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Die Jäger von Chircool

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Nr. 1001

Die Jäger von Chircool

Sie leben auf der Dschungelwelt –und warten auf die Rückkehr der

SOL

von Marianne Sydow

Mehr als 409 Jahre sind seit dem Tage vergangen, da Perry Rhodan mit der BA-SIS von einem der schicksalsschwersten Unternehmen in den Weiten des Alls in dieHeimatgalaxie zurückkehrte und auf der Erde landete.

Durch seine Kontakte mit Beauftragten der Kosmokraten und mit ES, der Superin-telligenz, hat der Terraner inzwischen tiefe Einblicke in die kosmische Bestimmungder Menschheit gewonnen und in die Dinge, die auf höherer Ebene, also auf derEbene der Superintelligenzen, vor sich gehen.

In folgerichtiger Anwendung seiner erworbenen Erkenntnisse gründete Perry Rho-dan dann Anfang des Jahres 3583 eine mächtige Organisation, deren Einfluß sichweit in das bekannte Universum erstreckt und die mehr ist als eine reine Handelsor-ganisation. Diese Organisation ist die Kosmische Hanse!

Doch später mehr zu diesem Thema! Gegenwärtig beschäftigen wir uns mit einemWeinen Menschenvolk, dessen Mitglieder auf einer Dschungelwelt leben und sehn-süchtig auf die Rückkehr des legendär gewordenen Raumschiffs ihrer Vorväter war-ten.

Einige dieses Volkes verstehen sich als DIE JÄGER VON CHIRCOOL …

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Die Hautpersonen des Romans:Claude St. Vain - »Kapitän« der Betschiden.Jörg Breiskoll, Lerana Forrun und Djin Dokkar - Drei junge Jäger.Surfo Mallagan, Brether Faddon und Scoutie - Ein erfahrenes Jagdteam.Doc Ming - Heiler der Betschiden.

1.

Die Regenzeit war vorüber, und die Be-wohner des Schiffes atmeten erleichtert auf.In den Kabinen fielen keine Tropfen mehrvon der Decke, zum erstenmal seit Wochenkonnte man die Felle aus den Kojen holenund in der Sonne zum Trocknen ausbreiten.Allein die Tatsache, daß man vor dieSchleuse treten konnte, ohne sofort bis aufdie Haut durchnäßt zu werden, kam den Bet-schiden nach der langen Zeit dumpfer Nässewie ein Wunder vor.

Vor allem aber war es nun wieder mög-lich, auf die Jagd zu gehen. Jeder einzelneBewohner des Schiffes war ausgehungertnach frischem Fleisch. Und so sammeltensie sich alle auf dem Hauptkorridor vor derKommandozentrale, um der feierlichen Ver-abschiedung der Jäger beizuwohnen. DerAuftakt zur ersten Jagd nach einer Regenzeitwar ein Ereignis, das niemand sich entgehenließ.

Die Jäger standen in vier Reihen vor derSchleuse der Kommandozentrale, ganz vor-ne die ältesten, erfahrensten unter ihnen,ganz hinten die jüngsten, die diese erste Jagdnoch gar nicht mitmachen durften, weil sieviel zu gefährlich für sie war.

Die Jäger standen still und hochaufgerich-tet da, wie der Brauch es verlangte. Die rest-lichen Betschiden waren in diesem Fall ankeinerlei Tradition gebunden und machtenes sich bequem. Sie lehnten an den Kabinen-wänden, hockten auf den niedrigen Trenn-mauern und lagen in manchen Fällen sogarbäuchlings auf den Dächern und spähten trä-ge auf den Hauptkorridor hinab. WelcheStellung sie aber auch einnahmen, sie hatteneines gemeinsam – sie drehten sich der wär-menden Sonne zu. Dabei hatten sie sich der

klammen Fellkleidung soweit entledigt, wiedie allgemeine Moral es gerade noch zuließ.

Als sich endlich die Schleuse zur Kom-mandozentrale auftat und Claude St. Vaingemessenen Schrittes auf den Hauptkorridorhinaustrat, waren die Betschiden so weitdurchgewärmt, daß einige von ihnen sich zuBeifallsäußerungen hinreißen ließen. St.Vain trug zwar die gleiche einfache Fellklei-dung wie alle anderen Betschiden, aber erhatte an diesem Tage zusätzlich die Zeichenseiner Würde angelegt: Den defekten Raum-helm trug er im Nacken, und das Gerät, vondem es hieß, daß es jede Sprache zu verste-hen und zu sprechen vermochte, hing ihmauf der Brust.

St. Vain hob die Hand, und das Gemur-mel der Betschiden verstummte. »Dies istdas Ende der Regenzeit«, wandte der Kapi-tän sich an die Jäger. »Ihr wißt, wie nötig esist, daß ihr gute Beute in unser Schiff bringt.Ich habe aber noch eine Bitte an euch: Ach-tet auf Salz. Unsere Vorräte gehen zur Nei-ge. Und seid vorsichtig und klug. Wenn eineBeute zu groß und zu gefährlich ist – ver-zichtet auf sie. Ihr seid zu wertvoll für unse-re Gemeinschaft, als daß ihr euer Leben aufsSpiel setzen dürftet. Geht jetzt – und ihr jun-gen, die ihr noch nicht hinausdürft, kommtmit mir.«

Die jungen Jäger, drei Jungen und dreiMädchen, verließen die Gruppe und folgtenSt. Vain ins Schiff. Man konnte ihnen anse-hen, wie gespannt sie auf das waren, was siezu hören bekommen würden. Es hieß, daßder Kapitän die jungen Jäger Einblick in je-ne Geheimnisse nehmen ließ, denen alle an-deren gleichaltrigen Betschiden erst Jahrespäter auf den Grund gingen.

Jörg Breiskoll, einer der Jungen, hob wit-ternd den Kopf, als er das Innere der Kom-mandozentrale betrat.

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»Was riechst du?« fragte Lerana Forrunleise.

»Seid alle schön still!« flüsterte LarsO'Marn und kicherte. »Stört den Kater nicht.Hier drin riecht es nach Geheimnissen. Werweiß, was er findet!«

Jörg zuckte zusammen und ging weiter.»Was war denn?« drängte Lerana flü-

sternd.Jörg schüttelte abwehrend den Kopf. St.

Vain stieß in diesem Augenblick eine Türauf, und sie gelangten aus dem engen,dumpfen Korridor in ein großes Zimmer,dessen Einrichtung so ungewöhnlich war,daß es den anderen für einen Augenblick dieSprache verschlug.

Nicht genug damit, daß sich an den Wän-den merkwürdige, glatte Flächen befanden,deren Oberflächenbeschaffenheit der derBuhrlo-Narben ähnelte – unter den Flächengab es allerlei Knöpfe und Schalter, die sehrgeheimnisvoll aussahen. Darüber hinausstanden seltsame Sessel herum.

»Nehmt Platz!« sagte St. Vain, und diejungen Betschiden verteilten sich zögernd,betasteten mißtrauisch die fremdartigen Sitz-gelegenheiten und sahen den Kapitänschließlich erwartungsvoll an.

»Vor einigen Jahrhunderten«, sagte St.Vain würdevoll, »kamen wir hierher. Ihrhabt bereits erfahren, was in etwa geschah.Unsere Vorfahren lebten in einem riesigenRaumschiff. Es hieß SOL, und es war so un-vorstellbar groß, daß viele tausend Betschi-den darin Platz hatten. Sie lebten und arbei-teten in diesem Schiff, sie wurden dort gebo-ren und starben auch dort. Sie waren Sola-ner, die ihren eigenen Gesetzen folgten.«

»Das hat man uns doch alles schon hun-dertmal erzählt!« stöhnte Lars O'Marn leise.

St. Vain schien ihn nicht zu hören.»Eines Tages«, fuhr er fort, »wandten un-

sere Vorfahren sich gegen die Gesetze derSOL. Wir wissen nicht mehr, warum das ge-schah, aber die Tatsache bleibt bestehen, daßsie kriminell handelten.«

»Was ist kriminell?« fragte Djin Dokkarratlos.

St. Vain warf dem mageren, dunkelhäuti-gen Jungen einen verwunderten Blick zu.

»Kriminelle sind Individuen, die sich ge-gen die Gemeinschaft wenden.«

»Und was sind Individuen?« fragte Djinweiter.

St. Vain schlug mit der Faust auf denRahmen des Sessels, in dem er saß.

»Du solltest zuerst zuhören«, empfahl erfinster. »Für deine dummen Fragen wirdnoch genug Zeit bleiben. Wie gesagt: Unse-re Vorfahren meuterten …«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«fragte Djin.

»Ruhe!« schrie der Kapitän wütend. Ererschrak vor sich selbst und saß sekunden-lang stumm da.

»Wir müssen dagegen angehen«, murmel-te er schließlich. »Es ist das unheilvolle Er-be, das wir zu tragen haben. Wir sind dieNachkommen von Meuterern, denen dieVernunft nichts galt, und wir sind hier, umgeläutert zu werden. Djin, ich glaube, es istbesser, wenn du noch für einige Zeit am Un-terricht teilnimmst!«

Betretenes Schweigen breitete sich aus.»Nein«, sagte Djin schließlich verächt-

lich. »Du weißt sehr gut, St. Vain, daß ichalle Prüfungen mit Auszeichnung bestandenhabe.«

»Warum stellst du dann so dumme Fra-gen?« rief St. Vain wütend.

»Weil du eine so dumme Rede hältst!«konterte Djin ungerührt. »Was du uns bisjetzt erzählt hast, das wissen wir dochlängst. Unsere Vorfahren haben gemeutert,und man hat sie aus der SOL hinausgewor-fen. Man hat sie hierher, nach Chircool ge-bracht, und sie haben bleiben müssen. Wirhaben keine Chancen, von hier wegzukom-men, es sei denn, man gelangt in der SOL zudem Schluß, daß wir nunmehr für ein Lebenim Raum geläutert wären. Dann wird manuns abholen.«

»Du stellst das sehr vereinfacht dar, meinJunge«, protestierte St. Vain schwach.

»Ich sage nur das, was der Wahrheit ent-spricht«, erwiderte Djin streng. »Von dir ha-

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ben wir uns mehr erwartet. Was haben unse-re Vorfahren getan? Warum wurden sie vonder SOL verbannt? Wie sah dieses Schiffüberhaupt aus? Wann wird es zurückkehren?Und – wo befinden wir uns hier?«

St. Vain war aufgesprungen. Er starrteDjin fassungslos an. Der magere Junge starr-te zurück.

»Wir sind im Schiff«, sagte der Kapitänschließlich mühsam. »Nicht in der SOL,aber in einem anderen Schiff.«

»Nein!« rief Jörg Breiskoll laut und warmit einem Satz neben Djin. »Wir befindenuns auf einem Planeten. Du weißt das, St.Vain. Chircool ist eine Welt, die um eineSonne kreist. Niemals werden wir den Kursdieser Welt ändern können. Und das, worinwir leben, ist kein Schiff, sondern ein Dorf,eine jämmerliche kleine Ansammlung vonHütten, die ihr alle Kabinen nennt, weil ihrdie Wahrheit nicht akzeptieren könnt!«

»Wer hat dir das erzählt?« fragte St. Vainscharf. Er stand auf und trat auf die beidenJungen zu. Lerana nahm vorsichtig ihrenBogen ab und legte die Hand auf den Griffihres Messers. Es war ein wertvolles Messer,eines von der alten Art. Es bestand aus Me-tall.

»Sage mir die Namen!« forderte St. Vainund sah Jörg dabei an. »Ich will wissen, werdiese Idee in deinen Katzenschädel getrich-tert hat!«

Jörg zog sich ein paar Schritte weit zu-rück. Seine Augen waren schmal, und ausseinem halb geöffneten Mund drang ein lei-ses Fauchen.

»Die Wahrheit läßt sich nicht auf ewigunterdrücken!« sagte der katzenhafte Junge.»Jeder, der die Augen offen hält, kann se-hen, daß wir uns auf einem Planeten befin-den.«

St. Vain warf einen schnellen Blick aufdie anderen jungen Leute. Djin und Leranawaren selbstverständlich gegen ihn, aber dieanderen machten einen zuverlässigen Ein-druck. Und wenn es zum Schlimmsten kamund er sich verteidigen mußte, dann hatteder Kapitän immer noch einen Trumpf in

der Hinterhand.»Was wißt ihr jungen Narren schon über

Planeten?« fragte St. Vain verächtlich. »Ihrlaßt euch wirre Ideen in den Kopf setzen undhaltet das bereits für Weisheit. Wie soll esdenn eurer Meinung nach in einem Schiffaussehen?«

»Jedenfalls nicht so, wie wir es draußenbeobachten können«, stellte Djin fest. »Gibdir keine Mühe, St. Vain, du wirst uns vondeinen Ideen nicht überzeugen können. Ihralle tut nur so, als würdet ihr in einem Schiffleben, weil ihr Angst vor der Wahrheithabt.«

»Du weißt wohl sehr genau, was in denKöpfen der Betschiden vorgeht, wie?«

»Ich nicht«, erwiderte Djin gelassen.»Aber Jörg.«

»Der Kater!« rief St. Vain ärgerlich. »Dasreicht jetzt. Geht mir aus den Augen!«

»He, das gilt nicht!« schrie Lars O'Marnwütend.

»Ihr könnt selbstverständlich bleiben«,versicherte der Kapitän hastig. »Nur ihr dreiWirrköpfe werdet die Kommandozentraleverlassen!«

»Kommandozentrale!« murmelte Leranaspöttisch. »Eine alte Hütte ist das, nichtsweiter!«

»Geh!« schrie St. Vain mit überschnap-pender Stimme.

Lerana zuckte die Schultern und steckteihr Messer weg.

»Kommt!« sagte sie zu Djin und Jörg.»Sonst trifft ihn noch der Schlag.«

St. Vain wartete, bis die Tür hinter ihnenzuschlug, dann wischte er sich den Schweißvon der Stirn.

