicht, die durch Untersuchung der anderen kirchlichen Abschnitte, auf die ich hingewiesen habe, verstärkt wird.

Aber eine Warnung muß hier geäußert werden. In 18,20 wird die Anwesenheit J esu unter den Seinen wie folgt aus­gedrückt: ,Denn wo zwei oder drei versammelt sind in mei­nem Namen ,da bin ich mitten unter ihnen.' Das erinnert an einen Ausspruch eines Rabbi, möglicherweise eines Zeit­genossen des Matthäus, der lautet: , Wenn zwei zusam­mensitzen und Worte des Gesetzes (gesprochen werden) zwischen ihnen, wohnt die göttliche Gegenwart unter ihnen' (Mischna Aboth 3,2). Folglich ist Mt 18,20 wahr­scheinlich ein christianisiertes Stück Rabbinenturn. Damit stimmt überein, daß der Stil von 18,18 an dieser Stelle eher rabbinisch als sektiererisch ist. Es heißt da: ,Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein und was ihr auf Erden lösen wer­des, soll auch im Himmel los sein.' Es gibt unzählige rab­binische Parallelen zum ,Binden und Lösen'. Hier geht es um rabbinische Fachausdrücke. Im Abschnitt 18,15-20 finden wir eine Mischung von sektie­rerischer und streng rabbinischer Terminologie. Ob wir daraus auf eine direkte Wechselwirkung zwischen Sektie­rern und der Kirche schließen sollten, kann nur im Licht bestätigender Belege aus anderen Abschnitten entschieden werden. Das Problem, das sich hier auftut, ist freilich schwerwiegend. Die mögliche Wechselwirkung, die man hier erwägen muß, würde vermutlich von der Anwesenheit von Elementen in der Kirche ausgehen, die durch die Sek ..

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tierer beeinflußt oder sogar durch sie genährt worden sind. Ihr Einfluß ist wahrscheinlich besonders beim Wachstum der Organisation der Kirche festzustellen. Es ist eines der Probleme der christlichen Geschichte, zu erklären, wie sich die vom Geist erfüllte Gemeinschaft der frühesten Zeit der Kirche zur hochentwickelten katholischen Kirche des zwei­ten und der weiteren Jahrhunderte entwickelt hat. Man muß zumindest mit der Möglichkeit rechnen, daß der Über­gang von der organisatorischen Einfachheit der Urkirche zum Katholizismus durch Impulse der Sektenanhänger vom Toten Meer gefördert, wenn nicht gar in beträchtlichem Ausmaß verursacht worden ist. Wenn ich sehr gewagt reden wollte, könnte ich sogar die Vermutung aussprechen, daß die Sektenanhänger die Urkirche gefangen genommen haben und so schließlich dazu beigetragen haben, die Kirche von ihrer ursprünglichen Intention abzubringen. Aber das würde heißen, zu weit zu gehen. Was uns jetzt interessiert, ist, daß in der Kirchlichkeit des Matthäus - häufig als Frühkatholizismus bezeichnet - Einflüsse der Sektenanhän­ger aus Qumran aufweisbar sind. Das führt uns jedoch zu der zweiten Materia~gruppe, in der diese Einflüsse zu fühlen sind, zur Bp. Dieselbe Hand, die die Kirchlichkeit des Matthäus formte, formte auch die Bp. Obwohl durch die Sekten anhänger beeinflußt, weist sie auch Polemik gegen sie auf. Das soll hier nur an zwei Ab­schnitten gezeigt werden:

Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: ,Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schul­dig sein.' Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu sei­nem Bruder sagt: Du Nichtsnutz! der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du gottloser Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. Mt 5,21-22

Dieser Abschnitt weist mehrere Komponenten auf und es gibt für die Bräuche, auf die er anspielt, keine eindeutigen Parallelen in den rabbinischen Quellen. Die Mischna Sanhe­drin er:wähnt keine Bestrafung für Zor~ oder unziemliches

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Sprechen. Aber an dieser Stelle ist die Sekte vom Toten Meer aufschlußreich. Der folgende Abschnitt zeigt das:

Das sind die Ordnungen, nach denen sie in gemein­samer Untersuchung entsprechend den Fällen richten sollen .... Und wer seinem Nächsten in Halsstarrigkeit antwortet (oder) im Jähzorn spricht, so daß er die Grundlage seiner Gemeinschaft zerbricht, indem er der Weisung seines Nächsten widerstrebt, der vor ihm eingeschrieben ist, der hat sich mit eigener Hand (ge)holfen. Er soll für ein Jahr (mit Ausschluß) be­straft werden. 1 QS 6,24-27

Hier haben wir Regeln für Worte, die im Zorn und als Beleidigung zwischen Mitgliedern einer religiösen Gemein­schaft geäußert werden und die dafür als angemessen er­achteten Strafen. Die Ausdrücke, deren Gebrauch untersagt ist, werden nicht ausdrücklich erwähnt, so daß wir hier die genauen Worte racha und more nicht finden. Aber es gibt erwähnenswerte Parallelen zu ihnen in 1 QS 7,3. 4. 5. 9 und 14. Die Worte in Mt 5,22 b-c lauten:

Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Hohen Rats schuldig; wer aber sagt: Du gottloser Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig.

Diese Worte würden ganz selbstverständlich dem in den Sinn kommen, der unter den Sektierern von Qumran groß geworden oder von ihnen beeinflußt worden ist. Matthäus hat sie möglicherweise den Worten J esu hinzugefügt. An­dererseits ist es leicht möglich, daß auch Jesus selbst sie geäußert hat. Er mag die Pharisäer und die Sektenanhänger im Sinne gehabt haben. Die Sprechweise würde auf die Sekte deuten, die Erwähnung des Rates (Synhedrion) wahrscheinlich auf die Synagoge. Wir finden hier wieder sektiererische und rabbinische Mo­tive kombiniert. Was das polemische Element in der Bp betrifft, so lesen WIr:

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Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst deinen Näch­sten lieben und deinen Feind hassen.' Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; bittet für die, so euch ver­folgen. . . Mt 5,43 f

Dieser Vers ist immer schon ein Problem, weil im AT oder in der anderen jüdischen Literatur keine Verse bekannt waren, in denen es ein Gebot, den Feind zu hassen, gibt. Aber darauf drang man, so wissen wir jetzt, in der Sekte vom Toten Meer, und es ist möglich, daß Jesus die Sektierer im Sinne hatte, als er diese Worte aussprach. Er stellt sich gegen Worte wie die, die wir ganz am Anfang der Gemeinde­regel finden:

Gott zu suchen, tun, was gut und recht vor ihm ist, wie er ... befohlen hat; und alles zu liesen, was er er­wählt hat und alles zu hassen, was er befohlen hat;

(1 QS 1,1-4)

Wie aufgezeigt, weist die Bp Spuren eines sektiererischen Einflusses auf die frühchristliche Bewegung auf, und der­selbe Einfluß hilft uns, wie wir sahen, das Auftauchen von Kirchlichkeit bei Mt zu verstehen. Man darf aber den sek­tiererischen Einfluß auf Mt nicht überbetonen. Anlässe für eine Organisation, wie wir sie in den Rollen vom Toten Meer finden, gab es auch anderswo im Judentum und sie können deshalb nicht ausschließlich auf die Sektenangehö­rigen zurückgeführt werden. Wir müssen besonders wie­derholen, daß bei Mt neben sektiererischen Elementen auch rabbinische zum Vorschein kommen. Es wäre deswegen nicht klug, wenn wir, um einen Schlüssel für die Bp des Mt zu finden, vor allem in die Richtung der Sekte schauen wür­den. Das Mtev ist nicht einfach eine Gemeinderegel noch ist die Bp einfach ein Katechismus, noch der Jesus auf dem Berg nur ein Lehrer der Gerechtigkeit.

C. Jamnia

Vieles oben angeführte Material hat uns gezeigt, daß bei Mt sektiererische Elemente mit rabbinischen koexistieren. Wir müssen darum abschließend fragen, ob das, was wir

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als rabbinisches Judentum kennen, Mt beeinflußt hat, sei es durch Anziehung oder durch Opposition. Wir wollen uns die Ereignisse in Erinnerung rufen, die zum Auftauchen dessen, was rabbinisches Judentum ge­nannt wird, geführt haben. Während des ersten J ahrhun­derts, während der ganzen Lebenszeit von J esus und Paulus, erlitten die Juden in Palästina die Bedrückung durch die römische Herrschaft und sie waren deshalb darauf aus, das Joch des römischen Imperiums abzuwerfen. Von heiß­köpfigen Zeloten geführt, revoltierten sie schließlich. Nach einem blutigen Krieg, der von 66-70 n. Chr. dauerte, er­wiesen sich die Römer unverkennbar als die Sieger. Im Jahre 70 eroberten sie das Zentrum J erusalems und machten es dem Erdboden gleich. Mit dem Hinschlachten während des Krieges und der folgenden Erniedrigung durch Skla­verei schien das Ende des Judentums und der jüdischen Nation gekommen zu sein. Was hat das Judentum aufrecht­erhalten, so daß es in unseren Tagen immer noch eine lebendige Kraft ist? Es war hauptsächlich das Werk eines Mannes namens Rabbi J ohanan ben Zakkai, dem kurz vor dem Fall J erusalems die Erlaubnis gegeben worden war, eine Schule in dem etwas abgelegenen Ort J amnia zu grün­den. Schon ehe der Krieg zuende war, hatte er versucht, die jüdischen Lehrer, deren er habhaft werden konnte, um sich zu versammeln, damit die Tradition des Judentums weiter­geführt werden könnte. Wie die überlieferung berichtet, überlistete er Rom durch einen klugen Trick und konnte durch die Gründung dessen, was wie eine harmlose Schule aussah, das Judentum retten. Nach dem Fall von Jerusalem sammelten sich die bedeutendsten Rabbinen des Judentums in J amnia und setzten ihre Arbeit fort, das Gesetz zu stu­dieren. Wir müssen beachten, daß das nach 70 n. Chr. war, also zu der Zeit, als das Matthäusevangelium geschrieben wurde. Was haben die Rabbinen in J amnia eigentlich er­reicht? Wir wollen sie uns aus der Nähe ansehen. Sie hatten mit zwei Gefahren zu tun: Spaltungen unter den Juden selber und Druck gegen das Judentum von außen, vom Heidentum, von der Gnosis und dem Christentum. Die Rabbinen mußten zuerst einmal ihre eigenen Reihen

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schließen, um auflösende Einflüsse innerhalb des Juden-, turns selbst auszuschließen. Sie schlichteten einen lang an­stehenden Streit zwischen zwei rivalisierenden Schulen, dem Hause Hillels und dem Hause Schammais. Für alle Juden wurde ein gemeinsamer Kalender geschaf­fen, so daß man die Feste überall gleich halten konnte. Für die Synagoge versuchte man, eine gemeinsame Liturgie zu schaffen. Der Kanon des AT wurde festgesetzt. Dem Rab­binat wurde größere Bedeutung zuerkannt, und, was noch wichtiger war, es wurde damit begonnen, die Tradition des jüdischen Rechtes zu fixieren. Die Mischna, der jüdische Gesetzeskodex, begann Form anzunehmen. So erstand ein­drucksvoll aus der Asche der Revolte nach dem Jahre 70, nach dem, was ein totaler Zusammenbruch zu sein schien, das rabbinische Judentum, durch das Werk der Rabbinen in J amnia eine beeindruckend geeinigte Kraft. Zur selben Zeit mußte sich das Judentum gegen Feinde von außen verteidigen. Es hatte besonders der wachsenden Macht des Christentums zu begegnen. Zur Selbstverteidi­gung ergriffen die Rabbinen in J amnia bestimmte Maß­nahmen. Schon die Schaffung des jüdischen Kanons war teilweise eine Reaktion gegen das Christentum. Es wurden Regeln für das Fasten aufgestellt, um eine Vermischung mit dem christlichen Fasten zu verhindern. Ein Gebet (Bir­kath ha-Minim) wurde in die Liturgie der Synagoge ein­gefügt, das es den Judenchristen unmöglich machte, am Gottesdienst des Judentums teilzunehmen25• Auf diese und andere Weise wurde durch das Judentum die Trennung vom Christentum herausgestellt und um das Judentum selbst ein Zaun errichtet. Wir vermuten nun, daß Matthäus sich der Existenz J amnias bewußt war, so wie J amnia sich des neuen Glaubens bewußt war und daß der Schatten von Jamnia über seinem Evan­gelium liegt. Der Beweis dafür ist von zweifacher Art, näm­lich allgemein und spezifisch.

(a) Zunächst zum Allgemeinen: Matthäus stellt mit Ab­sicht das Evangelium dem Judentum gegenüber. Wir sahen, daß nach Ansicht einiger Forscher die Struktur des Mat­thäusevangeliums möglicherweise pentateuchisch ist, daß

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seine fünf Abschnitte den fünf Büchern Mose korrespon­dieren. Auch wenn man sich dieser Ansicht nicht bereitwil­lig anschließen will, ist es doch klar, daß es Matthäus darauf ankam, ein christliches Gesetz dem Gesetz des Judentums gegenüberzus teIlen. Äußerungen, von Juden gegen Christen gemacht, begegnet man zum Beispiel in folgenden Abschnitten:

Des andern Tages, der da folgt nach dem Rüsttag, kamen die Hohenpriester und Pharisäer sämtlich zu Pilatus und sprachen: Herr, wir haben bedacht, daß dieser Verführer sprach, da er noch lebte: Ich will nach drei Tagen auferstehen. Darum befiehl, daß man das Grab verwahre bis an den dritten Tag, auf daß nicht seine Jünger kommen und stehlen ihn und sagen zum Volk: Er ist auferstanden von den Toten; und werde der letzte Betrug ärger als der erste. Pilatus sprach zu ihnen: Da habt ihr die Hüter; gehet hin und verwah­ret es, so gut ihr könnt. Sie gingen hin und verwahrten das Grab mit den Hütern und versiegelten den Stein.

Mt 27,62ff Und sie nahmen das Geld und taten, wie sie gewiesen waren. Und so ist dies zum Gerede geworden bei den Juden bis auf den heutigen Tag. Mt 28,15

Die Christen werden hier der jüdischen Gemeinde eindeutig gegenübergestellt. So müssen wir z. B. auch in den Selig­preisungen wahrscheinlich das Fürwort, das eine antithe­tische Wirkung hat, betonen: Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen ge­tröstet werden usw. Es sind diese Leute, so sollen wir vielleicht verstehen, und nicht jene, die Pharisäer und Juden, die selig gepriesen wer­den. In 5,11 werden diese zwei Gruppen klar als Christen und Juden sichtbar: Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei übles wider euch, so sie daran lügen. Die Verse 5,13-16 unmittelbar nach den Seligpreisungen, stellen dann die christliche Gemeinde in ein helles Licht. Sie

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ist Salz und Licht der Welt. In 5,13 f ist das ihr erneut be­tont. ,Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid das Licht der Welt.' Das antithetische Motiv in der Bp ist also nicht auf die Antithesen in 5,21-48 beschränkt. In den Antithesen werden auf jeden Fall die ethischen For­derungen Jesu jenen des Judentums entgegengestellt: ,Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist ... ich aber sage euch.' Diese Antithese wird sechsmal herausgestellt. Das­selbe Motiv erscheint auch später in der Bergpredigt. So wird in 6,1-4 die christliche Praxis jener Praxis gegenübergestellt, die, zumindest gelegentlich, in der Synagoge fortgesetzt wurde, so z. B., was das Almosengeben betrifft:

Wenn du nun Almosen gibst, sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten geprie­sen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. Mt 6,2

Entsprechend wird in 6,5 das christliche Gebet dem Synago­gengebet konfrontiert: das ,ihr' in 6,9 ist dabei wieder be­tont:

Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhöret, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet. Darum sollt ihr also beten: ... (wörtlich: So sollt nun ihr beten) Mt 6,7-9

An dieser Stelle nun mag das Gebet des Herrn als direkter Kontrast zu dem Hauptgebet der Synagoge, nach dem es womöglich gebildet worden ist, angeführt worden sein26•

Schließlich wird in 7,29 die Bp als ganzes der schriftgelehr­ten Tradition des Lehrens gegenübergestellt: , ... denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten ... ' Und etwas später werden Jesus und sein Joch dem Joch des jüdischen Gesetzes gegenübergestellt:

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N ehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet

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ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Mt 11,27-30

Im Kontrast, das bedeutet, im Kontrast zum Joch des Ju­dentums. Bis jetzt haben wir jedoch nur wiederholt, was kaum einmal ernstlich infrage gestellt worden sein dürfte, nämlich, daß das Matthäusevangelium einem Milieu ent­wuchs, in dem Christentum und Judentum in scharfem Gegensatz zueinander standen. Können wir nun auf spezi­fischere Elemente hinweisen, die man als Zeichen eines direkten Druckes auf Matthäus, der von J amnia ausging, ansehen kann? Ich möchte hierzu an folgende Abschnitte denken:

Wenn ihr aber wüßtet, was das ist: ,Ich habe Wohl­gefallen an der Barmherzigkeit und nicht am Opfer',· hättet ihr die Unschuldigen nicht verdammt. Des Men­schen Sohn ist ein Herr auch über den Sabbat. Mt 12,7f

Dieses Zitat aus Hos 6,6 wird in Mt 9,13 wiederholt. Der Vers beginnt mit einer feststehenden rabbinischen Formel, ,Gehet aber hin und lernet': Gehet aber hin und lernet, was das ist: ,Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.' Beide Verse sind von Matthäus im Blick auf die besondere Situation hinzugefügt worden: Den Fall des Tempels im Jahre 70. Die Verse erinnern stark an die Lehre von Johanan ben Zakkai, dem Führer des jüdischen Um­zuges nach J amnia.

Es wird erzählt, daß R. J ohanan b. Zakkai eines Tages aus J erusalem hinaus ging, begleitet von seinem Schüler R. J oshua b. Hanania. Beim Anblick des in Ruinen liegenden Tempels rief Joshua aus: ,Wehe uns, denn der Ort, wo die Sünden Israels gesühnt wurden, ist zerstört.' J ohanan antwortete: ,Sei nicht traurig, mein Sohn, denn wir haben eine Versöhnung, die gerade so gut ist, nämlich Taten der Barmherzigkeit, wie die Schrift sagt: ,Denn ich habe Wohlgefallen an Barm­herzigkeit und nicht am Opfer.'

Aboth d. Rabbi Nathan 4,527

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Beachten wir weiter die Struktur der Bp selber. Sie folgt einem Muster, das den Rabbinen in J amnia bekannt war. Ein berühmter Vers der Rabbinen lautet: Simeon der Ge­!rechte gehört zu denen, die von der Großen Synagoge übriggeblieben waren. Er pflegte zu sagen: Durch drei Dinge wird die Welt erhalten: durch das Gesetz, den Tem­peldienst oder Gottesdienst und durch Taten der Barm­herzigkeit. (Mischna Aboth 1,2.) Dieses Wort muß in den Mauern J amnias oft erklungen sein. Die drei genannten Dinge scheinen die Prinzipien darzustellen, denen Matthäus bei seiner Anordnung der moralischen Grundlagen christ­lichen Lebens gefolgt ist. Nach der Proklamation der Barmherzigkeit Gottes in den Seligpreisungen, d. h., der Gnade als der Grundlage aller moralischen Forderungen im Evangelium, stellt Matthäus sozusagen den Inhalt des christlichen Gesetzes in 5,17-48 dar: dies ist die erste Grundlage - Gesetz. Als nächstes beschäftigt er sich in 6,1-18 mit dem Wesen des wahren Gottesdienstes: Almosen, Gebet, Fasten - das ist die zweite Grundlage. Dann folgt verschiedenes Material, das immer schon schwie­rig einzuordnen war, das aber gut in der Überschrift ,Lie­bestaten' zusammengefaßt werden kann - die dritte Grund­lage, von Simeon, dem Gerechten, erwähnt. Die Struktur der Bp ist also rabbinisch. Ferner sind kleinere Details bei Matthäus von Bedeutung. In 4,23 9,35 10,17 12,9 und 13,54 spricht Matthäus von ,ihren Synagogen'. Das mag mit ein­schließen, daß das Gebet, Birkath ha-Minim genannt, das es Christen sehr schwer machte, am Synagogengottesdienst teilzunehmen, schon wirksam geworden war und Matthäus bereits davon weiß, daß Christen aus der Synagoge aus­gestoßen wurden28• Der Titel ,Rabbi', der in J amnia immer wichtiger wurde, wird in 23,8 verworfen: ,Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister.' In Kap. 23 wird vor allem den Pharisäern selbst besondere Aufmerksamkeit gewidmet: ihre Richtung aber hatte in J amnia den Sieg davongetragen. Keiner der Faktoren, die ich angeführt habe - der Hinweis auf den Supremat der Barmherzigkeit über das Opfer, der

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Hinweis auf die Struktur der Bp, auf die sechsfachen Anti­thesen und auf andere kleinere Details - keiner von ihnen bezieht sich unmißverständlich auf J amnia, aber ich denke, daß sie alle auch von dem aufsteigenden Judentum in J am­nia zeugen. Man muß dabei jedoch mit einer Schwierigkeit fertig werden: gingen nicht die rabbinischen Gelehrten, die weit entfernt in einer abseits gelegenen kleinen Stadt, wie es Jamnia war, lebten, ihren eigenen Weg der Konsolidie­rung und des Ausstoßens - von der Kirche völlig unbemerkt? Und waren sie nicht umgekehrt der Kirche gegenüber indif­ferent? Ich habe an anderer Stelle diese Frage im Detail behandelt29• Ich kann hier nur meine Vermutung wieder­geben, was meiner Meinung nach sich tatsächlich ereignet hat: daß nämlich J amnia und die Kirche oft einander über den Weg liefen und wahrscheinlich in einem bitteren Dia­log miteinander standen. Die Dekrete, die von J amnia aus an die ganze J udenheit ergingen und die Reisen seiner Ge­lehrten machten diesen Ort allgemein bekannt. Was der Oekumenische Rat der Kirchen im zwanzigsten Jahrhundert bedeutet, das war J amnia, was das jüdische und christliche Leben im ausgehenden ersten J ahrhuodert betrifft. Und Matthäus ist zumindest teilweise die christliche Ant­wort auf das in J amnia auftauchende Judentum. Die Berg­predigt ist die wohlüberlegte Formulierung des christlichen moralischen Ideals und der christlichen Tradition zu einer Zeit, als die Mischna im Judentum geboren wurde. Die Notwendigkeit der Kirche, moralische Laxheit, mochte sie in gnostischer oder in anderer Form auftauchen, zu bekämp­fen und das Eindringen von Angehörigen der Sekte vom Toten Meer in die Kirche, mit ihrer streng gesetzlichen Note und ihrer exegetischen und disziplin ären Tradition, alle diese Faktoren mögen dazu beigetragen haben, daß Matthäus die moralische Lehre J esu betonte. Aber keiner dieser Faktoren, einzeln oder zusammengenom­men, so scheint mir, stellt einen angemessenen Grund für die wahrhaft großartige Entschlossenheit dar, mit der Mat­thäus sein großes Manifest vorbereitet hat. Die Bp kann man in der ihr angemessenen Perspektive nur auf dem Hinter-

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grund des Judentums von Jamnia sehen. Andere Faktoren kommen mit ins Bild, aber von J amnia kommt der Einfluß, der sie am meisten geformt hat. Wenn ich so die Bp und J amnia gegeneinandersteIle, muß ich einen gedanklichen Sprung machen, den vielleicht das ganz strenge An-den­Belegen-Hängen nicht rechtfertigt. Ich kann nur ins Feld führen, daß die Fakten mir einen solchen Sprung zu fordern scheinen. Matthäus hat viele Strömungen innerhalb und außerhalb der Kirche, die, wie wir gesehen haben, ihn beeinflußt ha­ben, miteinander konfrontiert. Nichtsdestotrotz war das, was ihn hauptsächlich dazu führte, sich auf den Gebrauch von Worten J esu selbst, auf sektiererische Konventionen und rabbinische Formen in der Bp zu konzentrieren, der Wunsch und die Notwendigkeit, die Ethik des N euen Israel, der Kirche, darzustellen, und das zu einer Zeit, als die Rabbinen mit derselben Aufgabe für das Alte Israel in J amnia beschäftigt waren. Im nächsten Kapitel werden wir fragen, welche Kräfte innerhalb der Kirche Matthäus dabei beeinflußt haben mögen.

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IV. Die Bergpredigt im Kontext der frühen Kirche

Im ersten Kapitel wurde behauptet, daß J esus von N azareth in der Bp als zweiter Mose dargestellt wird, als Geber eines neuen Gesetzes von einem neuen Sinai aus und im zweiten Kapitel, daß im ersten Jahrhundert, zu der Zeit, als das Mt-Evangelium geschrieben wurde, gewisse Kräfte am Werk waren, die dazu führten, daß J esus in diesem Licht dargestellt wurde. Die Gefahr der Unmoral, möglicher­weise, wenn auch nicht sicher von gnostischer Art, der Druck der Sektierer von ihrem gesetzlichen Hintergrund her und über allem die Notwendigkeit, dem rabbinischen Judentum ein christliches Gegenstück zu geben, all diese Faktoren mögen bei der Formulierung des matthäischen J esusverständnisses und bei der Formulierung der Bp mit­geholfen haben. Die Frage, die wir jetzt stellen müssen, ist einfach. Ist das Konzept, J esus von N azareth als neuen und größeren Mose zu sehen, etwas Neues, für das Mt selbst verantwortlich ist und das auf einen Unterschied zwischen ihm und der frühen Kirche hinweist? Stand Mt allein, wenn er J esus als Gesetzgeber sah oder waren andere Kräfte innerhalb der Kirche am Werk, die den Weg für die Inter­pretation des Mt vorbereiteten? Zwang Mt Jesus seine eigene jüdische Gesetzlichkeit in einer christlichen Form auf oder machte er nur etwas deutlicher als andere, was die Kirche bereits akzeptiert hatte, nämlich, daß J esus der neue Mose war? Kurz, in welchem Zusammenhang steht die Bp innerhalb der frühen Kirche?

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A. Matthäus und Paulus

1. Anti-Paulinismus?

In erster Linie haben wir uns mit der Ansicht zu befassen, daß Mt die Bp zusammenstellte, um den Einfluß des Paulus auf die Kirche zu bekämpfen. Der Apostel Paulus hatte die Lehre von der Gnade, d. h. von der Erlösung als einer freien Gabe Gottes und nicht so sehr als Belohnung für gute Werke, so sehr betont, daß viele Christen, die ihn falsch verstanden, dazu gelangt waren, anzunehmen, Moral hätte mit christlichem Leben nichts zu tun, es wäre nur der Glaube an Gottes Gnade nötig. Der Paulinismus war selt­samerweise zu einer Bedrohung für die Moral geworden. Das führte, so wird uns gesagt, Mt dazu, die Notwendigkeit guter Werke in der Bp herauszustellen1•

Was ist der Beweis dafür, daß Mt die Absicht hatte, den Paulinismus zu widerlegen? Er beruht auf der Interpreta­tion einiger bekannter Abschnitte.

,Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buch­stabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich.' Mt 5,18 ff

Hier haben wir ganz klar ein Spiel mit dem Wort ,kleinste' vor uns, und das erinnert daran, wie Paulus sich selbst in 1. Kor 15,9 beschreibt: ,Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, daß ich ein Apostel heiße, darum daß ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber von Gottes Gnade bin ich, was ich bin.' Die Aussage ,der geringste unter den Aposteln' oder ,der letzte', hatte in der frühen Kirche, so wird geltend gemacht, einen anti­paulinischen Unterton bekommen. Das mag sogar eine ge­heime, sarkastische Bezeichnung für Paulus selbst, ein Spitz­name für den Apostel geworden sein, dessen lateinischer Name Paulus ,klein' bedeutet. Und in Mt 5,19 soll beab-

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sichtigt werden, Paulus anzugreifen, der der ,geringste' genannt wird, weil er die Gebote nicht gelehrt hat. Trotzdem: der Anti-Paulinismus von Vers 19 kann nicht als offen zu Tage liegend gelten. Der Kontext von Vers 19 ist nicht antipaulinisch und 1. Kor 15,9 mag Mt nicht bekannt gewesen sein. Wir müssen annehmen, daß die Bedeutung des Paulus dem Mt bekannt war, aber es ist unwahrschein­lich, daß er die Briefe des Paulus und im besonderen 1. Kor 15,9 kannte. Der Begriff ,der Geringste' kann gegen Paulus gerichtet gewesen sein, aber der Abschnitt kann nicht mit Sicherheit so aufgefaßt werden. Wenn nicht an anderen Stellen des Mtev Beweise für Anti-Paulinismus zu finden sind, dann wäre es sicher unklug, sie in 5,17-19 ent­decken zu wollen. Gibt es solche Beweise? b) Man beruft sich oft auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen:

Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Da aber die Leute schlie­fen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Da nun aber die Saat wuchs und Frucht brachte, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte zu dem Hausvater und sprachen: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen. Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du denn, daß wir hingehen und es ausj äten? Er sprach: Nein! auf daß ihr nicht zugleich den Weizen mit ausraufet, wenn ihr das Unkraut ausj ätet. Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuvor das Unkraut und bindet es in Bündeln, daß man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheune. Mt 13,24-30

Hier wurde der Begriff ,Feind' in 13,25 oder 13,28 als ge­heime Anspielung auf Paulus betrachtet, der den Samen der moralischen Indifferenz in die Kirche säte. Aber in der Er­klärung des Gleichnisses, die Mt selbst gibt, wird der ,Feind'

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in 13,36-43 ausdrücklich mit dem Teufel gleichgesetzt. Es ist deshalb ungerechtfertigt, das Gleichnis des Mt als in seiner Intention anti-paulinisch anzusehen.

c) Der nächste Text, der hier erwähnt werden muß, lautet: Und J esus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, J onas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben, und alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein. Mt 16,17 f

Es wurde der Standpunkt vertreten, daß die Segnung des Petrus an dieser Stelle dazu bestimmt sei, dem Anspruch des Paulus als dem Führer der Kirche entgegenzuwirken2

und ihn zu unterdrücken. Dieser Standpunkt aber ist wie­derum nicht überzeugend. Dem Petrus wird der gleiche Vorrang an anderen Stellen des NT gegeben. Die Vorrang­stellung des Petrus unter den ersten Jüngern ist keine anti­paulinische Besonderheit des Mt, sondern sie ist für die gesamte Tradition typisch. Der Gedanke, daß Mt die Bp nur geschrieben hat, um den Einfluß des Paulus zu bekämpfen, ist deshalb nicht berechtigt. Dem Leser kam vielleicht sogar die Frage, warum an diese Frage Zeit gewendet wird. Darauf gibt es zwei Antworten. Zunächst: die Bp als eine scharfe Entgegnung des Paulus zu verstehen, bedeutet, was Matthäus betrifft, sie einseitig nur als Korrektiv oder als Polemik anzusehen, die ein sehr viel weniger tiefes Verständnis für das Evan­gelium erkennen ließe, als es die Gegner des Matthäus besitzen. Die anti-paulinische Interpretation der Bp redu­ziert Mt zu einem bloßen ,Moralisten'. Zweitens aber, und das ist von größerer Bedeutung: Wenn Mt in Opposition zu Paulus stünde, befände er sich im Widerspruch zu einer der einflußreichsten Gestalten der frühen Kirche und darüber hinaus zur ersten Gestalt, die

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wir im Leben der Kirche wirklich kennen, da ja die pau­linischen Briefe früher sind als jedes andere Dokument des NT. Bei Paulus befinden wir uns am Anfang der christlichen Bewegung, so daß, wenn Mt weit entfernt von Paulus stünde, er sehr wahrscheinlich außerhalb der Hauptkräfte sich befände, die in der frühesten Kirche am Werk waren.

2. Paulus und die Tradition

Wir müssen deshalb fragen, ob Paulus und Mt in ihrem Verständnis des christlichen Lebens und der Rolle, die die Worte J esu darin spielen, weit voneinander entfernt sind. Von allen Gestalten des NT ist Paulus, wie wir bereits angedeutet haben, wahrscheinlich am bekanntesten. Er ist aber dennoch schwer zu verstehen. Und es ist besonders schwer zu erfassen, wie Paulus das Verhältnis des ethischen und moralischen Lebens der Christen zu seiner Theologie beurteilte. Paulus teilte sein eigenes Leben deutlich in zwei Teile. Da war zuerst sein Leben unter dem Gesetz, als er Jude war; und dann zweitens, sein Leben ,in Christus'. Die zwei Teile wurden klar getrennt durch sein Erlebnis auf der Straße nach Damaskus. Der Kontrast zwischen den zwei Teilen scheint in erster Linie ein Kontrast zwischen einem Leben unter dem Gesetz und einem Leben in der Gnade, frei vom Gesetz, zu sein. Der Akt, durch den ein Christ seinen Glauben bekannte und wirklich begann, ,in Christus' zu leben, war die Taufe. Dieser Akt symbolisierte für Pau­lus den Tod des alten Lebens unter dem Gesetz - einen Tod ein für allemal- und ein Auferstehen zu einem neuen Leben ,in Christus' oder ,in dem Geist'. In der Taufe war der Christ durch den Glauben gestorben, auferstanden und gerechtfertigt. Er war eine neue Kreatur. War in seinem Leben überhaupt noch Platz für etwas anderes und brauchte er das Gesetz noch, oder konnte er einfach in spontaner Reaktion auf den Geist leben, unter keinerlei gesetzlichem Zwang? Man hat oft festgestellt, daß im christlichen Leben, so wie Paulus es verstand, kein Platz für das ,Gesetz' wäre. Für Paulus war christliches Leben ein Leben in der Freiheit des

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Geistes8• Drei Faktoren aber machten dieses ,neue Leben' kompliziert, wie Paulus bald erkennen mußte. Erstens: Wenn auch der christliche Mensch eine neue Kreatur war, war er doch weiterhin im Fleisch und deshalb weiterhin für Sünde anfällig. Zweitens: Weil er noch im Fleisch lebte, unterlag er weiterhin feindlichen übernatürlichen Kräften, die gegen die Menschen gerichtet sind. Der Mäch­tige, ,der in der Luft herrscht', die Elemente dieser Welt, sie waren weiterhin aktiv und man mußte ihnen entgegen­treten. Und drittens hat Paulus, obwohl er die Gesetzeswerke ge­brandmarkt hat, den Glauben nie aufgegeben, daß am Ende, bei der endgültigen Vollendung, jeder Mensch nach seinen Werken gerichtet werden würde:

,Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder, du anderer, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes dargestellt werden. Denn es steht geschrieben: So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.' Rö 14,10-12

Obwohl gerettet und gerechtfertigt, lebte der Christ noch zwischen der Zeit des ersten Erscheinens Christi und dem Ende, und so wurde Paulus unvermeidlich mit der Frage nach der christlichen Haltung konfrontiert. Wie sollte ein Christ sich ,zwischen den Zeiten', in dieser Welt verhalten? Um diese Frage zu beantworten, verfolgte Paulus viele Wege. Er empfahl die Nachahmung seiner selbst, insoweit er Christus imitierte. Er verwies die Christen, wie wir ge­sehen haben, auf Leben, Tod und Auferstehung J esu und drängte sie dazu, in ihrem eigenen Leben das Leben J esu nachzuleben, in Christus zu leben, mit ihm zu sterben und aufzuerstehen. Er gebrauchte zögernd das bekannte, popu­läre hellenistische Konzept des Gewissens, um den Christen in Korinth zu helfen. Er verwandte auch Verhaltenskata­loge, die in der hellenistischen Welt und unter den Rabbi­nen bekannt waren. Betrachten wir dazu folgenden Katalog:

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Lasset das Wort Christi reichlich wohnen in euch: lehret und vermahnet euch selbst in aller Weisheit mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern und singet Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles in dem Namen des Herrn J esu und danket Gott, dem Vater, durch ihn. Ihr Frauen, seid untertan euren Männern, wie sich's gebührt in dem Herrn. Ihr Männer, liebet eure Frauen und seid nicht bitter gegen sie. Ihr Kinder, seid gehor­sam den Eltern in allen Dingen; denn das ist dem Herrn gefällig. Ihr Väter, erbittert euere Kinder nicht, auf daß sie nicht scheu werden. Ihr Knechte, seid gehorsam in allen Dingen euren leib­lichen Herren, nicht mit Dienst vor Augen, um den Menschen zu gefallen, sondern in Einfalt des Herzens und in der Furcht des Herrn. Kol 3,16-22

Bei all dem können wir uns jetzt jedoch nicht aufhalten, denn es ist für uns besonders wichtig, daß Paulus auch auf J esu eigene Worte zurückgriff, wenn es ihm um moralische Anleitung ging. Das wird auf zweierlei Weise klar. Beim sorgfältigen Lesen der Briefe des Paulus zeigt sich immer wieder, daß sich ständig Echos auf die Aussagen J esu in die Worte des Apostels einschleichen. Es wurde z. B. geschätzt, daß an über tausend Stellen die Worte des Paulus an die J esu erinnern4• Als Beispiel sei aus dem Brief an die Römer zitiert. Man vergleiche:

Rö 12,14 Segnet, die euch verfolgen; segnet und fluchet nicht

Rö 12,17 Vergeltet niemand Böses mit Bö­sem. Befleißiget euch der Ehrbar­keit gegen jedermann.

Mt 5,44 Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; bittet für die, so euch verfolgen.

Mt 5,39 ff Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem übel; son­dern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Bak­ke, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen,

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Rö 13,7 So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.

Rö 13,8-10 Seid niemand etwas schuldig, außer daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: ,Du sollst nicht ehebrechen: du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; dich soll nichts gelüsten', und was noch mehr geboten ist, das wird in die­sem Wort zusammengefaßt: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.' Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

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dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir ab­borgen will.

Mk 12,13-17 Und sie sandten zu ihm etliche von den Pharisäern und des Hero­des Leuten, daß sie ihn fingen in seinen Worten. Und sie kamen und sprachen zu ihm: Meister, wir wissen, daß du wahrhaftig bist und fragst nach niemand; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen, sondern du lehrest den Weg Gottes recht. Ist's recht, daß man dem Kaiser Steuer zahle, oder nicht? Sollen wir sie geben oder nicht geben? Er aber merkte ihre Heuchelei und sprach zu ih­nen: Was versucht ihr mich? Bringt mir einen Groschen, daß ich ihn sehe! Und sie brachten einen. Da sprach er: Wes ist das Bild und die Aufschrift? Sie spra­chen zu ihm: Des Kaisers. Da sprach Jesus zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist! Und sie verwunderten sich über ihn.

Mk 12,28-34 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zuge­hört hatte, wie sie miteinander stritten. Und da er merkte, daß er ihnen fein geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das vor­nehmste Gebot vor allen? Jesus aber antwortete ihm: Das vor­nehmste Gebot ist das: ,Höre Israel, der Herr unser Gott, ist allein der Herr, und du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von al-

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Rö 14,10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder, du anderer, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes dargestellt werden.

und Rö 14,13

Darum lasset uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern rich­tet vielmehr darauf eu ern Sinn, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

len deinen Kräften.' Das andere ist dies: ,Du sollst deinen Näch­sten lieben wie dich selbst.' Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrlich recht geredet. Es ist nur einer und ist kein anderer außer ihm: und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Da Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht feme von dem Reich Gottes. Und hinfort wagte niemand mehr, ihn zu fragen.

Mt 7,1 Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.

Das bedeutet, daß Paulus sich tief innerhalb der überlie­ferung dessen, was J esus gesagt hatte, befand und daß die Worte Jesu ,Bein von seinem Bein' geworden waren. Es ist falsch anzunehmen, Paulus sei an den Einzelheiten des Lebens J esu nicht interessiert gewesen. Sein moralisches Bewußtsein zumindest wurzelte in der Lehre J esu über das rechte Leben. Noch bedeutsamer aber als es die unbewußten Echos auf die Worte J esu in den Episteln sind, ist die Art, wie Paulus Worte J esu tatsächlich zitiert und sie als letztgültig autori-

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tativ hinstellt. Das zeigt sich deutlich im ersten Korinther­brief, wo der Apostel zwischen seinen eigenen Meinungen und den Worten J esu unterscheidet:

Den Ehelichen aber gebiete nicht ich, sondern der Herr, daß die Frau sich nicht scheide von dem Manne - hat sie sich aber geschieden, soll sie ohne Ehe bleiben oder sich mit dem Mann versöhnen -, und daß der Mann die Frau nicht von sich schicke. 1. Kor 7,10 So hat auch der Herr befohlen, daß, die das Evange­lium verkündigen, sollen sich vom Evangelium nähren.

1. Kor 9,14 So sich jemand läßt dünken, er sei ein Prophet oder vom Geist erfüllt, der erkenne, daß es des Herrn Gebot ist, was ich euch schreibe. 1. Kor 14,37

So kennt Paulus wie Mt die Worte J esu und beruft sich auf sie5• Und das ist genau das, was wir erwarten sollten. Denn wie für Mt, so bestand auch für Paulus eine wirkliche übereinstimmung zwischen dem christlichen Heilsgeschehen und den Ereignissen des Exodus. Die Befreiung Israels aus Ägypten war der Prototyp der viel größeren Befreiung von der Sünde, die Christus vollbrachte. So hatte Christus für Paulus die Züge eines neuen und größeren Mose und seine Worte wurden von ihm als für die Christen bindend angesehen. Es ist nicht nötig, sich um das, was offensicht­lich ist, noch lange zu mühen. Paulus und Matthäus teilen über weite Strecken hin die gleichen Einsichten über Chri­stus und seine Worte. So würde Paulus die Bp nicht als einen Fremdkörper für den Glauben ansehen. Wie Mt kann auch Paulus von einem Gesetz Christi sprechen, das zumindest teilweise aus Worten J esu zusammengesetzt ist. Er steht ,im Gesetz Christi'6.

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Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Gal 6,2 Denn wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf daß ich ihrer viele gewinne. Den Juden bin ich gewor­den, wie ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden

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wie einer unter dem Gesetz - wiewohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, auf daß ich die, so unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden - wiewohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, auf daß ich die, so ohne Ge­setz sind, gewinne. 1. Kor 9,19-21

B. Die Quelle Q: Radikalismus

Können wir nun aber, abgesehen von Paulus, vor der Zeit des Mt woanders die nämliche Verehrung für die Worte J esu finden? Wir wollen dazu nun die zwei Quellen be­trachten, aus denen die Bp geschöpft hat. Die erste Quelle, die untersucht werden soll, wird Q ge­nannt. Sie geht in geschriebener oder in mündlicher Form wahrscheinlich ungefähr auf das Jahr 50 n. Chr. zurück. Das Symbol Q steht für Material aus der Tradition, das Mt und Lk bekannt war. Wir isolieren das Material hier nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit und nur seine Schwer­punkte sollen festgestellt werden. Für die Erhaltung und Weitergabe der Worte Jesu in Q wurden verschiedene Gründe angegeben. Es wurde mit Recht angeführt, daß Christen natürlich großen Wert darauf legen würden, das, was J esus getan und gesagt hat, aus dem einfachen Grund lebendig zu erhalten, weil er ihr Herr ist. Sie haben auch den Wunsch, für Ermahnungen in der Kirche, bei Taufen und bei Predigten, seine Worte zu gebrauchen. Darüber hinaus hat die Kirche bei ihrer Kon­frontation mit dem Judentum die moralische Lehre Jesu als mächtige Waffe kennengelernt, wie sie das auch für apolo­getische Zwecke war, wenn man es mit den Teilen der Heidenwelt zu tun hatte, wo man eine moralische und geistige Basis für die Gesellschaft suchte. Die meisten For­scher, sowohl Formkritiker als auch andere, haben ermah­nende und katechetische Impulse als Hauptgrund für die Erhaltung von Q angesehen. An diesem Punkt stimmen T. W. Manson7, Vincent Taylor8 und Dibelius9 überein.

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Ermahnung und Unterweisung waren die Hauptkräfte für die Erhaltung der Tradition, die wir in Q finden. Demnach ist es am besten, sich Q als eine Art christliches Buch der Sprüche zu denken, das das gute Leben einschärfen will. Im Licht der historischen Wahrscheinlichkeit und des ausdrück­lichen Zeugnisses des Paulus, der, wie wir sahen, die Worte J esu als ermahnendes Material behandelte, wäre es zweck­los, den katechetischen und ermahnenden Wert von Q leug­nen zu wollen. Ermahnung tritt im Q-Material ausdrücklich in Lk 11,35 und 12,40 hervor. So heißt es in Lk 11,35: .,Schaue darauf, daß nicht das Licht in dir Finsternis sei.' Und in 12,40 (Mt 24,44) lesen wir: ,Darum seid auch ihr bereit! Denn des Menschen Sohn kommt zu einer Stunde, da ihr's nicht meinet.' Sollen wir daraus schließen, daß die frühe Kirche die Lehre J esu in erster Linie deshalb aufbewahrte, weil sie deren katechetischen Wert entdeckte oder, um es anders zu sagen, weil sie für die moralische Unterweisung von Bekehrten nützlich war? Bevor wir diesen Schluß ziehen, müssen ver­schiedene Faktoren bedacht werden. a) Formkritiker haben innerhalb der Evangeliumstradition bestimmte Geschichten und Traditionseinheiten isoliert, die in der frühen Kirche beim Predigen von Nutzen waren, weil sie Antworten auf die Schwierigkeiten anboten, mit denen die frühe Kirche konfrontiert wurde. Diese Geschich­ten oder Traditionseinheiten wurden von verschiedenen Forschern verschieden benannt. Bultmann nennt sie Apo­phthegmata, Dibelius Paradigmata. Vincent Taylors Begriff für sie erklärt sich aus sich selber. Er nennt sie ,pronoun­ciation stories'lO, weil ihr Höhepunkt in einer feierlichen Erklärung oder in einem Ausspruch J esu liegt. Nehmen wir ein Beispiel für eine solche Geschichte:

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Und es begab sich, daß er am Sabbat durch ein Korn­feld ging; und seine Jünger fingen an, indem sie gin­gen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Siehe zu, was tun deine Jünger am Sabbat, das nicht recht ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er in Not war und ihn

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hungerte samt denen, die bei ihm waren? wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abj athars, des Hohen­priesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist des Menschen Sohn ein Herr auch über den Sabbat. Mk 2,23-28

Geschichten wie diese, Pronunziationsgeschichten, hatten in hohem Maße einen ermahnenden Charakter. Man kann also argumentieren daß, wenn Q ermahnend und katechetisch wäre, wir von Q eine ziemliche Anzahl solcher Geschichten erwarten könnten. Aber von all den Pronunziationsgeschich­ten, die von Dibelius, Bultmann und Taylor zusammen­gestellt wurden, erscheinen höchstens fünf im Q-Material. In einer Quelle, die um des Ermahnens willen gestaltet wurde, sollte man Geschichten mit ermahnendem Charak­ter erwarten können. Diese finden wir in Q nicht. b) Wir haben auf Abschnitte mit ermahnendem Charakter verwiesen, die in Q vorkommen. Es muß aber auch fest­gestellt werden, daß viele Abschnitte in Q, die als ermah­nend ausgegeben werden, bei einer N achpriifung nicht als solche erscheinen oder daß zumindest ihre Intention ur­sprünglich wahrscheinlich nicht katechetischen oder ermah­nenden Charakters war. Dibelius z. B. hält folgende Ab­schnitte für ermahnendl1 :

Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Mt 5,44-48

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Darum sage ich euch: Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Klei­dung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen kann, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen gewor­fen wird: Sollte er das nicht vielmehr euch tun, 0 ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trin­ken? Womit werden wir uns kleiden? Mt 6,25-31

In einem verallgemeinernden Sinn ist es sicher erlaubt, diese zwei Abschnitte als ermahnend und katechetisch zu klassi­fizieren, und Mt hat sie zweifellos so gebraucht. Man muß aber auch dem Gegeneinwand zustimmen, ihr Inhalt sei so überhöht, daß ihr Sinn wie ihre Form nicht an die nüch­ternen Absichten denken lassen, die wir mit katechetischer Instruktion oder Ermahnung gewöhnlich verbinden. Sie sind weit davon entfernt, so etwas wie Weisheitsmaximen eines ,Buches der Sprüche' zu sein. e) Eine dritte Tatsache ist ausschlaggebender. Wir haben festgestellt, daß Q als katechetisches Material angesehen wurde. Wenn das wirklich der Fall wäre, dann könnten wir annehmen, daß die Überlieferung der Worte J esu weit­gehend durch katechetische Kanäle auf uns kam und es darum möglich sein müßte, formale Anzeichen solcher Kanäle in Q zu entdecken. Glücklicherweise können wir diese Annahme überprüfen. Ein großer Teil des kateche­tischen Materials, das seinen Weg aus der frühen Kirche in

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das NT gefunden hat, wurde kürzlich isoliert. Wir wissen jetzt, daß vieles in den Paulusbriefen, im ersten Petrusbrief und im Jakobusbrief aus einem Unterrichtsschema abzulei­ten ist, das in den verschiedensten Formen in der frühen Kirche weite Verwendung fand. E. G. Selwyn machte gel­tend, daß hinter vielen Schreibern des NT eine katechetische Tradition gestanden habe, die sich mit folgenden Themen befaßte12 :

a) Heiligkeit als Zeichen des Volkes Gottes b) Die Kinder des Lichtes c) Das Wesen der Taufe d) Das neue Leben in Christus, seine Entsagungen e) Glaube und Anbetung im neuen Leben f) Verschiedene Tugenden g) Einheit der Kirche und Kirchenordnung h) Die Unterordnung der Christen i) Persönlicher Gehorsam j) Sklaven, Herren, Ehefrauen, Ehemänner, Kinder

Es gibt Spuren eines Katechismus für Verfolgungszeiten13•

Folgende Tatsache ist nun wichtig: Wenn die katechetischen Elemente im NT mit Q verglichen werden, gibt es nur in einem Abschnitt wirkliche Parallelen zwischen ihnen14 : Q scheint deshalb in seiner Hauptintention nicht katechetisch zu sein. Andererseits eröffnet eine Überprüfung des gesamten Ma­terials von Q, so weit wir es rekonstruieren können oder so weit es erhalten ist, daß in Q zweierlei im Vordergrund steht, nämlich das Gericht, das mit dem Kommen Christi beginnt und die Bedeutung seiner Person15•

Abgesehen von den Beispielen, die wir gegeben haben, be­stätigt ein Blick auf das Q-Material als Ganzes seinen Ge­richtscharakter. So beginnt es mit der Ankunft J ohannes des Täufers. Zorn ist im Kommen. Es ist schon die Axt dem Baum an die Wurzel gelegt. Unmittelbar nach der Geschichte vom Täufer zeigt sich Jesus als der Sohn Gottes bei seiner eigenen Taufe und bei seiner Versuchung. So ist der Anfang von Q eschatologisch und christologisch. Der entscheidende Prozeß der Geschichte hat begonnen. End-

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gültige Reue wird gefordert. Das alte Israel wird hin­gerichtet, ein neu es Israel wird gesammelt (s. Mt 3,12):

Und er hat seine Worfschaufel in der Hand; er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit un­auslöschlichem Feuer!

Das darauffolgende Material in Q besteht aus den Selig­preisungen. Dibelius16 sieht in ihnen hauptsächlich den ermahnenden Charakter, sie sind aber eher darauf an­gelegt, das Gericht, das im Kommen Christi besteht, unter dem Aspekt der Verheißung zu zeigen. Tatsächlich kann man, bei genauer Prüfung, durch das ganze Q-MateriaI hindurch den Klang der Gerichtsaxt hören. Q scheint sich nicht mit den üblichen Formen der katechetischen Unter­weisung zu befassen. Q hat Gerichtscharakter und drückt die totale, entscheidende Forderung aus, die Gott an die Menschen stellt. Das angemessene Wort, um die Lehre zu beschreiben, die in Q enthalten ist, wäre radikal. Q stellt eine absolute Ethik dar, mit der Absicht, die unmittelbare Gewalt der göttlichen Forderung zu zeigen, einer For­derung, die von zufälligen Erfahrungen oder von läh­menden Umständen nicht beeinflußbar ist. So bezeugen die Worte Jesu in Q zweierlei: Den absolut kompromißlosen Charakter ihres Anspruches und zur gleichen Zeit den moralischen Enthusiasmus der ersten Christen, die erste, sorglose und reine Begeisterung der frühen christlichen Gemeinschaft, die dem Unmöglichen gegenübertrat und das Unmögliche wagte, wie das Experiment des freiwilligen ,Kommunismus' in der Apostelgeschichte zeigt. Zweifellos zeigt Q den Lebensstil, der von J esus gefordert wurde, so­lange er auf Erden war und den die frühen Christen oft unter dem unmittelbaren Eindruck des Lebens, Sterbens und Auferstehens J esu nachahmten. Q zeigt nicht einen Katechismus, sondern ein kataclysmisches Gericht; nicht die Ströme der Gewohnheit, sondern die Niagarafälle eines neuen Anfangs - um mit einer Metapher von Professor Amos N. Wilder zu sprechen. Wie man weiß, war das Experiment der Ursprungszeit mit

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dem Kommunismus von kurzer Dauer. Bald war es not­wendig, den Armen von J erusalem, die ihr Kapital unklug verbraucht hatten, Geld zu schicken. Man mußte der rauhen Wirklichkeit ins Gesicht sehen und erkennen, daß das Ge­richt, das durch J esus begonnen hatte, nicht einen neuen Himmel auf Erden mit sich brachte. Die Ankunft des Herrn, bei der er ein für allemal eine neue Ordnung bringen würde, verzögerte sich. Die Enthusiasten des ,Tages der Pfingsten' mußten in eine kalte Welt hinaus­gehen und einer alten Erde im Licht des gewöhnlichen Tages begegnen. Enthusiasmus erwies sich als nicht aus­reichend. Wir wollen nun die Situation betrachten, wie wir sie in unseren ältesten Quellen, den paulinischen Briefen, finden. Die Christen in Thessalonich dachten, weil sie meinten, der Tag des Herrn, an dem alles vollendet werden würde, sei nahe, daß es nicht mehr nötig wäre, zu arbeiten. Der Herr war nahe, es war überflüssig geworden, zu arbeiten. Aber Paulus richtete, aufgrund dessen, was man als ,seinen ge­sunden Menschenverstand'17 bezeichnet hat, den Befehl an sie, daß wer nicht arbeite, auch nicht essen solle. Kurz ge­sagt, er forderte sie dringend auf, die Wirklichkeit der Existenz in dieser Welt wahrzunehmen. Die Ethik der Krise mußte dem alltäglichen Leben angepaßt werden. Die Kontemplation tüber die Lilien auf dem Feld, die weder arbeiten noch spinnen, mußte mit der Notwendigkeit, das Leben zu erhalten und zu arbeiten, in Einklang gebracht werden. Die Lehre von Q mußte angewandt werden. Und der Prozeß, durch den die Anwendung einer unmöglichen Ethik begann, ist am klarsten in jenem anderen Material, das wir hinter der Bp finden, zu sehen, in dem Material, das als M bezeichnet wird und dem wir uns nun zuwenden.

