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Christian Göldenboog & Oliver Rüther Die Champagner maCher

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Page 1: Die Champagner maCher - bücher.de

Christian Göldenboog & Oliver Rüther

Die Champagner

maCher

Page 2: Die Champagner maCher - bücher.de

4 InhaltsverzeIchnIs 5

Die Anbaugebiete der Champagne 6

1 Kluge Liebespärchen trinken nie Champagner 10

2 Die Champagne ausverschiedenen Linsen 34

3 Le Discours œnologiqiue 52

3.1 Die ewige Perlenschnur 54 JaquesPéters,CharlesDelhaye,DominiqueDemarvillegChampagneVeuveCliquotPonsardin

3.2 Die hohe Kunst der Assemblage 60 DominiqueDemarvillegChampagneVeuveCliquotPonsardin

3.3 Frische Säure 64 Jean-PaulGandongChampagneLanson

3.4 Säuren im Wein – Ein Exkurs 68

3.5 Malolaktische Gärung – Ein Exkurs 73

3.6 Die Messung von Säuren durch den pH-Wert – Ein Exkurs 76

3.7 Önologie ist Wissenschaft 78 ThierryGascogChampagnePommery

3.8 Der Clos ruft 82 ThierryGarnierundPhilipponnatgChampagnePhilipponnat

3.9 Eine Reise in den indischen Dschungel 86 MathieuKauffmanngChampagneBollinger

3.10 Biologisch dynamische Mineralität 94 HervéJestingÖnologe

3.11 Der Meistverkaufte 100 BenoîtGouezgChampagneMoët&Chandon

3.12 Champagner als Terroirwein 104 HervéDantangChampagneMaillyGrandCru

3.13 Die Bedeutung der Reserveweine 108 EricLebelgChampagneKrug

3.14 Jedes Jahr ein neuer Weg 114 LaurentundJean-HervéChiquetgChampagneJacquesson

3.15 Der Tod in der Champagne 118 RichardGeoffroygChampagneDomPérignon

3.16 Der Terroirist aus Avize 124 AnselmeSelossegDomaineJaquesSelosse

3.17 Cristal, Prestige, Rosé 130 Jean-BaptisteLecaillongChampagneLouisRoederer

4 Fröhliche Wissenschaft 138

4.1 Warum ist die Kreide weiß? 140

4.2 Wie viele Bläschen sind im Champagner? 156 DieneuestenErkenntnissederbubblesciencemitGérardLiger-Belair

4.3 Flasche auf für Louis Pasteur und Eduard Buchner 164 WiedieGärungihrJahrtausendealtesGeheimnislüftete

5 Mönche, Rapper, Flaschenadel 180

5.1 TraditionundDiskretion:Die Dynastie Krug 182

5.3 WererfanddenChampagnerwirklich:Die Legende Dom Pérignon 188

5.3 Cattier,Jay-ZundMonsieurdeBrignac:Yo Man, Schampus! 196

6 faq – foire aux questions

7 Konzentriert auf das Wesentliche: Adressen und Empfehlungen 240

7.1 Die Maisons der Champagne 242

7.2 Die Winzer der Champagne 276

7.3 Genossenschaften 306

7.4 Diese Champagner sollten zumindest einmal geöffnet werden 310

Literatur 318 Impressum 320

Page 3: Die Champagner maCher - bücher.de

6 anbaugebIete 7Channes

Bragelonge-Beauvoir Beauvoir-s-Sarce

Bagneux-la-Fosse

Lingey

Polisot Celles-s-Ource

Chervey

Buxières-s-Arce

Ville-s-Arce

Vitry-le-Croisé

Eguilly-s/s-Bois

Bertignolles

ChacenayNoé-les-Mallets

Montgeux

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B--S

D 17

D 44

3

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Polisy

BuxeuilBalnot-s-Laignes

Neuville-s-Seine

LandrevilleEssoyes Verpillières-

s-Ource

Cunfin

Fontette

St Usage

Urville

Bligny

Spoy

Meurville

Couvignon

Proverville

Trannes

Jaucourt

Ailleville

Fravaux

Dolacourt

Argançon

Montier-en-l‘Isle

Voigny

Buchey

Saulcy

Argentolles

Colomby-les-deux-Englises

Rizacourt-Buchey

Engente

Arrentières

Lignol-le-Château

Rouvres-les-Vignes

Colombé-le-Sec

Colombé-la-Fosse

Baroville

Bergères Fontaine

Arconville

Loches-s-Ource

Viviers-s-Artaut

Avirey-Lingey

Les Riceys

Courteron

Mussy-s-Seine

Plaines-St-Lange

Gyé-s-Seine

Champignol-lèz-Mondeville

N 71

D 3

96

L‘Aube

N 19

A 26

D 4

A 5 N 60

N 77

L‘Ource

C B

La Laignes

La SarceL‘A

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La Saine

Die Anbaugebiete der Champagne

N 44

N 4

N 51

Bergères-s/s-Montmirail

Broyes Allemant

Vindey

Saundoy

Barbonne-Fayel

Fontaine-Denis-Nuisy

ChantemerleBéthon

MontegenostVillenauxe-la-Grande

La Celle s/s Chantemelle

Baye

Talus-St-Prix

Congy

Mondement-Montivroux

Oyes

Broussy-le-Grand

Courjeonnet

Etoges

Fèrebrianges

Etréchy

Soulières

Cuis

Grauves

OiryChouilly

Avize

Oger

Le Mesnil-s-Oger

VertusVoipreux

Bergères-lès-Vertus

Villeneuve-Renneville-Chevigny

Givry-lès-Loisy

Loisy-en-Brie

Beaunay

Coligny

V--F

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Vert-Toulon

Coizard-Joches

MerlautCouvrot

Loisy-s-MarneVitry-en-Perthois

Vanault-le-Châtel

Bassu

Vavray-le-Petit

Vavray-le-Grand

Changy

St-Amand-s-Fion

St Lumier-en-Champagne

Lisse-en-Champagne

V--F

Petit Morin

Grand Morin

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La Marne

La Marne

Canal de la Marne à la Saône

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Reims

Eparnay

Troyes

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L

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A

Die 17 Grand-Cru-Lagen in der Cham-pagne: Ambonnay, Avize, Ay, Beau-mont-sur-Vesle, Bouzy, Chouilly (für Chardonnay, 95 Prozent für Pinot noir), Cramant, Le Mesnil-sur-Oger, Louvois, Mailly-Champagne, Oger, Oiry, Puisieulx, Sillery, Tours sur Marne (für Pinot noir, 90 Prozent für Chardonnay), Verzenay and Verzy.

Page 4: Die Champagner maCher - bücher.de

78 le DIscours œnologIqIue 79le DIscours œnologIqIue

Önologie ist Wissenschaft

Thierry Gasco arbeitete sieben Jahre bei De Venoge, bevor er 1992 zum Chef de Caves bei Champagne Pommery ernannt wurde. Studiert hat er Önologie im Burgund, eine Zeitlang

war er auch der Präsident des französischen Önologieverbandes, also reden wir über Önologie. Thierry erinnert an seinen Vater, der 1949 bei Lanson begann, das Studium der Önologie aber gibt es in Frankreich erst seit 1955. »Mein Vater war kein Önologe, aber er wollte immer an der Spitze seiner Zunft stehen. Ich war ein kleiner Junge, aber ich erinnere mich, wie mein Vater Kur-se in Önologie belegte, um etwas die Chromatographie zu studieren.« Die Chromatographie ist ein Sammelbegriff für physikalisch-chemische Trennmethoden, mit denen Substanzgemische in ihre einzelnen Komponenten aufgetrennt werden; im Wein lassen sich so beispielsweise Aroma-stoffe oder etwa Schwefel nachweisen. Alles in allem, so Gasco, habe in den letzten 50 Jahren die Wissenschaft sämtliche Prozesse in der Weinzubereitung verändert.

Am auffallendsten in der Champagne ist natürlich der Wechsel von Holzfässern oder Zement-tanks zu Stahltanks. Gasco ist für sechs Millionen Flaschen jährlich verantwortlich, für ihn stellt der Stahltank eine entscheidende Verbesserung dar, da eine exakte Temperaturkontrolle möglich ist. »Seit 15 Jahren mache ich eine Vinifikation bei 16 Grad Celsius; um den Wein für die Malo zu präparieren, fahre ich die Temperatur auf 18 Grad hoch. Früher wurde die Malo bei weit über 20 Grad angekurbelt. Bei diesen niedrigen Temperaturen vermeide ich Marmeladenaromen.«

Gasco erinnert daran, dass heutzutage 95 Prozent der Champagner die malolaktische Gärung durchlaufen, dass sein Vater aber, der anfangs überhaupt kein Verständnis für dieses Phänomen hatte, jeden Tag nach den Tanks schaute, um zu sehen, wie es um den Wein stand. Bekanntlich wurde bei Lanson stets die Malo blockiert. Außerdem sei vor 40 Jahren die Zeit der Reife im Keller mit vier bis fünf Jahren länger gewesen als heute. Und was sagt der Önologe zu Klimaer-wärmung? »Seit fünfzehn Jahren konstatieren wir eine Temperaturerhöhung. Dies ist gut für die Champagne.«

Die Durchschnittstemperatur um Epernay und Reims herum ist in den letzten 20 Jahren um anderthalb Grad Celsius gestiegen, üblich ist bisher ein Grad pro Jahrhundert gewesen. Von dieser Erwärmung, hat die Champagne profitiert. So hat sich etwa der Zyklus der Reife für die Traube verschoben: Die Blüte beginnt früher und somit auch die Ernte. Die Trauben sind mehr der Sonne ausgesetzt, die Tage länger hell. Gasco gesteht aber ein, dass, wenn sich dieser Trend in den nächsten 25 Jahren so schnell fortsetzt, man Maßnahmen ergreifen müsse: So müsse man etwa bei Neuanpflanzungen die Anordnung der Reihen anders ausrichten oder auch die Blattar-beit verändern, damit die Trauben noch mehr von dem Blattwerk geschützt sind. Und England? In der Tat gibt es derzeit Trendforscher und auch Journalisten, die der Champagne ein baldiges Ende voraussagen und die Zukunft des Schaumweines nach England verlegen. Vergessen wird dabei, dass es ja gerade die Stärke der Champagne ist, sich seit 300 Jahren auf einen Wein kon-zentriert zu haben: Önologen und Winzer verfügen über eine immense Erfahrung, die es so in

Das Pommery-Labor in Reims: »In den letzten 50 Jahren hat die Wis-senschaft sämtliche Prozesse der

Weinzubereitung verändert.«

anderen Weinanbaugebieten überhaupt nicht gibt. Außerdem: Erhöht sich das Klima um ein Grad, verschiebt sich die Grenze, an der Weinanbau möglich wird, um 250 Kilometer Richtung Norden. Klimatologen prognostizieren bis zum Ende des Jahrhunderts einen Anstieg um zwei Grad, macht 500 Kilometer und neben England auch Dänemark und Schweden für Rebstöcke interessant. In der Tat verfügt England über einen guten Boden – ähnlich der Champagne sind es Kreide- oder Kalkböden – freilich nicht über das gleiche Klima. Dieses ist wegen der unmit-telbaren Nähe zum Meer feucht, was wiederum keine eleganten Schaumweine für Silvester ver-spricht. Feuchtigkeit fördert Pilzbefall, und Önologen stellen sich Englandweine vor, die durch die so genannte Edelfäule (Botrytis cinera) besonders süß werden können. Oder halt einen sehr süßen Schaumwein, den sich Tante Gerti spendiert, um die samstägliche TV-Unterhaltung bes-ser zu überstehen.