»Ich werde noch einmal von vorne anfan-gen«, sagte er zu Lars und den beiden Mäd-chen, die geblieben waren.

»Es waren die drei«, sagte Lars plötzlich.St. Vain sah ihn irritiert an.»Surfo Mallagan, Brether Faddon und

Scoutie«, fuhr der Junge fort. »Sie haben ih-nen diese Ideen eingegeben.«

»Weißt du das genau?« fragte St. Vain.»Ich habe es gehört.«

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»Hast du es auch gesehen?«»Ja.«»Du hast wahrscheinlich aufmerksam zu-

gehört, wie?«»Ich dachte mir schon, daß es dich inter-

essieren würde«, sagte Lars geschmeichelt.»Dann paß gut auf, du Dummkopf!« sagte

St. Vain streng. »Wenn du wieder einmalZeuge eines solchen Gesprächs werden soll-test, dann wirst du dich schleunigst so weitvon den betreffenden Wirrköpfen entfernen,daß du kein Wort mehr verstehen kannst. Istdas klar?«

»Aber warum?« fragte der Junge verwirrt.»Ich verstehe es nicht.«

»Das ist auch nicht nötig«, behauptete derKapitän eisig. »Es ist gefährlich, sich solcheÄußerungen anzuhören.«

*

»Was machen wir nun?« fragte Djin rat-los, als sie auf den Hauptkorridor hinaustra-ten.

Lerana sah sich nachdenklich um.»Die Betschiden haben sich inzwischen

zurückgezogen«, stellte sie fest. »Das ist gutfür uns. Warum konntet ihr bloß den Mundnicht halten? Ihr wißt doch, wie der Alte ist.Im Grunde nimmt man ihn ja nicht ganzernst, aber er ist immer noch der Kapitän.«

»Quatsch!« sagte Djin ärgerlich. »Ein Ka-pitän gehört zu einem Schiff, und hier gibtes keines.«

»Wie sollen wir ihn dann nennen?« fragtedas Mädchen spöttisch. »Irgendeinen Titelmuß er ja haben.«

»Man könnte ihn absetzen«, bemerkteJörg.

Lerana fuhr herum, und selbst Djin sahentsetzt aus.

»Das wäre Meuterei!« stieß er hervor.»Aber nein«, sagte Jörg lächelnd. »Wir

sind nicht Angehörige einer Schiffsbesat-zung, sondern lediglich Bewohner eines Pla-neten. Bordgesetze aller Art gelten für unsnicht mehr – schon seit langem nicht!«

Die beiden anderen starrten ihn entgeistert

an.»Das mag stimmen«, murmelte Djin

schließlich. »Aber der Gedanke gefällt mirtrotzdem nicht. Laßt uns von hier ver-schwinden und beraten, was wir unterneh-men können. Ich will zur Jagd zugelassenwerden!«

»Dann hättest du den Alten nicht reizensollen«, gab Lerana zu bedenken.

»Laß ihn in Ruhe«, murmelte Jörg. »Erkommt schon darüber hinweg. Außerdem istnoch längst nichts verloren. Das Dorfbraucht Jäger, und sie werden uns schon hin-ausschicken.«

Sie gingen die Hauptstraße hinunter, vor-bei an den kleinen, niedrigen Häusern. DieStraße war ungepflastert, und die Hütten be-standen aus Baumstämmen und gebrochenenSteinen. Die Dächer waren mit Blättern undGrasbündeln gedeckt. Die meisten Hüttenstanden auf gemauerten Pfeilern. Schmale,hölzerne Treppen führten zu den Türen hin-auf. Jetzt, nach der Regenzeit, begann es anvielen Stellen aus dem scheinbar toten Holzzu sprießen. Schon in den nächsten Tagenwürden sich auf Wänden und Treppen Blü-ten und Blätter zeigen, und die Betschidenhatten dann alle Hände voll zu tun, dasGrünzeug zu beseitigen.

»Was machen sie jetzt alle?« fragte sichLerana.

»Sie warten«, murmelte Jörg. »Wenn dieJäger zurückkommen, werden sie in Scharenzusammenströmen. Es ist doch in jedemJahr dasselbe.«

»Was haltet ihr davon, wenn wir einfachlosziehen und uns ebenfalls eine Beute su-chen?« fragte Djin plötzlich.

»Hast du den Verstand verloren?« fragteLerana empört. »Wir können doch nicht ein-fach …«

»Warum eigentlich nicht?« fiel Djin ihrins Wort.

»Weil es der Tag der ersten Jagd ist!« er-widerte das Mädchen streng.

»Aha«, machte Djin sarkastisch. »Gleichwirst du mir erzählen, daß die Tradition vonuns verlangt, daß wir an diesem Tag eben-

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falls zu warten haben.«Lerana sah sich hilfesuchend nach Jörg

um. Erstaunt sah sie, daß der Junge regungs-los mitten auf der Straße stand. Er blickteunverwandt in die Richtung auf die Kom-mandozentrale.

Djin redete immer noch. Lerana stieß ihmdie Faust in die Rippen.

»Sei still!« zischte sie. »Er wittert wiederetwas!«

Djin setzte zu einer ärgerlichen Bemer-kung an, aber im selben Augenblick tat Jörgeinen weiten, geschmeidigen Satz und wareinen Lidschlag später zwischen zwei Hüt-ten verschwunden.

»Komm!« rief Lerana.»Das ist doch sinnlos«, murmelte Djin.

»Er ist schneller als wir.«Aber er setzte sich trotzdem in Bewe-

gung.»Er läuft in den Dschungel!« rief Lerana,

als sie etliche Meter vor Djin den schmalenStreifen bebauten Landes hinter den Hüttenerreichte.

»Dann muß er verrückt geworden sein«,meinte Djin schweratmend, denn die plötzli-che Wärme machte ihm zu schaffen. »Wohast du ihn gesehen?«

Lerana antwortete nicht, sondern rannteweiter.

Die Äcker waren wie in jedem Jahr imSchlamm buchstäblich ertrunken. Die bei-den jungen Jäger versanken stellenweise bisan die Knie im aufgeschwemmten Boden.Die Spuren, die Jörg hinterlassen hatte, wa-ren schon wieder fast verschwunden.

»Den holen wir niemals ein!« rief DjinLerana zu. »Er ist wie der Blitz über denSchlamm gerast. Ehe wir drüben sind, ist erlängst über alle Berge!«

Lerana schwieg und sparte sich ihreAtemluft. Nachdem der Junge sich jedochschon vorher in St. Vains»Kommandozentrale« recht merkwürdig be-nommen hatte, würde sie die Verfolgung aufjeden Fall fortsetzen – selbst dann, wennDjin sie im Stich ließ.

Sie überwand die schlammige Fläche, und

der von allem hohen Bewuchs befreite Strei-fen, der das Ackerland vom Dschungeltrennte, lag vor ihr. Hier war der Boden fe-ster. Sie sah sich nach Djin um, der schnau-fend die letzten Schritte zurücklegte.

»Mir scheint, du wirst alt«, bemerkteLerana spöttisch.

»Es ist die Wärme«, murmelte Djin. »Woist Jörg denn nun verschwunden?«

»Da drüben zwischen den Pfeilsträuchernund dem Honigblatt.«

Djin setzte sich schwerfällig in Bewe-gung. Er begriff selbst nicht recht, wasplötzlich mit ihm los war. Er fühlte sich soschlapp, als wäre er schon seit Stundendurch den Wald gerannt.

Er schob die dünnen Zweige der Pfeil-sträucher zur Seite und hütete sich, dem Ho-nigblatt zu nahe zu kommen, denn so kurznach der Regenzeit sonderte die Pflanzeeinen giftigen Schleim ab.

»Keine Spuren«, murmelte er ratlos.Lerana sah ihm über die Schulter.»Wenn er seinen merkwürdigen Sinnen

folgt«, sagte sie leise, »dann geht er geradli-nig vor, falls das möglich ist. Und hier ist esmöglich. Laß mich vorbei!«

Djin trat einen Schritt zur Seite. Leranastieß einen erschrockenen Laut aus und rißden Jungen zurück.

Djin starrte verdattert auf das Honigblatt.Eben war er ihm noch ausgewichen, jetzthätte er es fast berührt.

»Was ist mit dir los?« fragte Lerana be-sorgt.

»Nichts«, murmelte Djin betroffen.»Mach dir keine Sorgen …«

Sie ließ ihn nicht ausreden.»Geh zurück ins Dorf«, sagte sie.»Das kommt gar nicht in Frage!« prote-

stierte Djin. »Ich lasse dich doch nicht allei-ne hinter Jörg herrennen – jetzt, nach derRegenzeit!«

»Es wird schwierig genug sein, ihn aufzu-spüren«, sagte Lerana ärgerlich. »Ich kannnicht auch noch auf dich aufpassen!«

»Das brauchst du ja auch nicht«, wehrteer verbissen ab. »Ich bin doch kein Baby.«

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Lerana wandte sich ärgerlich ab undschlüpfte zwischen den Zweigen hindurch.Sie wußte, daß es falsch war, aber sie ver-zichtete darauf, noch länger auf Djin einzu-reden.

Sie hörte, daß Djin ihr folgte. Ab und zusah sie sich nach ihm um. Er bewegte sichleichtfüßig und sicher wie immer. Vielleichthatte er recht, und es war wirklich nur derungewohnte Sonnenschein, der ihm zuschaffen machte.

Unter den Bäumen war es noch relativkühl. Der Wald tropfte vor Nässe. Die hohenBäume standen an dieser Stelle weit vonein-ander entfernt, und so hatte sich dichtes Un-terholz bilden können. Lerana und Djinwanden sich durch ein Gewirr von dünnenStämmen. Sie hätten unmöglich in dieserUmgebung die einmal gewählte Richtungbeibehalten können. Zum Glück zeigte essich, daß dieser Dschungel im Kleinformatauch seine Vorteile hatte: Nicht einmal JörgBreiskoll hatte sich hindurchwinden können,ohne deutliche Spuren zu hinterlassen.

Dann gelangten sie in etwas freieres Ge-lände, und die Spuren verschwanden. Ratlossah Lerana sich um. Djin lehnte an einemBaumstamm, und Schweißtropfen liefenüber sein Gesicht. Die junge Jägerin ging zuDjin, legte den Arrn um seine Schultern undzog ihn mit sich. Er wehrte sich nicht, unddas zeigte ihr deutlicher als alles andere, daßes ihm wirklich schlecht ging.

Dann standen sie am Rand einer kleinenLichtung. Lerana erkannte jetzt wieder, wosie sich befand – nicht weit entfernt führteder Pfad vorbei, auf dem man zur südlichenSchlucht gelangte.

Hatte Jörg etwa dorthin gewollt?Ein lautes Knacken ließ sie zusammen-

zucken. Sie riß sich den Bogen von derSchulter und hatte den Pfeil auf der Sehneliegen, bevor noch der Nachhall desKnackens aus ihren Ohren gewichen war.

Als sie jedoch sah, was da auf der anderenSeite der Lichtung zwischen den Büschenhervorgestolpert kam, ließ sie vor Staunenund Erleichterung die Waffe fallen. Vor Er-

leichterung deshalb, weil es Jörg war – vorErstaunen jedoch, weil sie ihn nur an seinerKleidung und an den rotbraunen Fellbü-scheln auf seinem Kopf erkannte. Er schienvorübergehend all seine katzenhafte Ge-wandtheit verloren zu haben. Er stolperteauf die Lichtung hinaus, blieb schwankendstehen und sah sich um. Als er die beidenFreunde auf der anderen Seite der freien Flä-che erblickte, hob er langsam die Arme undwinkte unbeholfen.

Djin hatte sich auf den Boden gesetzt, denKopf in beide Hände gestützt, und reagiertenicht, als Lerana ihn anstieß. Eines der älte-sten Gesetze, die die Jäger von Chircool sichgegeben hatten, verbot es jedem, imDschungel laut zu rufen. Lerana bedeuteteJörg, daß er zu ihr herüberkommen sollte. Erstutzte und schien jetzt erst zu bemerken,daß etwas mit Djin nicht stimmte. Das halfihm sichtlich, in die Wirklichkeit zurückzu-finden. Als er neben Lerana stehenblieb,wirkte er schon wieder fast wie immer.

»Was ist mit ihm?« fragte er leise.»Keine Ahnung«, antwortete sie ratlos.

»Vorhin meinte er, es käme von der Wärme,aber wie ein Hitzschlag sieht das wirklichnicht aus.«

Jörg bückte sich und drückte Djin vor-sichtig an den Schultern zurück. Aufmerk-sam sah er ihm ins Gesicht.

»Wir müssen ihn ins Dorf schaffen«, mur-melte er. »Komm, faß mit an. Der Weg be-ginnt gleich da drüben.«

»Sie werden uns einiges erzählen, wennwir aus dieser Richtung kommen!«

»Daran läßt sich nichts ändern. Wir kön-nen nicht mit ihm hier draußen bleiben, bisdie anderen zurückkehren.«

»Wir können ihn aber auch nicht zu zweitden Pfad entlangtragen«, gab Lerana zu be-denken. »Wenn uns dann etwas angreift,sind wir hinüber.«

Jörg zuckte die Schultern.»Ich kann versuchen, ihn alleine zu tra-

gen«, meinte er und bückte sich in der Ab-sicht, sich den Freund auf die Schulter zu la-den. Aber im nächsten Augenblick richtete

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er sich wieder auf, riß dabei den Bogen vonder Schulter und schoß den ersten Pfeil ab,als Lerana noch nicht einmal begriffen hatte,was geschah.

Der Pfeil traf das erste von einem halbenDutzend hundegroßer Tiere, die auf dieLichtung hinausrasten.

Zwei weitere Tiere starben, ehe sie diejungen Jäger erreichten. Die anderen dreiwollten sich auf Djin stürzen, in dem sie einhilfloses Opfer witterten. Alle anderen aufdiesem Planeten ansässigen Tiere flohen inwilder Panik, sobald sie eine Rotte jagenderChircools sichteten. Daß die Menschen sichanders verhielten, hatte die Instinkte derRäuber noch nicht beeinflussen können.