C. Die Quelle M: Regeln

Auf zweierlei Weise zeigt die Lehre J esu in M, obgleich auch sie den Krisencharakter der Worte J esu in der Inten­sität ihres Anspruchs bewahrt, wie diese radikalen Worte

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beginnen, regulativen Charakter anzunehmen, d. h.: sie wer­den als Anweisung für die wirkliche Lebensführung ge­nommen. Erstens wird in M die Lehre J esu in Beziehung zum J uden­turn gesehen, während die Lehre J esu in Q in ihrer Be­ziehung zu J ohannes dem Täufer gezeigt wird, d. h. in einem Gerich tskontext. In M werden die Worte J esu mit denen alter, jüdischer Großer verglichen. Dieser Vergleich datiert noch vor M selbst und er geht wahrscheinlich auf die allerersten Tage der Kirche, wenn nicht sogar auf J esus selbst zurück. Wich­tig ist hier die Feststellung, daß die antithetische Form der Darlegung der Worte Jesu in M gegenüber dem Judentum tatsächlich bewirken soll, sie als neues Gesetz, das das alte erfüllt hat, zu charakterisieren. Mt nun hat, wie wir bereits sahen, die Antithesen verstanden und deshalb an diesem Punkt keine Neuerung eingeführt. Es kann kaum ein Zwei­fel daran bestehen, daß die Konfrontation der Worte Jesu mit dem Judentum in M die Möglichkeit des legalen Ver­ständnisses der Worte J esu, d. h. ihre Anwendung in re­gulativer Weise, ermöglichte. Zweitens jedoch behandelte M selbst die Worte Jesu aus­schließlich als regulativ. Betrachten wir dazu die folgenden Abschnitte:

a) Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst nicht ehe­brechen.' Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe ge­brochen in seinem Herzen. Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf's von dir ... Es ist auch gesagt: , Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief.' Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, daß sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene freit, der bricht die Ehe ...

Mt 5,27-32

Die Worte: ,außer wegen Ehebruchs' machten aus dem totalen Scheidungverbot J esu ein Prinzip, das auf regulative

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Weise angewandt werden konnte d. h. es wurde in einen ,legalen' und praktizierbaren Bereich übertragen. b) Das gleiche Interesse an der Anwendung der Ethik J esu wird in dem Abschnitt sichtbar, der der Diskussion über die Scheidung folgt, wie er bei Mt 19,1 -12 steht und aus Mk abgeleitet ist. Der ganze Abschnitt lautet:

Und es begab sich, da J esus diese Rede vollendet hatte, machte er sich auf aus Galiläa und kam in das Gebiet des jüdischen Landes jenseits des Jordan; und es folgte ihm viel Volks nach, und er heilte sie daselbst. Da traten zu ihm die Pharisäer, versuchten ihn und sprachen: Ist's auch recht, daß sich ein Mann scheide von seiner Frau um irgendeiner Ursache willen? Er antwortete aber und sprach: Habt ihr nicht gelesen, daß, der im Anfang den Menschen geschaffen hat, schuf sie als Mann und Weib und sprach: ,Darum wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen, und werden die zwei ein Fleisch sein?' So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Da sprachen sie: Warum hat dann Mose geboten, einen Scheidebrief zu geben, wenn man sich scheidet? Er sprach zu ihnen: Mose hat euch erlaubt, euch zu scheiden von euren Frauen, um eures Herzens Härtigkeit willen; von Anbeginn aber ist's nicht so gewesen. Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn um der Hurerei wil­len, und freit eine andere, der bricht die Ehe. Da spra­chen die Jünger zu ihm: Steht die Sache eines Mannes mit seiner Frau so, dann ist's nicht gut, ehelich zu wer­den. Er sprach aber zu ihnen: Dies Wort fasset nicht jedermann, sondern denen es gegeben ist. Denn etliche enthalten sich der Ehe, weil sie von Geburt an zur Ehe unfähig sind; etliche enthalten sich, weil sie von Men­schen zur Ehe untauglich gemacht sind, und etliche ent­halten sich, weil sie wn des Himmelreichs willen auf die Ehe verzichten. Wer es fassen kann, der fasse es!

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Die in dem angeführten Abschnitt schräggedruckten Sätze stellen das dar, was die Rabbinen Gemara genannt haben würden, einen Zusatz mit erklärender Funktion oder einen Kommentar. Sie erwachsen nicht natürlich aus dem Ab­schnitt 19,1-9. Sie spiegeln eher das Problem der Durch­führbarkeit der Ethik J esu wider, so wie es von M ge­sehen wurde. Nach dem Urteil von M kann die Ethik J esu nicht vollkommen und unterschiedslos auf alle an­gewandt werden. In ihrer äußerst ,radikalen' Form kann sie nur für den gelten, ,der sie fassen kann' oder für die, ,denen es gegeben ist, so zu tun'. Die große Masse kann ihr nicht unterstellt werden. c) In der Geschichte vom reichen Jüngling befaßt sich Mt mit dem gleichen Problem auf ähnliche Weise.

Und siehe, einer trat zu ihm und sprach: Meister, was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben? Er aber sprach zu ihm: Was fragst du mich über das, was gut ist? Gut ist nur Einer. Willst du aber zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sprach er zu ihm: Welche? Jesus aber sprach: ,Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollt nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter; und, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.' Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten, was fehlt mir noch? J esus sprach zu ihm: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, ver­kaufe, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach! Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele Güter.

Mt 19,16-22

Hier hat Mt in einen Abschnitt, den er von Mk übernom­men hat, den Gedanken eingefügt, daß es im christlichen Leben verschiedene Leistungsgrade gibt. Der Rat, alles zu verkaufen und den Armen zu geben, ist nur für die Voll­kommenen bestimmt. Er ist nicht für alle gedacht. Es geht in diesem Abschnitt nicht darum, daß in die Kirche zweierlei moralische Maßstäbe eingeführt werden, sondern daß er-

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kannt wird, daß Jesu Gebot Unterschiede macht; es respek­tiert individuelle Unterschiede zwischen Menschen.

Da wurden Kinder zu ihm gebracht, daß er die Hände auf sie legte und betete. Die Jünger aber fuhren sie an. Aber J esus sprach: Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen: denn solcher ist das Himmel­reich. Und er legte die Hände auf sie und zog von dannen. Mt 19,13-15

Wie in der Parallelstelle bei Mk finden wir hier das gleiche Interesse, nämlich, zu verstehen, was die moralischen Forde­rungen J esu implizieren. Erlaubten sie es, Kinder großzu­ziehen? Konnte jemand, dessen Ziel der Gleichmut der Lilien auf dem Felde war, die weder arbeiten noch spinnen, konnte so jemand die Verantwortung der Vaterschaft über­nehmen? Die Jünger sind versucht, eine negative Antwort zu geben, aber ihr Herr versichert sie des Gegenteils. e) In einem früheren Abschnitt taucht das Interesse für aktuelle Fragen wieder auf:

Da sie aber versammelt waren in Galiläa, sprach J esus zu ihnen: Es wird geschehen, daß des Menschen Sohn überantwortet wird in der Menschen Hände, und sie werden ihn töten, und am dritten Tage wird er auf­erstehen. Und sie wurden sehr betrübt.

Als sie nun nach Kapernaum kamen, gingen zu Petrus, die den Tempelgroschen einnahmen, und sprachen: Pflegt euer Meister nicht den Tempelgroschen zu geben? Er sprach: Ja. Und als er heimkam, kam ihm Jesus zuvor und sprach: Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zoll oder Steuer: von ihren Kindern oder von den Frem­den? Er sprach: Von den Fremden. Jesus sprach zu ihm: So sind die Kinder frei. Auf daß wir ihnen aber nicht Argernis geben, so gehe hin an das Meer und wirf die Angel, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib' s ihnen für mich und dich.

Mt 17,22-27

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Der schräggedruckte Abschnitt scheint auf den ersten Blick in keiner Beziehung zu dem vorausgehenden zu stehen. Bei genauerer Untersuchung aber ergibt sich, daß er ein erläu­ternder Zusatz zu 17,22 f ist. Dort wird vorausgesagt, daß die Mächte dieser Welt den Menschensohn töten werden. Welche Haltung sollten die Christen nun gegenüber solchen Mächten einnehmen? Sollte es eine Haltung völliger Ab­lehnung oder weiser Toleranz sein? In 17,24-27 wird uns die Antwort gegeben. Bei den bestehenden Mächten soll kein Anstoß erregt werden. f) In dem darauffolgenden Kapitel finden wir Anweisun­gen, die das Leben der Kirche betreffen:

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Sündigt aber dein Bruder, so gehe hin und halte es ihm vor zwischen dir und ihm allein. Hört er dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er dich nicht, so nimm noch einen oder zwei zu dir, auf daß jegliche Sache stehe auf zweier oder dreier Zeugen Mund. Hört er die nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er die Ge­meinde nicht, so sei er dir wie ein Heide und Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein. Weiter sage ich euch: Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Mt 18,15-20 Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal? Jesus sprach zu ihnen: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal. Darum ist das Himmelreich gleich einem König, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam vor ihn einer, der war ihm zehntau­send Pfund schuldig. Da er's nun nicht hatte, zu be­zahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder und warf sich auf sein An-

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gesicht vor ihm und sprach: Habe Geduld mit mir; ich will dir's alles bezahlen. Da jammerte den Herrn des Knechts, und er ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silber­groschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder, und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir; ich will dir's bezahlen. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlt hätte, was er schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlas­sen, weil du mich batest; hättest du da dich nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er be­zahlt hätte alles, was er ihm schuldig war. So wird euch mein himmlischer Vater auch tun, wenn ihr nicht vergebet von Herzen, ein jeglicher seinem Bruder.

Mt 18,21-35

In beiden Abschnitten finden wir ein Stück Q-Material, dem mehrere Verse von M folgen. Diese Verse sind wiederum zusätzliches, erläuterndes Material. So wird in Kapitel 15 ff das ganz wörtliche Verständnis von 7,1 wo jegliches Verur­teilen anderer verboten worden war, tatsächlich außer Kraft gesetzt. (Die gleiche Funktion hat Vers 6 in Kapitel 7, wo es verboten wird, Perlen vor die Säue zu werfen.) Mt be­müht sich darum zu zeigen, wie ein solch absolutes Verbot im praktischen Leben der Kirche angewandt werden kann. Aber damit er nicht zu viel verlangt, fügt Mt in 18,21 f das Gebot, das bereits zitiert wurde hinzu, siebzigmal siebenmal zu vergeben. Alle diese Worte müssen der Urkirche wie seither allen Christen, viel Kopfzerbrechen bereitet haben, und es folgt

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ihnen deshalb in 18,23-35 ein Gleichnis aus M, durch das erklärt werden soll, was gemeint ist: Die geforderte Verge­bung muß von Herzen kommen. ,So wird euch mein himmlischer Vater auch tun, wenn ihr nicht vergebt von Herzen.' In allen Abschnitten, auf die oben Bezug genommen wor­den ist, wird der Versuch unternommen, J esus zu einem praktischen Gesetzgeber zu machen, der mit beiden Füßen auf der Erde steht. Der Radikalismus seiner absoluten Ethik wird gemäßigt. Damit in Einklang steht die Tatsache, daß die Kirche, wie sie bei Mt erscheint, eine Gemeinschaft ist, in der eine Tradition weitergegeben wird, die interpretiert werden muß. Schriftgelehrte tauchen in ihr auf und der Prozeß des ,Bindens und Lösens', des Erlaubens, daß Ver­schiedenes getan werden darf und des Verbietens, bestimmte Dinge zu tun, geht beständig weiter. Besonders Petrus taucht als christliches Gegenstück zu einem jüdischen Rabbi auf, der die Worte J esu interpretieren muß (18,21). Aber, wie wir gesehen haben, ist die Tendenz, das Christentum zu rabbinisieren, nicht nur für Mt charak­teristisch. Sie erscheint sogar bei Paulus. In seiner Diskus­sion über die Ehe z. B. sagt Paulus den Christen in Korinth, im Hinblick auf die kurze Zeit bis zur zweiten Ankunft des Herrn, daß es weise wäre, keine Ehe einzugehen. Aber er gibt, genau wie Mt zu, daß nicht alle dazu fähig sind. Er fügt an seinen Rat eine sachliche Anmerkung an. Betrachten wir dazu den folgenden Abschnitt:

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Wovon ihr aber mir geschrieben habt, darauf antworte ich: Es ist dem Menschen gut, daß er kein Weib be­rühre. Doch um der Unkeuschheit willen habe ein jeg­licher seine eigene Frau, und eine jegliche habe ihren eigenen Mann. Der Mann leiste der Frau die schuldige Pflicht, desgleichen die Frau dem Manne. Die Frau ist ihres Leibes nicht mächtig, sondern der Mann. Des­gleichen der Mann ist seines Leibes nicht mächtig, son­dern die Frau. Entziehe sich nicht eins dem anderen, es sei denn mit beider Bewilligung eine Zeitlang, daß ihr zum Beten Ruhe habt; und dann kommt wiederum

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zusammen, auf daß euch der Satan nicht versuche, weil ihr euch nicht enthalten könnt. Solches sage ich aber als Erlaubnis und nicht als Gebot. Ich wollte wohl lieber, alle Menschen wären, wie ich bin; doch ein jeglicher hat seine eigene Gabe von Gott, einer so, der andere so. Den Ledigen und Witwen sage ich: Es ist ihnen gut, wenn sie auch bleiben wie ich. Wenn sie aber sich nicht können enthalten, so laß sie freien; es ist besser freien, als von Begierde verzehrt werden. 1. Kor 7,1-9

Gleicherweise lesen wir in Rö 12, einem Abschnitt, der viele Echos auf den absoluten Maßstab der Bp enthält, im 18. Vers: "Ist es möglich, soviel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden." Wir haben bisher die zwei Quellen begutachtet, aus denen die Bp hauptsächlich gespeist wird. Während der Unter­schied zwischen ihnen nicht als starr und feststehend be­trachtet werden muß, offenbaren sie doch in etwa zweierlei Standpunkte, wenn es um den Zugang zu den Worten J esu geht. Im ersten Materialblock, in Q (obgleich es unklug wäre, das Material zu genau in gesonderte Quellen zu zer­legen) wird der absolute Charakter der Worte Jesu, ihr radikaler Einschlag, besonders hervorgehoben. Q stellt die Lehre Jesu äußerst kraß dar, wie sie vielleicht während sei­nes tatsächlichen Wirkens seinen Jüngern begegnete, als er die Seinen aufforderte, alles zu verlassen und ihm nachzu­folgen. Es wäre nicht irreführend, wenn man sich vorstellte, daß Q die vorösterliche Zeit der Kirche und die Periode unmittelbar nach Ostern widerspiegelt. In dem zweiten Materialblock, der als M bezeichnet wird, wird der Versuch unternommen, diese Worte für die Probleme des täglichen Leben anwendbar zu machen. Hinter M steht das Wissen von dem, was möglich und unmöglich, absolut und relativ ist. Wir können feststellen, daß unter anderem 1\11 mehr als Q die Erfahrung widerspiegelt, die die frühe Kirche einige Zeit nach Ostern machte, als das blendende Licht des Wir­kens und cler Auferstehung J esu verloschen und die Kirche als eine Gemeinschaft in der Welt entstanden war, die die Worte J esu nicht nur als historisch interessant, sondern als

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für ihr eigenes Leben gültig zu betrachten hatte. Die Kirche mußte sich überlegen, was diese Gültigkeit bedeutete. In­nerhalb dieses Vorgangs nahm sie das, was radikal war, auf, mäßigte es und gab ihm regulativen Charakter. Der Prozeß, innerhalb dessen das geschah, ist in dem christ­lichen Rabbinismus des Mt enthalten und wird in ihm fort­gesetzt, und wir sehen, wie langsam eine neo-gesetzliche Gesellschaft aus diesem Prozeß hervorgeht.

D. Das vierte Evangelium: Das eine Prinzip: Liebe

Andererseits jedoch wirkte in der frühen Kirche noch eine andere Kraft, die die ethische Lehre J esu einem allumfas­senden Prinzip unterstellen wollte. Diese Kraft koexistierte mit der Tendenz, aus den Worten J esu ein neues Gesetz zu machen18• Die Anwendung eines summarischen Prinzips wird schon bei Mt selbst sichtbar. Am Höhepunkt seiner Ausführung über christliches Gesetz, christlichen Gottes­dienst und christliche Barmherzigkeit stellte er das heraus, was als goldene Regel bekannt ist:

,Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sol­len, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten. ' 7,12

Ähnlich sieht Mk 12,28 in der Liebe zu Gott und zum Nächsten die Zusammenfassung des Gesetzes. Die Parallele zu dieser Stelle finden wir bei Matthäus.

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Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? J esus aber sprach zu ihm: ,Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzen Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.' Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ,Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst.' In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22,35-40

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Auch für Paulus ist das Liebesgebot der Inbegriff der For­derung Gottes, wie man aus Rö 13,8-10 ersehen kann. ,Seid niemand etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebet; denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt.' Die Gebote: ,Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht tö­ten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren' und alle anderen Gebote sind in dem. Satz zusammengefaßt: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.' Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu, deshalb ist Liebe die Erfül­lung des Gesetzes. Ferner schreibt Paulus in Gal 5,14: "Das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: ,Liebe dei­nen Nächsten wie dich selbst'" und in Kol 3,14: ,Über alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkom­menheit.' Das Gleiche erscheint in Jak 2,8, wo zumindest indirekt an die Worte J esu angeknüpft wird. Da lesen wir: "Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift: ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst', so tut ihr wohl." Ein auffallender Punkt muß in diesen außersynoptischen Anspielungen aber beachtet werden. Sie verweisen auf die Liebe zum Nächsten, aber nicht auf die Liebe zu Gott. Nur im 1. J oh 4,21 wird diese Verbindung unter besonderem Hinweis auf die Lehre Jesu vollzogen. Dort heißt es: ,Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.' Warum hat, abgesehen von 1. J oh 4,21, das Gesetz der Liebe außerhalb des Mt-, Mk­und Lkev keine Beziehung zu der Liebe zu Gott, sondern nur zur Nächstenliebe? Der Kontext des Verses in 1. J oh 4, 21 gibt die Antwort:

Ihr Lieben, lasset uns einander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer lieb hat, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht lieb hat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, daß Gott seinen eingebo­renen Sohn gesandt hat in die Welt, daß wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt und seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden ge-

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sandt hat. Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns. Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seinem Geist gegeben hat. Und wir haben gesehen und bezeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat zum Heiland der Welt. Wer nun bekennt, daß J esus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe völlig bei uns, daß wir Zuversicht haben am Tage des Gerichtes; denn gleichwie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht muß vor der Strafe zittern. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. Lasset uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. So jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, daß, wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe. 1. J oh 4,7 ff

In diesem Abschnitt wird die Liebe Gottes unter Verweis auf das Leben J esu definiert. Der Akt, durch den Gott sei­nen Sohn in die Welt sandte, damit er für die Sünder stürbe, wurde zum Vorbild, zum Paradigma seiner Liebe. Für die frühe Kirche war ganz allgemein die Bedeutung des Be­griffes ,Liebe zu Gott' seit dem Tod J esu historisch be­stimmt oder erleuchtet. Das Wesen der Liebe Gottes wurde in der Selbsthingabe J esu gesehen und das Wesen unserer Liebe zu ihm wurde in Parallele dazu verstanden, - als Liebe zum Bruder: ,So jemand spricht, ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht.' Das bedeutet nicht, daß die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen gleichgesetzt werden:

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Das würde bedeuten, die Liebe zu Gott ihres numinosen Charakters und ihres ehrfurchtgebietenden Wesens zu be­rauben. Das bedeutet auch nicht, daß die Bruderliebe der sichere Test für die wahre Liebe zu Gott ist. Um zu unserem Thema zurückzukommen: Die gleiche Orientierung findet man bei Paulus. Er spricht selten von der Liebe zu Gott oder davon, Gott zu lieben. Er spricht von der Liebe zum Nächsten in den Begriffen des Wirkens Gottes in Christus. Darin liegt ja für Paulus auch das Vor­bild für Liebe und Leben.

Denn Christus ist ja zu der Zeit, da wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben. Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten wil­len wagt er vielleicht sein Leben. Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, daß Christus für uns ge­storben ist, als wir noch Sünder waren Rö 5,6-8 Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat ver­schont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Rö 8,32 So seid nun Gottes Nachfolger als die geliebten Kinder und wandelt in der Liebe, gleichwie Christus euch hat geliebt und sich selbst dargegeben für uns. Eph 5,1 f

Das eindrucksvollste Beispiel für das christozentrische Ver­ständnis der Liebe bei Paulus findet sich jedoch im 1. Kor 13, dem Hohen Lied der Liebe, von dem man wahrscheinlich annehmen darf, daß es so etwas wie eine Beschreibung des Wesens J esu selbst zur Grundlage hat. Wir können deshalb sagen, daß der Schreiber des ersten J ohannesbriefes und auch Paulus uns nicht so sehr auffor­dern, unseren Nächsten und Gott so zu lieben, wie J esus dies tat, sondern auf J esus zu sehen und dann in seinem Licht unseren Nächsten zu lieben. Obgleich, wie wir soeben gesehen haben, die Worte J esu für Paulus von Bedeutung sind, zielt der Hinweis auf J esus doch in erster Linie auf das Teilhaben an seinem Leben der Selbsthingabe: Nicht nur, ja auch nicht vor allem auf seine Worte zu hören, ist nach Paulus entscheidend, sondern die Teilhabe an seinem Leben, an seinem Tod, an seiner Auferstehung.

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Diese Betonung tritt jedoch am klarsten im vierten Evange­lium hervor. Während die Konzentration auf das Wirken Gottes in Christus bei Paulus neben dem Hinweis auf Christi Worte steht und während bei Mt den Worten J esu eine min­destens gleiche Bedeutung wie seinen Taten gegeben wird, scheinen wir uns, wenn wir uns dem vierten Evangelium zuwenden, in einer anderen Welt zu befinden. Auch wenn J ohannes J esus als ,Rabbi' darstellt und obgleich ihm viel daran liegt, zu erklären, daß der Titel ,Rabbi', wenn er für J esus gebraucht wurde, nicht nur eine Ehrenbezeichnung war, sondern die Bedeutung ,Lehrer' hatte, muß seine Einstellung den Worten J esu gegenüber doch sorgfältig geprüft werden. Im vierten Evangelium wird der Titel Rabbi J esus von Jüngern und ,Außenstehenden' häufig gegeben. Selbst der auferstandene Herr wird mit Rabbuni angesprochen. Daß der j ohanneische Christus sein Verhältnis zu seinen Jüngern vorwiegend so sieht wie ein Rabbi, das tritt klar hervor und zeigt sich wahrscheinlich in Joh 13,1 ff. Darüber hinaus wird das Verb lehren für ] esus genauso absolut gebraucht wie bei den Synoptikern, ohne daß eine den Inhalt seiner Lehre betreffende Andeutung gemacht würde. Bei den Synoptikern und besonders bei Mt hat es den Anschein, als ob ,lehren' sich häufig auf die ethische Lehre Jesu beziehe. Worauf aber bezieht sich dieser Begriff im vierten Evan­gelium? In Joh 12,23-26 tritt die gleiche ethische Lehre zutage, wie wir sie bei dem J esus der Synoptiker finden. Sie fordert Selbstaufopferung und sie lautet:

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J esus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist gekommen, daß des Menschen Sohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizen­korn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt's allein; wenn es aber erstirbt, so bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der wird's verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasset, der wird's erhalten zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

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Hier aber steht die ethische Lehre nicht auf eigenen Füßen. Sie ist eine Art exegetisches Anhängsel, das dazu bestimmt ist, die Bedeutung der Stunde, die jetzt gekommen ist und in der der Menschensohn verherrlicht werden soll, aufzu­zeigen (12,23). So ist sie in erster Linie nicht um ihres eige­nen Wertes willen eingefügt, sondern nur zur Erklärung eines Ereignisses, des Werkes Jesu, seines Todes. In 7,14-24 finden wir die Geschichte eines Konfliktes zwischen J esus und den ,Juden':

Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte. Und die Juden verwunderten sich und spra­chen: Wie kennt dieser die Schrift, obwohl er sie doch nicht gelernt hat? Jesus antwortete ihnen und sprach: Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich ge­sandt hat. So jemand will des Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selbst rede. Wer von sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber sucht die Ehre des, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und ist keine Ungerechtigkeit an ihm. Hat euch nicht Mose das Ge­setz gegeben? Und niemand unter euch tut das Gesetz. Warum suchet ihr mich zu töten? Das Volk antwor­tete: Du hast einen bösen Geist; wer sucht dich zu töten? J esus antwortete und sprach: Ein einziges Werk habe ich getan, und es wundert euch alle. Mose hat euch doch gegeben die Beschneidung - nicht daß sie von Mose kommt, sondern von den Vätern -, und ihr beschneidet den Menschen auch am Sabbat. Wenn nun ein Mensch die Beschneidung empfängt am Sabbat, da­mit nicht das Gesetz des Mose gebrochen werde, zürnet ihr dann über mich, daß ich den ganzen Menschen habe am Sabbat gesund gemacht? Richtet nicht nach dem, was vor Augen ist, sondern richtet ein rechtes Gericht.