Auch hat die Idee, dass bei steigendem Klima in der Champagne künftig Cabernet Franc angebaut werden soll, einen logischen Haken: In der Tat ist es vielleicht möglich, in 30 Jahren die typischen Bordeaux-Rebsorten in der Champagne anzupflanzen, aber damit lässt sich kein Champagner erzeugen. Und selbst dann finden die drei Champagner Rebsorten hier weiter op-timale Bedingungen vor. Ein wesentlicher Indikator hierfür ist der sogenannte Huglin-Index: Pierre Huglin, ein Weinbautechniker aus dem Elsass, formulierte einen Klimaindex, bei dem die Temperaturen und Sonnenstunden zwischen April und September berücksichtigt werden.

Sein Index erlaubt eine eindeutige Zuordnung, welche Rebsorten welche Temperaturen be-nötigen. So liegt dieser Index bei 1.700 für Pinot Noir, Riesling und Chardonnay und beträgt für

Thierry Gasco, intellektuell-önologisches Schwergewicht: »Ich denke nicht, dass hohe Säurewerte für einen Champagner besonders wichtig sind.«

Thierry Gasco f Champagne Pommery

3.7

Page 5: Die Champagner maCher - bücher.de

100 le DIscours œnologIqIue 101le DIscours œnologIqIue

Der Meistverkaufte

Moët Impérial, zuvor Brut Impérial, ist der meistgetrunkene Champagner überhaupt, und dies seit über 250 Jahren: Schon 1746 verschickte der umtriebige Firmengründer Claude

Moët 50.000 Flaschen. Ein Rekord. In seinem Klassiker Champagner behauptet Gert von Pa-czensky, dass auf der Welt in jeder Minute 45 Flaschen Moët & Chandon entkorkt werden – legt man die verkauften Flaschen des Jahres 1986 zu Grunde. Es waren 24,048 Millionen. Inzwischen gibt es überall Moët Impérial, nur auf dem Mond noch nicht. »Unser Brut passt in viele Kulturen hinein, auch zu vielen unterschiedlichen Gerichten«, behauptete Benoît Gouez, seit 2005 Chef de Cave von Champagne Moët & Chandon in Epernay. Sichtlich selbstbewusst gibt sich der Önologe ob des globalen Stils seines Weines: »Generell denke ich, dass das Image des Champagners ein internationales ist. Dies lässt sich nicht unbedingt über viele andere Weine sagen.«

Benoît Gouez kam 1998 zu Moët, nachdem ihm der damalige Kellermeister Dominique Foulon signalisiert hatte, dass er sein Team mit jungen Talenten auffrischen wolle; vorher studierte Gouez an der Universität Montpellier, arbeitete in Neuseeland, Kalifornien und Australien sowie als Be-rater in Südfrankreich. Um auf seine künftigen Aufgaben entsprechend vorbereitet zu sein, beglei-tete er bis 2005 den Dom-Pérignon-Chefönologen Richard Geoffroy eng bei dessen Arbeit. Gouez ist eloquent, elegant, fachkundig, mit seinen langen Haaren kommt er wie ein Michel Polnareff der französischen Önologie daher; kurzum, er ist ein selbstbewusstes Aushängeschild seiner Firma. Dies weiß er auch. Schließlich gehört Moët & Chandon zum Luxuskonzern Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH), erzielte im Jahr 2008 Umsatzerlöse von 17,2 Milliarden Euro, und stellt, im Vergleich mit anderen Häusern, in vielem die Spitze des Champagners dar. Gerne auch, wenn es um Zahlen geht: Moët & Chandon ist nicht nur führend hinsichtlich der Anzahl der produzierten Flaschen, verzeichnet also auch den höchsten Umsatz, sondern kann auch bei der Ausarbeitung seiner Cuvées auf den größten Weinbergsbesitz aller Champagnerhäuser zurückgreifen.

Moët & Chandon verkörpert also Größe, Selbstbewusstsein und Tradition, und wer Benoît Gouez beim Durchschreiten der repräsentativen Maison-Räume in der Avenue de Champagne in Epernay begleitet, spürt mit jedem Schritt den historischen Esprit der französischen Bourgeoisie. Hier ist das Mobiliar aus einer Zeit, als Champagner noch kluge Liebespärchen beim Schreiben von Briefen inspirierte. Hundertprozentig nüchterner dagegen ist die Atmosphäre einen Häu-serblock weiter; hier dominiert das Grau des Epernayer Alltags. Hohe Mauern begleiten eine Seitenstraße, eine Schranke führt zu einem unscheinbaren Parkplatz, kaum vorstellbar, dass sich hier die Moët-Cuverie mit ihren Millionen Litern Wein befindet. Eigentlich ist das Gebäude in-zwischen viel zu klein geworden; dicht an dicht stehen die Tanks, und überhaupt: Moët sei das erste Champagner-Haus gewesen, das INOX-Tanks angeschafft habe, also Tanks aus rostfreiem Edelstahl. Stets habe sich Moët weiterentwickelt, es gebe sowohl Authentizität als auch Konti-nuität, sagt Gouez. Wir sitzen in einem kleinen, weißgetünchten Raum. Der Ort, an dem das

Önologenteam, insgesamt sind es elf Frauen und Männer, seine sensorische Arbeit vollbringt. Der Raum wirkt eher wie eine Abstellkammer aus dem Film Einer flog über das Kuckucksnest.

Vor uns stehen Gläser, in denen der imperiale Moët auf Inspektion und Deutung wartet. Die Bemerkung, dass zuerst einmal die geringe Dosage auffallend sei, kommentiert der Önologe mit einem Lächeln. In der Tat: Während die Standardcuvées vieler Häuser in der letzten Zeit durch ihren doch eher dosagehaltigen Abgang aufgefallen sind, präsentiert sich dieser Moët Impérial klar. Früher sei die Dosage recht hoch gewesen, gesteht Gouez ein. Jetzt ist sie mit neun Gramm pro Liter eher niedrig; unter den großen Marken sei Impérial somit eine der am geringsten do-sierten: »Dies ist eine Entwicklung der letzten Jahre, zurückzuführen auch auf die Qualität der Grundweine der jeweils aktuellen Ernte sowie die der Reserveweine.« Sodann benennt Gouez drei entscheidende Merkmale, für die sein Moët Impérial steht: Keine Oxidation, kein Eichenge-schmack, sondern Erhalt der Frucht; im Gaumen sollen Eleganz und Reife dominieren, in Ver-bindung mit Noten von Brioche und Croissant; untermauert werden muss diese Generosität im Mund durch eine gehaltvolle Frische. Stets ist die Säure ein wichtiges Mittel, um das Gleichge-wicht des Champagners zu erhalten.

Wer einen internationalen Geschmack präsentieren will, muss jährlich viele Flaschen herstellen. Die Frage nach dem wahren Ausmaß wird eher ausweichend kommentiert. Marc Brevot, ein Önologe aus dem Moët-Team, der sich vorrangig um die State-of-the-Art-Laboreinrichtungen

Benoît Gouez f Champagne Moët & Chandon

3.11

Champagner ist gesund und fördert den Charme: Benoît Gouez.

Page 6: Die Champagner maCher - bücher.de

124 le DIscours œnologIqIue 125le DIscours œnologIqIue

Der Terroirist aus Avize

Anselme Selosse aus Avize ist einer der wenigen Weinmacher, der schon frühzeitig ein prä-zises Verständnis von Champagner als Wein, von Prestige und Seltenheit und von der

Bedeutung eines Holzfasses für einen außergewöhnlichen Chardonnay hatte. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich im Juni des Jahres 1993 mit Selosse in dessen kleinem Keller in einer Seitenstraße in Avize stand, zwischen 160 kleinen Holzfässern, und wie der Winzer mir, ohne mit der Wimper zu zucken, erklärte, dass seine Weine gerade die alkoholische Gärung, die normaler-weise im Oktober beendet ist, abgeschlossen hätten. Selosse arbeitet nur mit natürlichen Hefen und verzichtet auch auf jegliche Filtration. Seinerzeit erklärte er mir: »Ich beobachte, erkenne und reguliere.« Dann fügte er hinzu: »Als Winzer bin ich nur der Stift, der die Geschichte aufschreibt. Der Weinberg ist die Mutter, der Weinbauer der Vater, und die Weine sind die Kinder«, und sagte im nächsten Atemzug, dass es immer schwierig sei, über die eigenen Kinder zu sprechen, weil man nicht ehrlich sei. «Ich produziere das, was ich selber mag.« Als ich seine Kinder mit einem Elektroschock verglich, lächelte er.

Es war die Zeit, als Selosse schon recht berühmt war: Schon Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts bejubelte eine Handvoll Weinjournalisten und Sommeliers seine seltsam goldfar-benen Holzfass-Millésimés und undosierten Blanc de Blancs, in denen die Klarheit und Reinheit des Avize-Terroirs zum Ausdruck kam. Auch ließ der Winzer seine Weine überdurchschnittlich lange im Keller auf der Hefe reifen. Als einer der Ersten vermerkte er auf dem Rückenetikett sei-ner Flaschen das Datum des Degorgierens. Und so galt Selosse als Individualist und Störenfried unter den Winzern. Niemals hat er sich aktiv in irgendwelchen Winzerverbänden engagiert, um, wie diverse seiner Kollegen, über derartige Verbindungen Publicity zu erheischen. Nur 45.000 Flaschen produzierte er damals. »Duftet rauchig nach Haselnüssen«, »umwerfende Holznote« »etwas für Weinkenner« oder »ein Chardonnay mit Charakter« lauteten die Huldigungen, denen schroff ablehnende Kommentare gegenüberstanden wie »so tötet Holz die subtilen Chardonnay-Aromen ab«, »das hat nichts mit Champagner zu tun« oder »wie ein Burgunder aus Meursault mit dicken Blasen«. Ich kenne einige Winzer und Weinmacher in der Region sehr gut, die damals Anselmes Weine stilistisch und geschmacklich ablehnten und ihn heute – nun, sagen wir, nicht imitieren – aber als Gallionsfigur für sich einnehmen.

Einige Zeit später trafen wir uns wieder; der Ruhm und damit der Preis seiner Weine stiegen, und Selosse hängte kurzerhand am Eingang seines Hauses in der Rue Ernest-Vallé seine Preisliste als Kaufabschreckungsmanöver auf. Gestört werden wollte der junge Weinphilosoph eher un-gern, am liebsten hielt er sich im Weingarten und bei seinen Holzfässern auf oder diskutierte mit Freunden über die Besonderheiten seiner Böden. Aber häufig steht hinter eigenwilligen Männern

Am Ziel seiner Träume? Anselme Selosse fährt auf den Parkplatz

seines neuen Hotels in Avize ein.