Jörg Breiskoll brach zweien das Genick,und Lerana tötete das andere mit dem Mes-ser. Djin blutete aus mehreren Wunden underwachte dadurch vorübergehend aus seinerLethargie.

»Wo kommen diese Biester denn her?«fragte er verwundert. »Ich dachte, wir hättensie längst aus der Nähe des Dorfes vertrie-ben.«

»Das war ein Irrtum, wie du siehst«, be-merkte Jörg gelassen und zog Djin vom Bo-den hoch. »Komm jetzt, wir müssen soschnell wie möglich von dieser Lichtungweg! Die Chircools müssen wir liegen las-sen.«

»Was hast du eigentlich vorhin gesucht?«fragte Lerana, während sie zum Weg eilten.

»Ich habe etwas Fremdes gespürt«, sagteJörg gleichmütig. »Aber ich habe mich wohlgetäuscht.«

»Das ist eine Lüge!« sagte Lerana ärger-lich. »Du warst völlig durcheinander, als duauf die Lichtung gekommen bist.«

»Tatsächlich? Nun, ich kann es dir erklä-ren. Es kommt selten vor, daß ich etwas wit-tere, wo gar nichts ist. Es war ein Schock fürmich, zu erkennen, daß ich mich so sehr ge-irrt hatte.«

Er wußte, daß sie ihm nicht glaubte, abersie stellte auch keine weiteren Fragen. Ihrblieb gar keine Zeit dazu. Sie erreichten denPfad und sahen vor sich fünf Chircools, die

sich um eine Beute balgten. Die Räuber inihrem Blutrausch spürten kaum, was mit ih-nen geschah. Erst als die Bestien tot waren,konnten die Jäger sehen, worum sich dieChircools gestritten hatten.

Es war ein Jaguar – wenigstens nanntensie es so, weil ihre Vorfahren diesem Tierausgerechnet diesen Namen gegeben hatten.Der »Jaguar« war gute zwei Meter lang undbestand im wesentlichen aus zehn krallenbe-wehrten Beinen und einem riesigen, zähnest-arrenden Maul. Er galt als eines der gefähr-lichsten Tiere, die es im Dschungel vonChircool gab. Die Betschiden jagten diesesWesen nicht. Nur im extremen Notfall leg-ten sich die Jäger mit einem »Jaguar« an.Man ließ diese Wesen am Leben, weil sie soziemlich die einzigen Feinde der Chircoolswaren.

Dieser eine allerdings hatte offenbar keineZeit mehr gefunden, seine natürliche Überle-genheit den Bestien gegenüber auszuspielen.

»Er muß geschwächt gewesen sein«,meinte Lerana. »Sonst hätte er sich auchnicht so nahe an das Dorf herangewagt.«

»Verhungert sieht er nicht gerade aus«,stellte Jörg fest. »Ich möchte wissen, was indie Biester gefahren ist! Seit wann wagendie sich denn an einen Jaguar heran?«

»Höchstens dann, wenn er ihnen halbtotvor die Füße fällt«, murmelte Lerana.

Jörg trug die toten Chircools und den»Jaguar« zu einem reißenden Wildbach, derden Pfad auf eine kurze Strecke begleitete.Lerana hielt inzwischen bei Djin Wache.Während der ganzen Zeit ließ sich kein ein-ziges größeres Tier bücken. Lerana war dar-über einerseits beruhigt, andererseits gingihr diese seltsame Ruhe auf die Nerven. Erstjetzt fiel ihr auf, daß sie in der ganzen Zeitkeinen einzigen Glockenmeister gehört hat-te. Dabei schien die Sonne jetzt mit vollerKraft auf den Dschungel herab. Der Bodenbegann zu dampfen, es war heiß und stickig– etwas Besseres konnte es für die Glocken-meister gar nicht geben.

Trotzdem schwiegen sie.»Keine Glockenmeister«, sagte sie zu

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Jörg, als dieser seine blutige Arbeit beendethatte und zu ihr zurückkehrte.

»Ich habe es auch schon gemerkt«, mur-melte der junge Jäger und kümmerte sichum Djin, der teilnahmslos auf dem Wegkauerte. Er zog den Jungen hoch.

»Komm alter Freund«, sagte er dabei lei-se. »Wir beide machen jetzt einen kleinenDauerlauf. Was hältst du davon? Erinnerstdu dich noch daran, wie du immer versuchthast, mich zu besiegen? Vielleicht schaffstdu es heute. Nun mach schon – ich gebe dirsogar einen Vorsprung. Lauf!«

Djin lief tatsächlich. Er rannte wie vonFurien gehetzt den Weg entlang, der in nichtallzu großer Entfernung einen Knick mach-te. Genau dort traf er auch auf den Wild-bach, in dem die Kadaver der Chircools undder des »Jaguars« verschwunden waren.

Jörg setzte Djin nach, aber er lief nicht soschnell, wie er es gekonnt hätte. Er war heil-froh, daß Djin überhaupt in Bewegung war.So lief er ihm mit langen Sprüngen nach undachtete dabei auf seine Umgebung, stets dar-auf gefaßt, sich plötzlich verteidigen zumüssen. Verdacht schöpfte er erst, als Djindie Biegung fast erreicht hatte und mit un-vermindertem Tempo weiterlief.

»Jörg! Er will springen!«Er hörte Leranas Schrei, aber er hatte sich

bereits auf alle viere herabgelassen. Es wardas erstemal, daß Lerana ihn auf diese Wei-se laufen sah, denn er hütete sich, diese Fort-bewegungsart im Dorf zu praktizieren.

Er sah Djin vor sich verschwinden, dannglitt der Rand des Weges unter ihm weg,und er streckte sich und landete mit Händenund Füßen zugleich auf einem Felsen. Un-willkürlich stieß er ein ärgerliches Fauchenaus, als eiskaltes Wasser über ihn hinwegs-prühte. Dann sah er Djin einige Meter bach-abwärts für einen Augenblick auftauchen.Sofort spannte sich sein Körper, er sprang,setzte geschmeidig über mehrere Meter stru-delndes Wassers hinweg, berührte scheinbarflüchtig einen anderen Felsen und setzteweiter, bis er Djin überholte und ihn Sekun-den später am Kragen zu fassen bekam. Er

zog den halb ertrunkenen Jäger aus demBach und trat etwas langsamer den Rückwegan.

»Gütiger Himmel von Chircool«, stießLerana aus, als er sich mit Djin in den Ar-men auf den Weg hinaufschnellte. »Wiemachst du das bloß?«

Jörg schüttelte sich, daß das Wasser nachallen Seiten sprühte.

»Erzähle im Dorf besser nichts davon«,bat er. »Du weißt ja, wie die anderen sind.«

»Wenn sie endlich begreifen wollten, wasdu alles kannst, würden sie aufhören, sichdeinetwegen die Mauler zu zerreißen«, sagtesie heftig.

»Das ist nicht anzunehmen«, versicherteJörg. »Sie mögen keine Außenseiter. Laßuns weitergehen. Djin macht mir Sorgen.«

Als hätte er damit ein Stichwort gegeben,begann Djin zu toben. Er krallte sich an Jörgfest und schrie und heulte wie ein Tier. Jörgsetzte sich wortlos in Bewegung und rannteso schnell er konnte davon. Es hatte keinenSinn, wenn er mit dem schreienden Djin aufden Schultern in Leranas Nähe blieb. Siekonnte sich leichter schützen, wenn sie allei-ne war, als wenn eine solche Heulboje denganzen Dschungel um sie herum in Aufruhrversetzte.

Er konnte bereits die Stelle sehen, an derder Pfad aus dem Dschungel herausführte,als eine Rotte Chircools ihn angriff. Er be-griff nicht, woher die Bestien kamen. Er hat-te nie zuvor in seinem Leben so viele inner-halb einer so kurzen Zeitspanne gesehen. Daer mit Djin auf der Schulter schlecht kämp-fen konnte, übersprang er die angreifendenBestien und rannte weiter. Er war viel zuschnell für die Chircools. Er hörte sie hintersich quietschen und kreischen, und er verlorfast den Verstand vor Angst um Lerana.

Hätte er Djin opfern sollen, um das Mäd-chen zu retten?

Er ließ Djin auf der Dorfstraße fallen,sprang mit einem Satz zur nächsten Tür undhämmerte dagegen. Als er hörte, daß jemandim Haus war, wirbelte er herum und hetztezurück in den Dschungel.

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Als er vor sich eine Rotte Chircools sah,wußte er, daß er zu spät kam. Es war fastwie bei dem »Jaguar«. Im Blutrausch warendie Bestien blind und taub für ihre Umge-bung. Er tötete in wilder Wut eine nach deranderen. Diesmal waren es zehn, und vierlagen schon tot am Boden, als er seinenKampf begann. Lerana hatte sich tapfer zurWehr gesetzt.

Als die Chircools sich nicht mehr rührten,blieb Jörg Breiskoll stehen, den Bogenschußbereit in der Hand. So fanden ihn we-nig später jene drei Jäger, die als erste mitihrer Beute zum Dorf zurückkehrten. In derZwischenzeit war die Zahl der toten Chir-cools, von denen Jörg umgeben war, aufknappe dreißig angewachsen.

2.

Sie kamen von der südlichen Schlucht,wohin kein anderer sich bei dieser erstenJagd gewagt hatte, und sie hatten damit dieChance, als erste mit reicher Beute heimzu-kehren. In der südlichen Schlucht hausten alljene Tiere, die sich vor den Betschidenfürchteten und sich darum aus der Nähe desDorfes zurückgezogen hatten. Das wäre fürdie anderen Jäger kein Grund gewesen, dieSchlucht zu meiden. Aber mit den begehrtenBeutetieren war auch allerlei Raubzeug indie Schlucht gezogen – nicht nur aus derUmgebung des Dorfes, sondern auch aus derentgegengesetzten Richtung. Wer in der süd-lichen Schlucht ein Tier schoß, der mußtedarauf gefaßt sein, schon im nächsten Au-genblick von einer ganzen Horde Raubzeugüberwältigt zu werden.

Sie waren das Risiko eingegangen, und eshatte sich gelohnt. Surfo Mallagan trugeinen »Hirsch«, dessen gelbes Fell metal-lisch schimmerte, Brether Faddon ein»Schwein«, dessen Schnauze lang und grauund rüsselförmig war und das eine rostfarbe-ne Haut hatte. Scoutie schließlich schlepptesich mit zwei »Hühnern« ab, die groß undweiß waren, eine sehr dünne Haut hattenund extrem viel zartes Fleisch hergaben, von

den Federn, deren Kiele man als Nähnadelnbenutzen konnte, einmal abgesehen.

Die Vorfahren der Betschiden hatten sichvermutlich irgendwann einmal den Kopfdarüber zerbrochen, warum so viele Tiereauf Chircool zehn Beine besaßen, aber dieheutigen Jäger machten sich darüber längstkeine Gedanken mehr. Sie wären im Gegen-teil überaus enttäuscht gewesen, anstelle vonzehn saftigen Keulen pro Beute nur noch de-ren vier vorzufinden.

Die südliche Schlucht lag bereits weit hin-ter ihnen, und das Dorf war kaum noch eineViertelstunde entfernt, da blieb Surfo Malla-gan plötzlich stehen. Sofort hielten auch dieanderen an. Sie sahen sich wachsam um,lauschten und sogen prüfend die Luft ein.Schließlich wandte Scoutie sich ungeduldignach Surfo Mallagan um.

»Da war für einen Augenblick ein ganzmerkwürdiges Summen«, erklärte Mallaganleise. »Habt ihr es nicht gehört?«

Scoutie und Brether Faddon schütteltendie Köpfe.

»Vielleicht ein Scout«, bemerkte Brether.»Scouts summen nicht«, stellte Surfo

Mallagan spöttisch fest.»Manchmal schon, wenn sie in der Luft

stehen bleiben.«Surfo Mallagan verzog das Gesicht und

sah ergeben zu den Wipfeln der Bäume auf.Die Scouts waren geflügelte Tiere von derGröße einer Männerfaust, die in losen Sip-penverbänden in den Stämmen hohler Bäu-me hausten. Es waren ungewöhnlich schwa-che, hilflose Kreaturen, die sich überhauptnicht zu verteidigen vermochten. Sie bohrtenvon innen her ihre Wohnbäume an, trankenderen Saft und brachten sie damit allmählichzum Absterben. Wenn die Scouts genötigtwaren, sich eine neue Behausung zu suchen,schickten sie Kundschafter aus, und seitdemBrether Faddon vor etwa zwei Jahren wegeneines Unwetters gezwungen gewesen war,einige Stunden in einem von Scouts be-wohnten Baum zu verbringen, behauptete ersteif und fest, gesehen zu haben, wie dieKundschafter Flugübungen veranstalteten

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und dabei auch mit rasend schnell wirbeln-den Flügeln in der Luft stehenblieben.

»Streitet euch im Dorf weiter«, empfahlScoutie ärgerlich. »Irgend etwas stimmt heu-te nicht in diesem Dschungel.«

Die beiden jungen Männer sahen sich be-troffen an. Es kam nicht allzu häufig vor,daß Scoutie solche ahnungsvollen Bemer-kungen von sich gab.

Das Mädchen rückte sich die beiden»Hühner« zurecht und ging weiter. Der Wegführte um einige mächtige Weißrindenbäu-me herum. Scoutie entschwand für einenAugenblick aus dem Blickfeld der Jäger,und sie beeilten sich, zu dem Mädchen auf-zuschließen. Sie rannten Scoutie fast überden Haufen. Das Mädchen stand wie festge-nagelt da.