Obiger Text erinnert an einen Konflikt, der bei Mk steht. Er behandelt die moralische Streitfrage, ob am Sabbat ge­heilt werden darf. Abgesehen davon ist 12,24 f außer den Abschiedsreden der einzige Abschnitt im vierten Evange-

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Hum, wo die ethische Lehre J esu als solche durchbricht; und, wie wir sahen, geschieht das selbst hier nicht einwand­frei. Ähnlich schließt die Anwendung des Begriffes Prophet auf J esus keine moralische Leidenschaft ein, wie wir sie ge­wöhnlich mit diesem Begriff verbinden. Es ist eher J esu hellseherische Fähigkeit in 4,19 und in 7,41, das Mysterium seines Anspruchs, als seine ethische Forderung, was den Gebrauch des Begriffes Prophet hervorruft, während in 6,14 und in 9,17 es ein ,Zeichen' ist, was den Hinweis auf einen Propheten herausfordert. Letzteres, wie die Unterordnung ethischer Lehre unter ein Geschehen in J oh 12,24 f, ist typisch, weil, bis wir zu der Passionsgeschichte kommen, wo die ethische Forderung J esu unmißverständlich, wenn auch typisch j ohanneisch hervortritt, es die Werke oder Zeichen Jesu sind, die Be­deutung haben, nicht seine ethischen Ermahnungen. In Kapitel 2,23 glaubten viele an ihn wegen der ,Zeichen'. Die ,Lehre' wird dort nicht erwähnt. In 3,2 sind es die Zeichen, die den göttlichen Ursprung des Lehrers bestätigen und in Kapitel 5 wird die ethische Lehre nicht erwähnt. Was Op­position herausfordert, ist der angebliche Anspruch J esu, gleich Gott zu sein (5,19). Es ist dem Sohn nicht gegeben zu lehren, sondern zu wir­ken und zu richten und die Lehre J esu zählt nicht unter das, was seinen Anspruch als berechtigt erweist oder was für ihn Zeugnis ablegt. So ist es in 6,31 ein Werk Christi, auf das man sich beruft und in 9,4 geht es darum, daß die ,Werke des, der mich gesandt hat', gewirkt werden. In Kapitel 10,32 gibt J esus an, daß es nicht seine Lehre ist, die die Juden dazu brachte, ihn zu verfolgen, sondern eines seiner Werke, wie es auch seine Werke sind, die für ihn zeugen (10,25) und die zum Glauben führen (11,45) wie auch zur Opposition (12,37). Es scheint, daß die ethische Lehre J esu für das vierte Evangelium kein Zeichen für den Messias ist, wie für Mt und in geringerem Maß für Mk. Das wird entscheidend bestätigt, wenn wir nach dem ge­nauen Inhalt der Lehre fragen, die J esus im vierten Evan­gelium zugeschrieben wird. In Kapitel drei kommt man

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nicht in das Reich Gottes, indem man ein Jünger dessen wird (Mt 13,52), sondern indem man von neuem geboren wird aus Wasser und Geist. Man stellt sich als Inhalt der Lehre Jesu ,himmlische Dinge' vor (3,12; 27; 31). In 7,28 erweist sich der Inhalt der Lehre J esu nicht als ethische Forderung, sondern als Offenbarung seines eigenen Ur­sprungs. Genauso ist in 8,29.38.47 der Inhalt der Lehre das, ,was sein Vater ihn gelehrt hat'. Und das weist auf eine andere Besonderheit in der j ohan­neischen Darlegung: Die Lehre J esu ist auffallend eine ab­geleitete Lehre. Auch wenn wir für den Augenblick: von der Bedeutung der Aussage: "Ich aber sage euch" in der Bp absehen, so trägt die Lehre J esu bei den Synoptikern doch den Stempel seiner eigenen Autorität. Der johanneische Christus besteht dagegen mit Bedacht darauf, daß er nur das lehrt, was ihm der Vater zu lehren aufgetragen hat. In Kapitel 7 verneint J esus, daß seine Lehre von ihm stammt. Sie kommt von dem, der ihn gesandt hat. So führt auch die Lehre Jesu (seine remata) in 14,10 zu der Erkenntnis des Vaters und nicht zur Erkenntnis seiner selbst (14,24; 17,8; 17,14; 15,10). In 4,41 hilft uns die Aussage: ,Und viel mehr glaubten um seines Wortes willen' nicht, wenn wir genau festlegen wollen, was das ,Wort' Jesu bedeutete. Auch in 5,24 ist es schwer, exakt festzustellen, was das ,Hören des Wortes' Christi besagt. Die Aussage ist eine Parallele zu ,an den glauben, der mich gesandt hat', so daß es wahrscheinlich ist, daß ,das Wort' die Offenbarung Gottes bedeutet, die J esus gebracht hat. Das mag genügen, um zu zeigen, daß die Worte Jesu zu Fragen menschlichen Verhaltens bei Johan­nes nicht die Rolle spielen wie bei den Synoptikern und besonders bei Mt. Wie erklärt sich die Tatsache, daß dem vierten Evangelium offensichtlich nicht daran gelegen ist, die moralische Lehre J esu wie die Synoptiker aufzuzeigen? Die Vermutung liegt nahe, daß es das nicht nötig hatte, weil zu der Zeit, als das vierte Evangelium geschrieben wurde, die Lehre ein we­sentlicher Bestandteil der christlichen Gemeinschaft gewor­den war. Die Lehre eingehend zu behandeln, war überflüs-

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sig. Das vierte Evangelium ,ignoriert' wahrscheinlich deshalb die Lehre, weil es deren Kenntnis voraussetzte. Damit aber ist diese Frage kaum ausreichend beantwortet, weil das vierte Evangelium am ethischen Ernst 1 esu genauso fest­hält wie Mt, wenn auch auf seine Weise. In erster Linie stellt das vierte Evangelium Jesus Mose aus­drücklicher gegenüber als Mt, der beide, wie wir sahen, in Parallele setzte. Im allerersten Kapitel steht das Gesetz, das, Mose gebracht hatte im Gegensatz zu der Gnade und Wahr­heit, die durch 1 esus kam, der sozusagen die Exegese Gottes ist. An anderen Stellen erscheint 1 esus bei 10hannes nicht als Ausleger der alten Tora, sondern als der, der das Wort, die Tora in seiner eigenen Person ist. Es ist wichtig, festzu­halten, daß es mehr die Person und die Werke 1 esu sind als eine Synopse seiner Worte, wie wir sie bei Mt finden, durch die 10hannes 1 esus als das Licht, die Wahrheit, den Weg und das Wort erkennt. In zweiter Linie hat 10hannes die gesamte ethische Lehre J esu in einem ,neuen Gebot' zusammengefaßt. Dieses neue Gebot bekommt jedoch seine Bedeutung nicht vor allem und auf jeden Fall durch irgendwelche Worte, die lesus gesagt hat, sondern durch die Liebe, die er erzeigte. Im Besitz dieser Liebe zu sein, das macht 1 üngerschaft viel mehr aus als übung in den Worten J esu.

Gleichwie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote hal­tet, so bleibet ihr in meiner Liebe, gleichwie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe. Solches rede ich zu euch, damit meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.

loh 15,9-13

Das neue Gebot entspricht dem Gebot, das 1 esus selbst vom Vater erhielt (10,18), dem Gebot, daß er sein Leben hinge­ben sollte. Dieses Gebot ist es, das alle anderen Gebote ein­schließt, die lesus zu geben hat (14,15; 15,20):

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Liebet ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. Joh 14,15

Gedenket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.

Joh 15,20

Es ist bezeichnend, daß das ,neue Liebesgebot' iln Kontext der Passionsgeschichte steht. Dahin paßt es, denn die Pas­sion selbst ist für J ohannes die aufschlußreichste Verwirk­lichung des neuen Gebotes. Aber nicht nur das. Auch wenn es bei J ohannes keinen Bericht über das Essen des Brotes und Trinken des Kelches beim Abendmahl gibt, so dürfte doch der Passus: ,das neue Gebot', darauf hinweisen, daß auch er, wie die Synoptiker, mit dem Tod Jesu die Vor­stellung eines Bundes verbindet. Mit dem Abendmahl tritt für J esus selbst ein neues Gebot in Kraft, das erst von sei­nem Tod her verstanden werden kann. Der Gedanke an den Bund kommt noch deutlicher in der Erwähnung von , Wasser und Blut' zum Ausdruck, die aus der Seite J esu heraustreten (J oh 19,34; vgl. Heb 9,19, wo ,von Blut, von Wasser und von Ysop' die Rede ist; Joh 19,29 erwähnt des­gleichen den Ysop, im Unterschied zu Mk 15,36, wo von ,Essig' gesprochen wird). Wenn wir nun zusammenfassen, sehen wir, daß es in der frühen Kirche verschiedene Einstellungen zu der vorhan­denen ethischen Lehre J esu gab. Für Paulus, wie für Mt, waren die Worte J esu eine Autorität, der sie sich unter­ordneten und an die sie sich wandten um moralische An­weisungen zu erhalten. Für den Autor des vierten Evange­liums sind die Worte Jesu über Moral jedoch keine Beru­fungsinstanz, zumindest keine deutliche. Sie sind vielmehr in einem Gebot zusammengefaßt, das seine Bedeutung nicht durch das erhält, was J esus sagte, sondern durch das, was er tat und besonders durch sein Kreuz tat. Mt, so können wir weiter feststellen, hat unter dem Einfluß der Kräfte, die wir bereits diskutiert haben, radikales Material und solches mit regulativem Charakter verbunden, um ein neues Gesetz

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zu schaffen, das, wie wir jetzt sagen können, katechetisch gelehrt werden konnte. Das trifft auch für den Jakobusbrief zu. Als nächstes haben wir zu fragen, ob Mt, als er so die Tradition zu legalisieren begann, wie vor ihm schon Paulus, sich von J esus selbst entfernte.

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V. Die Bergpredigt im Kontext des Wirkens Jesu

Wie wir auf den vorausgehenden Seiten gesehen haben, hängte Mt um die Gestalt J esu den Mahtel eines Gesetz­gebers. Manche Leute in der Urkirche mögen das als ganz natürlich angesehen haben und gewisse Faktoren sowohl außerhalb als innerhalb der christlichen Gemeinschaft selbst - möglicherweise Antipaulinismus, beginnender Gnostizis­mus, sektiererische Einflüsse und die Herausforderung des Judentums -, mögen dieses Verständnis des Herrn bei Mt angeregt haben. Es bleibt die Frage, ob Mt, als er, um einen vagen Begriff zu gebrauchen, J esus rabbinisierte, seinen Herrn mit einem fremden Gewand schmückte, das den ge­schichtlichen J esus verfälscht hat, soweit wir überhaupt wissen können, wie er tatsächlich gelebt hat. Können wir definieren, in welcher Beziehung der Christus der Bp zu J esus selbst steht?

A. Die Weitergabe der Worte Jesu

An dieser Stelle entstehen die Schwierigkeiten, die wir zu Beginn des ersten Kapitels erwähnten. Während der letzten zwei Jahrhunderte wurde die Frage nach dem ,historischen J esus' gestellt. Das Motiv, das hinter dieser Frage steht und das bewußt und unbewußt viele Jahrzehnte hindurch die Erforschung des NT weitgehend beherrschte, war der Wunsch, Jesus von Nazareth hinter und außerhalb der Kruste der Tradition, der Kirche und des Dogmas sehen zu können. Aber die Arbeit, die daran gewandt wurde, nahm einen sehr unerwarteten Ausgang. Paradoxerweise führte uns das Ergebnis der Quellen- und Formkritik

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nicht von dem ,traditionellen' Christus der Kirche weg zu einem einfacheren, wahrscheinlicheren und glaubwürdigeren geschichtlichen J esus, wie oft beabsichtigt wurde, sondern zu dem Wissen, daß die für die Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stehenden Dokumente selbst durch die Kir­che oder durch die Kirchen, innerhalb derer sie entstanden, geformt wurden, so daß wir de facto nur den Christus der Kirche oder den Jesus, der von der Kirche interpretiert wurde, kennen können. Um es anders zu sagen: Der Chri­stus der bunten Glasfenster der Tradition und des Dogmas, dessen Zerstörung so viele Bücher und Predigten gewidmet wurden, erscheint beharrlich immer wieder hinter dem Staub der Forschung. Änderungen im Bild scheinen sich nur auf Nebensächliches zu beschränken. Dieses Zweitrangige hat in unserer Zeit eine weit stärkere jüdische Färbung an­genommen, weil man jetzt so viel mehr über das Judentum des ersten Jahrhunderts weiß. Der geschichtliche J esus je­doch - so wurde festgestellt - entschwindet uns. Wir kön­nen nur den Saum seines Gewandes berühren. Unserer un­mittelbaren Aufgabe entspricht noch besser die Behauptung, daß wir nur das Flüstern seiner Stimme hören können. Die Mehrzahl der Aussprüche, die J esus zugeschrieben werden, werden als Schöpfungen der Urkirche erkannt. Deshalb ist es nicht möglich, festzustellen, was J esus tatsächlich lehrte, sondern nur, was die frühe Kirche ihm zuschrieb. Von da­her gesehen, hat es wenig Zweck, über die Beziehung der Bp zu der Lehre J esu zu diskutieren, weil diese nur unklar umrissen werden kann. Aber der extreme Skeptizismus, der oft beim Erforschen des Lebens und Lehrens J esu am Werke war, muß nun infrage gestellt werden. Besonders im Zusammenhang mit der Lehre Jesu sollten gewisse Tatsachen und Wahrschein­lichkeiten nicht übersehen werden. Erstens war das Milieu, innerhalb dessen J esus auftauchte, auf den gewissenhaften Empfang und die Übermittlung der Tradition eingestellt. Das Phänomen, daß Aussprüche und Reden in der semitischen Welt des ersten Jahrhunderts und anderer Jahrhunderte durch ehrbare Männer erhalten und weitergegeben wurden, ist allgemein bekannt.

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Ein Beispiel: Die Gesetze, die jetzt in der Mischna kodifi­ziert sind, wurden lange Zeit mündlich aufbewahrt!. Zweitens tauchen die technischen Begriffe, die den Empfang und die Weitergabe von Tradition gewöhnlich beschreiben, in den Dokumenten des NT so klar auf, daß wir daraus schließen müssen, daß die frühen Christen eine Tradition weitergaben. Es ergibt sich einwandfrei, daß diese Tradition ethische Lehre mit einschloß und nicht nur dogmatische Wahrheiten. Aufgrund der Tatsache, daß Paulus mündliche oder geschriebene Sammlungen der Worte J esu benützte, die er von seiner eigenen Meinung scharf unterschied, gilt es darüber hinaus für eine frühe Periode als sicher, daß diese ethische Lehre spezielle Anweisungen von J esus selbst enthielt. Daß Paulus nicht der einzige war, der diese Unter­scheidung machte, ist wohl anzunehmen2•

Drittens muß auf die Tatsache, daß J esus ganz wahrschein­lich Aramäisch sprach und daß deshalb eine gewisse Ver­fälschung der Tradition seiner Worte und Taten unver­meidlich war, ehe sie in griechischer Sprache auf uns kam, nicht zu viel Nachdruck gelegt werden (auch wenn Über­setzung bekanntlich Interpretation, wenn nicht Mißinter­pretation ist). Abgesehen davon, daß Jesus möglicherweise mit der griechischen Sprache vertraut war, gab es von den frühesten Tagen der Kirche an zweisprachige Christen, denen die Übersetzung von Aussprüchen aus dem Ara­mäischen ins Griechische keine ernstlichen Schwierigkeiten bereitet haben dürfte, so daß der Verlust an Echtheit bei der Übersetzung nicht übertrieben werden sollte3•

Viertens ist es von höchster Sachdienlichkeit, wenn festge­stellt wird, daß ein häufiger Austausch zwischen Gestalten wie Petrus und anderen apostolischen Führern der Tradi­tion und christlichen Gemeinden an den verschiedensten Orten stattfand, so daß die Übermittlung und Entwicklung der Tradition nicht ungeprüft vor sich ging. Nicht eine vage Volkstradition, die sich über lange Zeitabschnitte hinweg entwickelte, steht hinter dem NT, sondern eine ,kirchliche', die sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne intensiv entwik­kelt hat4•

Schließlich wurde in der frühen Kirche selbstverständlich

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großes Interesse der Erhaltung der Worte J esu zugewandt5•

Es ist zwar sinnlos, nicht wahrhaben zu wollen, daß, wie es die Formkritik absolut klar gemacht hat, die Tradition durch Predigt, Lehren, apologetische Propaganda, Katechis­mus und Liturgie der Kirche beeinflußt wurde und weiter, daß die Kirche sehr wahrscheinlich, wenn nicht mit Sicher­heit, dem historischen J esus Worte zuschrieb, die unter dem Einfluß des Geistes geäußert wurden. Trotzdem hatten die echten Worte Jesu eine gute Chance, zu überleben. Die Tatsache selbst, daß man Worte, die durch den Geist ge­äußert wurden, dem geschichtlichen J esus zuschrieb (falls das wirklich der Fall war) zeugt für den Ernst, mit dem die Kirche danach trachtete, ihre Tradition auf ihn zu grün­den6• Daß Aussprüche, die dem irdischen Jesus angedichtet wurden, in den primitiven Gemeinschaften en gros ent­standen, ist kaum anzunehmen. Es ist weit wahrscheinlicher, daß die Kirche Aussprüche J esu, die in der Tradition um­herliefen, übernahm und bewahrte, sie für ihren eigenen Zweck abwandelte und dann wiederum J esus in einer neuen Form zuschrieb. Es mag nicht leicht sein, die ur­sprüngliche Form zu erkennen, es ist aber auch nicht immer unmöglich. Bisher haben wir jedoch nur allgemeine Betrachtungen an­gestellt, um die Behauptung zu untermauern, daß es nicht unsinnig sei, wenn wir nach vielem Sichten glauben, von der ethischen Lehre J esu sprechen zu können und nicht nur von der Lehre der frühen Kirche. Können wir noch weiter gehen?

B. Der Lehrer

Beginnen wir damit, daß wir etwas behaupten, was banal erscheinen mag, nämlich, daß J esus von N azareth ein Leh­rer war. Daß er das war, wird zweifelsohne von den Kir­chenvätern bezeugt, von außerkanonischen Quellen und vor allem vom NT selbst. Wir beginnen mit den frühen Kir­chenvätern. Es wird manchmal der Standpunkt vertreten, daß das Ge-

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wicht der christlichen Hingabe an J esus sich bald als zu schwer erwies, als daß man es noch in den Begriffen einer Schüler-Lehrer Beziehung hätte ausdrücken können und daß, sobald das Christentum hellenistischen Kräften direkt begegnete, sich die Begriffe ,Lehrer' und ,Jünger' als unan­gemessen erwiesen. Der Name ,Christen' tauchte in Antio­chien auf und aus dem ,Lehrer' wurde ein ,Herr'7. Dabei wird aber die Tatsache übersehen, daß in den ersten J ahr­hunderten der Kirche J esus als der ,Erleuchtende' auftaucht und häufig als ,Lehrer' bezeichnet wird. Beweise dafür gibt es genug8•

Natürlich ist es auch möglich, so zu argumentieren, daß es die Kirche war, die für sich selbst die Lehre fabrizierte, die die Väter Jesus zuschrieben. Das aber würde deren Beweis, daß es richtig sei, J esus als Lehrer zu betrachten, nicht außer Kraft setzen. Es ist ferner möglich, die Betonung des Didak­tischen im patristischen Verständnis J esu, mit dem wir es hier zu tun haben, als Intellektualisierung des Christen­tums unter dem Einfluß der Griechisch-Römischen Kultur abzutun. Es ist möglich zu behaupten, daß, wenn Klemens von Alexandria von Jesus als dem Lehrer spricht, der Be­griff nicht so sehr für eine Quelle ethischer Instruktionen steht sondern vielmehr für ein rettendes Mysterium oder für Gnosis9• Daß die Hellenisierung der Tradition bei Kle­'mens nie so weit ging, daß er sie ihres Fundamentes im Judentum beraubt hätte, wird aus der Tatsache ersichtlich, daß Klemens seinen Herrn bei seiner Epiphanie als ,Lehrer' erwartete: das bedeutet, daß er als Richter ,Lehrer' ist. Die ethische Bedeutung des Titels wird so erhalten. Die Mög­lichkeit besteht, daß es überhaupt unnötig ist, bei der patri­stischen Betonung J esu, des ,Lehrers' äußere Einflüsse geltend zu machen: sie ist die natürliche Fortdauer eines, wie wir gesehen haben, schon im NT vorhandenen Ele­mentes. Daß es bei den Vätern mehr betont wurde, das soll gern zugegeben werden, nicht aber, daß dies eine Be­sonderheit oder Verfälschung ihrerseits war. Das gleiche Verständnis J esu als Lehrers taucht in den jüdischen Quellen auf, die auf J esus Bezug nehmen. Wenn man diese durch­sieht, so zeigen sie J esus als einen gekreuzigten falschen

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Lehrer, der seine Jünger hatte (talmidimJ1°. In einem Ab­schnitt wird eines seiner echten Worte zitiert und es ist nicht ausgeschlossen, daß die Tatsache, daß J esus in christ­licher Sicht als Lehrer galt, der, weil er der Messias war, seine eigene Interpretation des Gesetzes hatte, dazu führte, einen großen Teil der jüdischen Spekulation, die in dem Messias den Überbringer eines neuen Gesetzes sah, zurück­zudrängenl1 • Abgesehen von solch sekundären Quellen aber sind die Belege aus dem NT selbst eindeutig. J esus wurde nicht nur von seinen eigenen Jüngern und vom Volk als Lehrer angesprochen, sondern von den Gelehrten selbst12•

Er rief ,Jünger' zu sich.

c. Der eschatologische Prediger

An diesem Punkt ist Vorsicht geboten. Müssen wir uns J esus als Rabbi denken oder als eine andere Art von Leh­rer? Es gab sicherlich vieles, was ihn von den Rabbinen unterschied. Die synoptische Tradition betont die Autorität seiner Lehre. Sie unterschied sich von der der Schriftgelehr­ten. Gewöhnlich waren jüdische Lehrer die Schüler von Lehrern, von denen sie getreulich gelernt hatten, was sie ihrerseits ihren eigenen Schülern vermittelten. Während sie großen Scharfsinn an die Exegese der Schrift wandten, galt ihr größter Respekt der Treue, mit der sie weiter­gaben, was sie empfangen hatten13• So weit wir wissen, war J esus aber nicht der Schüler anderer Lehrer als jener, die ihn in der Dorfschule zu Nazareth unterrichtet haben mögen14• Die Autorität, mit der Jesus sprach, war deshalb für seine Hörer problematisch. Er sprach mit der Autorität eines Rabbi, obgleich er weder unterwiesen noch ordiniert16

worden war. Seine Autorität war deshalb nicht übertragen, sondern autonom. Wie war es möglich, daß ein ungelehrter Mann (agrmnma­tos) etwas wissen konnte? Der Ursprung der Lehrautorität J esu unterscheidet sich deshalb von der der Rabbinen. Da­mit stimmt überein, daß er seine Lehre im Imperativ aus­drückte und nicht in der Partizipform, die unter Rabbinen

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üblich war16; ferner die Tatsache, daß er - so berichtet die Tradition17 -, die Schrift als Zeuge für sich selbst benützte, was ein Rabbi normalerweise nicht tat. Hier ist der Punkt, wo die Lehre J esu sich vielleicht am radikalsten von der der Rabbinen unterscheidet. Wenn die Tradition der Schrift­exegese, die sich in den Dokumenten des NT so zwingend zeigt, aufgrund derer bestimmte Abschnittsgruppen aus dem AT zur Erhellung des Lebens, des Todes und der Auferste­hung J esu herangezogen wurden, von J esus selbst herrührt, dann ist es klar, daß seine Einstellung zur Exegese ganz und gar nicht, auch nicht einmal vorwiegend rabbinisch war. Sie steht der Einstellung näher, die in den Schriften vom Toten Meer gefunden wurde, in denen man die Schrift auch zur Interpretation historischer Ereignisse verwandte. Diese Ein­stellung zeigt ferner einen direkteren personellen Bezug zur Bedeutung der Schrift, als das bei den Rabbinen der Fall war. Im Blick auf das Verständnis seines eigenen Wirkens, das J esus besaß, nämlich daß mit seiner Auskunft die Herr­schaft Gottes näher gekommen war, wird das deutlich. Dar­auf wollen wir später zurückkommen. Und so wie dieses eschatologische Bewußtsein von Jesus eine exegetische Orientierung verlangte, die sich von der Kasuistik der Rabbinen unterschied, so bestimmte es auch die äußeren Züge seiner Lehrtätigkeit. J esus lehrte nicht nur in Synagogen, sondern auch im Freien, am Meer oder auf den Bergen. Seine Zuhörer waren nicht nur Schüler, Mitglieder seines Kreises oder seiner ,Schule', obgleich er solche wahrscheinlich hatte, sondern auch ,Leute aus dem Volk'18, Zöllner und Sünder, zu denen er sich frei gesellte. Das Wesen der Jüngerschaft J esu muß sorgfältig beachtet werden, weil es bestimmte Elemente enthielt, die es von dem Leben rabbinischer Schüler unterschied. Jüngerschaft erwuchs als Antwort auf den Ruf J esu in die Nachfolge, ein Ruf, der an das einzelne Individuum oder an die Gesamtheit der Hörer gerichtet war. Durch diesen Ursprung schloß sie deshalb eine persönliche Bindung an J esus selbst und an sein Wirken ein. Oft bedeutete sie Verlassen von Heimat, Freunden und Bekannten, Reichtum, Bequemlichkeit und Sicherheit und die Bereitschaft, den Weg J esu zu gehen, der

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der Weg zum Kreuz war. So beschreibt Jesus in Lk 22,28 seine Jünger als die, die bei ihm in seinen Anfechtungen blie­ben. Was ergibt sich bei all dem für den Vergleich mit einem jüdischen Schüler? Es mag Fälle gegeben haben, wo Rabbi­nen ihre eigenen Schüler wählten oder ,begabte junge Schü­ler' ermutigten, ihnen zu Füßen zu sitzen, Rabbinen wur­den auch dazu angehalten, viele Schüler heranzubilden. In den Aboth jedoch wird einem aufstrebenden Schüler ge­raten, sich einen Lehrer zu suchen. Akiba reiste den ganzen Weg von BabyIon nach Jerusalem, um einen solchen in Hil­lel zu finden. Der Fall Akibas ist auch in anderer Hinsicht aufschlußreich. Jahrelang war Akiba während seines Stu­dentenlebens von der Unterstützung seiner Frau abhängig. Normalerweise verlangte die Beschäftigung mit dem Gesetz nicht die Lösung natürlicher menschlicher Bindungen. Viele Rabbinen wie auch ihre Schüler hatten weltliche Berufe. Wenn man ein Gesetzesschüler wurde, so geriet man damit nicht in eine Krise, wie dies bei dem Ruf J esu der Fall war, sondern es genügte Konzentration auf das Studium. Auch wenn die Opfer, die von den Schülern der Rabbinen für die Tora gebracht wurden, hell leuchten und obgleich in Ver­folgungszeiten Treue zu ihrem Studium oft den Tod be­deutete, gab es doch einen klaren Unterschied zwischen einem Leben, das dem Studium zu Füßen eines Rabbi ge­widmet war, dessen Ziel wachsende Kenntnis des Gesetzes war, die einen Schüler möglicherweise dazu qualifizieren würde, selbst ein Rabbi zu werden und dem Leben eines Jüngers Christi (der von Natur aus oft nicht besonders strebsam war), der zu persönlicher Hingabe J esu gegenüber in die Nachfolge gerufen war. Für den einen ist die Tora letztes Ziel, für den anderen J esus selbst. Es ist dieser Personalismus, der aus einem Jün­ger J esu nicht einen anderen Rabbinen werden ließ, son­dern einen Apostel.