Anselme Selosse f Domaine Jaques Selosse

3.16

Page 7: Die Champagner maCher - bücher.de

126 le DIscours œnologIqIue 127le DIscours œnologIqIue

eine realistisch denkende Frau, und es ist Corinne gewesen, die stets dafür sorgte, dass Anselme den Kontakt zur großen Öffentlichkeit nicht einstellte. Damals hatte er gerade eine Parzelle in Aÿ gekauft, er wollte unbedingt mit dem Pinot Noir experimentieren; auch bot er erstmals einen dosierten Champagner an. Dieser entstand auf Bitten des Pariser Starkoches Pierre Gagnaire, der seinen Gästen einen außergewöhnlichen Chardonnay zum Dessert anbieten wollte. »Es ist eine Entwicklung«, erklärte mir Selosse, der sich zehn Jahre zuvor noch als ein Künstler im Weinkeller begriffen hatte und irgendwann begann, seine eigene Person eher in den Hintergrund zu stellen. Zumindest sah und sieht er seine Rolle als Weinmacher so: »Ich interpretiere eine Natur, die jedes Jahr unterschiedlich ist. Man könnte dies mit einem Musikstück vergleichen; auch eine Kompo-sition wird von Musikern interpretiert und immer wieder unterschiedlich gespielt. Die Identität des natürlichen Weinstocks muss durch meine Arbeit sichtbar werden.«

Als Anselme 1980 nach Beendigung des Weinbau-Studiums in Beaune zurück nach Avize kam, übernahm er von seinem Vater Jacques 6,2 Hektar Rebfläche. »Du kannst damit machen, was du willst«, sagte sein Vater bei der Übergabe. »Wir unterstützen dich.« Noch heute sieht Selosse in Avize seinen Ursprung, seine Wiege. Es ist auch der Ort, an dem die an der Weinbauschule gelehrten Theorien mit der Realität konfrontiert wurden. Ihm sei schnell klar geworden, dass er einen anderen Weg gehen müsse. Der Satz, dass das Wo wichtiger als das Wer sei, klingt erstaun-lich aus seinem Mund, wie so vieles andere auch, passt aber zu seiner grundlegenden Konzeption und seiner burgundischen Sichtweise: Wesentlich ist die Eigenart der Parzelle, in der der Wein entsteht, das konkrete Terroir, climat, wie es der Burgunder nennt, oft ist auch vom lieu-dit als Ort und Ursprung des Weines die Rede. Schon damals zeigte mir Selosse Fotos mit Gruben und Mulden zwischen seinen Reben, in denen er stand, um sich die Tiefe der Wurzeln genauer anzu-sehen. Wurzeln sind bis heute eines seiner Lieblingsthemen geblieben, auch ließ er damals erst-

mals die Bestandteile seiner Böden von Claude Bourguignon analysieren. Mit dem Agronomen verbindet ihn eine tiefe Freundschaft, aktuell ist jeder seiner Champagner mit einem Papier um-hüllt, das mit einem Bourguignon-Zitat bedruckt ist.

Außerdem wollte Anselme seine Weine so ausbauen, wie es früher in der Champagne üblich war. Schon sein Vater vermied die malolaktische Gärung, und Anselme teilte den Gedanken, die Apfelsäure im Wein zu belassen: «Ich wollte einen dynamischen, erdigen, nervösen Blanc de Blancs.« Zu Beginn sei er noch vorsichtig gewesen, dann habe er über Struktur und Würze nachgedacht und sich entschlossen, Holzfässer zu kaufen. 1986 erwarb er 16 neue 228-Liter-Ei-chenfässer aus Mercurey, Stückpreis 2500 Francs, und begann seine Millésimés zu vinifizieren. Dies heutzutage als Besonderheit darzustellen, erscheint eher als trivial – inzwischen sind viele Winzer wieder dazu übergegangen, ihre Stahltanks in den Hintergrund zu stellen oder sich mit diversen Fässern in der Cuverie zu schmücken, aber seinerzeit galt der neutrale und saubere Stahl als das beste Material für einen Champagner.

Jedes Jahr kommen neue Fässer hinzu, nicht nur aus Eiche, sondern inzwischen auch aus Akazienholz, da dieses Material sehr gut die Säure stabilisiere, was in sonnenreichen Jahren im-mer wichtiger werde. Natürlich ist für ihn das Barrique kein Mittel des Übertünchens oder des Make-ups, wie es häufig in der Neuen Welt eingesetzt wird. Sein Sohn Guillaume, der inzwischen mit im väterlichen Betrieb arbeitet, hatte viel Mühe, sich bei einem Praktikum in Australien mit dem dortigen Geschmack anzufreunden. Und so wird Selosse beim Thema Holz gerne poetisch, zumindest klingt es in seiner Ausdruckweise und auf Französisch sehr poetisch, während es auf Deutsch dann doch eher nüchtern wird: »Erst das Holz ermöglicht dem Wein, zu leben, zu atmen, älter zu werden und danach zu reifen.«

Selosse ist ein Tüftler, der nicht nur akribisch mit seinen Holzfässern und den unterschiedlichen Geschmäckern, die die in ihnen lagernden Weine hervorbringen, umgeht, auch hat er eine be-merkenswerte Methode entwickelt, um die zweite Gärung in der Flasche mit natürlichen Hefen in Gang zu setzen: Kurzerhand friert er eine Partie des noch gärenden Mostes ein. Später taut er diese wieder auf und bereitet damit den sogenannten liqueur de tirage zu, also das Gemisch aus Wein, Zucker und Hefen, das die zweite Gärung in der Flasche auslöst. Unbedingt sollte man aber auch den geschmacklichen Individualismus des Anselme Selosse würdigen; der Winzer schielt nicht nach Moden und will es nicht jedem recht machen. Er gibt zu, dass sein Geschmack wech-selt und dass sich deshalb seine Champagner verändern, die zu Ehren des Vaters immer noch unter dem Etikett Jacques Selosse verkauft werden. Und so hat sich im Laufe der Zeit die Palette seiner Champagner gewandelt, derzeit stellt er mindestens sieben pro Jahr her. Geblieben ist sein nach der Solera-Methode erzeugter Klassiker, dieser nennt sich inzwischen Substance.

Solera ist eine Methode, die traditionell für die Herstellung von Sherry angewandt wird: In den andalusischen Bodegas lagern die Fässer pyramidenförmig übereinander; gewöhnlich sind die Reihen drei Fässer hoch, manchmal sind es auch vier. Stets befindet sich der jüngste Wein im obersten Fass, der älteste im unteren. Das Prinzip der Solera-Methode ist, den jungen Wein aus den oberen Fässern mit dem älteren aus den unteren Fässern zu verschneiden; es wird also jedes Jahr Wein in die unteren Fässer umgefüllt, der neue Jahrgang kommt in die oberen Fässer. In Flaschen abgefüllt wird der Sherry natürlich stets aus den unteren Fässern, daher auch der Name Solera, von spanisch für »am Boden liegend«. Schon frühzeitig hat Selosse diese Methode auf seine Champagnerherstellung zugeschnitten; viele Winzer sind ihm gefolgt. Häufig haben seine Nachahmer ihren Kunden und den Journalisten diese Methode als das siebte Weltwunder

Chardonnay im Barrique – viele Winzer der Champagne prakti-

zieren es, aber nur ganz wenige beherrschen es so perfekt wie

Anselme Selosse.

Klare Ansichten: »Bio-Dynamiker lächeln nie, und hat nicht auch Steiner den Alkoholkonsum ver-teufelt?«

Page 8: Die Champagner maCher - bücher.de

128 le DIscours œnologIqIue 129le DIscours œnologIqIue

der Champagnerherstellung verkauft; dabei ist sie einfach nur ein cleverer Kniff, die Arbeit an der Assemblage zu umgehen. Für Selosse gibt es zwei Europas, Nordeuropa sei eines der Marken. Selosse selbst definiert sich als mediterranen Typ, und Solera verkörpere die mediterrane Kultur par excellence: »Der Wein der Solera ist dauerhaft und wird so zur Substanz.«

Substance und Identité sind zwei Begriffe, über die er viel nachgedacht habe, und so hat sich auch seine Einstellung zu Bio und Bio-Dynamie, die er lange Zeit praktiziert hat, verändert. Inzwischen will er sich das Label, das Warenzeichen »Biodynamisch« nicht mehr anheften. »Das einzige La-bel, zu dem ich mich bekenne, ist der Champagner und seine Identität.« Für ihn stellte die Biody-namie die Antwort auf ein »Wie« dar, nicht auf ein »Warum«. Außerdem lache der Biodynamiker nie. »Hat nicht auch Steiner den Alkoholkonsum verteufelt?« fragt Selosse rhetorisch.

»Richtig, und es war seltsam anzusehen, dass es in Frankreich schon lange Demeter-Wein gibt, in Deutschland aber bis vor kurzem immer nur einen ›Wein aus Demeter-Trauben‹«, erkläre ich ihm die nationalen Eigenarten dieses Bio-Dyn-Verbandes. Selosse amüsiert sich über derar-tige Anekdoten. Immerhin hat er sich dank der Biodynamie intensiv mit Johann Wolfgang von Goethe beschäftigt. Nicht unbedingt mit dem Poeten, sondern mit dem Naturphilosophen, der eine eigene Evolutionstheorie aufgestellt hat, nach der die Welt des Lebens sich durch Metamor-phosen entwickelt hat. Selosse bezeichnet Goethe als einen seiner maîtres à penser, als seinen Meisterdenker, der ebenso wichtig für ihn ist wie Lydia und Claude Bourguignon, Lao-Tse und der französische Botaniker Jean-Marie Pelt.

Was sich auch und vor allem verändert hat, ist das Ambiente und der Ort, an dem die Domäne untergebracht ist. Immer noch in Avize, hat Selosse mit Hilfe der Banken das einstige Anwesen des Champagnerhauses Bricout an der D10, der Ausfallstraße Richtung Cramant, erworben. Seit 2009 befinden sich hier die Fässer, im Sommer 2011 wurde Les Avisés, ein schickes Boutique-Hotel, oder, je nachdem, ein elegantes chambre d‘hôtes eröffnet. Es gibt sogar ein kleines Re-staurant mit einer für die Region moderat kalkulierten Weinkarte. Der Winzer als Gastronom? Nun, das Hotel befindet sich im Zuständigkeitsbereich seiner Frau, aber wer ihn jemals über die Vermählung von Speisen und Wein hat sprechen hören, weiß: Dieser Winzer ist ein Gourmet. Und so sagt er jetzt auch, dass die Gastronomie Ziel und Zweck seines Tuns sei, auch deshalb, weil er die Gastronomie als Pendant zur Poesie begreife. Beide schaffen eine Atmosphäre, in der man ungezwungen eine Reise durch die Aromen und die taktilen Empfindungen antreten kann, »Empfindungen, die uns persönlich stark berühren«.