»Verdammt«, flüsterte Surfo Mallagan.»Das ist Jörg. Was hat der Junge hier zu su-chen?«

Aber er vergaß diese Frage sofort wieder,denn von rechts schlich sich etwas an denJungen heran. Es schob sich durch die Blät-ter und Luftwurzeln, eine buckelige Masse,aus der sich ab und zu ein grauer Kopf hobund die Witterung prüfte. Mörderische Ge-bisse wurden für Sekunden sichtbar, danntauchte der alptraumhafte Gegner wiederzwischen den Blättern unter.

Jörg sah und hörte nichts von diesemGegner. Er stand zwischen reglosen, bluti-gen Leibern und blickte gerade zu diesemZeitpunkt in die entgegengesetzte Richtung.Darum bemerkte er auch die drei Jägernicht.

»Chircools«, stellte Scoutie flüsternd fest.»Schade um unsere Beute.«

Sie sahen sich an, dann nickte Surfo Mal-lagan den beiden anderen zu.

»Es sind mindestens fünfzehn«, flüsterteer. »Wenn wir Glück haben, verlieren wirnicht alles. Wir lassen die Beute dort drübenfallen, bei den Stachelwurzeln.«

Sie schlichen links und rechts des Wegesdahin, bemüht, die Chircools nicht auf sichaufmerksam zu machen. Wenn diese Räuberschon jetzt bemerkten, daß der Junge Ver-

stärkung bekommen hatte, dann konnte esnur zu leicht geschehen, daß auch sie Unter-stützung herbeiholten. Darauf verstanden siesich hervorragend. Ein einziger schrillerJagdschrei reichte aus, und sämtliche Chir-cools, die sich im Umkreis von zwei Kilo-metern aufhielten, eilten herbei.

Natürlich hätte es so nahe beim Dorf garkeine Chircools geben dürfen, aber die dreiJäger sahen die toten Tiere, von denen Jörgumgeben war, und sie verloren kein Wortmehr über die Anwesenheit der Bestien.

Sie erreichten das Gewirr der Stachelwur-zeln, als die Chircools nur noch etwa zwan-zig Meter von Jörg Breiskoll entfernt waren.Im nächsten Augenblick würden die Tieresich quietschend und kreischend auf ihr Op-fer stürzen. Von da an waren sie blind undtaub für ihre Umgebung.

Surfo Mallagan hob die Hand, und als erdie erste schnelle Bewegung in der schlei-chenden Rotte bemerkte, warf er die schwe-re Beute von den Schultern und ließ sie indas Wurzelgewirr fallen. Nadelspitze Dor-nen spießten den Hirsch auf, und unten,dicht am Boden, erzitterten die langen,bandförmigen, aufgerollten Blätter.

Auch Scoutie und Brether ließen ihreBeute fallen. Die dabei entstehenden Ge-räusche hätten die Chircools noch vor weni-gen Sekunden in den Alarmzustand versetzt,jetzt aber waren sie bereits auf den Jungenfixiert, der noch immer in die falsche Rich-tung blickte.

Die drei Jäger sprangen auf den Weg zu-rück. Während Brether und Scoutie blitz-schnell auf günstige Schußpositionen hetz-ten, zielte Surfo Mallagan sorgfältig. DerPfeil schnellte von der Sehne und zischte anJörgs rechtem Ohr vorbei, ehe er sich zit-ternd in die weiche Rinde eines Korbfarnsbohrte.

Jörg fuhr herum, erblickte die drei Jägerund fast gleichzeitig auch die Chircools. Dieerste Bestie, die ihm schon ganz nahe war,brach mitten im Sprung zusammen, getrof-fen von einem Pfeil. Die zweite riß ihm einelange, blutige Schramme ins Schienbein, ehe

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sie ihm sterbend vor die Füße fiel. Dennochwich Jörg nicht aus.

Die drei Jäger verstanden nicht, was dasVerhalten des Jungen zu bedeuten hatte,aber ihnen blieb vorerst auch gar keine Zeit,darüber nachzudenken. Surfo Mallagan hattedie Zahl der Bestien recht genau geschätzt.Es waren siebzehn Chircools, die Jörg at-tackierten. Im Grunde genommen waren esstupide Bestien, die aus keiner einzigen Nie-derlage eine Lehre zogen und selbst wäh-rend eines solchen Angriffs nicht zu begrei-fen imstande schienen, daß es angesichtsmassiven Widerstands besser sei, sich da-vonzumachen. Aber gerade ihr Unvermö-gen, eine tödliche Gefahr zu erkennen,machte die Chircools so ungeheuer gefähr-lich. Sie ließen sich nicht in die Fluchtschlagen. Eine Schlacht war daher erst ent-schieden, wenn der letzte Gegner getötetwar.

Da Jörg sich noch immer weigerte, auchnur einen Schrittbreit Boden freizugeben,war er trotz aller Bemühungen der drei Jägerschon bald von einem Knäuel von Chircoolsumgeben. Er kämpfte, was man daraus erse-hen konnte, daß einige Tiere aus diesemKnäuel herauskatapultiert wurden und nichtwieder aufstanden. Aber erst als Surfo Mal-lagan und Scoutie nahe genug heran waren,um die Messer benutzen zu können, zeich-nete sich für Jörg eine Chance ab, diesenAngriff zu überleben.

Die beiden jungen Betschiden kämpftenwie die Rasenden, während Brether Faddonjene Tiere aufs Korn nahm, die das Knäuelumkreisten, um unerwartet ihr Opfer anzu-springen, wenn sich ihnen eine Chance dazubot.

Der Kampf dauerte alles in allem kaumlänger als eine Minute, aber den jungen Bet-schiden kam jede einzelne Sekunde wie eineEwigkeit vor. Schließlich aber fiel der letzteChircool zur Seite und streckte alle zehnLäufe von sich.

»Kümmert ihr euch um unsere Beute!«befahl Surfo Mallagan leise.

Brether und Scoutie rannten zurück zu

den Stachelwurzeln. Die langen Bänder wa-ren bereits entfaltet, hatten sich aber nochnicht um die getöteten Tiere gelegt. Hastigzerrten sie den »Hirsch«, das »Schwein«und die beiden »Hühner« aus dem Gestrüpp.Ein paar Blätter, die sich herabneigten, muß-ten sie notgedrungen kappen. Sobald dieBlätter die Tiere erreichten, sonderten sie ei-ne giftige Flüssigkeit ab, die das Fleisch bin-nen weniger Stunden völlig zersetzte und esschon beim ersten Kontakt ungenießbar wer-den ließ.

Unterdessen kümmerte Surfo Mallagansich um Jörg. Der Junge hatte eine ganzeReihe von Biß- und Kratzwunden davonge-tragen. Er reagierte wie in Trance, als Malla-gan ihn untersuchte und zwei Wunden, dienicht zu bluten begonnen hatten, mit demMesser erweiterte.

»Wir können sie unmöglich alle vom Wegwegschaffen«, bemerkte Scoutie, die hinterMallagan stehenblieb und darauf wartete,daß man endlich zum Dorf zurückkehrenkonnte. »Es sind einfach zu viele.«

»Wir müssen es scharfen«, murmelteMallagan und betrachtete die vielen totenChircools. »Wenn wir sie hier liegen lassen,werden ihre Freunde erscheinen und wo-chenlang diesen Weg blockieren.«

Er nahm Jörg bei beiden Schultern undschüttelte ihn sanft. Der Junge zuckte nichteinmal mit den Augen.

»Surfo!« sagte Scoutie leise. »Hast du ge-sehen, weshalb er sich die ganze Zeit übernicht von der Stelle rühren wollte?«

Mallagan antwortete nicht. Er hob dieHand und schlug den Jungen ins Gesicht.

»Das kannst du nicht tun!« sagte Scoutieentsetzt. »Lerana ist tot, und er …«

»Er wird ihr schon in den nächsten Minu-ten folgen, wenn es mir nicht gelingt, ihn zusich zu bringen«, erwiderte der Jäger. »Undwir drei werden ihn begleiten! Steh hiernicht herum. Nimm lieber die Chircools undbringe ein paar von ihnen zu den Stachel-wurzeln. Neben den Wurzeln habe ich Va-nilleblätter gesehen. Deck die Chircools da-mit zu. Der Pflanze wird es nicht gleich den

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Appetit verderben, aber es wird hoffentlichden Geruch verdecken. Brether, wo bistdu?«

»Hinter dir.«»Nimm dir die restlichen Chircools. Bin-

de sie zusammen. Wir müssen sie mitschlei-fen, bis wir zum Bach kommen.«

Jörg stand immer noch regungslos da.Mallagan schüttelte verzweifelt den Kopf.Sie konnten nicht den Jungen und die Beuteins Dorf tragen. Im Zweifelsfall war natür-lich Jörg wichtiger als irgendein erlegtesTier, aber Mallagan war lange genug Jägerim Dschungel von Chircool, um zu wissen,daß man einen Schock dieser Art entwedersehr schnell oder gar nicht überstand. Erfragte sich, was er tun konnte, um den Jun-gen jetzt noch aufzuwecken.

Einer gefühlsmäßigen Eingebung gehor-chend, bückte er sich und tat, als wolle erLerana aufheben. Im nächsten Augenblicksaß Jörg ihm an der Kehle. Es war eine ab-surde Situation. Auf diesem blutgetränktenBoden, umgeben von toten Chircools, be-mühte sich Jörg Breiskoll, jenem Jäger, dener wie keinen anderen verehrte, das Lebens-licht auszublasen, und Surfo Mallagan wargezwungen, sich gegenüber Jörg zu verteidi-gen, als gelte es sein Leben – und es galtsein Leben. Der »Kater«, wie man ihn imDorf nannte, kämpfte wie das, was er auchwar: Eine unerklärliche Mischung von tieri-schem Instinkt und menschlichem Verstand.

Brether Faddon und Scoutie hüteten sich,in den Kampf einzugreifen. Sie hätten esvermutlich getan, wenn es Jörg gelungenwäre, Mallagan tatsächlich zu besiegen. Soaber warteten sie ab. Sie waren Jäger, undsie waren ein Team. Sie wußten, wie sie ein-ander einzuschätzen hatten. Surfo hatte die-sen Kampf provoziert, und er wußte sicher,warum er das getan hatte.

Schließlich siegte Mallagans Erfahrungüber Jörgs Instinkte. Es gelang ihm, denJungen zu Boden zu werfen, und er knietesich auf ihn und hielt dieses fauchende,spuckende Bündel Mensch nieder, obwohlihm das Blut über das Gesicht lief und seine

linke Hand die Spuren scharfer Zähne auf-wies, was in beiden Fällen Jörgs Werk war.

»Hör mir zu, du Dummkopf«, sagte er lei-se. »Lerana ist tot, und du kannst sie nichtwieder lebendig machen. Das einzige, waswir überhaupt noch für sie tun können, ist,sie ins Dorf zu bringen und dafür zu sorgen,daß sie ein anständiges Begräbnis bekommt.Geht das in deinen Schädel hinein?«

Jörg fauchte und wand sich und hätte esfast geschafft, seine Zähne in MallagansArm zu schlagen. Der Jäger zwang sich zueinem Lachen, das überlegen wirkte. Füreinen Augenblick war Jörg irritiert.

»Sie werden sie nicht begraben«, sagte er.»Das habt ihr getan, mit ein paar Leuten,aber alle anderen wandern in die Schlucht.«

»Du kannst ja sogar reden«, meinte Mal-lagan spöttisch. »Wie kommst du auf dieIdee, daß wir es zulassen werden, daß manLerana ein solches ›Raumbegräbnis‹ zukom-men läßt? Kennst du uns so schlecht?«

»Lars O'Marn hat uns belauscht«, stießJörg hervor. »St. Vain hat jetzt Beweise ge-gen euch.«

Diesmal war Mallagans Lächeln echt.»St. Vain hat diese Beweise schon seit

langem. Wir selbst haben ihm oft genug ge-sagt, was wir für nötig halten, und wir habensogar dafür gesorgt, daß Zeugen anwesendwaren.«

»Aber …«»Sag mal, du verdammter Narr hast doch

wohl nicht etwa das verpaßt, was St. Vainden angehenden Jägern bei ihrer Einwei-hung verrät?«

Jörg antwortete nicht. Er sah Mallaganmit brennenden Augen an. Wahrscheinlicherinnerte er sich gerade in diesem Augen-blick wieder an Lerana.

Einem Schock, dachte Surfo Mallagan,begegnet man am besten mit einem anderenSchock. Was soll ich sonst tun?

»St. Vain kennt die Wahrheit sehr genau«,sagte er leise. »Er weiß, daß wir uns auf ei-nem Planeten befinden, und er kennt alleKonsequenzen, die sich daraus ergeben.«

»Aber warum macht er denn dieses Spiel

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mit?« fragte Jörg fassungslos.»Ich will versuchen, es dir zu erklären,

wenn wir wieder im Dorf sind«, versprachSurfo Mallagan. »Aber damit wir jemalswieder dorthin kommen, mußt du dich jetztzusammenreißen.«

»Was soll ich tun?« fragte Jörg bedrückt.Mallagan gab den Jungen frei.»Steh auf!« befahl er. Er deutete auf einen

großen Busch mit riesigen, dunkelgrünenBlättern. »Schneide so viel Zweige davonab, wie du kannst – und beeile dich.«

Er half Brether Faddon, die Chircools zueinem festen Bündel zu verschnüren, wäh-rend Jörg die Zweige abschnitt und Scoutienoch immer tote Tiere zu der Stachelwurzelschleppte. Die ganze Zeit hindurch hob im-mer wieder einer von ihnen den Kopf undbetrachtete aufmerksam die Umgebung. Siewaren darauf gefaßt, daß sie schon in dernächsten Sekunde von Chircools angefallenwurden. Ihre Waffen waren nie weiter vonihnen entfernt, als sie sie mühelos ergreifenkonnten.