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D.DerRabbi

Wir haben versucht, dem eschatologischen Charakter J esu als Lehrer gerecht zu werden. Wenn auch alle Unterschiede zwischen ihm und einem Rabbi aufgezeigt wurden und wenn man auch zugeben muß, daß J esus in vieler Hinsicht einem wandernden cynisch-stoischen Prediger ähnlicher war als einem Rabbi, noch genauer, daß er wie ein Prediger aus Galiläa war, einer aus Obergaliläa, so darf er doch nicht aller Ähnlichkeit mit einem Rabbi beraubt werden. Denn bei Jesus zeigen sich unmißverständlich rabbinische Züge. Er wurde Rabbi genannt. Während zu seiner Zeit der Titel nicht die genaue Bezeichnung für jemanden gewesen sein mag, der offiziell zum Lehren berufen wurde, wie das spä­ter der Fall war, war er doch mehr als ein Häflichkeitstitel. Er bezeichnete im strengen Sinn einen Lehrer. Ein Beweis für den rabbinischen Einschlag im Wirken J esu ergibt sich auch aus der Terminologie, die seine Jünger gebrauchen. Ein Unterschied ist erkennbar zwischen dem ,zu J esus kom­men' und dem ,Jesus nachgehen'. Letzteres entspricht dem ,J esus nachfolgen'. Wenn J esus sich an die Menge wendet, lädt er sie ein, zu ,ihm zu kommen'. Nur der Jünger selbst kann geheißen werden nachzufolgen. Die Ausdrücke ,kom­men zu' und ,nachgehen' müssen aber wahrscheinlich als Äquivalent der rabbinischen Fachausdrücke vom ,Gehen zu einem Rabbi'; um Instruktionen zu erhalten und von ,einem Rabbi folgen als sein Diener' angesehen werden. Damit stimmt überein, daß in Mk 15,41 (= Mt 27,55; vgl. Lk 8,2 f) das Wort ,folgen', das das Äquivalent zu ,nach­gehen' . ist, als ,dienen' interpretiert wird, was eine bewun­derungswürdige übersetzung des rabbinischen Verbs ist, das bei Schülern angewandt wird, die als Jünger bei einem Gelehrten in Dienst stehen. Die Tatsache, daß in Mk 15,41 diejenigen, die gedient haben, Frauen sind, nimmt der Ter­minologie nicht ihre Bedeutung, wie wir weiter unten sehen werden. Die Aufgaben eines ,Diener-Jüngers' sind zahlreich. Er bringt seinem Herrn die Sandalen, hilft ihm, wenn nötig, bereitet ihm den Weg, führt den Esel, auf dem er reitet.

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Ein späterer Abschnitt definiert die Pflichten eines ,Diener­Jüngers, als die eines Sklaven, außer, daß er seinem Lehrer nicht die Sandalen ausziehen muß. Diese Aufgabe ist den Sklaven zugewiesen. Es scheint, als ob die Funktionen der Jünger in den Evangelien die sind, die dem ,Diener-Jünger' zugewiesen werden. Die Fußwaschungsszene in J oh 13 mag einen Einblick in den rabbinischen Brauch geben. Dort weist J esus den Dienst eines ,Diener-Jüngers' für sich selbst zu­rück und schärft denselben Geist seinen Jüngern ein. Es gibt eine rabbinische Parallele zu dieser Szene, die zeigt, daß auch Rabbinen dieser Geist nicht fremd war. Auch die An­spielung auf den Diener und den Sklaven in Mk 10,45 ist aufschlußreich. J esus scheint hier die ehrerbietige Haltung den Großen gegenüber zurückzuweisen. Es hat den An­schein, daß in Mk 10,45 Rabbinen gemeint seien. Das ist aber unwahrscheinlich, weil der Kontext ganz eindeutig nicht auf rabbinischen, sondern auf heidnischen Sprach­gebrauch anspielt. Darüberhinaus scheint J esus die ihm zu­gedachte Ehrung angenommen zu haben, genauso wie die Rabbinen. In diesem Licht müssen wir wahrscheinlich den Dienst, der J esus von der Schwiegermutter des Petrus und anderen erwiesen wurde, sehen. Der erwiesene Dienst ist mehr als der bei Tisch übliche. Er gehört zur Kategorie dessen, was großen Lehrern sogar von ihren Müttern und Vätern erwiesen wurde. Letztlich stellen wir fest, daß J esus saß, wenn er lehrte, wie die jüdischen Lehrer, und wir können vermuten, daß trotz des Umherwanderns und des Gerichtscharakters seines Wir­kens, ein großer Teil der Zeit, die er mit seinen Jüngern verbrachte, an die Auslegung des Gesetzes gewandt wurde. Er wurde in der Öffentlichkeit und privat nach dem Gesetz gefragt. Von Gegnern wurde anerkannt, daß er den Weg der Wahrheit kenne oder daß er zumindest fähig sei, über ihn zu diskutieren. Die Anspielung in Mk 12,14f ist deut­lich sarkastisch. Die Probleme, die in den Evangelien als von J esus behandelt erscheinen, z. B. Heirat, Ehescheidung, lex talionis usw., sind solche, die auch von Rabbinen disku­tiert wurden. In welchem Ausmaß aus den Quellen die Fähigkeit J esu,

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rabbinisches Schulhebräisch zu gebrauchen, ersehen werden kann, kann nur vermutet werden19• Daß er es mit den Ge­lehrten aufnehmen konnte, ist klar, und diese Tatsache ist wahrscheinlich eine Folge seiner Fähigkeit, in ihrer Sprache zu sprechen. Andererseits zeigt sich, daß die Fachausdrücke, die in den synoptischen Berichten bei Diskussionen mit ge­lehrten Gegnern stehen, z. B. die Praxis von Korban in Mk 7, eine Anspielung, aus der man glaubt schließen zu dürfen, daß Jesus mit wissenschaftlichen Techniken vertraut war, so allgemein bekannt waren, daß von der Anspielung auf sie durch J esus nicht geschlossen werden sollte, daß er in wissenschaftlichen Techniken geschult war. Ferner taucht andere, einwandfrei rabbinische Terminologie in Abschnit­ten auf, die nicht authentisch sein müssen z. B. der Aus­druck: ,binden und lösen' in Mt 18,18; 16,19. Der Gebrauch dieser Terminologie erfordert wiederum keine genaue Kenntnis der Methoden der Schulen. Fingerspitzengefühl, gesunder Menschenverstand und Wachheit, - diese Züge J esu treten bei seinen Konflikten mit Schriftgelehrten, pha­risäischen und anderen Gegnern hervor, nicht unbedingt aber in Schulen erworbene Gelehrsamkeit, auch wenn J esus es mit gelehrten Gegnern aufnehmen konnte, wozu ein lebendiges Erfassen ihrer Methoden, wenn nicht deren ge­naue Kenntnis, nötig war. Die Exegese, die wir hinter J esu Worten finden, ist nicht kasuistisch im rabbinischen Sinn, sondern, wie wir gesehen haben, mehr von der Art eines pesher. Dennoch sind wir durch den erbrachten Beweis wahrschein­lich dazu berechtigt, uns den geschichtlichen J esus mit einer Art ,Schule' um sich vorzustellen; nicht einer streng rab­binischen Schule, aber doch einer, die rabbinische Züge hatte. Später zeigte sich in der Struktur der Kirche vieles, was an die Weitergabe der Tradition im Judentum erinnerte. Im Wirken J esu wurden für diese Entwicklung bereits die Weichen gestellt20•

Es besteht kein Zweifel daran, daß diejenigen, die dazu erwählt waren, um ihn zu sein, von ihm lernten, seine Worte hüteten und weitergaben. Es ist kein Zufall, daß die Worte J esu in so vielen Dokumenten der frühen Kirche

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auftauchen. Es gab eine christliche Tradition, die von J esus von N azareth selbst ausging und deren ,Kontinuität' von den Jüngern und deren verschiedensten Nachfolgern in der frühen Kirche bewahrt wurde. All das macht es glaubwür­dig, daß die ,Worte' Jesu mit einem gewissen Grad an Treue bewahrt und überliefert wurden21•

Wenn man das, was wir bis hierher geschrieben haben, akzeptiert, dann zeigt sich J esus von N azareth zumindest in zweierlei Gestalt: als eschatologische Gestalt und als Rabbi, als ein Morallehrer. Wie die Schwankungen in der NT-Forschung von Harnack bis Schweitzer zeigen, liegt die Versuchung immer nahe, sich auf den einen Teil der Gestalt J esu zu konzentrieren und den anderen zu vernach­lässigen. Beide gehören aber zu einer Person. Sie scheinen ein ungleiches Gespann zu sein, aber die von uns gesehene Verbindung sollte nicht unerwartet sein, weil in der jüdi­schen ZukunftshofTnung die Eschatologie nie von der Ethik getrennt war. Der messianische König sollte auch ein Lehrer oder Ausleger des Gesetzes sein. Der Messias sollte viel­leicht wie Mose sein. Das Gleiche bewahrheitet sich im NT. J esus als der Knecht-Messias mußte seine Einstellung zum Gesetz klarlegen. Als die eschatologische Gestalt war er unvermeidlich ein Morallehrer. Das ergibt sich klar aus der Zusammenfassung der Botschaft Jesu in Mk 1,15. Dort heißt es: ,Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evan­gelium.' Die Proklamation des eschatologischen Ereignisses ruft zur Buße. Das Wirken Gottes im Evangelium wirkt als Aufruf an die Menschen zu einem besseren Leben. Gabe und Forderung können nicht getrennt werden. Trotz der Änderungen, die an den Worten J esu durch die Kirche vorgenommen wurden, ist es im Hinblick auf die Überlieferung der Tradition Jesu durch seine Jünger, die wir bereits aufgezeigt haben, eine vertretbare Annahme, daß wir die moralische Lehre J esu mit ihren Hauptschwer­punkten und Intentionen kennen können. Wir wollen nun versuchen, das nachzuweisen.

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E. Die Forderung J esu und ihr Sitz im Leben

Erstens: Wir haben gesehen, daß J esus von N azareth als Bußprediger auftrat. Wie hat er sich Buße vorgestellt? Es wurde mehrfach festgestellt, daß sein Bußruf nicht in der Sprache des Gesetzes formuliert war. Ist diese Ansicht berechtigt? Oder war es für ihn als den neuen Mose nicht selbstverständlich, von Buße in Begriffen des Gesetzes zu denken? An dieser Stelle mag ein Vergleich J esu mit anderen, die im Judentum des ersten Jahrhunderts zur Buße riefen, aufschlußreich sein. Es gab viele, die von Buße im Licht des Gesetzes dachten. Folgende Faktoren sind wichtig: Wir können annehmen, daß die Mehrzahl der Juden im ersten Jahrhundert ihr Leben ohne Beachtung der Forde­rungen des Gesetzes lebte. Sie waren das Landvolk (am ha' ares)22, denen die Frommen mit Verachtung begegneten. Die Kreise, aus denen J esus stammte, gehörten streng ge­nommen nicht zum ,Landvolk', im üblichen Sinn. Aus all seinen Gesprächen mit den Schriftgelehrten und Pharisäern wir klar, daß er das Gesetz ernstnahm. Ob J esus die Ab­sicht hatte, das Gesetz zu verwerfen, werden wir später diskutieren, aber selbst wenn er, was unwahrscheinlich ist, das tat, dann nicht aus einer Gleichgültigkeit heraus, wie sie unter dem ,Landvolk' herrschte. Wie wir sehen werden, ehrte J esus das Gesetz selbst dann, wenn er gegen es an­ging. Für unseren gegenwärtigen Zweck brauchen wir nur festzuhalten, daß das ,Landvolk' uns keinen direkten Auf­schluß gibt über seinen Bußruf, höchstens insofern, als sein Ruf gerade an diese Gruppe gerichtet war - mit sorgenvol­lem Mitleid und mit einer Leidenschaft, die mit der leiden­schaftlichen Verachtung, die dieser Gruppe von anderen reli­giösen Führern oft gezeigt wurde, nichts gemein hatte23. Die zweite Haltung gegenüber dem Gesetz im Judentum des ersten Jahrhunderts steht in Verbindung mit den Sad­duzäern. Für sie galt das geschriebene Gesetz und nur das geschriebene Gesetz. Sie lehnten die Autorität der münd-

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lichen Tradition, die wie ein Zaun um das Gesetz gewach­sen war, ab. In einer Hinsicht, nämlich in seiner kritischen Haltung zur Tradition der Väter, steht J esus den Saddu­zäern nahe. Aber während ihre Ablehnung der mündlichen Tradition aus einem starren Konservativismus erwuchs, der, weil er darauf bestand, daß nur das geschriebene Ge­setz galt, es eigentlich zu einem ,Antiquitätenmuseum' degradierte, lehnte Jesus die Tradition der Väter nur ab, um sie durch seine eigene Tradition oder Interpretation zu er­setzen, so daß er dem Konservativismus der Sadduzäer zwar sowohl nahesteht, als doch auch weit von ihm entfernt ist24•

Als nächstes kommen wir zu der liberalen Einstellung der Pharisäer. Weil sie den Wunsch hatten, für ihr gesamtes Leben vom Gesetz Richtungsweisung zu erhalten, akzep­tierten sie sowohl das geschriebene als auch das mündliche Gesetz, das dessen Einzäunung war, als autoritativ. Ihre Treue zur Tradition war die Vorbedingung für die An­passungsfähigkeit an eine sich ändernde Welt. Sie befaßten sich damit, das Gesetz dem Leben anzupassen (nach Finkel­steins Ausführungen25 zu urteilen, zumindest im Geist), ähnlich wie in unserer Zeit christliche Sozialisten und Christlich-Liberale sich darum bemühten, das Christentum auf das Leben anzuwenden. Es gibt viele Beweise dafür, daß J esus eine Zeitlang meinte, die Pharisäer zu verstehen und in mancher Hinsicht kann er nur mit ihnen sympathi­siert haben. Trotzdem kam J esus letztlich mit den liberalen Pharisäern am meisten in Konflikt, weil die Tradition, die sie vertraten, so wie J esus sie sah, längst aufgehört hatte, den Geist des Gesetzes, um das herum sie gewachsen war, zu erhalten. Die Tradition war sogar soweit herabgesunken, daß sie die Intention des Gesetzes aufhob. Daher kommt die Härte der Kritik J esu an den Pharisäern in Mk 7. Er lehnte ihre Art Tradition ab. Der Bußruf J esu war nicht der gleiche wie der der Phari­säer. Seine Forderung nach Rechtschaffenheit mußte größer und strenger sein als die ihre26•

Schließlich kommen wir zu der Gruppe, mit der J esus in gewissem Sinn am meisten gemein gehabt haben mag und die er doch kritisierte, nämlich zu den Sektierern, deren

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schriftliche Hinterlassenschaft kürzlich nahe dem Toten Meer entdeckt wurde. Ihre Haltung dem Gesetz gegenüber wird am besten als radikal bezeichnet. Eines der Schlüssel­worte, die sie gebrauchten war das Wort ganz. Das ,ganze' Gesetz sollte so, wie es in der Tradition der Sekten inter­pretiert wurde, gehalten werden. Für dieses Ziel, für eine Gemeinschaft in ,der Tora und im Reichtum' gaben sie alles auf. Hier wurde das Gesetz noch ,verzweifelter' - das Wort gebrauchen wir mit Absicht - als bei den Pharisäern interpretiert und ernst genommen. Wirklich so ernst ge­nommen, daß wir im vorchristlichen Judentum nirgends so viele verzweifelte Schreie wegen der Unwürdigkeit vor dem Gesetz finden als hier. Hier finden wir Judentum an seinem ,Siedepunkt'27. Verstehen wir den Bußruf J esu im Licht des Bußrufs dieser Sektierer besser? Sie werden im NT nicht mit Namen ge­nannt, es ist aber wahrscheinlich, daß J ohannes der Täufer durch sie beeinflußt wurde, und wir können annehmen, daß J esus selbst von ihnen wußte. Wie die Sektierer erließ Jesus einen Ruf zu einer radikalen Umkehr, zu einer Ent­scheidung im Licht eines eschatologischen Ereignisses, zu einem Gehorsam, der seinem Wesen nach moralisch und nicht kultisch war. Trotzdem gibt es Beispiele, daß er die Sekte kritisierte. Wie wir gesehen haben, kann diese Kritik deutlich in Mt 5,43-48 gesehen werden.

Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst deinen Näch­sten lieben und deinen Feind hassen.' Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; bittet für die, so euch ver­folgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Him­mel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüder freundlich seid, was tut ihr Sonderliches? Tut nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

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,Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde.' Diese Kritik steht in dem Abschnitt, wo J esus seine Interpretation des Willens Gottes gibt und ihn dem Verständnis der Alten gegenüberstellt. Genau an die­sem Punkt, wo es um die Interpretation des Willens Got­tes geht, unterscheidet sich J esus von den Sektierern. Wie wir gesehen haben, war seine persönliche Einstellung der Schrift gegenüber in gewisser Hinsicht wie die ihre, weil die Sektierer die Schriften des AT auch direkt auf sich bezogen. Aber während nach ihrem Verständnis des Gesetzes ein ganz wörtlicher Gehorsam gefordert wurde, der den Ein­tritt in eine geschlossene Gemeinschaft verlangte, die durch eine für alle gleiche Regel, die Haß gegen die draußen for­derte, regiert wurde, hatte J esus seine eigene Interpretation. Auch er forderte Gehorsam gegen den Willen oder das Gesetz Gottes. So wie er es verstand, war es aber nicht eine eiserne Zucht, die auf alle, die in einer engen Gemeinschaft lebten, anwendbar war, sondern eine alle umfassende Liebe zu den Brüdern und zu denen, die außerhalb standen. So zeigte sich der Unterschied zwischen Jesus und den Sektie­rern nicht in dem Grad des Gehorsams, den sie verlangten: Sowohl Jesus als auch die Sektierer sind ,Totalitarier'. Der Unterschied zwischen ihnen liegt in der Interpretation des Willens Gottes, der diesen totalen Gehorsam fordert. Sie gleichen einander in ihrem Radikalismus, aber nicht in ihrem Verständnis des Wesens des Gehorsams, der von Gott verlangt wird28• Können wir das Wesen dieser Forde­rung für J esus noch weiter aufdecken? Beginnen wir damit, daß das Gesetz und die Propheten des AT für J esus als Ausdruck des Willens Gottes Gültigkeit behielten: J esus hat mit der ethischen Lehre des Judentums nicht vollständig gebrochen. Die Konfliktgeschichten am Anfang des Markusevangeliums haben den Eindruck hinterlassen, als ob J esus von Anfang seines Wirkens an mit den Lehrern seiner Zeit auf Kriegsfuß stand. Diesem Eindruck muß man sich jedoch widersetzen. Wie wir sehen, gibt es Beweise dafür, daß wenigstens eine Zeit lang J esus und die Phari-

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säer einander nicht so feindlich gegenüberstanden. Die Quellen, die wir für das Wirken J esu besitzen, stammen aus einer Zeit, wo Kirche und Synagoge sich in zunehmen­den Maße voneinander entfernten. J esus scheint jedoch in seinem Auftreten konservativ gewesen zu sein. Er erscheint in der Synagoge am Sabbat, er gesellt sich an Festtagen zu den Pilgern in Jerusalem, er wird im Tempel gefunden, er feiert das Passahmahl, er akzeptiert Opferriten und religiöse Bräuche wie Fasten, Beten und Almosengeben. Er trägt das traditionelle Gewand der Frommen. Er ist darauf bedacht, die rechtmäßige Autorität des Priesters anzuerkennen. Da­mit stimmt überein, daß die frühe Kirche sich nicht auf die Praxis J esu beruft, wenn es ihr darum geht, die Freiheit von Gesetzesvorschriften zu verteidigen. Selbst für Paulus ist J esus eher ein Anhänger der Beschneidung, der unter dem Gesetz geboren wurde29•

So war J esus kein bilderstürmender Revolutionär. Er kam ,hicht, um zu zerstören. Er kam jedoch, um zu erfüllen. In den Evangelien zeigt sich vieles, was auf eine Haltung souveräner Freiheit dem Gesetz gegenüber bei seinem Wir­ken schließen läßt. Seine Haltung dem Sabbat gegenüber z. B. scheint sehr frei gewesen zu sein, wie auch der Um­gang mit reinen und unreinen Dingen. Es ist äußerst zwei­felhaft, ob J esus an irgendeiner Stelle das Gesetz annulliert. So bleibt er bei der Diskussion über den Sabbat oder über Ehescheidung im Rahmen des Gesetzes. Nur an einer Stelle kann man ernsthaft überlegen, ob er das Gesetz zerstört hat, nämlich bei Mk 7. Bei einer Nachprüfung wird jedoch selbst dieser Punkt zweifelhaft. Wir wollen deshalb daran festhalten, daß Gesetz und Pro­pheten für J esus als der Ausdruck des Willens Gottes Gül­tigkeit behielten. An dieser Stelle war er eins mit den Sadduzäern, Pharisäern und den Sektierern. Nicht, daß J esus das Gesetz als Offenbarung Gottes betrachtete, trennte ihn von diesen Gruppen, sondern seine Interpretation die­ser Offenbarung. In diesem Sinn besteht eine wirkliche Kontinuität zwischen seiner ethischen Lehre und der des Gesetzes.

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Wie betrachtet dann aber J esus das Gesetz? In den synop­tischen Evangelien wird die ethische Lehre Jesu in min­destens drei verschiedenen Kontexten dargestellt: In einem Gerichtskontext, in einem Schöpfungskontext und in einem Gesetzeskontext. Erstens, zu dem Gerichtskontext: Die Evangelien zeigen J esus als den, der in der Überzeugung wirkte, daß die ge­genwärtige Ordnung gleich oder bald vergehen würde. Auf jeden Fall lebte er sein Leben in der Überzeugung, daß das Ende nahe war. Und es wurde gesagt, daß es der Gedanke an das bevorstehende Ende war, der J esus dazu befähigte, alles Unwesentliche in seiner ethischen Lehre fallen zu lassen und sich auf die absolut notwendigen For­derungen Gottes zu konzentrieren. Es war der Schein des Endes, der den Worten J esu Radikalismus verlieh und in dessen Licht er die moralischen Forderungen an die Men­schen und ihre Pflichten sah. Manche sind noch weiter gegangen und haben behauptet, daß seine Worte nur für die verhältnismäßig kurze Zeit vor dem Ende aller Dinge Gültigkeit haben sollten30• In der Lehre J esu jedoch er­scheint vieles, was diesen Charakter nicht hat und was für alle Zeiten Gültigkeit besitzt. Darüber hinaus ist es wichtig, daran zu denken, daß es höchst fraglich ist, ob tatsächlich ein drohender Untergang unser gegenwärtiges Leben er­hellen würde. Das Wissen um ein drohendes Verhängnis kann genauso sehr verwirren, wie erhellen, wie wir, die wir dem nuklearen Dilemma ausgesetzt sind, nur zu gut wissen. Die Sektierer in Qumran haben im Bewußtsein eines drohenden Gerichts gelebt, aber das führte sie zu einem immer starrer werdenden, engen asketischen und zu­rückgezogenen Rigorismus, der sich von dem Radikalismus J esu sehr unterschied. Die Christen in Thessalonich, die dachten, daß das Ende aller Dinge nahe wäre, schlossen daraus prompt, daß es unsinnig wäre, zu arbeiten. Die­jenigen, die sowohl im Judentum als im Christentum die Zeit vor dem Ende berechneten, zeichnen sich nicht immer durch feines ethisches Empfinden aus. Selbst wenn J esus das baldige Ende aller Dinge in Betracht zog, lag darin nicht das Geheimnis seiner Erleuchtung.

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Als zweites stellten wir fest, daß seine Ethik in enger Be­ziehung zur Schöpfung steht31• Wir finden bei J esus den Aufruf, zu der Ordnung der Schöpfung selbst als dem Fundament der Moral, zurückzukehren, d. h., zu dem zu­rückzukehren, was vor dem Gesetz des Mose war und was im Schöpfungs akt seine Wurzeln hatte. Zwei Abschnitte legen das besonders nahe.

Und es traten Pharisäer zu ihm und fragten ihn, ob ein Mann sich scheiden dürfe von seiner Frau, und ver­suchten ihn damit. Er antwortete aber und sprach: Was hat euch Mose geboten? Sie sprachen: Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden. Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Her­zens Härtigkeit willen hat er euch dies Gebot geschrie­ben; aber von Anbeginn der Schöpfung hat Gott sie geschaffen als Mann und Weib. Darum wird der Mensch seinen Vater und seine Mutter verlassen und werden die zwei ein Fleisch sein. So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was denn Gott zusam­mengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.