Auch scheint Selosse sich in seiner neuen Rolle als poetischer Winzer-Gastronom wohlzu-fühlen: Wenn er mit dem Traktor vor seinem Hotel parkt, assoziiert man Jean-Paul Belmondo, wenn er vor seinen Gästen minutenlang Vorträge über das Gleichgewicht zwischen Wurzeln, Pilzen und Insekten im Boden hält, dann spürt man unter den Zuhörern das große soziologische Motiv der Erwartung, wann der Guru denn endlich die erste Flasche zum Degustieren öffnet. Mir wurde glaubhaft versichert, dass auch viele Franzosen Probleme hätten, ihm hundertprozentig in seiner Sprache und Argumentationskette zu folgen. Und es existiert noch eine weiterer Grund dafür, warum die Gastronomie zu Selosse passt: Er war einer der Ersten in der Champagne, der begriffen hatte, dass Champagner trotz aller Blasen zuallererst ein Wein ist. Und ein großer Wein gehört in die Gastronomie. Ich kenne Chefs berühmter Häuser, die bei dem Namen Selosse zu-sammenzucken, weil dieser Winzer mit seinen inzwischen 60.000 Flaschen auf den Weinkarten der besten und exklusivsten Restaurants der Welt zu Hause ist. Und diese Restaurants, sie ver-

stehen etwas von Wein, dürfen noch froh sein, Flaschen zu ergattern. Seine einfachen Champa-gner erzielen die Preise wie manche Prestige-Cuvees; auch hier hat Selosse den Mechanismus verstanden: Bei Prestige denkt er immer an prestidigitation, französisch für Taschenspielertrick, also an eine Illusion. Ein besserer Ausdruck sei Seltenheit. Er weiß, dass er ein sehr seltenes Pro-dukt in der Welt des Weines herstellt. Auch hier hat er vom Burgund gelernt: Dort besitzt der durchschnittliche Winzer nicht einmal einen Hektar Rebfläche; er muss also, um von seinem Weingarten leben zu können, etwas Außergewöhnliches herstellen. Es ist Ende April und wir stehen zusammen in seinem Keller in Avize. Ich frage ihn, was er vom Jahrgang 2011 hält. Selosse zuckt mit den Schultern.

»Wie bitte?«»Ich habe ihn noch nicht probiert. Ich degustiere niemals um diese Jahreszeit meine Weine.

Ich warte ab.«»Sind Sie nicht neugierig?«»Ein bisschen schon.«Selosse geht zu einem Barrique, zieht den Stopfen aus dem Fass, hält seine Nase dicht an die

Öffnung und sagt: »Ich rieche, das reicht.« r

Definitiv gesprächiger als noch vor 20 Jahren: Inzwischen liebt der Künstler im Keller Monolog und Weinprobe in seiner Domäne.

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Cristal, Prestige, Rosé

Kürzlich einmal wieder in Reims gewesen. »Kommen Sie um 17 Uhr in mein Büro«, sagt Jean-Baptiste Lecaillon am Telefon. »Büro ist immer gut«, denke ich, bin höflich und cham-

pagnepünktlich, also 15 Minuten zu spät. Vor seinem Büro wieder der berühmte Anblick einer Gegensprechanlage, wie man sie als eifriger Beobachter französischer Gangsterfilme aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kennt. Ich mache einen Witz über dieses Highlight französischer Büro-Kultur, aber Jean-Baptiste hat schon die richtige Flasche in der Hand und schleppt mich in den einige Türen weiter liegenden Degustationsraum mit rundem Tisch, an dem man stehen oder es sich auf einer Art Barhocker bequem machen kann, die auch noch aus dem letzten Jahrtausend stammen. Ansonsten aber verströmt alles in diesem Gebäude den Charme eines distinguierten Champagner-Hauses. Lecaillon stellt die Flasche auf den Tisch und strahlt mich an.

Es ist die berühmte Cristal-Flasche, durchsichtig und ohne jene konische Einbuchtung im Boden, von der die einen behaupten, diese sei notwendig, um die Druckbeständigkeit zu erhöhen sowie die Flaschen zum Aufstapeln sur pointes, auf die Spitzen, zu stellen, für andere wiederum ist sie wichtig, um in ihr beim Einschenken den Daumen zu platzieren. Freilich existiert noch eine dritte Theorie: Diese Öffnung im Flaschenboden ist so geformt, damit ein ordentlicher Damen-busen in ihr Platz hat. Wie auch immer, die Cristal-Flasche hat seit Urzeiten einen dicken, flachen Boden. Der Zar, für den die Cuvée ursprünglich hergestellt wurde, bestand auf diese Form. Er befürchtete, in dem üblichen Hohlraum könne man Bomben verstecken.

Ein sehr dezentes Rosé prägt die Farbe des Weines. »Cristal Rosé 2004«, sagt der Chef de Cave von Champagne Roederer und füllt die Gläser.

Gibt es einen Wein, der erregendere Gefühle auslöst als dieser Rosé-Champagner? Nein. En-dorphine, Glückswallungen, Serotonine, freudiges Erwarten – der rare Cristal Rosé, das ist die unmittelbare Attacke auf die Gefühlszentren des Gehirns. Vor allem ist Cristal Rosé Farbe, Ro-mantik, Eleganz und Leidenschaft. Dabei schauen wir konzentriert ins Glas, um die teuren rosa Bläschen zu beobachten, die zur Oberfläche vorstoßen, um dann sprühnebelartig aufzuplatzen und einen Cocktail lüsterner Phantasien auszulösen.

»Alle Kellermeister sagen, ihr Hauptziel sei es, in ihrer Assemblage ein perfektes Gleichge-wicht zu erzielen.«

»Das ist gut, es bedeutet, dass wir alle übereinstimmen«, antwortet Jean-Baptiste Lecaillon, um dann fortzufahren: »Der Rosé-Champagner ist der Wein, der am schwierigsten zu kompo-nieren ist. Ein guter Rosé sollte sehr elegant sein und eine Sensation auf der Zunge entfachen. Er muss weinig sein, also konzentriert und strukturiert, und außerdem durch seine attraktive Farbe verführen. Die Assemblage für einen weißen Champagner, das Komponieren der Grundweine zu

Jean-Baptiste Lecaillon: »Der Rosé-Champagner ist der Wein, der am

schwierigsten zu komponieren ist. Ein guter Rosé sollte sehr elegant

sein und eine Sensation auf der Zunge entfachen. Er muss weinig sein, also konzentriert und struk-

turiert, und außerdem durch seine attraktive Farbe verführen.«

Jean-Baptiste Lecaillon f Champagne Louis Roederer

3.17

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einer harmonischen Cuvée, ist schon sehr schwierig, aber bei einem Rosé müssen wir auch die gewünschte Farbe treffen. Dies stellt eine immense Herausforderung dar.«

Die Champagne ist das einzige französische Weinanbaugebiet, in dem ein Rosé-Qualitätsschaum-wein durch Verschneiden von Weiß- und Rotwein hergestellt werden darf: Einer Assemblage aus weißen Grundweinen kann bis zu 20 Prozent Rotwein hinzugefügt werden. Mit dieser Technik lässt sich am besten der gewünschte Farbton erzielen, daher arbeiten die meisten Kellermeister mit dieser Methode. Die zweite Möglichkeit besteht in einer kurzen Mazeration: Fruchtfleisch und Haut der Pinot-Noir- oder Pinot-Meunier-Trauben werden zu einem Brei gequetscht, was innerhalb von 48 Stunden zur Extraktion der Farbsubstanzen führt. Bekanntlich ist das Frucht-fleisch roter Trauben weiß, die Farbe nur in den Schalen. Dann wird dieser rote Saft zu Wein vergoren. Die Kellermeister sprechen von der Saignée-Methode, von saigner für bluten.

Bemerkenswerterweise verwendet Lecaillon für seine beiden Rosé-Champagner, den Brut Vintage sowie den sehr raren Cristal, überhaupt keinen Rotwein.

»Ja, wenn ich diese übliche Frage nach dem Prozentsatz des Rotweins in der Cuvée gestellt bekomme, dann sage ich immer, dass es keinen Rotwein im Cristal gibt. Ich kann nur sagen: 60 Prozent Pinot Noir und 40 Prozent Chardonnay.«

In der Tat kommen die Pinot-Noir-Trauben für beide Rosés direkt nach der Ernte in einen Tank, um bei niedriger Temperatur von zehn bis zwölf Grad für vier bis sieben Tage eine nicht-al-koholische Mazeration zu machen: Irgendwann öffnen sich die Zellen der Beerenhäute und geben Farbe ab; es kommt zum Abstich. Man habe, so der Kellermeister, einen »tiefen rosaroten Saft, dem Chardonnay-Most zugeführt wird, dieser ist sehr säurebetont. Zitrusaromen, Mineralität und Säure fixieren die Aromen und dann wird alles vergoren, 20 Prozent im Holz, wie bei einem Weißwein. Dies ist eine sehr alte Methode, sie wird œil de perdrix genannt. Wir machen dies so seit 100 Jahren, nur dass früher die roten Trauben drei Tage auf der Presse belassen worden sind, aber dies führt zu Oxidation.«

Œil de perdrix ist französisch für Rebhuhnauge. Die Bemerkung, von dieser Methode noch nie gehört zu haben, kommentiert Lecaillon mit einem flüchtigen Lächeln. Dann macht sich Stolz auf seinem Gesicht breit. Er fügt hinzu: »Diese Methode ist sehr roederisch. Wir haben kein Rezept. Wir mögen auch nicht das machen, was all die anderen auch machen. Würden wir den roten Saft sofort vergären, bekämen wir nicht mehr Farbe oder Aromen in den Wein. Im Gegenteil. Der Alkohol fördert die Tannine.«

Ich spendiere mir noch einen diskreten Schluck vom Cristal Rosé 2004 und sage: »Sehr dis-kret, aber gleichzeitig eine immense Power.«

»Machen Sie doch einmal Folgendes«, fährt der Kellermeister fort, »kaufen Sie sich diesen Sommer sehr reife Himbeeren. Die eine Hälfte zerdrücken Sie und stellen sie in einer Schale in den Kühlschrank. Wenn Sie Kohlendioxid haben, besprühen Sie die Beeren damit und dann verschließen Sie das Ganze mit einer Aluminiumfolie. Mit der anderen Hälfte machen Sie das Gleiche, nur geben Sie zehn Prozent Alkohol hinzu.«

»Und was passiert?«»Nach vier oder fünf Tagen holen Sie die beiden Schalen aus dem Kühlschrank, zerdrücken

noch etwas die Beeren und probieren. Sie werden sehen: Sie haben es mit zwei völlig unterschied-lichen Geschmacksrichtungen zu tun. Die Himbeeren ohne Alkohol sind sehr süß, fruchtig, klar, weisen einen runden Geschmack auf. Der Geschmack der Alkohol-Beeren ist stärker, Sie spüren

Lecaillon begutachtet sein Rebhuhnauge.

Lecaillon: »Unsere Trauben von Verzenay bildeten schon immer das Rückgrat unserer Cuvées, vor allem auch das des Cristals.«

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Blasen und Champagner – ein seit 300 Jahren gern diskutiertes Salon-Thema. Zu diesem kann jeder, aber auch wirklich jeder, seine sehr spezielle Meinung äußern, geht es doch

hierbei in erster Linie um den Zusammenhang zwischen Ästhetik, Qualität und Geschmack: So gibt es etwa Winzer, die behaupten, dass ihre Blancs de Blancs die feinsten Perlen aufweisen. Für andere ist die Größe der Blasen eine Frage der Lagen: Je besser der Cru, desto kleiner die Kohlen-dioxidperlen. Dagegen beschwören die Marketing-Manager großer Häuser, dass die Blasen in den Prestige-Cuvées, die nach der zweiten Gärung sehr lange in den Kellern liegen, besonders klein und anmutsvoll seien. Und dann sind da natürlich noch die sogenannten Kenner, die in opulenten Worten die Perlage eines Schaumweines beschreiben, um so eine Beziehung zu besonders sub-tilen Aromen zu suggerieren. Aber die verführerische Idee, dass Größe oder Feinheit von Kohlen-dioxidbläschen etwas über die Qualität eines Champagners aussagt, ist weinseliger Hokuspokus. Die Wissenschaft der bubble science sagt eindeutig etwas anderes: Tatsache ist, dass die Größe der Bläschen von diversen Faktoren abhängt, die allesamt physikalischer Natur sind.