Surfo Mallagan und Brether Faddonschlangen Knoten, die sich allesamt lösenwürden, wenn sie an einem bestimmten En-de des Seiles zogen. Das Seil, das sie be-nutzten, bestand aus locker ineinanderge-flochtenen Baststreifen, die sich im Wassersehr schnell voneinander lösen würden. Daswar wichtig, beinahe ebenso wichtig wie dieeigenartigen Knoten. Wenn auch nur eineinziger Chircool an einem Felsen hängen-blieb, wenn das Seil sich nicht löste und sichan Wurzeln verfing und die verhängnisvolleFracht, die man dem Bach anvertrauen muß-te, aufhielt, dann würden die anderen Besti-en sich einfinden und den Pfad blockieren.

Brether und Surfo beendeten ihre Arbeit,als Scoutie gerade von den Stachelwurzelnzurückkehrte und verkündete, daß die Pflan-ze keine weiteren Körper aufnehmen konnte.

»Kümmert euch um alles weitere«, sagteMallagan leise. »Ich übernehme Lerana.«

Sie konnten das Mädchen nicht an diesemOrt zurücklassen, und das hatte keineswegsetwas mit Rücksichtnahme auf Jörgs Gefüh-

le zu tun. Chircools würden erscheinen undvertilgen, was von dem Mädchen noch übrigwar – und für geraume Zeit einen schier un-ersättlichen Appetit auf das Fleisch von Bet-schiden entwickeln. Natürlich hätten sieauch Leranas Überreste dem Bach oder derfleischfressenden Pflanze übergeben kön-nen, aber das wäre dem Eingeständnis einerNiederlage gleichgekommen und hätte imWiderspruch zu den Regeln gestanden, nachdenen sich die Jäger von Chircool richteten.

Diese Regeln waren sehr einfach, aberman hielt sich eisern an sie. Sie besagten,daß die Betschiden niemals nur aus Mutwil-len oder aus Freude an der Jagd töten durf-ten. Sie erlegten nur Tiere, die eine Mindest-menge an eßbarem Fleisch zu bieten hatten,und kein Jäger schoß mehr Wild, als er auchmit Sicherheit ins Dorf zu tragen vermochte.Es war verpönt, Tiere nur aus dem Grundeumzubringen, weil man vielleicht zwei far-benprächtige Hornschuppen vom Hinterkopfals Schmuck verwenden konnte, die Beuteaber sonst unberührt liegen lassen mußte.Ein Jäger, der seine Pflichten ernst nahm –und das taten sie alle, denn sonst lebten siesowieso nicht lange –, verzichtete auch dar-auf, die Pflanzen des Dschungels ohne zwin-genden Grund zu beschädigen. Andererseitsaber ließ man es auch nicht zu, daß derDschungel sich der Menschen bemächtigte.Fiel ein Betschide den vielfältigen Gefahrendieser Umgebung zum Opfer, dann taten sei-ne Begleiter alles, um ihn zum Dorf zurück-zubringen.

Auch Lerana würde diesen Weg nehmen.Mallagan suchte große Blätter, die er um

das Mädchen wickelte. Die Blätter verström-ten einen Geruch, der den Blutgeruch über-decken würde. Sobald der Jäger mit diesemTeil seiner Arbeit fertig war und den Körperdes Mädchens in einer Hülle aus diesenBlättern vor all den winzigen, teilweise flug-fähigen Aasfressern sicher wußte, zer-quetschte er einige Blatteile auf einem Stein.Er rieb die Wunden des Jungen mit demgrünlichen Zeug ein. Er versorgte auch zweiKratzer und die Bißwunden, die Jörg ihm

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beigebracht hatte, und winkte Brether Fad-don zu sich. Während der andere Jäger sichmit dem Pflanzensaft behandelte, stelltenMallagan und Scoutie das lockere Geflechtaus Zweigen fertig, auf denen sie die totenChircools transportieren wollten. Das Mäd-chen wischte sich ebenfalls eine Portion vondem Pflanzensaft auf ein paar Schrammen,dann luden sie die Chircools auf die Zweigeund luden sich ihre Beute wieder auf. SurfoMallagan trug nicht nur seinen »Hirsch«,sondern auch Lerana, denn er war der An-sicht, daß es keinen Sinn hatte, Jörg zu die-sem Zeitpunkt zu sehr zu belasten. Der Jun-ge zog gemeinsam mit Brether Faddon dieimprovisierte Schleppbahre, und Mallaganstapfte hinter ihnen her und achtete darauf,daß die makabre Fracht nicht herabglitt.Scoutie übernahm es, die Gruppe abzusi-chern.

Sie maßen die Entfernungen grundsätzlichnach der Zeit, die sie brauchten, um sie zu-rückzulegen, wenn sie ohne Lasten im fe-dernden Trapp dahinliefen. Sie hätten denBach auf diese Weise in kaum zehn Minutenerreichen können. Aber natürlich brauchtensie nun viel länger. Zum Glück war der Wegin relativer Nähe zum Dorf ungewöhnlichbreit für betschidische Verhältnisse – fasteinen Meter – und er war kaum bewachsen.Die Jäger hielten ihn notgedrungen vonPflanzen frei, obwohl es ihnen widerstrebte,die immer wieder nachsprießenden Gewäch-se zu entfernen. Aber Wege wie dieser wa-ren für das Dorf lebensnotwendig. Kein Bet-schide konnte ausschließlich von Fleisch le-ben, und die Felder trugen nach der Regen-zeit keine Früchte. Für die nächsten Wochenwaren die Dorfbewohner auf das angewie-sen, was der Dschungel selbst hervorbrach-te. Sie hätten jedoch keinen Fuß in diesewilde Umgebung gesetzt, wäre da nicht we-nigstens ein sicher anmutender Pfad gewe-sen.

Als sie den Bach erreichten, ohne nocheinmal von Chircools angegriffen worden zusein, war Surfo Mallagan fast geneigt, zuglauben, daß es sich lediglich um eine Ver-

kettung unglücklicher Zufälle handelte. Siehatten unterwegs, kurz vor dem Bach, dieSpuren des Kampfes gesehen, den Jörg undseine beiden Freunde ausgefochten hatten,und es war ihnen auch nicht entgangen, daßdie drei – denn Djin war mit Sicherheit da-beigewesen – aus dem Dschungel auf denWeg hinausgetreten waren, aber da Jörg be-harrlich schwieg, ahnten sie noch immernicht, was in Wirklichkeit geschehen war.

Sie warfen die Chircools ins Wasser,hackten mit ihren Messern die vom Blut derBestien befleckten Zweige in kurze Stückeund warfen sie ebenfalls hinunter. Die Blät-ter, mit denen sie anschließend ihre Händereinigten, wanderten hinterdrein, und siewandten sich erleichtert dem letzten Teil ih-res Weges zu.

»Sie ist umgekehrt«, sagte Jörg plötzlich,als sie gerade auf die künstlich geschaffeneLichtung hinaustraten.

Brether Faddon, der vorausging, sah sichüberrascht um und setzte zu einer Frage an,aber Surfo Mallagan brachte ihn mit einemhastigen Wink dazu, zu schweigen.

»Sie muß es gehört haben«, fuhr Jörg fort.»Da ist sie umgekehrt, und die Chircools ha-ben sie gefunden.«

Surfo Mallagan war stehengeblieben undwartete geduldig.

»Was hat sie gehört?« fragte er sanft, alsJörg keine Anstalten traf, seine Bemerkungnäher zu erklären.

»Ein Summen«, flüsterte der Junge. »Einhohes, fremdartiges Summen.«

»Dieses Summen habe ich auch gehört«,sagte Surfo Mallagan überrascht. »Weißt du,woher es stammt, Jörg?«

Der Junge konnte sich kaum noch auf denBeinen halten, was aber bestimmt keine kör-perliche Erschöpfung zur Ursache hatte. Diedrei Jäger wußten nur zu genau, welch un-vorstellbare Reserven in dem beinaheschmächtig wirkenden Jörg Breiskoll steck-ten, denn sie hatten den »Kater« und seinebeiden Freunde in den letzten beiden Jahrenoft genug mitgenommen, um sie die Kunstzu lehren, wie man sich im Dschungel be-

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hauptete, ohne ihn sich zum Feind zu ma-chen.

»Es ist nicht so wichtig, Jörg«, sagte Mal-lagan, der die Zeichen sah und richtig deute-te.

Jörg schien ihn gar nicht zu hören.»Es war der Alte vom Berg!« stieß er her-

vor, und dann brach er zusammen.Diesmal waren sie nicht die ersten, die

mit einer Beute ins Dorf zurückkehrten. Daswäre nicht so schlimm gewesen, aber siebrachten außerdem das tote Mädchen undden bewußtlosen Jungen heim.

Die Betschiden, die sich schwatzend undlachend vor der Bordküche drängten, ver-stummten und wichen zurück, als sie diedrei Jäger sahen. Eine Gasse tat sich auf,durch die Surfo und seine Freunde hindurch-schreiten konnten. Niemand stellte ihnenFragen. In den Augen der Betschiden stan-den Furcht und Haß.

Sie trugen ihre Beute in die Bordküche,und Surfo zog das Messer aus dem Gürtelund trennte je eine Keule von dem »Hirsch«,dem »Schwein« und einem der »Hühner«ab. Um das tun zu können, mußte er Leranaauf den Boden legen. Die Blätter, die denKörper des Mädchens verhüllten, fielen teil-weise zur Seite und gaben den Blick auf das,was sie verborgen hatten, frei. Jene Betschi-den, die das Geschehen beobachteten, blick-ten hastig zur Seite.

Brether Faddon ertrug das Schweigennicht länger.

»Ihr verdammten Narren könntet sie euchwenigstens ansehen!« rief er wütend.»Wacht doch endlich auf, hört auf, euch ein-zureden, daß ihr euch in einem Raumschiffbefindet. Seht euch das Mädchen an, undmacht euch klar, daß sie nicht das einzigeOpfer sein wird, das es unter den jungen Jä-gern bis zur nächsten Regenzeit geben wird.Wenn ihr aufhören wolltet, in einer Traum-welt zu leben, dann wäre es nicht mehr nö-tig, Kinder solchen Gefahren auszusetzen.«

»Hör auf!« befahl Mallagan scharf. »Dashat doch keinen Sinn. Scoutie, nimm dieKeulen.«

Sie verließen die Bordküche. Draußenstellte sich ihnen Claude St. Vain in denWeg.

»Ich hoffe, ihr habt nicht die Absicht,Leranas Tod für eure absurden Ziele zu miß-brauchen!« sagte er laut.

In diesem Augenblick war Surfo Malla-gan froh, daß er gezwungen war, die Leichedes Mädchens festzuhalten. Hätte er dieHände freigehabt, dann hätte er sich auf denKapitän gestürzt und ihn in aller Öffentlich-keit verprügelt, bis der Kapitän die Wahrheitlaut herausschrie.

Mallagan erschrak vor sich selbst.Nein, dachte er ernüchtert. So geht es

nicht. Das ist total verkehrt.»Wir werden Lerana begraben«, sagte er.

»Und jetzt geh mir aus dem Weg. Wir müs-sen uns um den Jungen kümmern.«

»Nein!«Mallagan sah den Kapitän überrascht an.»Du wirst sie in den Hangar tragen!« fuhr

St. Vain fort. »Noch heute, vor Beginn derSchlafperiode, wird Lerana den ewigen Frie-den finden.«

»Das könnte dir so passen«, zischteBrether Faddon. »Aber ich schwöre dir, daßdu dieses Mädchen nicht in die Schlucht be-fördern wirst. Eher stürzt du selbst dort hin-unter.«

Es war seltsam, daß St. Vain auf dieseDrohung nicht reagierte. Er deutete auf Jörg.

»Wird er sterben?«»Nein!« sagte Brether heftig. »Er hat

einen Schock erlitten, das ist alles.«»Du scheinst es nicht für gefährlich zu

halten«, stellte der Kapitän fest. »Ich sagedir, der Schock wird ihn töten.«

Surfo Mallagan kannte seinen Freund.Brether Faddon war ein hervorragender Jä-ger, und das bedeutete, daß er ein gehörigesMaß an Geduld aufzubringen imstande war.

Aber im Umgang mit den Betschiden, dieim Dorf lebten, verlor er nur zu leicht dieBeherrschung.

»Laß ihn reden«, befahl er scharf. »Es istdoch das einzige, was er kann. Kommt!«

»Ja!« rief St. Vain. »Kommt und seht

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euch an, was ihr angerichtet habt.«Er drehte sich so heftig um, daß ihm fast

der Fellumhang von den Schultern gefallenwäre. Scoutie sah Mallagan fragend an, under zuckte die Schultern.

»Was willst du uns zeigen?« fragte erschroff.

St. Vain antwortete nicht, sondern drehtesich um und schritt voran. Die Betschidendrängten sich näher und kreisten die drei Jä-ger regelrecht ein, als wollten sie sie zwin-gen, dem Kapitän zu folgen. Natürlich hät-ten sie sich zur Wehr setzen und eine etwai-ge Auseinandersetzung auch gewinnen kön-nen, denn die, mit denen sie es jetzt zu tunhatten, gehörten zu St. Vains getreuestenAnhängern, und das hieß, daß es sich umMenschen handelte, die größtenteils zeit ih-res Lebens nicht aus dem »Schiff« herausge-kommen waren. Sie kannten keinen Kampfauf Leben und Tod, wie die Jäger ihn tagtäg-lich im Dschungel führen mußten. Da sieauch nur relativ wenig körperliche Arbeitleisteten, hätte jeder der Jäger es mühelosmit einem halben Dutzend von ihnen auf-nehmen können.

Aber Mallagan dachte an Jörg, der soschnell wie möglich Ruhe bekommen sollte,und er gab seinen Freunden mit einem un-auffälligen Zeichen zu verstehen, daß sieeinstweilen alles unterlassen sollten, was dieBetschiden hätte provozieren können.

Erst als St. Vain an der»Kommandozentrale« vorbeiging, begannSurfo Mallagan zu ahnen, daß etwas wirk-lich Schlimmes vorgefallen war. Scoutieschob sich näher an ihn heran.