Mk 10,2-9

Hier ist J esu Ansicht über Ehe und Ehescheidung im Han­deln Gottes selbst, in der Schöpfung von Mann und Frau, gegründet. Das Ziel Gottes bei der Schöpfung ist eine un ... auflösbare Ehe, aber später kam auf Grund der Herzens­härtigkeit des Menschen das Gesetz des Mose dazwischen, das die Scheidung erlaubte. Die Berufung auf die natürliche Ordnung als Führerin zum guten Leben wird auch in fol­genden Abschnitten sichtbar:

Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ,Du sollst deinen Näch­sten lieben und deinen Feind hassen.' Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; bittet für die, so euch ver­folgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Him­mel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Mt 5,43-45

Sehet die Vögel unter dem Himmel: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und

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euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen kann, ob er gleich darum sorget ? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, 0 ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles be­dürfet. Mt 6,26-32

Die Gleichnisse J esu, in denen eine echte Korrespondenz zwischen natürlicher und geistlicher Welt vorausgesetzt wird, enthalten den gleichen Aufruf. Dieses Prinzip spielte auch bei den frühen Kirchenvätern eine bedeutende Rolle. Müssen wir zu dem Schluß kommen, daß es J esus war, der diese Methode, über moralische Probleme nachzudenken, einführte? Das hat man behauptet, aber denselben Bezug auf die Schöpfungs ordnung finden wir in den zadokidischen Fragmenten, die wahrscheinlich zur Sekte vom Toten Meer gehören. In einem Abschnitt, der, obwohl hebräisch ge­schrieben, an Markus 10 sehr erinnert, heißt es:

Die Erbauer der Mauer, das sind die, die hinter ,Zaw' hergehen; ,Zaw' ist ein Prediger, von dem er gesagt hat: Mögen sie unablässig predigen. Sie sind durch zweierlei gefangen: in der Hurerei, daß sie zwei Wei­ber zu ihren Lebzeiten nahmen; aber die Grundlage der Schöpfung ist: Als Mann und Weib hat er sie erschaffen. (Damaskusschrift 4,19-21)32

Und auch im Jubiläenbuch werden die Gesetze stets auf die Schöpfungsgeschichte gegründet. Mehr noch! Selbst das AT findet eine Kongruenz zwischen Natur und Mensch.

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Auch für das AT ist das gute Leben das ,natürliche' Leben, wie auch weithin für die Stoa. Der stoische Passus ,ent­sprechend der Natur leben' paßt für das AT, wie auch für hellenistische Quellen. Auch hier müssen wir also wieder vorsichtig sein, die Eigentümlichkeit der Lehre J esu von einem einzigen Prin­zip wie etwa dem ,des Natürlichen' oder dem ,des Geschaf­fenen', auf das wir gerade hingewiesen haben, herzuleiten. Wie wir gesehen haben, ist dieses Prinzip auch anderswo an­gewandt worden, ohne jene moralische Erleuchtung zu ver­mitteln, die wir bei J esus finden. So hat die Sekte vom Toten Meer sich wohl auf das Schöpfungsprinzip berufen, sie ist aber dadurch nicht ihrem furchtbaren Rigorismus entgangen. Kommen wir nun zu dem dritten Element, das man in der Lehre J esu entdecken kann: Er stellt seine Lehre in den Kontext des Gesetzes. Wir wollen mit der Tatsache begin­nen, daß wir annehmen, J esus von N azareth habe sich selbst für den Messias gehalten33 - so umstritten das auch ist. Aber Messias sagen, heißt zugleich Mose sagen. Der Mes­sias ist Gesetzgeber und wenn J esus sich für den Messias gehalten hat, mußte er auf, seine Weise mit dem Gesetz zurechtkommen. Als einem Juden und als Messias war Jesus die Kategorie Gesetz nicht fremd, wie sie es uns modemen Protestanten ist, sondern natürlich und ihm ent­sprechend. Und obwohl es kaum Zweifel daran geben kann, daß die Antithesen von 5,22 ff eine Formulierung des Matthäus sind, kann es gleichfalls kaum Zweifel geben, daß J esus selbst seine eigene Lehre in ein Verhältnis zum Ge­setz seines Volkes brachte. 5,48 ist hier ein guter Ausgangs­punkt, der uns eine Antithese bietet, die wahrscheinlich auf J esus selbst zurückgeht. Hier wird das Verständnis der Nächstenliebe von J esus radikal gegen die Tradition von Qumran gestellt, die den Haß gegenüber jenen draußen erlaubte und sogar forderte. Die zentrale Stellung der Liebe in der Lehre J esu zeigt sich auch an anderer Stelle bei den Synoptikern: in Mk 12,28-34, Mt 22,34-40 und Lk 10,25 ff:

Da aber die Pharisäer hörten, daß er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und

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einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz? J esus aber sprach zu ihm: ,Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.' Dies ist das vor­nehmste und größte Gebot. Das andre aber ist dem gleich: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.' In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Mt 22,34-40

Obwohl das Liebesgebot nicht oft auf J esu Lippen gefun­den werden kann, verhilft doch das NT als ganzes zu der gerechtfertigten Annahme, daß es ein zentrales Thema sei­ner Lehre war34• Das Konzept der Liebe ist zweifellos die beste Zusammenfassung der ethischen Lehren J esu. Es ist üblich, festzustellen, J esus habe das Verständnis des Liebes­gebotes in dreierlei Weise vertieft: 1. dadurch, daß er Got­tesliebe und Menschenliebe untrennbar miteinander ver­band; 2. dadurch, daß er die Gesamtheit der Forderung Gottes auf das Doppelgebot von der Liebe zu Gott und zum Nächsten reduzierte und diesen zwei Geboten eine unmißverständliche Vorrangstellung gab und 3. dadurch, daß er den Begriff ,Nächster' so erweiterte, daß er jeden mit einschließt. So gab er der Forderung nach Liebe univer­sale Geltung35• Das stimmt alles. Aber wichtiger ist, daß J esus das Wesen der Liebe selbst offenbart hat. Ich beziehe mich hier nicht darauf, daß das Wort agape im NT mehr gebraucht wird als das Wort eros, weil der Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken, auf dem man gewöhn­lich besteht, nicht immer so streng aufrechterhalten werden kann. Ich denke eher an die Offenbarung der Natur der agape, die uns durch die reine, unendliche Selbsthingabe im Beispiel J esu zuteil geworden ist. Das ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst' ist das Gebot des neuen Mose, des Messias, dessen Norm, Leben und Wort J esu selbst ist. Und wie Jesus die Liebe radikalisiert hat, so hat er auch die anderen Forderungen des Gesetzes radikalisiert, wie an den Antithesen deutlich wird. Aber wir haben die Frage noch nicht beantwortet, wie

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J esus zu diesem eindringlichen Verständnis des Willens Gottes gekommen ist. Verfolgen wir unsere Schritte zu­rück. Wir sahen oben, daß die Botschaft J esu, wie sie bei Markus zusammengefaßt ist, zwei Seiten hatte: die Erklä­rung, daß das Königreich Gottes nahe gekommen sei und den Ruf zu radikaler Buße. Wir möchten nahelegen, daß hier das Geheimnis für den Radikalismus der Forderung Jesu liegt. Kein drohender Weltuntergang, kein Schöpfungsprinzip, keine Kasuistik brachte J esus zu seinem Verständnis des Willens Gottes. Er ging über alle überkommenen Prinzipien hinaus, jenseits des Lichtes von Gesetz und Propheten, zu dem, was wir nur ein intuitives Erfassen des reinen Willens Gottes nennen können. Diesem Erfassen gab er Ausdruck in den Begriffen des herannahenden oder gegenwärtigen Reiches Gottes. In den Schriften vom Toten Meer finden wir ein Wissen vom bevorstehenden Ende. Dieses Wissen findet aber keinen Ausdruck in den Begriffen der Herrschaft oder vom Reich Gottes. Der Begriff ,Reich Gottes', taucht in den Schriftrollen nicht auf, während er überall in den Evangelien zu finden ist. ,Wenn ich aber durch Gottes Fin­ger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.' Was auch die tatsächliche Lehre J esu über die Zukunft gewesen sein mag, das entscheidende Element in seiner Lehre und in seinem Wirken war die Erkenntnis, daß in seinem Wirken das Reich Gottes gegen­wärtig war. Das ist es, was ihn erleuchtete: Sein Wissen von der unumschränkten Herrschaft Gottes in und durch ihn selbst. Das bedeutete, daß, während für das Judentum das Gesetz den Willen Gottes ausdrückte, für J esus sein un­mittelbares Erfassen des Willens Gottes Gesetz wurde. Und dieses Erfassen des Willens Gottes, das hinter seiner moralischen Forderung steht, weckt die Frage, wer Jesus war, daß er diese Fähigkeit des Erfassens hatte. Auch an diesem Punkt unterscheiden sich die Schriften vom Toten Meer vom NT. Sie kennen niemanden, der das Reich Gottes mit seiner eigenen Person in Verbindung brachte, so wie J esus das tat, und sie kennen deshalb auch keine Ethik, die über die Schrift hinausgeht zu dem absoluten Willen Got-

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tes, der einer Person und in einer Person offenbart wurde. So weist uns die Darlegung der absoluten Forderung Got­tes in der Bp und an anderen Stellen des NT auf das funda­mentale Geheimnis der Person J esu selbst zurück. Er selbst, mit seinem intuitiven Erfassen des Willens Gottes ist die Quelle der radikalen Ethik. Alle seine Worte weisen des­halb über sich selbst hinaus zu ihm, als ihrer Quelle. Sie selbst zeugen für den König-Messias. Hier finden wir ein verbindendes Prinzip. Wir stellten bereits fest, daß in der moralischen Tradition, die im NT enthalten ist, ver­schiedene Strömungen nebeneinander bestehen. Bei Paulus, J ohannes und an anderen Stellen finden wir den Indikativ, der auf das Leben, den Tod und die Auferstehung J esu, auf das Werk Gottes in Christus als Wurzel und Vorbild für alles christliche Leben hinweist. Dem Indikativ ähnlich ist die Betonung der Nachahmung Christi, die sich an ver­schiedenen Stellen zeigt. Beides, Indikativ und Nachahmung, gebieten uns, in Christus das Wesentliche zu sehen. Wie es der Hebräerbrief ausdrückt: ,Lasset uns ... aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens' (12,1 f). Aber neben diesen zwei Betonungen haben wir auch eine fast überall zu findende Betonung der Bedeutung der Worte J esu als solcher festgestellt. Doch letzten Endes zwingen uns gerade diese Worte zu der Frage: Wer ist dieser Jesus, der so spricht?, so daß sie auch von ihm zeugen. Sowohl Taten wie Worte Jesu zwingen zu derselben Frage. Sie gehören als Teil der Ethik J esu und des Mysteriums seiner Person zusammen. Seine Worte selbst konfrontieren uns mit dem, der sie ausspricht. Wir sind nun in der Lage, die Frage zu beantworten, ob Matthäus durch seine Konzentration auf die Worte J esu als eines ,neuen Gesetzes' von J esu Absicht abgewichen ist. Die Antwort lautet sowohl ja als auch nein. Insofern, als er dabei erkennt, daß in der Mitte des Evangeliums eine For­derung wie auch ein Geschenk steht, bleibt er J esus gegen­über treu. Aber indem er die Worte J esu gesammelt und sie in gewissem Ausmaß isoliert hat und sie als einheitliche Sammlung, die ein ,Gesetz' im äußerlichen oder unabhän­gigen Sinne ist, dargestellt hat, hat er es vielen ermöglicht,

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die ethische Forderung J esu aus ihrem Gesamtzusammen­hang als Teil des Evangeliums zu isolieren und er hat so das Wissen um diese Forderung verzerrt. Aber Matthäus hat das gewiß niemals beabsichtigt. Im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Absicht lesen wir die Bp isoliert von der Gnade des Wirkens J esu. Trotzdem aber führen uns die Worte der Bp letztlich zu dem zurück, der sie ausgesprochen hat. Die Imperative der Bp sind in sich selbst Indikative. Und wir können noch weiter gehen: Sie sind für jeden Indikativ des NT unerläßlich. Die ßetonung des Werkes Christi in Leben, Tod und Auf­erstehung, so zentral und wesentlich sie im ganzen NT ist, ist niemals ganz frei von der Gefahr der Abstraktion vom Leben. Die eindringlichen Vorschriften J esu sind es, die den starken Schutz darstellen gegen jede Interpretation von Leben, Tod und Auferstehung in anderen als moralischen Begriffen. In diesem Sinne sind die Worte Jesu Teil des Evangeliums und ist das Matthäusevangelium eine wahre Deutung des Geistes des Herrn: Das Evangelium besteht zugleich aus Gabe und Forderung - einer Forderung, die verwirklicht werden muß.

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VI. Schluß

Unsere Untersuchung über den historischen Hintergrund der Bp ist abgeschlossen und es ist gut, gewisse überlegun­gen aufzuzeichnen, die sie hervorgerufen hat, denn es mag behauptet werden - obwohl es bedeutende Anzeichen für einen Wandel gibt - daß solch eine streng historische Be­handlung, wie wir sie oben verfolgt haben, außerhalb des Hauptstromes neutestamentlicher Studien der letzten J ahr­zehnte stehe und das aus augenfälligen Gründen. Einerseits haben die literarischen Disziplinen für viele den Nachweis erbracht, daß die Evangelientradition nur das ,Flüstern der Stimme J esu aufbewahre. Es war ein nach­lassendes Interesse an solchen Abschnitten wie der Bp zu erwarten, da die schweigende Zustimmung zu solch einer Position es mit sich bringt, daß man auch ohne das, was jene Stimme geäußert hat, auskommen kann. Andererseits­von wenigen bedeutenden Ausnahmen abgesehen - haben sich die Interpreten des NT weitgehend von kerygmati­schen oder streng theologischen Fragestellungen gefangen nehmen lassen. Die Morallehre J esu, obwohl anerkannt, ist vom Kerygma der Kirche streng unterschieden und oft als Aschenputtel behandelt worden. Manche Gelehrte waren manchmal selbstbewußt, voller Eifer dabei, bei der Darstel­lung des Glaubens im NT J esu Lehre einen betont unter­geordneten Platz anzuweisen1• Besonders unter dem Ein­fluß eines allgemeinen Auflebens dogmatischer Interessen hat die Betonung des Paulinismus, oft als ,Rechtfertigung allein aus Glauben' verstanden und als wichtigstes Element im NT angesehen, es schwierig gemacht, anderen Elemen­ten, in denen die Forderung des Evangeliums nicht weniger als seine Gabe auftaucht, Gerechtigkeit widerfahren zu las­sen. Eine angemessene Bewertung des Verhältnisses zwi­schen Kerygma und Didache, Evangelium und Gesetz ist gefährdet worden2•

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Obwohl unsere Studie nicht vorgegeben hat, die theologi­schen Probleme zu behandeln, die durch das Verhältnis von Evangelium und Gesetz aufgeworfen werden, konnte ihr Fortgang nichts anderes tun, als die Geister dieser Probleme wachrufen und sie hat unvermeidlich die Voraussetzungen durcheinandergebracht, von denen aus man sie innerhalb des NT angehen muß. Obwohl sie in der Intention histo­risch ist, hoffe ich doch, daß diese Studie nicht ohne theo­logische Bedeutung sein mag. Sie wirft zumindest die Frage auf, ob man die Historie nicht manchmal zu Hilfe rufen kann, um die Balance in der Theologie wieder herzustellen. Den Zusammenhang der Bp zu untersuchen, heißt, daß wir gezwungen werden, anzuerkennen, daß ,diese meine Worte', ,das Gesetz Christi' und ,das neue Gebot' eine größere Rolle im NT als ganzem spielten, als oft angenommen wird. Der Glaube der ersten Christen beruhte nicht auf einer Posses, sondern in einem Drama, und die Worte der Hauptperso­nen über Moral, wie über andere Dinge, waren in diesem Drama für die Handlung wesentlich. Für manche in der Urkirche, wenn nicht gar für alle, waren die eindringlichen Forderungen J esu nicht weniger als die großen kerygma­tischen Aussagen über ihn Teil des ,hellen Lichtes des Evan­geliums', d. h., sie hatten Offenbarungscharakter. Und nicht nur das. Wie spontan auch immer ihr Leben im Geist und wie ,revolutionär' ihr Eifer war, so verwickelten doch die ernsten Realitäten, denen die junge christliche Gemeinde gegenüberstand- seien es solche innerhalb ihrer eigenen Reihen oder die, die die Begegnung mit dem J uden­turn und der weiteren Welt darstellten - sie in Probleme von Gesetz und Ordnung. Zu dieser Erfahrung der früh­christlichen Gemeinde gibt es eine instruktive Parallele aus dem modernen Rußland. Parallelen zwischen Kommunis­mus und Christentum sind oft gezogen worden, aber selten wurde festgestellt, wie ähnlich ihre Stellung zur Frage des ,Gesetzes' ist. Marx und andere sozialistische Theoretiker gingen aus zwei Richtungen auf diese Frage zu. Sie be­trachteten erstens das traditionelle russische Rechtssystem wie alle anderen bestehenden Rechtssysteme als einen Deck­mantel für Klasseninteressen, als einen Kniff, der die An-

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sprüche der Bourgeoisie gegenüber den besitzlosen Massen widerspiegele. Engels schrieb: ,Die ökonomische Struktur der Gesellschaft formt immer die reale Basis, von der aus in letzter Analyse der ganze überbau rechtlicher und politischer Einrichtun­gen, wie auch der religiösen, philosophischen und anderen Anschauungen jeder historischen Periode erklärt werden muß.' Und weiter: ,Der Jurist bildet sich ein, daß er mit apriori Prinzipien arbeitet, dabei sind sie in Wirklichkeit nur ökonomische Reflexe. '4 Dieselben Theoretiker aber erwarteten zum andem in übereinstimmung mit solchen Gedanken eine Zukunft, in der das Gesetz, wie auch der Staat, verschwinden würden. In der neuen klassenlosen Gesellschaft, in der das Proletariat eine messianische Rolle spielen würde, würden Besitzverhältnisse aufhören zu existieren und Gesetz und Staat, bestimmt, diesen zu die­nen, würden nicht länger notwendig sein. Es würde einen ,glorreichen übergang zu einer neuen Ordnung von Gleich­heit und Freiheit ohne Gesetz'5 geben. Kommunismus würde das Ende des Gesetzes sein. Hinsichtlich der Frage des Gesetzes offenbart der Kommunismus das, was ein Historiker als eine ,Art neutestamentliche Torheit'6 bezeich­net hat. Es ist deshalb nicht überraschend, daß Sowjet­Rußland nach 1917 durch eine Zeit des rechtlichen Nihilis­mus hindurchging. Noch 1930 erwartete ein sowjetischer Jurist ,das Dahinwelken des Gesetzes überhaupt, d. h., das Verschwinden des juristischen Elementes aus den mensch­lichen Beziehungen'7. Und 1927 schrieb ein Präsident des sowjetischen Obersten Gerichtes: ,Kommunismus heißt nicht Sieg des sozialistischen Gesetzes, sondern den Sieg des Sozialismus über jegliches Gesetz, denn mit der Abschaffung von Klassen mit ihren antagonistischen Interessen wird auch das Gesetz verschwinden. '8

Und zuerst, nach der Revolution, schien in übereinstim­mung mit der kommunistischen Theorie das Gesetz aus­zusterben. Aber eine solche Position konnte nicht lange auf­rechterhalten werden. Schon ehe obige Darlegungen ge­schrieben wurden, hatte unter den brutalen Wirklichkeiten sowjetischen Lebens eine Rehabilitation des Gesetzes be-

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gonnen. Die ,Neue ökonomische Politik', die man in der Zeit von 1921-1928 einführte, bedeutete im Endeffekt die Restauration des ,bürgerlichen Gesetzes'. Nihilismus und Apokalyptik, die nach einer Gesellschaft ohne Gesetz such­ten, erwiesen sich als bankrott und ein ,strategischer Rück­zug zum Gesetz' als einzig mögliche Politik9•

Es mag unrealistisch erscheinen, das Entstehen eines großen modernen Staates mit der Entstehung der christlichen Kirche zu vergleichen. Man kann die Parallele nicht zu sehr betonen, weil nirgends in der Kirche, nicht einmal bei Pau­lus, der den Satz ,Christus ist des Gesetzes Ende' formu­liert hat, eine radikale Verwerfung des traditionellen Ge­setzes des Judentums geschehen ist, sondern eher die Anerkennung seiner Erfüllung im ,Gesetz der Liebe' und in den Worten Jesu. Die Urkirche war nicht bilderstürme­risch. Sie hat es abgelehnt, gesetzlichen Nihilismus anzu­erkennen. Das war der einzig mögliche Weg für sie, denn sie sah die Wurzeln für die Autorität des Gesetzes in Gott, den man nicht verspotten darf10, und nicht, wie der Kom­munismus, in einer vergehenden Sozialstruktur. Die Paral­lele ist trotzdem für unseren Zweck hier erhellend. Es ist offensichtlich, daß es die Kirche ständig nötiger fand, die offenbarenden, radikalen und eschatologischen Forderungen J esu zur Quelle von Regulierungen zu machen. überzeugt davon, daß sie in der messianischen Zeit lebten und doch zu der Erkenntnis gezwungen, daß jenes Zeit­alter noch nicht seine Vollendung erreicht hatte, mußten die Christen sich moralischen Problemen stellen, denen man auf christliche Weise begegnen mußtell. Manche haben das nicht nur dadurch getan, daß sie Imperative auf einen kerygmatischen Indikativ gründeten, sondern auch, indem sie sich den Worten Jesu als ihrem ,Gesetz' und der Grundlage einer neuen Kasuistik zuwendeten. Die Fülle der Zeit war in der Tat gekommen, aber auf das Gesetz konnte man nicht verzichten. Diese Studie hat gerade die Realität dieses Zustandes mit seinen vielen Verzwei­gungen aufgedeckt. Den Glauben im NT nur oder auch hauptsächlich in der Sprache eines strengen Verständnisses der paulinischen Antithese von Gnade und Gesetz zu inter-

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pretieren, heißt nicht nur, die ungestüme und unaus­geglichene Natur des Paulus selber - eine Tatsache, die allein uns vorsichtig machen sollte, seine Erfahrung auf irgendeine Weise zur Norm zu erheben - zu ignorieren und nicht nur die Übertreibungen, die durch historische Kontroverse hervorgerufen worden sind und aus denen jene Antithese erwuchs, sondern noch mehr, es heißt viele Belege zu ignorieren, die auf ein ,Gesetz' hindeuten, das im neuen Bund der Gnade und gerade hier von bleibender Bedeutung ist und das in den Worten J esu selbst seine Wurzeln hat12•

Ein historischer Versuch, wie wir ihn oben unternommen haben, spornt deshalb die Frage von neuem an, ob hinsicht­lich Gesetz und Evangelium die Kluft, die im späteren Leben der Kirche zwischen Protestanten und römischen Katholiken, Lutheranern und Calvinisten befestigt worden ist, nicht unter Hinweis auf die Ganzheit des NT über­brückt werden kann, ob der Bruch christlicher Geschichte nicht an dieser Stelle geheilt werden könnte. Es ist gewiß, daß die Bp in ihrem Rahmen den Bogen zwischen Gnade und Gesetz spannt und Forderungen wie jene der ,recht strohernen Epistel' des Jakobus mit paulinischer Tiefe ver­bindet. Ihr Anfang, die Seligpreisungen, erkennt des Men­schen unendliches Bedürfnis nach Gnade, nämlich sein Elend, an. Ihre absolute Forderung erkennt des Menschen unend­liche moralische Fähigkeiten, seine Größe, an. Daraus folgt, daß unsere Anstrengung, der Bergpredigt historisch ihren Platz anzuweisen, uns schließlich unseren eigenen Platz an­weist. Und der Ort, an den sie uns stellt, ist das Jüngste Gericht mit dem unendlichen Beistand und der unendlichen Forderung Christi.

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Anmerkungen (Anmerkungen, hinter denen [L.-D.] steht, stam­men von Prof. Leon-Dufour - vgl. Impressum S. 4)

J. Die Bergpredigt im Kontext des Matthäusevangeliums

1 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT N. F. 12)1, Göttingen 1967.

I! Vgl. P. Carrington, The Primitive Christian Calendar, Cambridge 1952 und W. D. Davies, Reflections on Archbishop Carrington's "Pri­mitive Christian Calendar", in: Studies in Honour of C. H. Dodd, Cambridge 1955.

8 M. Smith, Tannaitic Paralleis to the Gospels, Philadelphia 1951, S.1l5. 4 A. Farrer, St. Matthew and St. Mark2, London 1966. I) B. W. Bacon, Studies in Matthew, New York 1930. 8 So M. J. Lagrange (Hrsg.), Evangile selon Saint Matthieu, Paris 1923,

S. LXXXV; A. Schlatter, Der Evangelist Matthäus8, Stuttgart 1963, S. 125 ff.; G. D. Kilp a trick, The Origins of the Gospel according to Saint Matthew3, Oxford 1966, S. 135 ff.; K. Stendahl, The School of St. Matthew, Lund 1954, S. 24f.; P. Benoit, L'Evangile selon St. Mat­thieu3, Paris 1961, S. 7-12; A. Feuillet, in: Biblica 39, 1958, S. 292.

7 Siehe jedoch die Kommentare von A. Loisy, 1907-08; B. Weiß, 1910; J. Wellhausen2, 1914; A. H. McNeiIe2, 1927; M. J. Lagrange5, 1941; C. G. Montefiore2, 1927; T. H. Robinson, 1928; T. W. Manson, The Sayings of Jesus, Repr. 1949; J. Schniewind12, 1968; E. Lohmeyer, 1962; J. Schmid, 1956; X. Leon-Dufour, 1959. Spezieller sind: N. B. Stonehouse, The Witness of Matthew and Mark to Christ, Philadel­phia 1944 und P. Feine - J. Behm - W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament18, Heidelberg 1969. [L.-D.]

8 Vgl. J. C. Hawkins, Horae Synopticae2, Oxford 1968, S. 163-165. o F. C. Burkitt, 1906; W. C. Allen, 1907; A. H. McNeile, The Gospel

according to St. Matthew, London 1915, S. 6.11; V. Taylor, The Hi­storical Evidence of the Virgin Birth, Oxford 1920.

10 C. K. Barrett, The Holy Spirit and the Gospel Tradition, London und New York 1947.

11 Unter anderen G. H. Box, The Virgin Birth of Jesus Christ, London 1916, S. 24; W. Michaelis, Das Evangelium nach Matthäus I, Züridt 1948, S. 91.

12 Siehe H. Smith, Ante-Nicene Exegesis of the Gospels I, London 1925, S. 258 ff.

18 Justin, Apologie I, XXXIII; TertuIlian, De Idololatria IX. 14 Siehe hierzu P. Minear, The Interpreter and the Nativity Stories,

Theology Today 7, 1950, S. 358 ff.; K. Stendahl, Quis et Unde? An Analysis of Matt. i-ii, in: Judentum - Urchristentum - Kirdte, Berlin 1960, S. 94 fI.

lli C. K. Barrett, a.a.O., S. 24.