Blasen sind überall – nicht nur im Champagner. Sie befinden sich im Bier, in der Seifenlauge und in der Blasenkammer, im Weltraum, ja, sogar in einem Schwarzen Loch könnte man sie antreffen. An Physik-Fakultäten der Universitäten sind Seminare über Blasen gang und gäbe, nutzt man doch deren spezielle Eigenschaften, um Flüssigkeiten zu reinigen. Genannt wird dieser weitver-breitete industrielle Prozess Floating: Treiben Luftblasen in einer Flüssigkeit nach oben, so heften sich kleinste Partikel an ihre Haut an. Diese Teilchen können dann an der Flüssigkeitsoberfläche abgeschlackt oder abgeschäumt werden. Zum Einsatz kommt die Flotation bei der Aufbereitung von Eisenerzen, um Minerale von ihren Gesteinen zu trennen, in der Ölindustrie und zur Klä-rung von Abwasser. Im Weinanbau kann das Vorklären der Moste mithilfe von Luft oder Stick-stoff als Flotationsgas durchgeführt werden.

Wie aber entstehen Blasen und woher kommen sie? Und welche Bedeutung misst ihnen die moderne Wissenschaft bei?

Bemerkenswerterweise war die Wissenschaft der Physik stets von Blasen fasziniert. Im Rah-men seiner optischen Experimente untersuchte Isaac Newton das Spiel der Farben auf der Haut von Seifenblasen, während der französische Mathematiker und Astronom Pierre-Simon de La-place sich ausführlich mit dem Druck im Inneren von Blasen beschäftigte. Aufgrund ihrer Ober-flächeneigenschaften verhält sich eine Blase in einer Flüssigkeit wie ein Luftballon: Im Inneren ist der Druck größer als in der Umgebung. Unabhängig voneinander gelangten Laplace und der englische Physiker Thomas Young zu einer mathematischen Formel zur Berechnung des Verhält-

Wie viele Bläschen sind im Champagner?

4.2

Wie entstehen Blasen im Champagner und woher kommen sie? Und welche Bedeutung misst ihnen die moderne Wissenschaft

bei? In einem Reimser Labor werden diese Fragen beantwortet.

Die neuesten Erkenntnisse der bubble science mit Gérard Liger-Belair

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158 fröhlIche WIssenschaft 159fröhlIche WIssenschaft

nisses zwischen dem Innendruck und dem Krümmungsradius einer Blase. So ist etwa der Druck in einer kleinen Blase kleiner als derjenige in einer Blase mit größerem Radius.

Untersucht wurden die Eigenschaften von Blasen – sowohl mathematisch-theoretisch als auch praktisch-experimentell – zumeist im Zusammenhang mit Kapillarkräften und Oberflä-chenspannungen: Johann Mile, Professor an der ehemaligen Universität zu Warschau, bezeich-nete in einer 1838 erschienenen Arbeit die Blase als einen negativen Tropfen. Sehr analytisch ging es auch in Statique experimentale et théorique des liquides soumis aux seules forces moleculaires (1873) des belgischen Physikers Joseph Plateau zu; in dieser Arbeit stellte er die später nach ihm benannten Regeln über die Struktur von Seifenblasen auf. Diese besagen etwa, in welchem Win-kel die Flächen von Seifenblasen aufeinander treffen.

Ende des 19. Jahrhunderts publizierte dann Charles Vernon Boys seine klassische Studie über die Erforschung von Seifenblasen und die Kräfte, die sie formen. Diese basiert auf Vorle-sungen, die der britische Physiker im Winter 1899 in London abhielt. Boys war ein fröhlicher Wissenschaftler, der eine Rauchkanone entwickelte, mit der er aus seinem Labor heraus vorbei-kommende Passanten in Dunstkringel einhüllte; zu Recht war der Physiker sehr stolz darauf, Ringe von exakt jener Größe blasen zu können, die die vorübergehenden Fußgänger komplett einhüllten. Außerdem verbesserte Boys entscheidend die Methoden zum Fotografieren von Ge-wehrkugeln während des Fluges. In seinem Buch geht es um Tropfen jeglicher Art, und wie viele seiner Kollegen zuvor war Boys vom Phänomen der Kapillarität fasziniert.

Er behauptete, dass sich dieser Effekt am besten in einem halb mit Cognac gefüllten Glas beobachten ließe. Keinen Weinbrand, sondern Blasen, die sich an der rauen Innenwand einer Bierflasche bildeten, beobachtete 1951 der junge amerikanische Physiker Donald Glaser. Dabei kam ihm eine gewichtige Idee, die die Teilchenphysik entscheidend beeinflussen sollte: Glaser konstruierte eine sogenannte Blasenkammer, gefüllt mit flüssigem Wasserstoff nahe des Siede-punktes. Ließ der Druck in der Kammer plötzlich nach, passierte der Wasserstoff seinen Sie-depunkt, dabei ließen sich Bläschen an Atomen beobachten und fotografieren. Dies wiederum erlaubte Rückschlüsse auf das Verhalten subatomarer Teilchen. Konsequenterweise kassierte Glaser für seine Erfindung 1960 den Nobelpreis. Als Blasenfreund darf man nur hoffen, dass derartige Ehrungen auch den Protagonisten der aktuellen bubble science widerfahren. Diese ist entscheidend mit dem Namen Gérard Liger-Belair verbunden.

Reims, Universität, wissenschaftliche Fakultät: In einem kleinen, mit Papieren und Büchern übersäten Raum im ansonsten eher trostlosen Gebäude 18 sitzt Gérard Liger-Belair vor seinem Computer, um Blasenbildungsprozesse zu simulieren. Seit 1998 publiziert Liger-Belair intensiv über Blasen, Kohlendioxid und Champagner, seine erste Arbeit führte den vielversprechenden Titel On the Velocity of Expandig Spherical Gas Bubbles Rising in Line in Supersaturated Hy-droalcoholic Solutions: Application to Bubble Trains in Carbonated Beverages. Im Jahr 2004 ver-öffentlichte die Princeton University Press sein Buch Uncorked – The Science of Champagne. Seit seiner Kindheit beschäftigte sich Liger-Belair mit Fotografie, vor allem mit der Makrofotografie von Insekten wie Spinnen oder Ameisen. Zutiefst beeindruckt von »Seeing the Unseen«, dem berühmten Leitmotiv des MIT-Physikers und Fotopioniers Harold E. Edgerton, begann er, Blasen in kohlendioxidhaltigen Getränken aufzunehmen. Deren Ästhetik sollte seine weitere wissen-schaftliche Laufbahn entscheidend beeinflussen: Zusammen mit einem Exposé schickte er einige dieser Fotos von seinem Wohnort Paris nach Epernay zum Labor von Moët & Chandon. Sein Ziel: Er wollte eine Doktorarbeit über CO2 und Champagner an der Universität Reims schreiben und benötigte dafür Unterstützung in Form flüssiger Ware. Angesprochen auf seine degustato-

Gérard Liger-Belair: »Ein Heliumballon verhält sich wie eine Champagnerblase und umgekehrt.« Gerade hat der umtriebige Physiker wieder ein Buch publiziert: Voyage au Coeur d‘une Bulle de Champagne.

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Die Legende Dom PérignonHunderte von Geschichten kursieren über Leben und Wirken des Dom Pérignon (ca. 1638-

1715); Storys und Anekdoten, ausgemalt von wirklichen oder angeblichen Champagner-Kennern, niedergeschrieben von Spezialisten, Marketingstrategen oder Journalisten, allesamt erzählt in der Grauzone von Legende und Weinseligkeit. Das Zitieren von Dokumenten, wie es unter Historikern üblich ist, die eine These belegen wollen, ist den meisten Dom-Pérignon-Ge-schichten fremd. Die Ausnahme stellt Dom Pérignon: Vérité et légende (1995) von François Bonals dar, einem der profundesten Kenner der Materie. Ansonsten wird Geschichte zu Storytelling, hinter dem jeweils handfeste kommerzielle Interessen stehen. Schon deshalb, weil Dom Pérignon ein berühmter, von Moët & Chandon hergestellter Champagner ist.

Sehr gut erinnere ich mich an ein Gespräch mit Claude Taittinger, das vor 15 Jahren stattfand und in dem mir der damalige Chef des gleichnamigen Hauses furios erklärte: »Sie werden nie etwas finden, was Moët & Chandon dazu geschrieben hat. Moët lässt die Journalisten über Dom Pérignon schreiben.« Außerdem behauptete Taittinger, dass andere Mönche viel erfolgreicher als Dom Pérignon gewesen seien; einer dieser Mönche sei Bruder Oudart gewesen. In seinem Buch Champagne de Taittinger (1996) erzählt Claude Taittinger die rührige Geschichte, warum denn nun Oudart die entscheidende Figur des schäumenden Champagners gewesen sei. Im 18. Jahr-hundert hatten die Gewächse des Bordeaux und des Burgund die Champagne-Weine qualitäts-mäßig überholt; es ist Oudart gewesen, der das Steuer mit seiner neuen Schaumweinkonzeption herumriss. Claude Taittinger: »Mit Dom Pérignon und ohne Bruder Oudart wäre die Champagne untergegangen.«

Nebenbei bemerkt: Oudart war Mönch der Benediktiner-Abtei in Châlons-sur-Marne und als Weinfachmann von 1680 an für die Weinberge der Abtei in Pierry bei Epernay verantwortlich. Diese gehören heute größtenteils Taittinger. Alles in allem habe dieser Mönch, so die Sicht von Claude Taittinger, drei Arten von Wein hergestellt – einen stillen Wein im Fass, einen stillen Wein in der Flasche und einen vin mousseux (zu Deutsch: Schaumwein) in der Flasche. Und dies könne man von einem Dom Pérignon nun wirklich nicht sagen.

Geboren wurde Pierre Pérignon in Sainte-Ménehould, achtzig Kilometer von Reims entfernt, als Sohn eines Gerichtsschreibers, vermutlich Ende 1638. Das freudige Ereignis seiner Ankunft ist nicht dokumentiert, es existiert aber eine Taufurkunde vom 5. Januar 1639. Mit 19 Jahren, am 3. Juli 1658, trat Pierre als Mönch in die Abtei von Saint-Vannes bei Verdun ein; im Mai 1668 wurde er Prokurator der königlichen Abtei Saint-Pierre d’Hautvillers. Diese um 650 gegründete Benedik-tinerabtei hatte im Verlauf der Zeit schon einige herbe Schicksalsschläge einstecken müssen: Nor-mannen brannten sie im 9. Jahrhundert nieder, Calvinisten im Jahr 1562. Von dieser letzten Tragö-die erholte sich der Orden erst Mitte des 17. Jahrhunderts; seine weitere Geschichte ist untrennbar mit Dom Pierre Pérignon verbunden: Die Funktion eines Klosterverwalters zählte innerhalb der

Grabplatte für den berühmtesten Mönch der Weingeschichte. Wer

aber erfand den Champagner wirklich? Ein Franzose oder doch

die Engländer?

