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ber, wie menschlich sie doch aus- sehen. Die Pferde stehen, Männer springen aus den Sätteln. Einer sagt sehr laut: „Nach sechsstim- mig geschehenem Beschluss der sechs Kurfürsten laden wir dich, Heinrich von Bayern, nach Aachen ein, um die Krone des Heiligen Rö- mischen Reiches zu empfangen!“ Kaiser Heinrich II., genannt der Heilige, soll danach noch 10 Jahre regiert haben und dann in Ruhe gestorben sein. Was würde ich tun, wenn ich noch sechs Tage, sechs Wochen, sechs Monate, sechs Jahre zu leben hätte? Gedan- ken, die Konsequenzen haben können. Andreas W. Quiring nach. Alles hat er inzwischen geordnet und geregelt. Er ist mit großer Ruhe erfüllt und weiß, dass er mit seiner Umgebung im Reinen ist. Am Abend steigt er in sein Turm- zimmer, von dem aus er in alle vier Himmelsrichtungen blicken kann. Da sieht er in der Ferne eine Schar von Reitern, die schnell näher kommen. Er weiß, dass er ihnen entgegengehen muss. Im Licht der Abendsonne erstrahlen die Rüs- tungen und Waffen, die Bügel und das Zaumzeug in einem Glanz, der übernatürlich scheint. Ein neuer Auftrag Als die Reiter direkt vor ihm Halt machen, ist er erschrocken darü- Gute Gedanken für heute und morgen Geschenkte Zeit – geschenktes Leben H0217 Stiftung Marburger Medien, Am Schwanhof 17, 35037 Marburg, Fon 06421/1809-0 www.marburger-medien.de | Evangelische Bank eG IBAN: DE 86 5206 0410 0000 0050 53 Erscheinungsweise: zweimonatlich Redaktion: C. Bohnacker | Fotos: Archiv, Fotolia, Ingram Marburger Medien

Die Bibel: nach Psalm 90,12 - Stiftung Marburger Medien...illustriert dies die Novelle „Legende von den zwei Worten“ des deutschen Schriftstellers Werner Bergengruen (1892–1964)

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  • ber, wie menschlich sie doch aus-sehen. Die Pferde stehen, Männer springen aus den Sätteln. Einer sagt sehr laut: „Nach sechsstim-mig geschehenem Beschluss der sechs Kurfürsten laden wir dich, Heinrich von Bayern, nach Aachen ein, um die Krone des Heiligen Rö-mischen Reiches zu empfangen!“

    Kaiser Heinrich II., genannt der Heilige, soll danach noch 10 Jahre regiert haben und dann in Ruhe gestorben sein.

    Was würde ich tun, wenn ich noch sechs Tage, sechs Wochen, sechs Monate, sechs Jahre zu leben hätte? Gedan-ken, die Konsequenzen haben können. Andreas W. Quiring

    nach. Alles hat er inzwischen geordnet und geregelt. Er ist mit großer Ruhe erfüllt und weiß, dass er mit seiner Umgebung im Reinen ist.

    Am Abend steigt er in sein Turm-zimmer, von dem aus er in alle vier Himmelsrichtungen blicken kann. Da sieht er in der Ferne eine Schar von Reitern, die schnell näher kommen. Er weiß, dass er ihnen entgegengehen muss. Im Licht der Abendsonne erstrahlen die Rüs-tungen und Waffen, die Bügel und das Zaumzeug in einem Glanz, der übernatürlich scheint.

    Ein neuer AuftragAls die Reiter direkt vor ihm Halt machen, ist er erschrocken darü-

    G u t e G e d a n k e n f ü r h e u t e u n d m o r g e n

    Geschenkte Zeit – geschenktes Leben

    H0217

    Stiftung Marburger Medien, Am Schwanhof 17, 35037 Marburg, Fon 06421/1809-0www.marburger-medien.de | Evangelische Bank eG IBAN: DE 86 5206 0410 0000 0050 53

    Erscheinungsweise: zweimonatlichRedaktion: C. Bohnacker | Fotos: Archiv, Fotolia, Ingram

    Marburger Medien

  • Allerdings tut der Herzog das nicht mehr mit derselben Hinga-be. Offensichtlich ahnt er, dass er sich auch dieses Mal täuschen würde. Und tatsächlich: Die sechs Monate gehen vorbei, ohne dass etwas Besonderes geschieht. Nur die Menschen, die in dieser Zeit mit Herzog Heinrich zu tun ha-ben, stellen eine große Verände-rung an ihrem Herrn fest und fra-gen sich, wie es wohl dazu kommt.

    Auf das Sterben vorbereitetAber nach sechs Jahren denkt der Herzog wieder intensiver über seinen Tod

    Die Schrift an der WandAls er die Kapelle verlassen will, bemerkt er an der Wand neben dem Ausgang eine dunkelrot leuchtende Schrift, die mehre-re Zeilen umfasst, jedoch rasch von ihrem Ende her gegen den Anfang hin verlöscht. Das bringt ihn so sehr durcheinander, dass er nur die ersten beiden Wörter der Nachricht le-sen kann, bevor auch diese ver-s c h w i n d e n :

    „Nach sechs…“

    Der Herzog ist schockiert. Er ist sich sicher, dass diese Worte seinen na hen Tod a n k ü n-digen. Ü berzeug t, dass dieser sich nach sechs Ta-gen einstellen wird, beginnt

    In der Novelle b er ic hte t der D i c h t e r ü b e r Herzog Hein-rich von Bayern

    (973–1024), der die Angewohnheit

    gehabt haben soll, re-gelmäßig in einer abge-

    legenen Waldkapelle zu beten. Auf einem Ritt durch sein Land kommt er wieder einmal an die-sem Ort vorbei und betritt die Ka-pelle. Heinrich kniet nieder und liest in seinem Stundenbuch.

    Dabei wird er auf Sätze aufmerk-sam wie: „Auf jenen Tag wird Gott als der gerechte Richter dir die hinterlegte Krone der Gerech-tigkeit geben“, und: „Wer in der Anfechtung aushält, wird die ver-heißene Krone des Lebens emp-fangen.“ Der Herzog ist erschro-cken, sieht er in diesen Sätzen doch Hinweise auf seinen Tod.

    er nun seine irdischen Aufgaben zu ordnen und – wenn irgend möglich – abzuschließen, ohne sich seinem Umfeld gegenüber verdächtig zu machen. Er emp-fängt Würdenträger und Bittstel-ler. Aber am Abend des sechsten Tages stellt er überrascht fest: Er lebt noch immer. Also bezieht sich die Zeiteinheit wohl doch auf Wochen.

    Zwischenmenschliche Beziehungen ordnenNun nimmt Heinrich sich mehr Zeit und bereitet sich gründlicher auf sein Ende vor. Er regelt Dinge in seiner Familie, bringt Bezie-hungen in Ordnung … Aber auch die Mitternacht des letzten Tages führt nicht zum Tod, so dass er davon ausgeht, dass er sechs Mo-nate Zeit hat, sich auf sein Ster-ben vorzubereiten.

    er genau weiß, wann sein Leben endet, führt sein Leben anders. Oder? Zumindest

    illustriert dies die Novelle „Legende von den zwei Worten“ des deutschen Schriftstellers

    Werner Bergengruen (1892–1964).

    WHerr, lehre uns bedenken,

    dass unsere Tage endlich sind, damit wir sie weise gestalten.Die Bibel: nach Psalm 90,12