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10 Vgl. T. W. Manson, The Teaching of Jesus2, Cambridge 1967, S. 82 f. 17 Zum Folgenden siehe A. Feuillet, in: Biblica 39, 1958, S. 281-301;

P. Dabeck, in: Biblica 23, 1942, S. 175-189; J. DanieIou, Sacramentum Futuri, Paris 1950; J. Jeremias, Art.: Moses, in: G. Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament IV, Stuttgart 1942 (= 1966), S. 868-878.

18 Siehe den Midrasch Rabba zu Ex 34,28 f., übers. v. A. Wünsche, Bibliotheca Rabbinica Bd. 3, Leipzig 1882 (= Hildesheim 1967), S. 326 ff.

18 D. Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism, London 1956, S.60.

!O Ebd., S. 58.

H. Die Bergpredigt im Kontext der jüdischen Messiaserwartung

1 Nach der übersetzung von C. R. North, The Suffering Servant in Deutero-Isaiah, London 1948.

! Siehe H. H. Rowley, Apokalyptik. Ihre Form und Bedeutung zur biblischen Zeit (aus dem Eng!. übers. v. I. und R. Pesch)3, Einsiedeln 1965, S. 45 f., 62 f.

a Siehe P. Riessler, Alt jüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Heidel­berg 1928 (= Darmstadt 1966), S. 383. (Anm. d. übers.)

fo R. H. Charles, The Book of Enoch, Oxford 1893, S. 123. 5 J. Giblet, Le Messianisme prophetique, in: L'Attente du Messie,

Recherches Bibliques 1, Louvain-Paris 1954, S. 108, meint, der Men­schensohn im Henoch müsse der Messias sein, ohne ihm jedoch die prophetischen Eigenschaften zuzusprechen.

o Als sachliche Einleitung siehe J. T. Milik, Dix ans de decouvertes dans le Desert de Juda, Paris 1957. [L.-D.] (Siehe auch: Die Texte aus Qumran hrsg. v. E. Lohse, Darmstadt 1964.)

7 Nach der übersetzung von E. Lohse, a.a.O. S. 33. 8 Nach der übersetzung von P. Riessler, a.a.O. S. 920 ff. 8 Siehe H. Braun, Spät jüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalis­

mus2, Tübingen 1969. 10 Zum Vorhergehenden siehe W. D. Davies, Paul and the Dead Sea

Scrolls: Flesh and Spirit, in: The Scrolls and the New Testament (hrsg. v. K. Stendahl), S. 281. Außerdem siehe W. Grundmann, Der Lehrer der Gerechtigkeit in der Theologie des Apostels Paulus, in: Revue de Qumran 6, 1960, S. 237-259.

11 G. F. Moore, Judaism in the First Centuries of the Christian Era I, Cambridge Mass. Repr. 1966, S. 271.

12 Vgl. Bar 2,35, wo der künftige Bund sich wahrscheinlich auf den neuen Bund bei J eremia und Ezechiel beruft.

13 H. Danby, The Mishnah, Oxford Repr. 1967, S. XIV f. 14 W. Davies, Paul and Rabbinic Judaism3, London 1965, S. 353 ff.

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15 D. Daube, The New Testament and Rabbinie Judaism, London 1956; E. R. Goodenough, Jewish Symbols in the Graeco-Roman Period 13 Bde., New York 1953-1968; S. Liebermann, Greek in Jewish Pa­lestine, New York 1942; M. Smith, Tannaitic Paralleis to the Gospels, Philadelphia 1951.

16 Vgl. M. Smith, Palestinian Judaism in the First Century, in: Israel (hrsg. v. Davis), New York 1956, S. 74ff.

17 G. F. Moore, a.a.O., S. 263 ff. 18 Zur Mischna siehe J. Bonsirven, Le Judaisme palestinien au temps de

Jesus-Christ I, Paris 1935, S. XIII-XVI.292-295. [L.-D.] 19 H. L. Strack, Einleitung in Talmud und Midrasch5, München 1920

(= 1961), S. 16ff. 20 Vgl. G. F. Moore, a.a.O., S. 263 ff. 21 Ebd., S. 263; J. Bonsirven, a.a.O., S. 301 ff. 452 ff. 22 Philo, über das Leben des Moses II, 14, in: Philo v. Alexandria, Die

Werke in deutscher übersetzung hrsg. v. L. Cohn u. a. Bd. 12, Berlin 1962, S. 301.

23 G. F. Moore, a.a.O., S. 269. 24 Nach der übersetzung von H. Danby, a.a.O., S. 436. 25 "Wenn wir ihr hohes Alter bedenken, so ist wichtig zu sehen, was

jeweils mit ,Tora' gemeint ist." (W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge Repr. 1966, S. 161, Anm. 2.)

26 Nach der übersetzung von J. Israelstarn, The Midrash3 (hrsg. v. d. Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches e. V.), London 1961, S. 114.

27 Nach der übersetzung von J. Braude, The Midrash on Psalms, in: Yale Judaica Series 13, New Haven 1959.

!8 Nach der übersetzung von J. Israelstarn, a.a.O., S. 167. 29 So D. Barthelemy, der Israelstams Auslassung des Attributs hds (neu)

vor tora als "jüdisch-apologetischen Meinungsumschwung, dessen sich die Apologeten aller Zeiten zu bedienen wissen" bezeichnet. (Revue Biblique 60, 1953, S. 316-318.)

30 Siehe besonders den Midrasch Tehillim zu Ps 146,7. 31 Vgl. H. L. Strack - P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament

aus Talmud und Midrasch Bd. 44, München 1965, S. 1-22. 32 Nach der übersetzung von J. J. Slotki, The Midrash3 (hrsg. v. d.

Soncino-Gesellsch.), London 1961, S. 757. 33 Ebd., S. 756. 34 Nach der übersetzung von J. F. Stenning, The Targum of Isaiah,

Oxford 1949. 35 C. G. Montefiore - H. Loewe, A Rabbinie Anthology, London 1938,

S.558. 36 V gl. A. Edersheim, The Life and Times of J esus the Messiah II,

New York 1896, S. 764 ff. 37 Nach der übersetzung von H. D. Freedman, The Babylonian Talmud,

Seder Nezikin, Traktat Sanhedrin (hrsg. v. d. Soncino-Gesellsch.), London 1935, S. 657.

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38 N. Perrin, The Kingdom of God in the Teaching of Jesus, London 1963, S. 76-78.

39 D. Barthelemy - J. T. Milik (Hrsg.), Qumran Cave I, Oxford Repr. 1964, S. 154. Das Fragment ist bezeichnet 1 Q 34. Der zitierte Ab­schnitt ist dem Stück 11 (5-8) entnommen.

40 Nach der übersetzung von M. Burrows, Mehr Klarheit über die Schriftrollen (aus dem Amerikan. übertr. v. F. Cornelius), München 1958, S. 347.

III. Die Bergpredigt im Kontext des zeitgenössischen Judentums

1 T. S. Eliot, Die Cocktail Party, Berlin u. Frankfurt 1951, S. 103. 2 Vgl. W. D. Davies, Matthew, in: F. C. Grant - H. H. ;Rowley

(Hrsg.), Dictionary of the Bible, Edinburgh 1963, S. 631-633. 3 Z. B. R. P. Casey, The Study of Gnosticism, in: The Journal of

Theological Studies 36, 1935, S. 45 H.; F. C. Burkitt, Church and Gnosis, Cambridge 1932.

4 Hierzu siehe H. Jonas, The Gnostic Religion, Boston 1958; R. McL. Wilson, The Gnostic Problem, London 1958; zu Paulus siehe J. Du­pont, Gnosis, Brügge 1949; C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1961.

5 über Simon den Magier siehe bei Irenäus, Adv. Haer. XXIII; H. Jonas, a.a.O., S. 103 H.

6 Außer A. Schlatter siehe noch F. V. Filson, The Gospel according to St. Matthew, New York 1960, S. 12 H.

7 A. Schlatter, Der Evangelist Matthäus, Stuttgart 1959, S. 424H. 8 B. W. Bacon, a.a.O. 9 Irenäus, Adv. Haer. I, 26,1 f.

10 Irenäus, Adv. Haer. III, 3,4; Hippolyt, Widerlegung der Häresien VII, 21 bringt Kerinth mit der Lehre der Ägypter in Verbindung.

11 A. Schlatter, a.a.O., zur Stelle. 12 Irenäus, Adv. Haer. V, 21,2. 13 T. W. Manson, The Servant-Messiah, Cambridge 1953, S. 55-58. 14 A. Schlatter, a.a.O., S. 797. 15 W. D. Davies, Paul and Rabbinie Judaism3, London 1965, S. 156H.;

A. Feuillet, Jesus et la sagesse divine d'apres les evangiles synoptiques, in: Revue Biblique 62, 1955, S. 161-196; L. Cerfaux, Les sources scripturaires de Matthieu 11,25-30, und La connaissance des secrets du Royaume d'apres Matthieu 13,11 et paralleles, in: Recueil L. Cer­faux III, 1962, S. 123-159; W. Grundmann, Die ,nepioi' in der ur­christlichen Paränese, New Testament Studies 5, 1958/59, S. 188-205.

16 Vgl. W. D. Davies, Christi an Origins and Judaism, London 1962. 17 Vgl. J. T. Milik, Dix ans de decouvertes dans le Desert de Juda,

Paris 1957. [L.-D.] 18 Hierzu siehe B. Gaertner, The Habbakuk Commentary (DSH) and

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the Gospel of Matthew, Studia Theologica 8, 1954, S. 1-24; S. Kiste­maker, The Psalms in the Epistle to the Hebrews, Amsterdam 1961, S. 71; J. A. Fitzmyer, The Use of Explieit Old Testament Quotations in Qumran Literature and in the New Testament, New Testament Studies 7, 1960/61, S. 331.

19 K. Stendahl, The School of St. Matthew, Lund 1954. 20 W. H. Brownlee, The Dead Sea Habakkuk Midrash and the Targum

Jonathan, Duke Divinity School (unveröffentlicht), 1953. 21 B. J. Roberts, The Dead Sea Serolls and the Old Testament, Bulletin

of John Rylands Library 34, 1951152, S. 366-387; 36, 1953/54, S.75-96.

!I! B. Rigaux, Revelation des Mysteres et Perfeetion a Qumran et dans le Nouveau Testament, New Testament Studies 4, 1957/58, S. 240f., zitiert bei W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S.215. "Im ganzen gesehen sind wir im qumranischen Vollkommenheits­gedanken auf ein sittliches Element gestoßen, den Gehorsam und das Beschreiten des rechten Weges, auf ein mystisches, d. h. ein die menschlichen Kategorien des Wissens, Wollens und Tuns, die Reini­gung und die Gabe des hl. Geistes übertreffendes, schließlich auf ein gnostisches, die Erkenntnis des Plans Gottes und des Gesetzes, das an eine Offenbarung des göttlichen Wirkens und des ewigen mensch­lichen Schicksals grenzt. Der hl. Geist vermittelt die Erkenntnis der Geheimnisse. "

23 W. D. Davies, Christian Origins and Judaism, London 1962, S.119-124.

24 Nach der übersetzung von E. Lohse a.a.O. 25 J. Bonsirven, Textes rabbiniques des deux premiers siecles chretiens,

Rom 1954, S. 2; W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S. 275-278. [L.-D.]

26 H. Schürmann, Das Gebet des Herrn, Freiburg 1958, S. 113, der zur Unterstützung dieser Ansicht C. Steuemagel zitiert. Siehe auch W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S. 309-315. [L.-D.]

27 Nach der übersetzung von J. Goldin, The Fathers Aceording to Rabbi Nathan, New Haven 1955, S. 34 ff.

28 G. D. Kilpatrick, The Origins of the Gospel aeeording to St. Mat­thew,Oxford 1946; W. Trilling, Das wahre Israel, Leipzig 1959.

29 W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S. 293-296.

IV. Die Bergpredigt im Kontext der frühen Kirche

1 In diesem Abschnitt faßt W. D. Davies die Ergebnisse einer langen Erörterung in: The Setting of the Sermon on the Mount, S. 316-325 zusammen; er kritisiert dort den Standpunkt S. G. F. Brandons, The Fall of Jerusalem, London 1951, wonach Mt sich ausgesprochen anti­paulinisch zeige. Er verwirft die allgemeinen überlegungen, die man

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mitunter von Mt-Texten mit partikularistischer Tendenz herleitet (Mt 10,5 f.23; 15,24). [L.-D.]

I! J. Weiß, Das Urchristentum, ergänzt v. R. Knopf, Göttingen 1917, S. 585 H. A. Loisy, La naissance du christianisme, Paris 1933, S. 126 nimmt an Mt 16,17-19 sei antipaulinisch.

a Vgl. R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, München 1954, S. 183-209 und W. D. Davies, Ethics in the New Testament, in: Interpreter's Dictionary of the Bible 2,1962, S.167-176.

4 W. D. Davies, Paul and Rabbinie Judaisms, London 1965, S. 136H. S VgI. W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S. 356-

366. [L.-D.] el Kor 9,21; Gal 6,2. Vgl. W. D. Davies, Paul and Rabbinie Judaism,

S. 142; C. H. Dodd, Ennomos Christou, in: Studia Paulina in hono­rem J. de Zwaan, Haarlem 1953, S. 96-110.

7 T. W. Manson, The Sayings of Jesus, London 1949, S. 11. 11 V. Taylor, The Formation of the Gospel Tradition, London 1935,

S.182. Q M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums5, Tübingen 1966,

S. 239 H.; vgl. W. D. Davies, Paul and Rabbinie Judaism, S. 136 H. 10 Nach X. Leon-Dufour, in: Introduction a la Bible II (hrsg. v. Robert

und Feuillet), Paris 1959, S. 307. [L.-D.] 11 M. Dibelius, a.a.O., S. 234 H. 1! E. G. Selwyn, The First Epistle of St. Peter, London 1946, S. 363-488. 13 Für unsere Belange sind sie wert genannt zu werden (vgl. E. G. Sel-

wyn, a.a.O., S. 444-449). Es sind: 1 Thess 1,6; 2,4.14; 3,2-5; 5,1-3. 4-11.17-19; 3,8; 2 Thess 1,4-7.10; 2,15; 1 Petr 1,6f.10f.13.21; 2,4f.8f. 12.20f.24; 3,14f.; 4,3.5.7.12f.17-19; 5,4.8-10.12; Apg 1,7; 5,41; 14,22; 20,28; 1 Kor 1,7-9; 3,13; 7,29; 16,13; 2 Kor 8,2; Hebr 10,23.30.32f.; Jak 1,2f.12; 4,7; 5,8; Röm 2,5-11; 5,2.3f.; 13,I1.13f.; Phil 1,27-29; 4,1; 2 Petr 3,10; Apk 16,15; KoI4,2f.12; Eph 1,14; 6,14H.

14 Mehr Einzelheiten siehe bei W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S. 371 H. [L.-D.]

15 Nach E. G. Selwyn gibt es zu den oben erwähnten Stellen im Fol­genden Parallelen aus Q (ist ihre Herkunft nicht sicher, steht ein ?): Mt 5,10-12 (= Lk 6,22) Mk 13,32 f. (?) Lk 20,35 Lk 12,39 f. (vgl. Mt 24,43 f.) (?) Lk 6,32 f. Lk 21,34 (?) Lk 22,28 Mk 13,8 (= Mt 24,8) (?) Mk 13,13 (?) Mt 10,32 f. (= Lk 12,8 f.) (?) Mt 13,7 (?) Lk 21,26 (= Mt 6,13) (?) Mk 13,11 (?) Lk 12,35 (?) Mt 10,28 (= 12,45) Mk 13,33.35-37 (?)

Mt 25,13 (?) 16 M. Dibelius, a.a.O., S. 247 H. 17 C. H. Dodd, New Testament Studies, Manchester 1953, S. 114. 18 Vgl. W. D. Davies, The Setting of the Sermon on the Mount, S. 401,

Anm.2 sowie die Präzisierungen S. 401-414. [L.-D.]

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V. Die Bergpredigt im Kontext des Wirkens Jesu

1 Dazu siehe L. Cerfaux, La Tradition selon Saint Paul, in: Reeueil L. Cerfaux 11, 1954, S. 253-282 und B. Gerhardsson, Memory and Manuseript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinie and Early Christianity, Uppsala 1961.

2 Siehe die oben gegebene Darlegung, Kap. 3, S. 98-106. 8 Zur Sprache Jesu siehe W. F. Stinespring, History and Present

State of Aramaic Studies, The Journal of Bible and Religion 26, 1958, S. 298 ff. Außerdem: A. Dupont-Sommer, Les Arameens, Paris 1949 und M. Black, The Recovery of the Language of Jesus, New Testa­ment Studies 3, 1956/57, S. 305-313.

4 Zu dieser Frage siehe H. Riesenfeld, The Gospel Tradition and its Beginnings, London 1957, S. 18ff.

6 Siehe in der vorliegenden Arbeit Kap. 4, S. 113-115. 8 G. Bornkamm, Jesus von Nazareth8, Stuttgart 1968, S. 11-23. 7 V. Taylor, The Names of Jesus, London 1959, S. 12-14. 8 H. E. W. Turner, The Patristic Doctrine of Redemption, London

1952; D. van den Eynde, Les Normes de l'Enseignement chretien dans Ia litterature patristique des trois premiers siecles, Paris 1933.

9 H. E. W. Turner, a.a.O., S. 39 ff. 10 Siehe T. W. Manson, The Life of Jesus: a Study of the Available

Material, Bulletin of the John Rylands Library 27, 1943 (= T. W. Manson, Studies in the Gospels and Episdes, Manchester 1962, S. 13-27).

11 Empfehlenswerte Lektüre hierzu: K. H. Rengstorf, Art.: didasko, in ThWNT Bd. 11, Stuttgart 1950, S. 138 ff.

12 Vgl. ebd. 18 Z. B. wird R. Eliezer b. Hyrkan gelobt, weil er "ein wasserdichter

Brunnen, der keinen Tropfen verliert" war (Pirqe Aboth II, 8). 14 Zur Erziehung in Palästina im ersten Jahrhundert vgl. N. Drazin,

The History of Jewish Edueation from 515 B. C. E. to 220 C. E., Baltimore 1940; N. Morris, The Jewish School, London 1937.

16 Vgl. D. Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism, London 1956, S. 205-223.

18 V gl. ebd., S. 90-97. 17 C. H. Dodd, Aceording to the Seriptures, Oxford 1952, S. 120. 18 Mit diesem Ausdruck (am ha ares) bezeichnete man diejenigen, die

das Gesetz nicht studieren konnten, und - im weiteren Sinne - die heidnische und antijüdische Bevölkerung. [L.-D.] Vgl. G. F. Moore, in: The Beginnings of Christianity (hrsg. v. Jackson und Lake) 1, London 1920, S. 439 ff.

10 M. Smith, Tannaitie ParalleIs to the Gospels, Philadelphia 1951; T. W. Manson, The Teaching of Jesus2, Cambridge 1931.

20 Siehe vor allem B. Gerhardsson, a.a.O.; H. Riesenfeld. The Gospel Tradition and its Beginnings, London 1957.

11 W. D. Davies nuanciert dies in einer langen Studie in: N eotestamen-

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tiea et Patristiea (Melanges O. Cullmann), Leyden 1962, S. 14-34, die er aber später im Anhang von The Setting of the Sermon on the Mount, S. 464-480 widerruft: Refleetions on the Seandinavian Approach to the Gospel Tradition. Siehe ebenfalls X. Leon-Dufour, Les Evangiles et l'histoire de Jesus, Paris 1963, S. 299-301. [L.-D.]

12 s. o. Anm. 18. 23 V gl. J. J eremias, Die Gleichnisse J esu. 24 J. J oez, The J ewish People and J esus Christ, London 1949, S. 16 f. 25 L. Finkelstein, The Pharisees, Philadelphia 1940. 26 Ebd.; W. D. Davie~, Introduction to Pharisaism, Brecon 1954-55. 27 W. D. Davies, Christi an Origins and Judaism, London 1962, S. 176,

Anm.86. 28 Siehe die unverzichtbare Arbeit von H. Braun, a.a.O. 29 Vgl. W. D. Davies, Matthew 5: 18, in: Melanges bibliques rediges en

l'honneur d'Andre Robert, Paris 1957, S. 441 (= Christian Origins and Judaism, London 1962, S. 47 f.).

80 Siehe die detaillierten Hinweise in W. D. Davies, Ethies in the New Testament, in: The Interpreter's Dictionary of the Bible 2, 1962, S. 167-176.

81 Mk 10,2-9; 12,13-17; Mt 5,44-48; 6,19f.; 7,24; 10,29; 13,24-30; 24,27-29 ... Mit dichterischer Ausdruckskraft begabt hatte Jesus "den Geist des Anfangs der Dinge"; er kannte "den Ursprung der Welt".

82 Nach der übersetzung von P. Riessler a.a.O. S. 920ff. 83 Wir sind uns völlig der Tragweite einer solchen Hypothese bewußt,

bitten aber um Verständnis dafür, daß wir dieses Thema hier nicht im einzelnen erörtern.

84 Siehe W. D. Davies, Ethics in the New Testament, a.a.O., S. 169. 85 R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments,

München 1954, S. 183-209.

VI. Schluß

1 Das entspricht der großartigen und sehr dichten Formulierung P. Til­lichs in: Systematische Theologie Bd. 23, Stuttgart 1958, S. 65, 80 f., 101 u. 113 H. Tillich verwirft sowohl den "legalistischen Liberalis­mus", der Worte Jesu zum "Gesetz" macht, als auch den "existentiali­stischen Liberalismus" Bultmanns, der sie auf einen Aufruf zur Ent­scheidung reduziert. Ebenso lehnt er die Imitation Christi ab, insoweit sie nicht als Teilhabe an Christus verstanden wird: "Jesus als der Christus ist der Träger des Neuen Seins in der Totalität seines Seins, nicht in einzelnen seiner Äußerungen" (S. 132). Mit Tillich müssen wir jede radikale Scheidung zwischen "den Worten" und "dem Wort" ablehnen; die Argumentation weiter oben verlangt es. Und wir billigen völlig seinen Standpunkt, wenn er sagt, "die Worte" seien der Ausdruck des Neuen Seins. Wir müssen uns aber fragen, ob sein Mißtrauen gegenüber "dem Gesetz" allen im NT enthaltenen Elemen­ten gerecht wird, wie etwa sein Reden von einer "beständigen Flucht

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von Gesetz zu Chaos und von Chaos zu GesetzCl (S. 74). Man braucht nicht "die Worte" vom "Wort" zu trennen, aber dieses darf auch nicht jene so absorbieren, daß ihnen ihr positiver Sinn abgeht. Ein Teil dieses Sinns erfüllt im NT die Funktion des "GesetzesCl Christi. Das äußert sich in der Weise, wie E. Schweizer dieses Thema behan­delt (Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern2,

Zürich 1962, S. 99 ff.), wenn er radikal die Ethik Jesu von "Jesus Christus selbstCl trennt. Ist aber eine solche Scheidung möglich? "Das WortCl von "den WortenCl zu trennen, ist ebenso wenig wünschens­wert, wie "die Worte" vom "Wort" zu trennen.

2 V gl. z. B. T. F. Torrance, The Doctrine of Grace in the Apostolic Fathers, London 1948 und den Kommentar dazu von J. Lawson, A Theological and Historical Introduction of the Apostolic Fathers, New York 1961, S. 15 ff.

S Das Wort Kierkegaards ist wohlbekannt: "Selbst wenn die gleich­zeitige Generation nichts anderes hinterlassen hätte als die Worte: ,Wir haben geglaubt, daß der Gott anno so und so sich gezeigt hat in der geringen Gestalt eines Knechts, unter uns gelebt und gelehrt hat, und alsdann gestorben ist' - das ist mehr als genug." (S. Kierke­gaard, Philosophische Brocken, Gesammelte Werke, 10. Abteilung, übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf und Köln 1967, S. 101.) So reden heißt, das Christentum auf eine einfache Nachahmung zu reduzieren: das wird weder den synoptischen Evangelien noch gar dem Neuen Testament als ganzem, wie wir es gesehen haben, gerecht.

'Die beiden Zitate stammen aus einer unveröffentlichten Arbeit von H. J. Berman, Comparison of Soviet and American Law, 1961, S. 9 ff. Eine kurze Bibliographie hierzu findet sich in: B. A. Konstantinovsky, Soviet Law in Action, hrsg. von Berman, Cambridge Mass. 1953.

5 H. J. Berman a.a.O. S. 24. 8 Ebenda S. 17. 7 Zit. bei Berman a.a.O. S. 21. 8 Zit. bei Berman ebenda. 9 Ebenda S. 21.

10 Vgl. G. Bornkamm, Jesus von Nazareth8, Stuttgart 1968, S. 92 f. 11 Maurice Goguel behauptet, daß in dieser Situation Paulus und mit

ihm andere Christen vor einem Problem stehen, das dem Judentum fremd ist: "Er hat ein neues Problem aufgeworfen, das für das Juden­tum nicht existieren konnte, nämlich das der Heiligung, d. h. der Be­ziehungen zwischen der Religion und der Moral, zwischen dem Evan­gelium und dem Gesetz ... Für das Judentum mußte der Erlösungs­akt, das Eingreifen des Messias, sich am Ende der Zeiten einstellen, im selben Moment, wo die alte Welt, die des Fleisches, vernichtet und die neue, die des Geistes, verwirklicht sein würde. Im Rahmen eines solchen Entwurfs kann das Problem der Heiligung keinen Platz finden; denn Rechtfertigung und Erlösung ... fallen zeitlich zusam­men und bilden einen einzigen, den selben Akt" (M. Goguel, L'Evan­gile et la Loi, Revue d'Histoire et de Philosophie religieuses 17, 1937,

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S. 25 f.). Im Lichte des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit können wir jedoch diese entschiedene Meinung bestreiten: Es gab in der messianischen und in der zukünftigen Ära des Judentums in irgend einer Form auch das Gesetz. Im selben Heft der obengenannten Zeitschrift finden sich wichtige Beiträge zu diesem Gegenstand von F. Menegoz, A. Lecerf, A. Jundt, A. W. d'Aygalliers, C. Hauter (sämtliche a.a.O. S. 1-57). Siehe auch G. Salet, La Loi dans nos coeurs, Nouvelle Revue Theologique 89, 1957, S. 449-462, 561-578 (= Le Christ, notre vie, Paris 1958, S. 137-201); M. Villey, Lee;ons d'histoire de la philosophie du droit, Paris 1957; J. Ellul, Le fonde­ment tMologique du droit, Paris 1946; S. E. Stumpf, J. Ellul, M. Villey, La theologie chretienne et le droit, Archives de Philosophie du Droit 5, Paris 1960, S. 1-61; B. Häring, Das Gesetz Christi, Freiburg 1954.