5.2

Wer erfand den Champagner wirklich:

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190 mönche, rapper, flaschenaDel 191mönche, rapper, flaschenaDel

seux. Die Existenz ihres Blanquette de Limoux ist seit 1540 bezeugt, das Produktionsverfahren heißt méthode rurale: Abgefüllt wird der Wein, bevor seine erste Gärung beendet ist. Entschei-dend am Champagne-Wein aber ist eine zweite Gärung in der Flasche. Verblüffend ist, dass Tho-mas Jefferson, dritter Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und zuvor Gesandter in Frankreich (von 1785 bis 1789), ein wichtiges Dokument zur Dom-Debatte beisteuerte.

Jefferson war Weinliebhaber. Als er 1787 durch Frankreich und Italien reiste, beschrieb er in seinem Tagebuch ausführlich die alkoholischen Besonderheiten der Weinregionen Burgund und Bordeaux. Anschliessend besuchte er Holland. Auf seinem Rückweg nach Paris blieb Jefferson am 22. April einen Tag lang in Epernay; sein Tagebuch (Notes of a Tour through Holland and the Rhine Valley 3 March – 23 April, in: The Papers of Thomas Jefferson, 1788, Volume 13) stellt ein entscheidendes Dokument in der Dom-Debatte dar.

Detailliert beschreibt Thomas Jefferson die Beschaffenheit der Böden und schildert, dass die in Blöcke gehauene Kreide ideal für den Bau von Häusern sei. Er zeichnet ein Bild der unterschied-lichen Crus und der Weinbaumethoden. Erstaunt war Jefferson über die Praxis, aus roten Trauben weißen Wein herzustellen. Er schreibt: »Weine. Die weißen Weine sind entweder 1. moussie-rend (perlend) oder 2. nicht moussierend (stille Weine). Die perlenden Weine werden selten in Frankreich getrunken, sie sind im Ausland bekannt und werden dort getrunken. Aufgrund der großen Nachfrage sind diese Weine am teuersten. Wenn möglich will jeder moussierende Weine herstellen. Abgefüllt wird dann zwischen Anfang März und Juni; ist man erfolgreich, verliert man zwischen 1⁄10 und 1⁄3 des Flascheninhalts. Ein weiterer Grund für den hohen Preis. Weiß man aus irgendwelchen Gründen, dass der Wein künftig nicht perlt, wird er als Stillwein schon im Septem-ber abgefüllt. Führt die Abfüllung im Frühjahr zu keinem perlenden Wein, füllt man den Wein im Herbst in andere Flaschen um. Dies ergibt den allerbesten Stillwein.

Man verliert allerdings während des Umfüllens 1⁄10 bis 1⁄20 des Bodensatzes. Der Wein wird für 48 Stunden in den Flaschen belassen, die Öffnung nur mit einem Mundtuch bedeckt, aber keinem Kork. Wird der beste perlende Wein auf diese Art und Weise dekantiert, hat man den besten Stillwein, der sich wesentlich länger hält als derjenige, der schon im September abgefüllt wurde. Die perlenden Weine verlieren ihre Frische, je älter sie werden, aber sie gewinnen mit dem Alter bis zu einem gewissen Grad an Qualität. Zwischen dem zweiten und zehnten Jahr sind diese Weine perfekt und können es auch nach fünfzehn Jahren noch sein. 1766 war das beste Jahr, 1775 und 1776 waren beinahe so gut; 1783 ist das letzte gute Jahr gewesen, es kann aber nicht mit den ersteren verglichen werden. Eisgekühlt sind diese Weine sehr gut.« Über die berühmtesten Weinproduzenten der Champagne schreibt Thomas Jefferson: »Hautvillers. Die Benediktinermönche, 1.000 pièces roten und weißen Wein, aber dreiviertel Roten. Beide bester Qualität. Die Tafel des Königs wird mit ihnen versorgt. Das ermöglicht den Mönchen, ein Faß für 550 Livres zu verkaufen, obwohl ihr Weißer kaum so gut ist wie der von Dorsay. Aber ihr Roter ist der Beste.«

Nach der Französischen Revolution 1789 löste die Nationalversammlung den Orden der Rot-wein-Spezialisten von Hautvillers auf, die Weingärten wurden verkauft. 1825 erwarb Graf Pierre-Gabriel Chandon de Briailles, der Schwiegersohn von Jean-Remy Moët, die Abtei. Die Familie Chandon lebte dort bis 1940, als die Gebäude von den Deutschen bombardiert wurden. 1970 begann Moët & Chandon, das Anwesen zu renovieren; 1977 wurde das Dom-Pérignon-Museum eröffnet. Seine Botschaft: Die Abtei von Hautvillers ist die Wiege des Champagners; hier wurden die Geheimnisse der zweiten Gärung entdeckt.

Bruderschaft zu den wichtigsten, und so war Pérignon bis zu seinem Tod am 14. September 1715 für das gesamte weltliche Gut der Abtei verantwortlich. Er musste die Finanzen ebenso organisie-ren wie das Instandhalten der Gebäude, die Kleidereinkäufe oder die Anschaffung einer Orgel im Jahr 1684. Vor allem aber pflegte Dom Pérignon den Weinanbau.

Eine seiner ersten Amtshandlungen war der Bau einer neuen Kellerei im Jahr 1673; unter sei-ner Leitung nahm die Arbeit in den Weingärten einen derart lebhaften Aufschwung, dass sich der Verkauf der Weine zur wichtigsten Einnahmequelle der Mönche entwickelte. So avancierte Pérignon zu einer historischen Figur in der Welt des Weines: Es gelang ihm dank strenger Lese- und Keltermethoden, die roten Farbextrakte so zu separieren, dass sich aus den Pinot-Trauben ein mehr oder weniger heller Wein gewinnen ließ. Außerdem analysierte er die Qualitäten der verschiedenen Crus und hatte die Idee, Trauben unterschiedlicher Lagen auf eine große, längliche Presse zu legen. Er war auch der erste, der die traditionellen Verschlüsse aus geöltem Hanf durch Kork ersetzte; ein Material, das er sich von Jakobspilgern aus Spanien mitbringen ließ. So wurden die Weine der Abtei Hautvillers zu den berühmtesten Frankreichs; so berühmt, dass sie an der Tafel des Königs nur als »Pérignon-Weine« bezeichnet wurden. Die entscheidende Frage ist na-türlich, ob es sich dabei um schäumende Weine handelte.

Dass Wein zu Dom Pérignons Zeiten schäumte, war keine Besonderheit. Die Mönche der Abtei Saint-Hilaire im Languedoc-Roussillon waren die ersten professionellen Hersteller von vin mous-

Blick auf Hautvillers, der Wirkungsstätte des Dom

Pérignon in unmittelbarer Nähe von Epernay.

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faqfoireauxquestions

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202 faq – foIre aux questIons 203faq – foIre aux questIons

2. Wie zeige ich mich beim Öffnen einer Flasche als Connaisseur? Zuerst einmal sollte Champagner nie eiskalt serviert werden, denn er ist kein nordkaukasisches Wodka-Produkt. Geeist werden seine Aromen schnell abgetötet. Erreicht wird die ideale Trink-temperatur durch das Kühlen der Flasche in einem Champagner-Kübel. Halb mit Wasser und halb mit Eis gefüllt, kann so eine Flasche nach 15 bis 20 Minuten trinkbereit sein. Natürlich, wer es eilig hat, kann keine 15 Minuten warten: Es empfiehlt sich, im unteren Teil des Kühlschranks ein oder zwei oder drei Flaschen als kleinen Serviervorrat zu halten. Für die Schwiegermut-ter, für die Diamantenhändlerin von nebenan oder für sich selber. Spätestens nach zehn Kühl-schrank-Tagen sollte eine Flasche aber geöffnet werden; Kälte ist gesünder als Hitze, aber nicht als Dauerlösung für einen Wein. Auch sollte eine Flasche nie im Eilverfahren im Eisfach oder in der Tiefkühltruhe heruntergekühlt werden. Und selbst wenn der Champagner schon trinkbe-reit im Kühlschrank ist, serviert werden sollte er im Kübel mit Wasser und Eis. Es ist stilvoller.

Eine gute Serviertemperatur beträgt sechs bis acht Grad Celsius. Die richtige Trinktemperatur ist so wichtig, weil sie die aromatischen Bestandteile des Weines beeinflusst. Zum Ausdruck kommen diese Bestandteile nach dem Grad ihrer Flüchtigkeit; es handelt sich dabei um eine Art Verdunstung des Weines (exakter: der Aromastoffe). Dieses Prinzip gilt sowohl für die Nase als auch den Mund. Ist die Temperatur zu kalt, zeigt der Wein kein Bouquet; ist er zu warm, kommt es zu einer schnellen Oxidation, bei der die äußerst flüchtigen, aber subtilen Aromastoffe zer-stört werden. Ich ziehe es vor, den Champagner lieber etwas kälter ins Glas einzuschenken und dann zu warten. Besonders im Sommer wird ein Wein im Glas schnell warm. Natürlich, wer Champagner seriös degustiert, muss vor allem registrieren, wie er sich im Glas verändert. Champagner ist ein Wein, und wie bei jedem Wein kommen Klasse und Reinheit, aber auch Fehltöne oder zu hohe Dosage mit zunehmender Temperatur klarer zum Vorschein.