»Gib mir Lerana«, flüsterte sie.Mallagan zögerte nicht lange. Scoutie

wußte nicht nur ihr Messer, sondern auch ih-re Fäuste zu gebrauchen, und abgesehen da-von, daß ihre beiden Jagdgefährten ihr,wenn die Umstände es zuließen, aus purerGalanterie Unannehmlichkeiten zu ersparentrachteten, wären sie niemals auf die Ideegekommen, das Mädchen ohne zwingendenGrund aus einem Kampf herauszuhalten.Aber Mallagan hatte die größere Reichweite,

und er war nicht zuletzt der Anführer derDreiergruppe.

Als er Lerana nicht mehr zu tragenbrauchte, nutzte er die Gelegenheit, um sichund den beiden anderen auf unauffälligeWeise ein wenig Luft zu verschaffen. Erbrauchte nicht viel zu tun. Wenn er nur nahegenug an die Betschiden herankam, wichensie ganz von selbst vor ihm zurück. Er wirk-te bedrohlich auf sie, und das lag nicht nuran seiner stämmigen Gestalt und seinen brei-ten Schultern, sondern auch daran, daß dieNatur ihm eine Buhrlo-Narbe beschert hatte,die an ungewöhnlicher Stelle saß. Jeder Bet-schide besaß mindestens eine solche Narbe,und Mallagan hatte deren drei, aber eine da-von saß ihm auf der Stirn und reichte bis aufden Schädel hinauf. Die glasige Verdickungwar unbehaart und ließ den Jäger in den Au-gen vieler Betschiden unheimlich aussehen.

Es ging weiter die schmale, schlammigeGasse zwischen den Hütten entlang, und dieJäger rechneten bereits damit, daß man siezwingen wollte, Lerana ohne die übliche Ze-remonie auf die Gleitfläche zu legen. Aberdann hielt St. Vain doch an, direkt vor derTür jenes Schuppens, der die Grenze zum»Hangar« bildete, wie der Kapitän und seineAnhänger das Gelände direkt an derSchlucht nannten.

»Tretet zurück!« befahl St. Vain seinenAnhängern. Sie gehorchten nur widerwilligund warfen den Jägern drohende Blicke zu.

St. Vain öffnete die Tür, und sie sahen dieschwarz eingefärbten Häute, die im Innernder Hütte einen Vorhang bildeten, der keinLicht hindurchdringen ließ. Da wußten sie,was geschehen war, und die einzige, bangeFrage, die sich jetzt noch erhob, lautete, wenes getroffen hatte.

Djin, dachte Mallagan niedergeschlagen.Es kann nur der Junge sein.

Aber gleichzeitig war ihm bewußt, daßdamit St. Vains seltsames Betragen nochlängst nicht erklärt war.

Sie folgten dem Kapitän in die finstereHütte, und St. Vain befahl Scoutie, die Türzu schließen, bevor er die Häute zurück-

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schlug. Der Kapitän trat mit raschen Schrit-ten in den Innenraum hinein, die Jäger aberblieben fassungslos vor Entsetzen stehen.

Das Dach der Hütte wurde von zweidicken, roh behauenen Baumstämmen ge-stützt, und an jedem dieser Stämme war einBetschide festgebunden. Sie zerrten wild anihren Fesseln, und wegen der Knebel in ih-ren Mündern und ihrer verzerrten Gesichterkonnte man sie auf den ersten Blick kaumerkennen, aber Mallagan sah sofort, daß dereine der beiden tatsächlich Djin war. Der an-dere aber – das war Lars O'Marn, ein Uren-kel des Kapitäns und dessen besondererLiebling, obwohl der Junge zu St. VainsLeidwesen von früher Kindheit an hatte er-kennen lassen, daß er zu denen gehören wür-de, die hinausgehen konnten in den Dschun-gel von Chircool, um dort zu jagen oder zukämpfen.

»Das ist euer Werk!« sagte St. Vain, undin seiner Stimme lag so viel Haß, daß Malla-gan einen Schauder auf seinem Rücken fühl-te.

3.

Von draußen drang das Gemurmel derBetschiden herein, wurde plötzlich lauterund riß ab, als die Tür krachend aufgestoßenwurde. St. Vain wirbelte herum. Licht fiel indie Hütte, und die beiden Jungen bäumtensich in ihren Fesseln auf und stießen dumpfeLaute der Angst hervor. Der Betschide, derhereingestürmt war, beeilte sich, die Türwieder zu schließen, dann baute er sich vorSt. Vain auf. Die Jäger sahen sich vielsa-gend an.

»Was geht hier vor?« fragte Doc Mingwütend. »Warum bringst du diese Jägerhierher? Ich habe verboten, daß irgend je-mand die Hütte betritt. Das Verbot gilt auchfür dich.«

St. Vain wich den Blicken des Heilersaus, indem er auf Mallagan zutrat.

»Ihr habt sie auf dem Gewissen!« zischteer. »Ihr drei!«

»Moment!« mischte Doc Ming sich ärger-

lich ein und drehte den Kapitän zu sich um,indem er die mächtigen Pranken um St.Vains Schultern legte und ihn wie eine Pup-pe bewegte. »Was soll das heißen? Was ha-ben die drei dort mit dem Zustand der Jun-gen zu tun?«

St. Vain versuchte, die Hände des Heilersabzuschütteln, aber es gelang ihm nicht.

»Sie erzählen überall herum, daß wir unsauf einem Planeten befinden«, stieß der Ka-pitän hervor.

»Das stimmt doch schließlich auch«,knurrte Doc Ming. »Noch etwas?«

»Sie haben mit Djin, Lerana und Jörg dar-über gesprochen«, fuhr St. Vain fort. »Larshat sie belauscht. Das kann doch kein Zufallmehr sein! Es ist diese vom Wahnsinn gebo-rene Idee, die die Krankheit auslöst!«

Doc Ming ließ den Kapitän mit einemverächtlichen Grunzen los.

»So einen Unsinn habe ich noch nie ge-hört«, stellte er fest.

»Es ist kein Unsinn!« schrie St. Vain wü-tend. »Was für ein Heiler bist du denn, daßdu so offensichtliche Zusammenhänge nichterkennst? Sieh dir die drei doch an. Weißtdu, wer in den Blättern steckt? Es ist Lerana.Und Jörg ist auch schon so gut wie tot. VierKinder haben diesen Verbrechern zugehört,und alle vier hat es erwischt. Was willst dunoch wissen?«

Doc Ming starrte den Kapitän regungslosan, dann trat er zu Scoutie heran und schlugdie Blätter zur Seite, die Leranas Gesichtverdeckten. Obwohl die Chircools gründli-che Arbeit geleistet hatten, war doch nochgenug zu erkennen.

»Woran ist sie gestorben?« fragte DocMing trotzdem.

»Sieht man das nicht?« erwiderte Malla-gan bitter. »Chircools haben sie angefallen,nicht weit vom Dorf entfernt.«

Der Heiler sah überrascht auf.»Chircools«, wiederholte er nachdenklich.

»Haben sie sich ungewöhnlich benommen?«»Das würde ich nicht sagen«, murmelte

Mallagan. »Sie sind immer angriffslustig.Verrückte Bestien!«

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»Ich war lange nicht draußen im Dschun-gel«, sagte Doc Ming. »Zu viel Arbeit …Diese drei Kinder haben die nötigen Krauterfür mich geholt. Besonders Lerana kanntesich sehr gut in solchen Dingen aus. Das warnatürlich eine Erleichterung für mich, aberandererseits – ich hätte mich mehr darumkümmern sollen. Gab es schon im vorigenJahr mehr Chircools als üblich in dieser Ge-gend?«

»Nein«, sagte Mallagan knapp.»Hier geht es nicht um irgendwelches Un-

geziefer«, mischte St. Vain sich haßerfülltein, »sondern um vier junge Betschiden.«

»Achtet nicht auf ihn«, empfahl DocMing wegwerfend. »Er versteht es nicht bes-ser. Wie viele von den Bestien habt ihr ge-sichtet?«

Sie berichteten in knappen Worten, wassich zugetragen hatte, und der Heiler nicktenachdenklich.

»Ich verlange von dir, daß du jetzt endlich…«, begann St. Vain, als für einige Sekun-den tiefes Schweigen herrschte.

Doc Ming drehte sich nach ihm um, under verstummte erschrocken, denn er hatteden Heiler nie zuvor so wütend gesehen.

»Wenn du jetzt nicht endlich den Mundhältst«, sagte der Heiler leise, »dann dreheich dir eigenhändig den Hals um. Was duvorhin als Ungeziefer bezeichnet hast, ist inWirklichkeit die größte Gefahr, die uns aufdiesem Planeten droht. Du bist ein gutesStück jünger als ich, aber du müßtest dicheigentlich noch daran erinnern, wie sehr unsdie Chircools vor etwa hundert Jahren zuschaffen gemacht haben. Ich war damalsnoch ein junger Jäger, du dagegen hast dichvon Anfang an lieber in den Hütten verkro-chen. Daran mag es auch liegen, daß deinGedächtnis dich in bezug auf die Chircoolsim Stich läßt.«

Er wandte sich wieder an die Jäger.»Sie tauchten damals von einem Tag zum

anderen in Scharen hier auf«, erklärte er.»Es war ebenfalls direkt nach einer Regen-zeit. Kein Jäger konnte sich noch nach drau-ßen wagen, und die Betschiden litten bitte-

ren Hunger. Wir Jäger bildeten uns ein, al-lein für den Schutz des Dorfes zuständig zusein. Als wir erkannten, daß die Gefahr zugroß war und wir es nicht schaffen würden,haben wir uns mit großer Mühe dazu durch-gerungen, in den Hütten um Hilfe zu bitten.Wir stießen auf taube Ohren, bis plötzlicheines Morgens, der südliche Dschungel nurnoch aus Chircools zu bestehen schien. Siestürzten sich auf alles, was überhaupt nureßbar war. Alles Getier fiel ihnen zum Op-fer, und als nach kürzester Zeit nichts mehrda war, fraßen sie die Früchte, die Blätter,schließlich sogar die Rinde der Bäume. Siestiegen bis weit in die Kronen hinauf, unddie Bäume zerbrachen unter dem Gewichtvon Hunderten von Chircools.«

Er sah die entsetzten Blicke der Jäger undnickte bedrückt.

»Man kann es sich nicht vorstellen, wennman es nicht selbst gesehen hat«, murmelteer. »Seltsamerweise zogen sie an uns vorbei.Nur wenige verirrten sich in die Nähe derHütten – wenige im Vergleich zu dem, wasda draußen vorbeimarschierte, aber unsreichte es immer noch. Zehn Tage undNächte hindurch hielten wir Wache, und wirmußten rund dreitausend Chircools in dieserZeit töten. Vierzig Betschiden wurden vonden Bestien so schwer verletzt, daß sie star-ben. Wir waren gezwungen, die Bestien indie Schlucht zu werfen, weil es keinen ande-ren Weg mehr gab, ihre Kadaver aus demDorf zu schaffen. Der Vater dieses Narrenda drüben hätte sich fast aus Protest eben-falls hinuntergestürzt, weil er verhindernwollte, daß Chircools und Betschiden ge-meinsam dort unten lagen. Einen halben Taglang lagen die Kadaver draußen auf demWeg, nur von einer Schlammschicht be-deckt, dann fing Jorna Breiskoll den altenSt. Vain mit einer Schlinge vom Rand derSchlucht weg, und wir konnten endlich un-sere Arbeit tun. Der halbe Tag alleine koste-te uns zehn Menschenleben.«

»Wo sind die Chircools geblieben?« frag-te Mallagan leise.

»Sie sind weitergezogen. Nach den zehn

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Tagen war der Spuk vorbei. Wir fanden nurnoch ein paar Nachzügler, meistens krankeTiere. Und darunter waren auch ein paarWeibchen. Doc Mallagan, dein Ur-Ur-Großvater, hat sie auseinandergenom-men. Sie hatten aufgequollene Bäuche, undihre Augen waren verfärbt – er hoffte, her-ausfinden zu können, welches Gift die ver-dammten Biester in einen solchen Zustandversetzte. Aber es war kein Gift. Jedes derWeibchen trug Tausende von winzigen Ei-ern mit sich herum.«

»Wir haben niemals junge Chircools ge-sehen«, sagte Scoutie verwirrt. »Jedenfallskeine Babys, bestenfalls Tiere, die ein nochstärkeres Gebiß als die anderen hatten undderen Ohren an den Rändern noch nicht zer-fetzt waren.«

»Auch das sind keine Jungen«, behaupteteDoc Ming düster. »Einzelne Exemplare hal-ten sich einfach länger als die anderen.«

»Der Anführer der Rotte, die Jörg angriff,war ein solches Tier«, sagte Brether Faddonleise.

»Das dachte ich mir. Nun, wir werdennoch ausführlich darüber reden, aber zuerstmüssen wir uns wohl um unseren Kapitänkümmern. Hör mir zu, St. Vain! Die Krank-heit, von der diese beiden Jungen befallensind, hat nicht das geringste mit dem zu tun,was einige Jäger sagen, und von dem wir al-le wissen, daß es die Wahrheit ist.«

»Woher kommt die Krankheit dann?«wollte St. Vain wütend wissen.

Doc Ming zuckte die Schultern.»Ich weiß es nicht.«»Ist es nötig, sie so zu behandeln?« fragte

Scoutie bedrückt. »Könnte man ihnen nichtwenigstens erlauben, sich hinzusetzen?«

»Wenn es Betschiden wären, die das Dorfnicht verlassen«, antwortete der Heiler nach-denklich, »dann hätte ich nichts dagegeneinzuwenden. Aber das da sind schließlichJungen, die sich auf ein Leben im Dschungelvorbereitet haben. Sie sind stark und ge-schickt, vor allen Dingen gelenkig. Wennwir sie in sitzender Stellung an die Stämmefesseln wollten, müßten wir sie so fest an-

binden, daß es ihnen die Adern abschnürt,oder sie würden über kurz oder lang dieSchnüre dehnen und lockern.«

»Sie werden schon nichts anstellen«,meinte Scoutie.