12 Wir sind uns völlig der Schwierigkeiten bewußt, die durch dieses Thema aufgeworfen werden, die wir aber hier nicht behandeln wol­len. Zu einer sinnvollen übersicht über diese Fragen siehe G. F. Tho­mas, Christian Ethics and Moral Philosophy, New York 1955,S. 105 ff. Unsere Absicht war nur, im Lichte der Bergpredigt und anderer Teile des NT die Debatte über diesen Gegenstand wieder zu eröffnen. Da man diese Teile nicht ernst genommen hat, hat der Glaube des NT Anlaß gegeben zum Vorwurf des Romantizismus, der von Leo Baeck in seinem meisterhaften Beitrag über die romantische Religion erhoben wird (Judaism and Christianity, Philadelphia 1958, S.189-292). So weit das NT ahnen läßt, ist das christliche Leben die Freiheit "im Geist". Aber diese Freiheit ist mit einer moralischen Tradition verbunden, die sich auf Jesus beruft und in die Evangelien, besonders in die Bergpredigt, eingeflochten ist. Das gestattet, daß sowohl die schrankenlose Freiheit der Gesetzlosigkeit (Antinomismus) als auch die messianische Freiheit des "Perfektionismus" vermieden wird. Den Begriff Perfektionismus entleihen wir einer unveröffent­lichten Arbeit von K. Stendahl. Gleichzeitig ermöglicht dies, "dem Weg" einer Tradition der Worte Jesu zu folgen, der durchaus lebendig ist: einem Weg, der sich nicht durch Trennung von dieser Tradition erneuert, sondern durch deren tieferes Verständnis und ihre Anwendung. So bedeutet er Kontinuität und Kasuistik. Wer das Vorangehende zur Kenntnis genommen hat, der möge die folgenden Worte zweier gällischer Dichter dazu vergleichen: die des scharfsinnigen Elfed: Hyfryd eiriau'r Iesu! Bywyd ynddynt sydd ••• und die des radikaleren Gwenallt: Gwae inni wybod y geiriau Heb adnabod Y Gair

o süße Worte J esu! Voller Leben ...

Ach, wir haben die Worte vernommen, wir haben nicht das Wort erkannt.

Auf dem genauen Erfassen dieser beiden Wahrheiten - des "Wortes" und der "Worte" - beruht die rechte Unterscheidung zwischen Evangelium und Gesetz.

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Kleines Lexikon rabbinischer und anderer Begriffe

ABOT

Dieses Lexikon (Redaktion: X. Leon-Dufour) beschränkt sich im allgemeinen auf Begriffe aus der rabbinischen Literatur und bezieht sich mitunter auf: X. Leon-Du­four, Les Evangiles et l'histoire de Jesus (dt.: Die Evan­gelien und der historische Jesus, Aschaffenburg 1966).

1. Abschnitt Nezikin (vom aramäischen nazak "bedrängt werden") der Mischna. V gl. Pirqe Abot. 2. Traktat des Talmud. 3. Traktat des Rabbi Nathan (um 160 n. Chr.)

AMORAlM "die sagen", "die auslegen"; Gelehrte aus der Zeit nach dem 3. Jahr­hundert, deren Kommentare die Gemara begründeten.

APOKALYPTISCH von griechisch apokalypsis (wörtlich: das Enthüllen), eine Offen-barung betreffend. Bezeichnet eine literarische Gattung, deren typische Vertreter eher noch als die Johannes-Apokalypse das Henoch-Buch und das 4. Buch Esra sind.

APOKRYPHEN (in protestantiscller Terminologie "Pseudepigraphen") Schriften, die den kanonischen Büchern ähneln, aber nicht zum Schriftkanon gehören; so Henoch, die Jubiläen, das Testament der zwölf Patriarchen, die Psalmen Salomos, das 3. und 4. Buch Esra.

AKIBA einer der am meisten zitierten Lehrer in der Mischna. Lebte von 50 bis 135 n. Chr. und spielte im zweiten jüdischen Aufstand eine wichtige Rolle.

BARAITA tann ai tische überlieferung, die parallel zur Mischna, jedoch außer-halb dieser aufbewahrt und später in den Talmud eingegliedert wurde.

BARUCH (Apokalypse des) apokryphes Werk, kurz nach 70 n. Chr. geschrieben; syrische über­setzung einer griechischen Version; gehört zur Gattung der Apoka­lypsen.

BIRKAT HAMMINIM einer der jüdischen Flüche gegen häretische Juden, besonders gegen die, die zum Christentum übergewechselt waren.

DAMASKUSSCHRIFT 1910 in der Geniza von Kairo gefundenes Werk. Es beschreibt die DGemeinschaft des neuen Bundes", die in Damaskus verwirklicht

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werden soll. Die Schrift ist jünger als die Gemeinderegel von Qumran, der sie ähnelt.

DEUTEROKANONISCH Bezeichnung für Schriften (sog. deuterokanonische Schriften - in pro­testantischer Terminologie "Apokryphen"), die zum Kanon gehören, aber erst später einbezogen wurden: Tobit, Judith, 1. u. 2. Makka­bäer, Baruch, Weisheit Salomos, Jesus Sirach.

DOKETISTEN häretische Christen, die in J e8US einen Gott sehen, der nur die Er­scheinungsform eines Menschen hatte.

EBIONITEN eine judenchristliche Sekte, die besonderen Wert auf Askese und Armut legt, sich verwandtschaftlicher Bande zu Jesus rühmt. In ihren Augen ist Matthäus das Evangelium schlechthin.

ESRA (4. Buch Esra) apokryphe Schrift des AT, die um das Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfaßt wurde, eine Apokalypse.

ESSENER Angehörige einer jüdischen Sekte, deren Existenz und Sitten uns Josephus überliefert hat. Die Qumran-Gemeinde schließt sich der essenischen Bewegung an.

FORMGESCHICHTE eine Methode der Literarkritik, die die Geschichte der EvangeIien-bildung zu beschreiben sucht, indem sie die aufeinanderfolgenden Schichten der Evangelienüberlieferung bestimmt, angefangen bei den verschiedenen Formen, in denen diese sich ausgedrückt hat. "Evan­gelienbildung" bedeutet nicht Erfindung, sondern besagt, daß einem bereits vorhandenen Stoff "eine dauerhafte Form" gegeben wird.

GEMARA von gamar, "vervollständigen", vollführen". Talmudischer Kommen-tar der Mischna.

GEMEINDEREGEL Zitiert unter dem Siglum 1 QS; enthält Regeln, theologische An-weisungen und poetische Meditationen; wahrscheinlich herausgegeben vom Gründer oder Reorganisator der Qumransekte.

GNOSIS "Erkenntnis". Im weiteren Sinne bezeichnet der Gnostizismus eine vorchristliche Bewegung, die versucht, das Heil auf die Kenntnis göttlicher Geheimnisse zurückzuführen (vgl. oben S. 80-91).

HAGGADA von nagad "erzählen"; nichtgesetzliche Abschnitte in Talmud und Midrasch; Midraschkommentar der Schrift, abgefaßt von jüdischen Gelehrten mit dem Ziel der Hilfe zu geistlichem Leben, also mit homiletischer Tendenz. So: große Teile des Testaments der zwölf

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Patriarchen, die Jubiläenbücher, die Genesis Rabba, ein Drittel des palästinensischen und ein Viertel des babylonischen Talmud.

HALACHA wörtl. "gehen" (von hebr. halach); ethische Wegweisungen; gesetzliche Teile der jüdischen Literatur, die auf der Schrift oder auf mündlicher Tradition fußen. Die Halacha umfaßt religiöse Gesetze, ziviles Recht, Strafrecht usw.

HENOCH (Buch H.) Sammlung von Ermahnungen, Gleichnissen und prophetischen Stük­ken, die H. zugeschrieben werden. Die verschiedenen Teile des Buches wurden zwischen 170 vor und 100 n. Chr. verfaßt; außerdem sind spätere Einschübe enthalten.

HILLEL Zeitgenosse Herodes des Großen, lebte von 30 v. bis 10 n. Chr.; pharisäischer Gelehrter, der eine großzügige Auslegung der Gesetzes­texte verkündigte (vgl. Schammai).

JAMNIA Ort bei Joppe (Jaffa bzw. Jabne), wo sich um das Jahr 80 n. Chr., nach der Zerstörung Jerusalems, unter der Führung Jochanan ben Zakkais die jüdischen Gelehrten versammelten.

JOSEPHUS geb. 37 n. Chr. in Jerusalem, gest. um 98 in Rom. Erlebte den jüdi-.schen Krieg, dessen Geschichte er schrieb (75-79); verfaßte die Antiquitates Judaicae (um 93) und die Schrift Contra Apionem (um 96).

JUBILKEN apokryphe Schrift des AT, die in 50 Jubiläen (Perioden von 49 J ah-ren) die Geschichte der Erschaffung der Welt bis zur Zeit Moses erzählt, wobei das Jahr des Einzuges in das Heilige Land den Schluß bildet; verfaßt um 125 v. Chr ..

JUDENTUM jüdische Lebenswelt nach dem Exil (538 v. Chr.).

KERYGMA von griech. kerygma "Verkündigung", "Predigt"; Anruf seitens des zum Christus, Herrn und Erlöser auferstandenen J esus. Christus spricht durch seine Prediger. - Im weiteren Sinne schließt es die Katechese mit ein; sie ist gleichsam das Echo auf die Erfahrungen, die die Kirche mit ihrem lebendigen Herrn macht.

LEHRER DER GERECHTIGKEIT religiöse Persönlichkeit, geistiger Führer und wahrscheinlich Gesetz­geber der Qumransekte. Sein Wirken kann nicht gen au datiert werden.

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LOGION (LOGlA)

M

Griechisch: "Wort, Satz". Ein Satz, der nicht unbedingt in den Zu­sammenhang gehört, in dem er sich befindet: z. B. Mt 5,13; 5,15.

Mit diesem Siglum (dem ersten Buchstaben von Mt) bezeichnet die angelsächsische Bibelkritik jene Teile des ersten Evangeliums, die sich nur in ihm finden. (Vgl. dazu im vorliegenden Buch Kapitel IV, S. 123 ff.) (Die deutsche Bibelkritik bevorzugt den Begriff Sondergut [S] des Matthäus.)

MEKHILTA "Maß"; Midrasch-Kommentar zum Exodus, der aus einer tannaltl-schen Quelle des zweiten Jahrhunderts kommt, dessen Endredaktion jedoch dem 10. bis 11. Jahrhundert entstammt.

MIDRASCH "Erforschung" (vgI. Esra 7,10: die Schrift erklären, interpretieren), mit feiner Unterscheidung von Studium und Erklärung. In dieser Literaturgattung des Judentums wird versucht, einen Abschnitt der Heiligen Schrift zu aktualisieren, auf die Gegenwart zu beziehen. Nach dieser Methode gehen auch die Chronikbücher des AT vor, die die Bücher SamueI und Könige aktualisieren; ferner die Weisheit (den Pentateuch). Dtn 1-6, Ps 78, 105, 106, Jona, Gal 4 und Hebr 4 arbeiten gleichfalls nach dieser Methode. Es wird zwischen dem halachischen und haggadischen Midrasch unterschieden. Der Midrasch Rabba kommentiert die fünf Bücher der Tora und die fünf Festrollen (Hohes Lied, Prediger Salomo, Esther, Klagelieder und Ruth). Außer­dem: die Midraschim Sifra und Sifre, die Midraschim zu den Sprü­chen, den Psalmen. Zitiert werden sie in Abschnitten (sog. Paraschen) oder unter Hinweis auf den kommentierten Vers.

MISCHNA Eine von Jehuda dem Patriarchen (135-200 n. Chr.) herausgegebene Sammlung, beginnend mit tann ai tischen Traditionen, zunächst münd­lichen, später schriftlichen. Sammlung rechtswissenschaftlicher Texte; umfaßt sechs Teile (sedarim), 63 Traktate (massektot) und 523 Ka­pitel (perakirn).

PARABELN DES HENOCH Abschnitt des Buches Henoch (Kapitel 37-69). Ihre Herkunft ist um­stritten, vielleicht jüngeren Datums als der Rest des Buches.

PENTATEUCH (die fünf Bücher Mose) bestehend aus Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium, die die Tora im eigendichen Sinne bilden.

PESCHER (von aram. Pe~er "Auslegung"); eine Form des Midrasch, die die Aktualität eines biblischen Textes betont (so der Pescher Habakuk aus Qumran).

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PIRQE ABOT

Q

"Kapitel der Väter"; Abschnitt des Traktats Nezikin der Mischna. Berühmte Auswahl von Verhaltensregeln und von Worten der Rab­binen, die von der Zeit Simons des Gerechten (um 180 v. ehr.) bis zur Zeit des Rabbi Jehuda des Patriarchen (135-200 n. ehr.) lebten, dieser gab die Mischna heraus.

Siglum für "Quelle"; bezeichnet Texte, die nur Matthäus und Lukas gemeinsam haben, die "zweifache Tradition" im Gegensatz zur "drei­fachen Tradition", die den drei synoptischen Evangelien zugrunde liegt (vgl. oben Kap. 4, S. 117 ff).

QUMRAN Ort im Nordosten des Toten Meeres, wo sich zwischen dem zweiten Jahrhundert vor ehr. und dem ersten Jahrhundert n. ehr. eine radi­kal weltfeindliche Gemeinde niederließ. V gl. Essener, Lehrer der Gerechtigkeit, Gemeinderegel.

RABBA "Groß"; bezeichnet den Hauptmidrasch, der jedes der fünf Bücher der Tora und jede der fünf Rollen kommentiert.

RABBINISCH die rabbinische Literatur umfaßt hauptsächlich: den Talmud (Mischna, Gemara und Baraitot), die Midraschim und die Tosefta.

SANHEDRIN bezeichnet in der rabbinischen Literatur einen Abschnitt des Trak­tats Nezikin; behandelt die Zusammensetzung und die Prozeßordnung der Gerichtshöfe, besonders die Rechtssprechung.

SCHAMMAI berühmter jüdischer Gelehrter, lebte von 30 v.-l0 n. ehr.; Begrün­der einer strengen Schule im Gegensatz zu der Hillels.

SCHRIFTKANON von griechisch kanon "Richtschnur"; Liste der Bücher des Alten und Neuen Testaments, die offiziell durch die Kirche als von Gott eingegeben anerkannt sind.

SEDARIM bedeutet "Ordnungen"; bezeichnet die verschiedenen Abschnitte der Mischna.

SEKTE abkürzende Bezeichnung der Qumrangemeinde.

SEPTUAGINTA griechische übersetzung des AT; sie wurde abgefaßt: nach der Legende von 70 (Septuaginta!) jüdischen Gelehrten; tatsächlich von zahlreichen Autoren zwischen 250 und 150 v. ehr.

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SIFRA Midraschkommentar zum Buch Leviticus; verfaßt in der tannaitischen Epoche (erste Hälfte des dritten Jahrhunderts), kurz nach der Mischna.

SIFRE Midraschkommentare der Bücher Numeri und Deuteronomium.

SITZ IM LEBEN in der Literarkritik Bezeichnung für die Umgebung, in der ein litera-risches Traditionsgut "geformt" wurde.

SOTA vgl. Num 5,11-31 über die Eifersucht und die Gottesurteile; Teil des Traktats Naschirn ("die Frauen").

TALMUD "Unterricht"; Sammlung von Erklärungen gesetzlicher und hagadischer Texte der Tora beginnend bei der Mischna; umfaßt die Gemara und die Baraitot. Dies ist die Tora im weiteren Sinne. Der Jerusalemer Talmud (oder palästinensischer T.) entstand im vierten Jahrhundert, der babylonische am Ende des fünften Jahrhunderts. Letzterer ist viermal so lang wie der palästinensische. Normalerweise zitiert man sie abschnitts- und buchweise. Die Talmudisten sind die Schüler der Rabbinen.

TANNAlM "Lehrer"; jene rabbinischen Lehrer, die in der Mischna oder der Baraitta genannt sind. Erste Generation jüdischer Gelehrter zwischen Jamnia (80 n. Chr.) und dem Jahre 250. Die drei wichtigsten sind: Jochanan (Johanan) ben Zakkai, Gamaliel 11. und Rabbi Akiba.

TARGUM Begriff hethitischen Ursprungs mit der Bedeutung "anzeigen", "erklä­ren", "übersetzen"; aramäische Paraphrase zum AT. Unter anderem z. B. der Targum Onkelos (in Babylonien entstanden, von entschei­dender Autorität), der Targum von Pseudo-Jonathan (palästinensi­scher Herkunft) und der Targum Neofiti.

TEHILLIM anderer Ausdruck zur Bezeichnung der Psalmen.

TESTAMENT DER ZWöLF PATRIARCHEN Abschiedsreden, die den zwölf Söhnen Jakobs zugeschrieben werden. Diese apokryphe Schrift, die zum größten Teil zwischen 100 vor und 100 nach Chr. verfaßt wurde, enthält eine moralische Unterweisung ähnlich der Lehre von Qumran.

TORA 1. die fünf Bücher Mose, der Pentateuch. Nicht nur Lehre oder Ge-setz, sondern praktische Lebensweisung: normative Anweisung zum Handeln. Sie ist die Offenbarung Gottes schlechthin. 2. die Bibel als ganze. 3. das mündliche Gesetz, dessen Autorität nicht geringer ist. Es vervollständigt und interpretiert das geschriebene Gesetz.

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TOSEFTA "Ergänzung". Tannaitische Traditionen, die seit der Abfassung der Mischna verworfen wurden. Endredaktion im fünften und sechsten Jahrhundert n. ehr.

YALQUT-SCHEMONI Verzeichnis, das die Midraschkommentare des Talmud und andere jüdische Schriften nach der Reihenfolge der biblischen Bücher ordnet. Verfaßt im 13. Jahrhundert.

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Stellenregister (Auswahl)

A. ALTES TESTAMENT

Genesis Esther

1,1-2,3 24,26 9,28 65 2,4-5,lff. 24 9,3 66 17,3 37 Psalmen

2,7 35 Exodus 41,3 20

72,18 20 8,19 31 75,3 71 19 38 146,7 65,67 19,15 67 24,1 32 24,15ff. 32 Sprüche 33,17ff. 32 9,2 65 34,29f. 33,34

Leviticus Prediger

7,l1f. 65 Sall,9 66 11,2 68 16,34 65

Jesaja 18,19 66 2,1-5 51

Numeri 12,1-3 72 26,2 72

19,2 70,71 40,3 56 42,1 35

Deuteronomium 42,1-4 49,50 42,4 35

4,6 51ff. 42,16 71 18,15 33, 36, 55 49,1-6 49

50,4-11 49, 50 1 Samuel 51,4 68

24,9 37 52,13-53,12 49 66,17 66

2 Samuel

9,6 37 Jeremia

1,5 50 1 Könige 31,31-34 48

19,9-13 32 33,11 65

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Matthäus 13,54 104 6,2 102 13,54-17,21 19 6,5 102 lS,4 42 6,7-9 102 15,18 62 6,9-13 16 lS,31ff. 40 6,25-31 120 16,17-19 93, 110, 153 6,26-32 16lf. 16,19ff. 39 7,1 IlS, 129 17,1-8 32,34 7,12 132 17,3 34 7,lSf. 84,86 17,4 37 7,22f. 85 17,5 35,36 7,24 39 17,22f. 35, 128 7,27 77 17,22-27 127f. 7,28 43 17,22-18,35 19,36 7,28-29 17, 18, 19, 102 17,62ff. 101 8-9 30,31 18,lff. 39 8,1-9,35 19,31 18,5 40 8,9 31,45 18,lS-20 93ff.,128 8,13 31 18,18 39, lS3 8,14 31 18,20 46 8,17 92 18,21-35 129f. 8,18ff. 3, 19,1 19 8,28-34 3, 19,1-12 125f. 9,2 32 19,1-19 41 9,13 103 19,2-22,46 19 9,33f. 31 19,13-15 127 9,35 104 19,16-20 39 9,36-10,42 19,39 19,16-22 126 10,17ff. 39, 104 19,21 93 10,40 40 19,23ff. 39 11,1 19 20,20ff. 39 11,2-12,50 19 22,31 42 11,27-30 90f., 93, lOH. 22,35-40 132, 163f. 11,29 39 23,1-7 42 12,1-14 41 23,1-25,46 19 12,7f. 103 23,7ff. 39 12,9 104 23,8 39, 104 12,17-21 92 23,23 39 12,27ff. 31 23,28 87 13,1-52 19, 139 23,31ff. 39 13,24-30 93,109 23,34 39 13,35 92 24,3-11 87f. 13,36-43 110 24,5 85 13,41 86f. 24,11-24 84f. 13,47-50 93 24,12 87 13,52 39 24,44 118 13,53 19 25,30-46 40

195

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26,1 19 12,40 118 26,3-28,20 19 22,28 150

Matthäus Johannes

26,26ft. 28 2,23 138 26-28 18,28 3,2 138 27,55 151 3,12 139 28,15 101 3,27 139 28,16-20 28,29,45,89, 3,31 139

93f. 4,19 138 28,20 39 4,41 139

5,19 138

Markus 5,24 139 6,14 138

1,15 154 6,31 138 1,21-2,8 40 7,14-24 137 1,27 77 7,28 139 2,23-28 118f. 7,41 138 7 156, 159 8,29 139 7,10 41 8,38 139 9,2-8 32,33,34,35 8,47 139 9,5 37 9,4 138 9,12 33 9,17 138 9,30-32 33, 35, 36 10,18 140 10 162 10,25 138 10,2-9 161 10,32 138 10,45 152 11,45 138 12,13-17 114, 152 12,23-26 136f. 12,26 42 12,24f. 138 12,28 132 12,37 138 12,28-34 114f., 163 13,lft. 136, 152 14,12 33 14,10 139 14,33 33 14,15 HOf. 15,36 141 14,24 139 15,41 151 15,9-13 140

15,10 139

Lukas 15,20 HOf. 17,8 139

1,1-4 22 17,14 139 8,2f. 151 19,29 141 9,33 37 19,34 141 9,28-36 32 9,43b-45 36 10,25ft. 163 Apostelgeschichte 11,2-4 16 1l,19ft. 31 8,3-52 49 11,35 118 8,5ft. 8lf.

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Römerbrief Epheser

5,6-8 135 5,H. 135 8,32 135 12,14 113 Kolosser 12,17 113 12,18 131 3,14 133 13,7 114 3,16-22 113 13,8-10 114, 133 14,10-12 112, 115

Hebräer 14,13 115

9,19 141

1 Korinther 12,H. 166 12,18ft. 38

7,1-9 13of. 7,10 116 Jakobus 9,14 116 9,19-21 117 2,8 133 9,27 86 13 135 1 Petrus 14,37 116 15,9 108f. 1,16-18 33 15,44b-47 26 2,21-23 49

Galater 1 Johannes

5,14 133 4,7ft. 133f. 6,2 116 4,21 133

D.TARGUM

Zu Jes 12,3 72

E. ESSENISCHES SCHRIFTTUM

Damaskusschrift 1 QS 4,18ff. 57

1,10-12 56 4,25 59

4,19-21 162 5,26-6,1 94

6,14 57 6,24-27 97 7,3ft. 97

Qumrantexte 8,13f. 56 9,9-11 56,58

lQ 34 2,2 78 1 QS 1,1-4 98

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F. RABBINISCHES SCHRIFTTUM

Aboth d. Rabbi Nathan 4,5 103 Midrasch Tehillim zu Ps 146,7 67 Babylonischer Talmud Mischna

Sanedrin 97 a 73 Aboth 1,2 104 Midrasch Rabba 3,2

Levitikus Rabba 9,7 65 Eduyoth 8,7 13,3 68 Tosephta

Numeri Rabba 19,2 70 Sotah 14,9 19,6 71 Yalqut 19,8 70 Spr 9,2

Jes 26,2

Sachregister

Bergpredigt, Komposition der 16-22

Birkath ha-Minim 100 Bund, Buch des 53 -, neuer 28, 48f., 60 David 27,47, 56 Davidsohn 26 Doketen 83f. Elia 32f., 63f. Ethik 13, 35, 39-44, 155-167 Exodus, neuer 30-38 Geist, heiliger 25f., 49f. Gesetz s. Tora 19, 51-78 -, Auslegung des 42f., 45 -, neues 20, 38,42 Gottesknecht 35, 49-51 Haggada 75 Halacha 75 Jamnia 98-106 Jesus, Forderungen 155-168 -, Geburtsgeschichte 22-27 - und das Gesetz 40-44 -, Lehrer 146-148 -, Rabbi 151-154 -, Selbstbewußtsein 165-167

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Judentum 46f., 58-63 Kirche 15-17, 39, 49 Kritik, Form 16f., 117, 143 -,liturgische 16f. -, Quellen 1M., 143 Lehre, Jesu 13, 1M., 33, 35, 41 Lehrer der Gerechtigkeit 43, 57 M 14, 21, 123-132 Matthäus 132-142 - und Johannes 108-117 - und Paulus 108-117 -, Verfasser des Ev. 17 Menschensohn 29, 31, 33, 35,

45-47, 52-54 Messias 26, 33, 38, 46f., 58f. Mose, neuer 30-38, 44-47, 140 -, überbietung des 39-44 Q 13, 14, 21, 117-123, 131 Qumran 91-98 Rabbinismus, Rabbinen 60-78 Sinai 20, 29, 32, 38 Tora s. Gesetz 48-77 Tradition, mündliche 143-146 Verklärung 32-38

95 64

43

65 72

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Gen Ex Lev Num Dtn 1 Sam 2 Sam 1 Kön Esth Ps Spr Pred Sal Jes Jer Dan Hos Mi Sach Mal

Bar 1 Hen Sir 1 Makk

Mt Mk Lk Joh Apg Rö 1 Kor Gal Eph Kol

Verzeichnis der Abkürzungen

A. ALTES TESTAMENT

1. Buch Mose (Genesis) 2. Buch Mose (Exodus) 3. Buch Mose (Leviticus) 4. Buch Mose (Numeri) 5. Buch Mose (Deuteronomium) 1. Samuel 2. Samuel 1. Könige Esther Psalmen Sprüche Prediger Salomo Jesa;a Jeremia Daniel Hosea Micha Sacharja Maleachi

B. APOKRYPHEN UND PSEUDEPIGRAPHEN

Baruchapokalypse Henochapokalypse J esus Sirach 1. Makkabäerbuch

C. NEUES TESTAMENT

Matthäus Markus Lukas Johannes Apostelgeschichte Römerbrief 1. Korintherbrief Galaterbrief Epheserbrief Kolosserbrief

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Heb Jak 1 Petr 1 Joh

1 QS

Hebräerbrief J ~kobusbrief 1. Petrusbrief 1. Johannesbrief

E. ESSENISCHES SCHRIFTTUM

Handschrift aus der ersten Höhle von Qumran, die sog. "Sektenregel", bzw. die "Gemeinderegel".