1. Wo kaufe ich am besten meinen Champagner ein? Champagner erwirbt man nicht wie Tiefgefrorenes, Flachbildfernseher oder Holland-Tomaten. Champagner kauft man eher wie Bücher. Man nähert sich ihm wie bei einem Flirt. Champagner-Kauf, das ist der Beginn einer Freundschaftsbeziehung, der keine eiligen Verkäufer verträgt. Er-worben werden sollte er daher bei einem kompetenten Fachhändler. Schon deshalb, weil dieser auf seinen Warenbestand achtet: Vermerkt ist auf den meisten Champagnern nicht das Datum des Degorgierens. Der Kunde ist daher darauf angewiesen, nicht jene Flaschen verkauft zu be-kommen, die irgendwann einmal im hinteren Teil des Regals vergessen wurden. Gewarnt wer-den muss auch vor all jenen Gourmet-Märkten, in denen die Flaschen durch Scheinwerferlicht attraktiver gemacht werden sollen. Ein Champagner, der zuviel elektromagnetische Strahlung abbekommen hat, schmeckt hart und unsauber. Licht wirkt tödlich auf die Aromen. Und dann gibt es natürlich noch die Möglichkeit, in die Champagne zu fahren, um sich direkt vor Ort bei einem der vielen Winzer den Kofferraum vollladen zu lassen. r

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(5:7 = 0,71). Diese Größe verringert sich um 0,2 Liter CO2. Dies ist die Menge an Kohlendioxid, die sich während des Einfüllprozesses verflüchtigt. Dividiert man nun diese 0,5 Liter an gelöstem CO2 durch das durchschnittliche Volumen einer Champagnerblase mit dem empirisch nachge-wiesenen Durchmesser von ungefähr 0,5 Millimetern, erhält man einen Wert von etwa zehn Mil-lionen Bläschen. Aber nur 20 Prozent des gelösten CO2 verflüchtigen sich über die Blasen, die an-deren 80 Prozent entweichen direkt an der Champagner-Oberfläche. Dieser Prozess, er ist durch das menschliche Auge nicht wahrnehmbar, wird als Diffusion bezeichnet. Alles in allem hat man also zwei Millionen Bläschen pro Glas oder 14 Millionen Kohlendioxidperlen pro Flasche. r

7. Hält ein Silberlöffel in einer ange-brochenen Flasche den Champagner länger frisch? Nein. Überhaupt repräsentiert diese Frage – sie taucht immer wieder in diversen Wissen-schaftssendungen arrivierter Fernsehanstalten auf – ein Gerücht, von dem niemand weiß, wo-her es stammt. Nach dem Öffnen einer Flasche entweicht das CO2 allmählich. Dieser Prozess ist proportional zur Temperatur: In kalten Flüssigkeiten bleiben Gase besser gelöst als in warmen. Einen Silberlöffel in die Flasche zu hängen, ist daher Aberglaube. Wer eine Flasche Champa-gner öffnet, sollte sie austrinken. Oder aber die Flasche mit einem entsprechenden Verschluss versehen und dabei darauf achten, dass diese im Kühlschrank in ruhender Position steht. Das Seitenfach an der Tür führt dazu, dass die Flasche ständig bewegt wird, wodurch das Kohlendi-oxid wiederum schneller entweicht. r

8. Was ist ein Blanc de Blanc? Ein Weißer aus weißen – Trauben. Ein Weißwein wird im Allgemeinen aus weißen Trauben gekeltert, daher ist der Begriff bei einem Wein nichtssagend. Trotzdem aber kann es passieren, beispielsweise wenn man mit einem Jagdgewehr und der künftigen Schwiegermutter in ein Bi-stro geht und eine Flasche Wein bestellen will, daß der Garçon einen Blanc de Blancs empfiehlt, und dies mit anpreisenden Ausdrücken wie frisch, delikat und fruchtig. Es gibt tausende von Weinerzeugern, die ihre Flaschen als Blanc de Blancs etikettieren. Blanc de Blancs aus dem Bor-deaux, aus Italien, Australien oder Nordamerika. Tatsächlich ist diese Bezeichnung ein reiner Marketing-Trick. Wohlklingend, aber nichtssagend. Blanc de Blancs ist ein Begriff, der nur auf dem Etikett einer Champagner-Flasche etwas Seriöses besagt. Denn der Champagner ist vom Prinzip her eine Cuvée aus blauen und weißen Trauben, aus den Rebsorten Chardonnay, Pinot

Gravitation auf die Aufstiegsgeschwindigkeit der Blasen. Auf unserer Erde sorgt die Schwerkraft für eine Beschleunigung von 9,81 Metern pro Sekunde zum Quadrat. Eine hundertmal größere Gravitationsbeschleunigung herrscht auf dem Jupiter, er ist der massivste Planet unseres Son-nensystems. Daher wäre im Umkreis von 1.000 Millionen Kilometern der Jupiter jener Ort, an dem wir in einem Glas Champagner die feinsten Bläschen bewundern könnten. r

6. Wie viele Bläschen sind in einer Flasche Champagner?Einst behauptete das US-Magazin Wine & Spirits, in einer Flasche Champagner seien 44 Milli-onen Bläschen. Ich habe mehr als einmal damit begonnen, die Perlen durchzunumerieren, bin aber stets nach einigen hunderttausend Bläschen gescheitert. An Konzentrationsschwäche, an dem Alkohol, wegen irgendeiner Ablenkung. Dann war die Flasche leer, die Blasen weg und ein weiteres wissenschaftliches Experiment kläglich gescheitert.

Theoretisch aber ist es möglich, wie der Physiker Gérard Liger-Belair nachwies, eine recht präzise Berechnung potentieller Bläschen in einer Flasche Champagner durchzuführen: Alles in allem befinden sich in einer 0,75-Liter-Flasche fünf Liter gelöstes Kohlendioxid. Unter der Prä-misse, dass der Inhalt einer Flasche sieben Gläser füllen kann, erhält man 0,7 Liter CO2 pro Glas

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KonzentriertaufdasWesentliche:AdressenundEmpfehlungen

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Prozent betragen werde. Stets an Augustins gedanklicher Seite ist Nicolas Klym, Keller-meister bei Ayala seit über 30 Jahren: Einer, der also schon viel erlebt hat, der sich noch an die Zeiten erinnern kann, als man nichts über die malolaktische Gärung wusste und als Ayala ein eher weiniger, von der Pinot-Traube dominierter Champagner war. Zusammen ha-ben Augustin und Klym (Foto) auch die Idee entwickelt, einen adäquaten Brut anzubieten: Der Brut Majeur ist die gleiche Cuvée wie der Brut Nature, nur mit acht Gramm Zucker do-siert. Die dahintersteckende Idee formuliert Augustin so: Der Konsument solle Erfah-rungen machen und begreifen, wie die Dosage einen Champagner geschmacklich verändern kann. Resümee Augustin: »Wenn man zu einer Party einlädt und sagt zu den Ladys, es gebe Champagner ohne Zucker – ist man automatisch auf der Gewinnerseite.« Derzeit im Angebot von Ayala sind folgende Cuvées: Brut Majeur, Rich Majeur, Rosé Majeur, Millésimé, Blanc de Blancs mit Jahrgang, Brut Nature, Rosé Nature sowie die Prestigecuvées Perle D’Ayala und Perle D’Ayala Nature.

Ayala, 2, boulevard du Nord, 51160 Aÿcc +33c(0)3cc26c55c15c44cm [email protected]

beaumetKleine Maison in Epernay mit Firmensitz am imposanten Park Malakoff. Derzeit bildet Beaumet mit den Firmen Jeanmaire und Oudinot das Château Malakoff, das seit 2004 im Besitz von Laurent Perrier ist. Beaumet, 57, rue de Verdun, 51200 Epernay

cc +33c(0)3c26c51c19c19

bauget-JouetteDiese ehemalige Winzerfamilie mit einigen Weinbergen um Epernay stellt inzwischen jährlich 80.000 Flaschen her. Bekanntester Wein ist der Brut Carte blanche, ein frischer Aperitif.

Bauget-Jouette, 1, rue Champfleury, 51200 Epernay

cc +33c(0)3cc26c54c44c05cm [email protected]

besserat de bellefon1843 in Aÿ von Edmond Besserat gegründet, erlebte dieses Haus in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts seine Blütezeit. 1959 Übernahme durch den italienischen Wer-muthersteller Cinzano, heute orientiert sich das Haus unter der Gruppe Lanson Boizel Chanoine Champagne (Lanson BCC) neu: War man einst ein führender Produzent von Crémant-Champagner, ist derzeit vor allem die Cuvée des Moines Brut im Gespräch. Diese besteht fast zur Hälfte aus Pinot Meunier. Vermieden wird die malolaktische Gärung.

Besserat de Bellefon, 22, rue Maurice Cerveaux, 51200 Epernay

cc +33c(0)3cc26c78c50c50

billecart-salmonEine illustre Maison, ins Leben gerufen 1818 in Mareuil-sur-Aÿ durch die Eheleute Nicolas-François Billecart und Élisabeth Salmon. Wie viele andere Familienbetriebe auch, erlebten die Billecarts im Laufe der Zeit sowohl Hochs als auch Tiefs: 1830 verlor man durch einen betrügerischen US-Agenten sehr viel Geld, eine Summe von 100.000 Goldfrancs machte die Runde, es folgte ein Niedergang, der erst 1917 gestoppt wurde, als der tatkräftige Charles Roland-Billecart die Firma erbte und das Steuer herumriss. In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts investierte man in 70 kleine 4.000-Liter-Tanks, in denen bei nied-

rigen Temperaturen die erste Gärung stattfin-det. Diese Methode avancierte inzwischen zu einem Billecartschen Markenzeichen. Einer der Großväter der heutigen Firmengeneration übertrug eine Praktik der Bierbrauerei auf den Champagner: Nach der ersten Vorklä-rung des Mostes, also einer Débourbage, folgt eine zweite, bei der der Most auf fünf Grad Celsius herunter gekühlt wird. Dann wird der Weintrub vom Most separiert, die Tempera-tur wird auf höchstens 15 Grad erhöht und eine langsame, circa drei Wochen währende Gärung durchgeführt. Auf diese Weise, so der Gedanke, wird die Oxidation des jungen Weines am besten minimiert.

Die Familie Billecart führt heute noch im-mer die Maison. Freilich hält Jean-Jacques Frey, Eigentümer der Schweizer Uhrenmanufaktur Minerva und diverser anderer Weingüter, u.a. Jaboulet im Rhonetal, inzwischen bedeutende Anteile, was die beiden Brüder François im (Foto: rechts), Präsident der Maison seit 1993, und den für den Export verantwortlichen Antoine Roland-Billecart (Foto: links) sicher-

henri abeléEin 1757 von Théodore Vander Veken kon-stituiertes Haus, das einst sehr erfolgreich den deutschen Adel belieferte. Später im Besitz von Antoine de Muller, der zuvor als illustrer Kellermeister bei Clicquot mit der Witwe in den Keller stieg, um das Rüttelpult zu erfinden. Sein Schwiegersohn François Abelé de Muller gab dann der Maison ihren endgültigen Namen. Gehört seit 1985 zum spanischen Getränkekonzern Freixenet, Produktion 400.000 Flaschen, im Abelé Brut dominiert der Pinot.

Henri Abelé, 50, rue de Sillery, 51051 Reimscc +33c(0)3cc26c87c79c80cm [email protected]

ayalaDas einzige Traditionshaus mit lateiname-rikanischen Wurzeln: Gegründet wurde es 1860 von dem kolumbianischen Diploma-tensohn Edmond de Ayala, der dank einer Einheirat zu erstklassigen Weinbergen gelangte. Während der Winzerunruhen 1911 wurden die Gebäude verwüstet, 1913 wieder aufgebaut. 1937 kaufte René Chayous, dem schon die seinerzeit renommierten Marken Duminy und Montebello gehörten, die Firma. Chayous zählte zu den distinguierten Persön-lichkeiten der Region, war zwischen 1942 und 1956 Vizepräsident der »Union des Maisons

de Champagne« und erwarb 1961 auch das renommierte Bordelais-Weingut Château La Lagune. Nach seinem Tod 1969 ging der Besitz an Jean-Michel Ducellier. Ich erinnere mich sehr gut an einen Besuch bei Monsieur Ducellier, lange Zeit auch Vizepräsident des CIVC: Die Büroräume und Anlagen am Boulevard du Nord waren, freundlich ausge-drückt, nicht auf dem neuesten Stand, und auf dem Schreibtisch, hinter dem sich Monsieur Ducellier verschanzte, verstaubten Akten, Rechnungen und Dossiers. Die Situation war offensichtlich: Am Leben erhalten wurde dieses Unternehmen durch das profitable Bordeaux-Weingut, und als Ducellier die Geschäfte kurze Zeit später an seinen Sohn übergab, kam es schnell zum Verkauf.