Doc Ming sah sie nachdenklich an.»Der letzte Fall liegt schon so weit zu-

rück, daß du dich wahrscheinlich nicht mehrgenau daran erinnerst«, bemerkte er. »Vonden beiden droht niemandem Gefahr. Abersie werden sich umbringen, wenn sie sichbewegen können.«

»Wie sollten sie das tun? Man kann siedoch so einsperren, daß sie keine Gelegen-heit dazu finden.«

Doc Ming seufzte.»Hast du die Berichte denn niemals ge-

hört?« fragte er geduldig.»Doch!« erwiderte sie trotzig. »Aber ich

kann nicht glauben, daß das alles wahr ist.Ich kenne Djin zu gut. So etwas könnte ihmniemals passieren.«

»Ich kann ihn nicht losbinden, nur um dirdas Gegenteil zu beweisen. Scoutie, diesebeiden Jungen haben gräßliche Angst. Siehaben das Gefühl für das Gewicht ihres Kör-pers verloren, und sie scheinen nicht mehrzu spüren, daß der Boden unter ihren Füßensie festhält. Sie glauben, davonfliegen zumüssen, als würde Chircool sie abstoßenund hinaus zu den Sternen schleudern. IhreFurcht ist so groß, daß sie sich mit Händenund Füßen im Boden verkrallen würden, wä-ren sie nicht dort festgebunden. Aber auchdas hilft ihnen nicht, und darum werden sie,falls sie freikommen, auch noch die Zähnezu Hilfe nehmen und das Gesicht auf denBoden pressen, so fest, daß sie erstickenmüssen.«

Scoutie setzte erneut zu einer Frage an,aber Mallagan gab ihr ein Zeichen, und sieschwieg.

»Wirst du sie heilen können?« fragte erDoc Ming.

»Das weiß ich nicht. Bisher ist es erstzweimal gelungen, diese Krankheit zu besie-gen. Man kann nicht viel für die beiden tun.Das Wichtigste ist jetzt, sie das Licht der

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Sonne nicht sehen zu lassen. Auch der An-blick des Himmels scheint ihre Angst zuverstärken. Am ruhigsten sind sie immernoch in einem geschlossenen, abgedunkeltenRaum wie diesem hier. Ich werde versuchen,sie am Leben zu erhalten. Es wird schwersein, aber mit jedem Tag, der vergeht, kom-men wir ihrer Rettung näher. Ganz normalwerden sie allerdings nie mehr werden.«

»Vielleicht doch«, sagte St. Vain plötz-lich. »Wenn der Alte vom Berg eingreift,haben sie eine Chance. Caret ist von ihm ge-heilt worden.«

Die anderen sahen sich schweigend an.»Der Alte vom Berg«, murmelte Doc

Ming und wischte ärgerlich mit der Handdurch die Luft. »Wenn es ihn wirklich gibt,dann hat er vermutlich mehr zu tun, als sichum zwei kranke Jungen zu kümmern. Undjetzt verschwindet von hier, du auch, St.Vain!«

Sie fügten sich den Anordnungen des Hei-lers. Einem alten Gesetz zufolge, war nichteinmal der Kapitän berechtigt, einem HeilerBefehle zu erteilen. Es gab zu diesem Zeit-punkt insgesamt fünf Heiler im »Schiff«.Zwei davon waren noch Schüler Doc Mings,die beiden anderen unterstanden ihm undtrugen noch ihre vollen Namen. Erst wennMing den Weg aller sterblichen Kreaturenging, würde einer von ihnen sich »Doc«nennen.

»Eine Frage noch«, sagte Mallagan, bevorsie gemeinsam mit dem Heiler die Hütteverließen. »Wann und wo wurde Djin vonder Krankheit befallen?«

»Das weiß höchstens Jörg genau«, sagteder Heiler ernst. »Er brachte den Jungen insDorf. Djin war bewußtlos, darüber hinaushalb ertrunken, und er hatte Bißwunden, dievon Chircools stammen dürften. Bringt Jörgzu mir, und ich werde sehen, was ich für ihntun kann. Wenn er wieder zu sich kommt,wird er uns vielleicht erzählen, was gesche-hen ist.«

»Und wenn er dann auch diese Krankheithat?« fragte St. Vain herausfordernd.

»Dann ist auch das noch kein Beweis da-

für, daß deine Vermutungen den Kern derWahrheit treffen!« erklärte Doc Mingstreng. »Wenn nämlich allein die Kenntnisdavon, daß wir uns auf einem Planeten be-finden, die Krankheit auslösen könnte, dannwären wir Betschiden längst ausgestorben.Nicht zuletzt du selbst hättest ihr vor Jahrenschon zum Opfer fallen müssen.«

»Ich glaube nicht daran, daß dies wirklichein Planet ist«, erwiderte St. Vain würde-voll. »Ich sage es denen, die Jäger werdenwollen, weil es meine Pflicht ist und weil essich gezeigt hat, daß es für die Jäger gut ist,wenn sie an diesen Unsinn glauben. Sie lei-sten dann bessere Arbeit.«

Doc Ming starrte den Kapitän überraschtan.

»Du bist ein Narr, St. Vain!« murmelte erschließlich. »Und ein Dummkopf dazu.«

St. Vain lächelte hochmütig.»Es wird sich noch zeigen, wer hier der

größere Narr ist!« behauptete er, riß die Türauf, winkte seinen Anhängern, die vor derHütte ausgeharrt hatten, und eilte davon.

Doc Ming sah ihnen kopfschüttelnd nach.»Kommt«, sagte er zu den Jägern.

»Kümmert euch nicht um ihn. Er ist der Ka-pitän, und darum hat er ein Recht darauf,sich auf seinen Dickschädel zu verlassen.Brether, ich glaube, du solltest zuerst Jörg inmeine Hütte schaffen. Ich nehme an, ihrwolltet Lerana nicht auf diese gräßlicheRutschbahn gelangen lassen?«

»Wir werden sie begraben!« sagte BretherFaddon heftig.

»Dann solltet ihr, Scoutie und Surfo, da-mit anfangen, ehe St. Vain euch das Mäd-chen wegnimmt.«

4.

Sie entledigten sich ihrer traurigen Pflicht,und da Brether Faddon zu ihnen stieß, so-bald er Jörg Breiskoll bei Doc Ming abgelie-fert hatte, wurden sie ziemlich schnell damitfertig.

»Hoffentlich holt St. Vain sie nicht wie-der heraus«, meinte Brether skeptisch.

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»Das wagt er nicht«, versicherte Malla-gan. »Er würde die Mehrzahl der Jäger da-mit gegen sich aufbringen.«

»Auch die Jäger denken nicht alle so wiewir.«

»Na schön«, murmelte Mallagan.»Vielleicht stimmt das, aber sie stehen

trotzdem auf unserer Seite, und solange deralte Ming lebt, wird sich daran nichts än-dern.«

»Ich bin gespannt, was er uns über dieChircools erzählen wird«, bemerkte Scoutie.

»Etwas Erfreuliches wird es wohl kaumsein«, meinte Brether Faddon. »Mir ist dasirgendwie unheimlich. An den Grenzen un-seres Jagdreviers lauern Hunderte von Ja-guaren den Chircools auf. Ich kann mir zurNot vorstellen, daß es einigen von diesenBestien gelingt, durch den Ring der Jaguarehindurchzuschlüpfen, noch dazu währendder Regenzeit, aber mit denen, die Jörg, Djinund Lerana erledigt haben, müssen es mehrals fünfzig gewesen sein.«

»Die anderen Jäger werden sich früheroder später bei Doc Ming einfinden«, sagteSurfo Mallagan. »Wenn sie ebenfalls überZusammenstöße mit Chircools zu berichtenhaben, wissen wir zumindest eines: An denJaguaren kann es dann nicht liegen.«

»Ob den Leuten von der SOL wohl be-wußt war, auf welche Gefahren unsere Vor-fahren treffen würden?« fragte Scoutieplötzlich. »Ich meine, auch wenn es sich umMeuterer gehandelt hat – hätten sie sie nichtauf einer etwas freundlicheren Welt abset-zen können?«

»Wir wissen nicht, wie es auf anderenPlaneten aussieht«, gab Mallagan zu beden-ken. »Vielleicht geht es dort noch vielschlimmer zu.«

»Da hast du auch wieder recht«, murmeltedas Mädchen nachdenklich.

»Außerdem«, fuhr Mallagan fort, »ist esdoch eigentlich halb so schlimm. DerDschungel könnte uns mehr Nahrung lie-fern, als wir aufessen könnten, und sogar mitden Chircools sind wir bis jetzt fertig gewor-den. Das einzige Problem bilden die Bet-

schiden selbst. Der größte Teil der Dorfbe-wohner klammert sich an die Wahnidee,sich nicht auf einem Planeten, sondern in ei-nem Schiff zu befinden. Sie sind nicht be-reit, die Wahrheit zu akzeptieren, und darumsind sie unfähig, sich auf die Gesetze vonChircool einzustellen. Ab und zu werdenKinder geboren, die aus dieser Engewegstreben, und diese Kinder werden zu Jä-gern ausgebildet. Ohne die Jäger wären dieBetschiden verloren. Trotzdem verachtendie Betschiden mitunter Menschen wie uns.«

»Sie halten uns für Rückentwicklungen«,stieß Brether ärgerlich hervor.

»Ganz so schlimm ist es nun auch wiedernicht«, behauptete Mallagan beschwichti-gend. »Abgesehen davon – vielleicht habensie sogar recht? Unsere Buhrlo-Narben sindweniger zahlreich und meistens auch nichtso groß wie die der Dorfbewohner.«

»Was macht das schon aus?« fragteBrether ärgerlich. »Die Narben haben nichtden geringsten Nutzen für uns. Wenn ichkeine hätte, würde ich mich um keinen Deutanders fühlen als jetzt.«

»Bist du sicher?«»Worauf willst du eigentlich hinaus, Sur-

fo?« fragte Scoutie gespannt.Der Jäger zuckte die Schultern.»Die Buhrlo-Narben müssen eine ganz

besondere Bedeutung haben«, murmelte ernachdenklich. »Schade, daß so vieles in Ver-gessenheit geraten ist. Doc Ming erzähltemir während der Regenzeit eine Sage. Darinheißt es, daß unsere Vorfahren viel größereNarben gehabt haben sollen. Einige warensogar völlig davon bedeckt. Aus Zorn überdie Verbannung aus der SOL sollen zweivon unseren Vorfahren versucht haben, ihreBuhrlo-Narben zu entfernen.

Da hörte man zum erstenmal die Stimmedes Alten vom Berg, und er sagte zu ihnen:›Rührt die Narben nicht an. Sie sind das ein-zige, was euch mit der SOL verbindet. So-lange ihr sie tragt, besteht für euch die Hoff-nung, daß ihr euch dem Leben im Schiffwieder eingliedern könnt.‹ Von diesem Au-genblick an trug jeder Betschide seine Nar-

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ben voller Stolz.«»Das deutet eher darauf hin, daß man den

Narben nach der Landung auf Chircool eineBedeutung beimaß, die sie vorher gar nichthatten«, bemerkte Brether Faddon skeptisch.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Malla-gan. »Aber wir können noch oft genug dar-über sprechen. Doc Ming dürfte allmählichungeduldig werden.«

Sie hatten die Hütte erreicht, in der derHeiler mit seiner Gefährtin, einer ehemali-gen Jägerin, hauste. Brether Faddon nahmScoutie die drei Keulen ab und begab sichauf die Suche nach Ysabel, die sich wie keinanderer Betschide darauf verstand, einen gu-ten Braten zuzubereiten.

Ysabel war soeben damit beschäftigt,zwei Korbfarnwedel zu zerpflücken, und ei-ne wahre Wolke von aromatischen Gerü-chen umgab die alte Jägerin. Sie hockte aufden Stufen der Kochhütte hinter dem Hausund lächelte, als sie Brether Faddon erblick-te.

»Du scheinst gewußt zu haben, daß wirkommen!« bemerkte Brether.

Ysabel schüttelte den Kopf und nahm ihmdie Keulen ab.

»Ich wußte nicht, daß ihr es sein würdet«,erklärte sie. »Aber irgendeiner von euchwürde sich schon daran erinnern, daß Mingund ich das Essen aus der Bordküche nichtbesonders mögen.«

»Es ist nichts als Eigennutz«, gestand derJäger verlegen. »Du bist die beste Köchin imDorf.«

»So etwas kann nur ein Jäger sagen«,murmelte Ysabel spöttisch. Sie nahm dieFarnblätter und trug sie samt den Keulen indie Hütte. Dort standen auf einem großen,sauberen Tisch allerlei Gewürze bereit. Aufdem Herd flackerte das Feuer, und der Ge-ruch nach Rauch und Kräutern ließ dem Jä-ger das Wasser im Mund zusammenlaufen.Er lehnte sich an den offenen Türrahmenund beobachtete Ysabel, die die Keulen häu-tete und in passende Stücke zerlegte. Sierieb das Fleisch mit Gewürzen ein, zer-stampfte Kräuter, Beeren und allerlei andere

Zutaten und umhüllte einige Bratenstückemit der dicken Paste, ehe sie die Farnblätterdarumlegte. Erst da fiel es dem Jäger auf,daß die Blätter frisch und grün waren.

»Warst du im Wald?« fragte er.»Hast du hier im Dorf schon einmal einen

Korbfarn gesehen?« fragte Ysabel zurück.»Sie gedeihen bei uns nicht, das weißt dudoch. Es ist, als würde die bloße Nähe vonBetschiden sie töten.«

Brether nickte. Die Pflanzen von Chircoollehnten es offenbar ab, sich in ordentlichenReihen auf Feldern anpflanzen zu lassen.Kaum ein Dutzend Arten wurden auf denFeldern gezogen, und sie brachten unter derObhut der Betschiden kaum ein Drittel derMenge an eßbaren Blättern, Früchten oderWurzeln, die eine freiwachsende Pflanzederselben Art lieferte, wenn man sie imDschungel aberntete.