Seit Januar 2005 gehört Ayala nun zu Bollin-ger, und der zumeist gutgelaunte Hervé Augu-stin, ein Neffe von Bernard de Nonancourt, wartete mit einer ungewöhnlichen Geschäft-sidee auf, um dieses einst so renommierte Haus wieder ins Gespräch zu bringen: Brut

Nature. Schon kurz nach der Übernahme, so Augustin, sei man sich darüber klar gewor-den, die Dosage zu verringern. Nach diversen Experimenten wurden dann auf der Vinexpo 2007 einige Flaschen mit undosiertem Cham-pagner präsentiert – mit großem Erfolg. Erstmals verkauft wurde diese Cuvée im Oktober 2007, es folgten dann im Jahr 2008 der Rosé Nature mit einem acht prozentigen Anteil an Rotwein und 2009 die Cuvée Perle Nature. »Brut Nature ist eine Philosophie«, sagt Augustin. »Bei vielen Champagner stellt eine hohe Dosage eine Art Kosmetik dar und eine Möglichkeit, einen eher mittelmäßigen Wein zu kaschieren. Wir dagegen wollen sehr frische Champagner, und dies ist ein Trend, der die Zukunft beherrschen wird. Viele Kon-sumenten kaufen inzwischen Bio-Produkte, sie wollen auch keinen Zucker in Getränken.« Überzeugt ist Augustin, dass es vor allem Frauen sind, die seine Nature-Weine zu ihren Favoriten erklären, ja, er habe sogar eine private Wette laufen, dass in 20 Jahren der Anteil der Champagner ohne Dosage 20

Die Maisons der Champagne7.1

Page 20: Die Champagner maCher - bücher.de

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bollingerPrestigeträchtiges Haus, das 1829 vom Ad-miral Graf Emmanuel de Villermont etabliert wurde. Dieser besaß einige erstklassige Wein-berge und erkannte das Potential, in der Zeit des ersten großen Champagner-Booms ein ordentliches Vermögen zu machen. Freilich wollte Villermont unter allen Umständen vermeiden, dass sein Familienname mit etwas derartig Bürgerlichem wie Handelsgeschäften assoziiert wurde; so nahm er Paul Renaudin und Joseph Bollinger als Partner mit auf; ver-kauft wurde der Wein unter dem Namen Ren-audin, Bollinger & Co. Joseph (später Jacques) Bollinger wurde 1803 im württembergischen Ellwangen geboren; mit 19 Jahren vertrat er in seiner Heimat erfolgreich den Champagner von Müller-Ruinart – auch dieses Haus hatte der ehemalige Clicquot-Kellermeister Antoine Muller gegründet. Bollinger war derart tüch-tig, dass Villermont ihm viel zutraute. Der

Deutsche wiederum rechtfertigt das in ihn gesetzte Vertrauen und heiratete 1837 prompt die Tochter des Grafen. 1918 übernahm der nach seinem Großvater benannte Enkel Jacques Bollinger die Firma und vergrößerte den Besitzstand an Weinbergen. Als er 1941 im Alter von nur 47 Jahren starb, übernahm seine tatkräftige Frau Lily die Firma. Berühmt war ihre Angewohnheit, überall in der Region mit dem Fahrrad hinzufahren, um die Arbeit in den Weinbergen zu kontrollieren. Die Ar-beiter tauften sie daraufhin Madame Jacques. Berühmt ist auch eine Begebenheit, die der Engländer Cyril Ray in seinem 1971 erschie-nenen Buch Bollinger erzählt: Während der Aufstände 1911 wurde das Haus als eines der wenigen im Ort nicht behelligt; Jahre später hörte Madame Bollinger einen Passanten vor ihrem Haus sagen: »Das ist übrigens Bollin-ger, die haben wir während des Aufstands verschont, ja, wir haben sogar unsere Fahne gesenkt, als wir vorübergingen.« Nach dem Tode von Lily Bollinger übernahm zunächst ihr Neffe Christian Bizot die Firmenleitung, danach Ghislain de Montgolfier, ein Ur-Urenkel des Firmengründers. Über die Jahre hinaus ist Bollinger ein Produzent hochwer-tiger Champagner geblieben, wobei der Pinot Noir aus Aÿ in den Cuvées dominiert. 160 Hektar eigener Weinbergsbesitz, vor allem im Reimser Bergland, produziert werden jährlich zwei Millionen Flaschen. Die Weine: Special Cuvée, La Grande Année, R.D. (récemment dégorgé, also kürzlich degorgiert) sowie die rare Grande Année Rosé. Eine berühmte Besonderheit ist die Cuvée Vieilles Vignes Françaises aus Rebstöcken, die in zwei kleinen Plots in Aÿ en foule (im Gedränge) gepflanzt sind, wie vor 150 Jahren, vor dem Einzug der Reblaus, also nicht auf Unterlagsreben, und, dies ist der Clou, eng aneinander, mit einer Dichte von 25.000 Stöcken pro Hektar. Seit kurzem gibt es sogar einen exquisiten Rosé ohne Jahrgang – ein Unding unter Lily Bollinger, hielt doch die Familie einen Rosé für unseriös – einen Champagner für das Rot-licht also. Produziert wird außerdem noch in guten Jahren ein Rotwein aus der nicht einmal

einen Hektar großen Parzelle »La Côte aux Enfants« in Aÿ. Gut für das Image ist natürlich auch die Verbindung zu James Bond, der seit 1990 immer wieder einen Bolli öffnet – bevor er dann endgültig zum Angriff übergeht.

Bollinger, 16, rue Jules Lobet, 51160 Aÿcc +33c(0)3cc26c53c33c66cm [email protected]

alexandre bonnetUrsprünglich ein Familienunternehmen in Les Riceys in der Côte des Bar, gehört das 1932 gegründete Haus seit 1998 zur Gruppe Lanson BCC. Produktion: 250.000 Flaschen, Aushän-geschild ist ein fülliger Blanc de Noirs. Für den Liebhaber gilt: Einmal den delikaten Rosé des Ricey oder den Coteaux Champenois probie-ren, und dann auf zum Sturm auf die Bastille.

Alexandre Bonnet, 138, rue du Généralde Gaulle, 10340 Les Riceys

cc +33c(0)3cc25c29c30c93cm [email protected]

château de boursaultPrächtiges Neo-Renaissance-Schloss an der N3 westlich von Epernay, das Madame Veuve Clicquot für ihre Kinder erbauen ließ. Seit 1927 im Besitz der Familie Fringhian, bewirtschaftet werden derzeit zwölf Hektar. Im rustikalen Brut Tradition dominieren die blauen Trauben.

Château de Boursault, 2, rue Maurice Gilbert, 51480 Boursault

cc +33c(0)3cc26c58c42c21cm [email protected]

lich schon einige schlaflose Nächte gekostet hat: Frey gilt als jemand, der gerne die völlige Kontrolle über Unternehmen haben möchte.

Bekannt wurde Billecart-Salmon als einer der frühesten Produzenten von Rosé-Champa-gner. Das Haus hat in diesem Bereich ebenso wie mit seinen weinigen Jahrgangscuvées eine hohe Reputation erlangt. Freilich, in den letzten anderthalb Jahrzehnten wurde die Gesamtproduktion von 400.000 auf über an-derthalb Millionen Flaschen jährlich gestei-gert, und dies bei relativ geringem eigenem Weinbergsbesitz von elf Hektar Rebfläche. Kritische Stimmen vermissen inzwischen die einst unbestrittene Qualität der Weine. Zum vielfältigen Angebot des Hauses zählen derzeit neben dem Brut und einem Brut Rosé zwei Blanc de Blancs (mit und ohne Jahrgang), diverse Millésimés sowie seit 2011 auch einen Brut Sous Bois, einen in Holzfäs-sern vinifizierter Champagner, aus den drei Rebsorten. Apropos Rebsorten: Die Maison und ihr Kellermeister François Domi (Foto) gehörten schon immer zu denjenigen, die offensiv die positive Bedeutung des Meunier für die Assemblage betonten. »Meunier ist Frucht«, pflegte Domi bereits vor zwei Jahr-zehnten zu sagen, als die meisten seiner Kol-legen nur über Chardonnay und Pinot Noir sprechen wollten. Erwähnenswert noch auch

die hochpreisige Cuvée Le Clos Saint-Hilaire, ein reiner Pinot Noir, vinifiziert im Holz, keine Dosage. Als dieser 1995 zum ersten Mal auf den Markt kam – es war die Zeit, als urplötzlich diverse Cuvées als Clos etikettiert wurden – , fragte ich mich, wie alt denn die Mauern um diese knapp einen Hektar große Parzelle Mareuil-sur-Aÿ wirklich sind. Die Antwort lieferten mir diverse Einwohner des Ortes. Sie alle konnten sich noch gut daran erinnern, dass dort früher noch ein Tennis-platz war.

Billecart-Salmon, 40, rue Carnot, 51160 Mareuil sur Aÿ

cc +33c(0)3cc26c52c60c22cm [email protected]

binetGegründet 1849 von Léon Binet in Reims, gehört dieses Haus seit dem Jahr 2000 dem Investor Daniel Prin. Dieser versucht derzeit, dem Haus mit seinem Brut Élite (mehrheitlich Pinot Noir) in Côte des Blancs neues Leben einzuhauchen.

Binet, 30, rempart du Midi, 51190 Avizecc +33c(0)3cc26c59c65c00cm [email protected]

boizelFamiliengeführtes Haus, an dessen Spitze in fünfter Generation die energische Évelyne Roques-Boizel steht. 1994 schloss man sich mit Bruno Paillard und Philippe Baijot zu der Gruppe Boizel Chanoine Champagne (BCC) zusammen, betont aber immer wieder den eigenständigen Charakter des Unterneh-mens. Gegründet wurde die Maison 1834 von Auguste Boizel. Es folgten Édouard, Jules, René, Erica und dann, 1973, Évelyne, die eine geschickte Arbeitsteilung etabliert hat: Wäh-rend sie Verkauf und Marketing ankurbelt, ist Ehemann Christophe als Kellermeister für die Cuvées zuständig – inzwischen unterstützt von der jungen Isabelle Tellier. Die Tank- und Kelleranlagen befinden sich in Epernay in der Avenue de Champagne, seit 1990 ver-wendet man für die Jahrgangsweine einige im Burgund gekaufte und zumeist drei Jahre alte Barriques. Die Jahresproduktion beträgt etwa eine halbe Million Flaschen, vertrieben bevorzugt via Postweg an eine treue Privat-kundschaft in Frankreich. Diese schätzt zu Recht das sehr gute Preis-Leistungsverhältnis der Boizels. Aushängeschild sind der Brut Réserve mit einem hohen Anteil an Pinot Noir und der Brut Chardonnay, beides süffige Vertreter ihrer Zunft. Freunde von weinigen Champagner sollten zur Cuvée Joyau de France greifen, einem lange auf der Hefe belassenen, fleischigen Jahrgangschampagner, der bei einem Kalbskotelett mit Morcheln seine Muskeln spielen lassen kann.

Boizel, 46, avenue de Champagne, 51200 Epernay

cc +33c(0)3cc26c55c21c51cm [email protected]