»Es sind Chircools unterwegs«, sagte er.»Sei vorsichtig, wenn du das Dorf verläßt.«

»Das Schlimme an euch jungen Leuten«,sagte Ysabel gedehnt, »ist, daß ihr uns älte-ren nichts zutraut.«

»So habe ich es nicht gemeint«, wehrteBrether hastig ab. »Wir haben die Chircoolsweiter draußen getroffen, aber es könntedurchaus sein, daß sich auch ein paar in un-mittelbarer Nähe des Dorfes herumtreiben.Damit konnte schließlich niemand rechnen,bevor die Biester über uns hergefallen sind.«

Ysabel schichtete die Fleischstücke in ei-ne Form aus gebranntem Lehm.

»Es gibt nur zwei Arten von Gefahren, dieeinem im Dschungel drohen«, sagte sie da-bei gelassen. »Tödlich ist alles, worauf mansich so gründlich vorbereitet, daß man sichvöllig sicher glaubt. Nicht weniger gefähr-lich ist das, was einem ohne Vorwarnungbegegnet. Ich war früher eine gute Jägerin,junger Mann. Ich wäre sonst wohl kaum soalt geworden. Was die Chircools betrifft –ich hasse diese Biester. Wenn eines in derNähe ist, dann rieche ich das. Ich habe esauch heute gerochen, aber da war es leiderschon zu spät, euch Jäger zu warnen. Hilfmir mal, diese Form aufs Feuer zu stellen.«

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Brether Faddon tat, wie ihm befohlen, undverdrückte sich dann eiligst. Er hatte das Ge-fühl, sich lächerlich gemacht zu haben, alser versuchte, die alte Ysabel vor den Chir-cools zu warnen.

*

Brether Faddon hatte durch seinen Abste-cher in die Kochhütte nichts versäumt. SurfoMallagan und Scoutie saßen auf den Stufenvor dem Haus und warteten. Gerade alsBrether um die Ecke bog, steckte Doc Mingden Kopf zur Tür hinaus.

»Er ist jetzt wach«, sagte er. »Kommt!«Sie folgten ihm hastig in das Innere der

Behausung.Doc Mings Hütte war die größte nach der

»Kommandozentrale« des Kapitäns. Diemeisten »Kabinen« bestanden aus einemeinzigen großen Raum, an dessen hintererWand sich die »Kojen« befanden – offeneNischen, die durch geflochtene Wände ausPflanzenfasern voneinander getrennt waren.Aus Häuten oder ebenfalls aus Fasern beste-hende Vorhänge sicherten dem Benutzer ei-ner solchen Koje ein geringes Maß an Pri-vatleben. In Doc Mings Haus dagegen gabes feste Trennwände, die aus trockenemHolz bestanden. Die einzelnen Zimmer hat-ten verschließbare Türen und sogar Fenster,vor die dünngeschabte Hasenhaut gespanntwar. Ein leichter Geruch nach Rauch hing inder Luft. Im Haus des Heilers waren zur Zeitaußer Jörg Breiskoll vier kranke Betschidenuntergebracht, die ausnahmslos an Krank-heiten litten, wie sie zur Zeit der großen Re-genfälle auftraten. Sie brauchten warme,trockene Luft – Doc Mings Haus war daseinzige im Dorf von Chircool, in dem jeder-zeit offene Feuer unterhalten werden durf-ten. Alle anderen Betschiden hatten sich denBordgesetzen zu fügen, die den Gebrauchvon Feuer in den Kabinen untersagten.

Doc Ming stieß die Tür zu seinem Be-handlungsraum auf. Die drei Jäger warennicht zum erstenmal in diesem Haus, aberdie seltsame Atmosphäre in diesem Zimmer

schlug sie immer wieder in ihren Bann.Die Heiler bildeten eine verschworene

Gemeinschaft. Seit zwanzig Generationenwachten sie über die Gesundheit der Bet-schiden. Auch wenn der Kapitän die Aufga-be hatte, das Logbuch zu führen, waren sei-ne Eintragungen meistens bei weitem nichtso genau wie die Überlieferungen der Hei-ler. Dementsprechend wußte Doc Mingmehr über die Geschichte des Dorfes, alsClaude St. Vain jemals erfahren hatte. InRegalen, die an den steinernen Wänden be-festigt waren, lagen die Zeugen der Vergan-genheit – die uralten Bücher, in die die er-sten Heiler alles eingetragen hatten, was esüber den Planeten Chircool und die Betschi-den zu berichten gab, die Rindenblätter, dieman wenig später anstelle der kostbaren Fo-lien hatte verwenden müssen, und die Über-reste jener Werke der Heilkunst, die die Ver-bannten aus der SOL mitgebracht hatten.

Die Bücher waren längst nicht mehr les-bar. Ein Brand hatte das Dorf verwüstet, alsdie letzten Folianten mit Eintragungen ge-füllt gewesen waren. Die Folien hatten derHitze widerstanden, da man das Haus desHeilers hatte löschen können, ehe alles rest-los zerstört wurde, aber die Schrift auf denglatten Blättern war ausgelöscht worden. Ei-nige der Bücher waren wie neu, ihre Seitenleer und weiß. Doc Ming hätte einen Armund ein Bein dafür gegeben, sie für seineEintragungen benutzen zu können, aber jedeArt von Farbe, die man aus den Teilen derverschiedensten Pflanzen gewann, weigertesich, auf diesem Material zu haften. Die äl-teren Rindenblätter waren dem feuchtheißenKlima zum Opfer gefallen. Erst später warman dahintergekommen, wie man dieseBlätter konservieren und auch die Farbehaltbarer machen konnte. Doc Ming pflegtezu diesem Thema zu bemerken, daß die ver-ehrten Vorfahren aus der SOL vermutlichgenau gewußt hätten, wie man sich zwi-schen den Sternen bewegte, leider aber kei-ne Ahnung davon gehabt hatten, wie manFolien und Farbe herstellte.

Dennoch war der Anblick der Bücher be-

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eindruckend, und neben ihnen bewahrte DocMing andere, faszinierende Dinge auf. Dagab es eine Injektionspistole, deren metalle-ne Teile immer noch geheimnisvoll glänztenund schimmerten, die jedoch längst nichtmehr benutzt wurde, weil die Vorfahren derBetschiden es nicht geschafft hatten, die ent-sprechenden Medikamente herzustellen. Ne-ben dem nutzlosen Gerät stand ein Mikro-skop. Jeder Heiler verdankte diesem Dingzahlreiche Alpträume, denn mit den einfa-chen, relativ schwachen Linsen konnte manhaargenau sehen, welche Art von Leben sichin den Wunden oder in den Körperflüssig-keiten kranker Betschiden herumtrieb – nurgab es nichts, womit man einem so winzigenGegner zu Leibe zu rücken vermochte. Zurbrauchbaren Hinterlassenschaft der Ahnengehörten einige winzige, scharfe Messer ausMetall, dazu ein paar Scheren, Klammern,Nadeln – sie nutzten sich im Lauf der Zeitab, und man konnte ohne einen Funken vonhellseherischer Begabung voraussagen, daßschon bald ein Heiler ganz ohne diese Hilfs-mittel auszukommen hatte. Der wohl nutzlo-seste, aber dafür imposanteste Bestandteilder Sammlung, die Doc Ming hütete, standneben dem Fenster in der Ecke, und es wa-ren starke Seile aus geflochtenem Leder da-zu erforderlich, es in aufrechter Stellung zuhalten – es war ein Roboter. Seine Sehzellenwaren blind, und seine Hülle war stumpf. Ir-gendwann hatte der Rost seinem mechani-schen Leben ein Ende gesetzt. Viele seinerHandlungsarme waren verstümmelt, weil dieHeiler früherer Zeiten die daran befindlichenWerkzeuge abmontiert hatten. Jörg Breiskollsaß in einem mit weichen Fellen bespanntenSessel und starrte unverwandt auf diesenRoboter, als die drei Jäger mit Doc Ming dasZimmer betraten. Er wandte den Kopf undduckte sich leicht im Sitzen. Es war schwerzu sagen, ob das eine Geste der Abwehroder eine der Verlegenheit war. Surfo Mal-lagan, Brether Faddon und Scoutie, die Er-fahrung im Umgang mit dem katzenhaftenJungen hatten, vermieden es, Jörg neugieriganzusehen. Doc Ming und Mallagan setzten

sich in die anderen beiden Sessel, die es indiesem Zimmer gab. Scoutie hockte sich imSchneidersitz auf den Boden, und BretherFaddon lehnte sich an den Türrahmen undbetrachtete die alten Bücher und die seltsa-men Instrumente.

»Nun«, sagte der Heiler schließlich,»diese drei Jäger haben Lerana begraben.Das Mädchen war, wie du und Djin, eineSchülerin von Surfo, Brether und Scoutie.Ich meine, die drei haben ein Recht darauf,zu erfahren, wie und warum Lerana gestor-ben ist.«

Jörg zuckte zusammen und sah für einenAugenblick so aus, als wollte er aufspringenund zur Tür hinaus entwischen. Brether Fad-don tat wie zufällig einen Schritt zur Seite,und Surfo Mallagan dachte ärgerlich, daßder alte Heiler sich ruhig etwas vorsichtigerhätte ausdrücken können.

Aber dann entspannte sich der Junge.Schnell und konzentriert berichtete er, undwas er sagte, war klar und verständlich,wenn er auch mitunter so leise sprach, daßselbst die Jäger sich anstrengen mußten, umihn zu hören. Sie verständigten sich mit kur-zen Blicken, als Jörg von dem ersten Über-fall der Chircools und dem Rückzug der dreiKinder von der Lichtung berichtete – siewürden hingehen und die Kadaver der Tierebeseitigen müssen, auch wenn mittlerweilesoviel Zeit verstrichen war, daß die Lichtungvon den Räubern anderer Rotten längst ent-deckt sein mußte.

»Sie waren schon im Blutrausch«, sagteBrether Faddon von der Tür her, »als Jörgden ersten Pfeil auf sie abschoß. Sie habenganz sicher keinen Alarm gegeben. Wir ken-nen die Gewohnheiten dieser Tiere. Wennirgendwo ein paar tote Chircools liegen,dauert es selbst an den Grenzen unseres Re-viers mindestens zwei Stunden, bis die ande-ren zur Totenwache erscheinen. So weit istes aber von der Lichtung bis zum Pfad nicht.Wir müssen davon ausgehen, daß mehrerejagende Rotten sich innerhalb der Grenzenaufgehalten haben, beziehungsweise immernoch aufhalten.«

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»Laß ihn ausreden!« sagte Surfo Malla-gan scharf, und Brether zuckte die Schul-tern.

Jörg berichtete weiter, von Djin und vondem Jaguar, den sie gefunden hatten, vondem zweiten Rudel Chircools und von Djinsverrücktem Versuch, sich im Bach zu erträn-ken. Als er schließlich schwieg, stand SurfoMallagan schwerfällig auf, ging zu dem Jun-gen hinüber und stützte sich mit beiden Hän-den auf die Lehnen des Sessels, in dem Jörgsaß.

»Was hast du gesehen, bevor du Djin undLerana auf der Lichtung gefunden hast?«fragte er leise.

Jörg stieß ein Fauchen aus und fuhr in dieHöhe, aber die Hände des Jägers schossenblitzschnell vor und hielten den Jungen fest.

»Ich habe im Wald ein Summen gehört«,sagte Mallagan. »Ein fremdes Geräusch –aber ich bin sicher, daß ich es irgendwannschon einmal vernommen habe. Du hast die-ses Summen erwähnt. Du hast behauptet,daß auch Lerana es gehört hat und darumumgekehrt ist, anstatt zum Dorf zu gehen,wie sie es vernünftigerweise hätte tun sollen,und du hast, um das Maß vollzumachen, be-hauptet, das Summen stünde in irgendeinemZusammenhang mit dem Alten vom Berg.Jetzt möchte ich von dir wissen, was du ge-sehen und gehört hast, und du wirst es mirsagen, oder ich gerbe dir das Fell!«

Jörg sah erschrocken zu ihm auf und gabseine Gegenwehr für einen Augenblick auf.Mallagan ließ ihn los und lächelte beruhi-gend.

»Komm schon«, murmelte er. »Erzähle esuns. Ich möchte mich nicht schon wieder mitdir prügeln müssen!«

Jörg sah schuldbewußt auf MallagansHand.

»Ich wollte es nicht«, sagte er zögernd.»Schon gut, vergiß es. Was ist passiert?«»Es war etwas Fremdes«, sagte Jörg zö-

gernd. »Ich habe es gespürt, als wir St.Vains Haus betraten, und es war uns irgend-wie sehr nahe. Ich bin sicher, daß es sich inder Kommandozentrale aufhielt, und zwar in

St. Vains Privaträumen. Ich konnte die Spurnicht aufnehmen, weil die anderen dabei wa-ren und unsere Einweihung stattfand. Dannbegann Djin, den Kapitän zu reizen, undgleichzeitig spürte ich, wie dieses Fremdesich im Haus bewegte. Ich war ungeduldig.Ich habe St. Vain herausgefordert, weil ichhoffte, daß er uns hinauswerfen würde. Jeeher ich aus der Kommandozentrale weg-kam, desto besser – ich spürte, daß dasFremde sich bald wieder entfernen würde.St. Vain reagierte so, wie ich es gedacht hat-te. Als wir draußen waren, horchte ich stän-dig auf dieses fremde – Wesen … Ich warsicher, daß es lebte. Es war nicht feindlicheingestellt, das weiß ich. Aber es war ir-gendwie gleichgültig. Es beobachtete nur.Ich spürte, wie es in St. Vains Haus herum-schlich. Irgend etwas hat es dort getan, aberich konnte nicht herausfinden, was das war.Es nahm etwas in seine – Hände, und dannmachte es etwas damit und legte es wiederhin. Ich spürte, daß es sich zu der Tür hinbewegte, die auf die Felder hinausführt. Esbegegnete der Gefährtin des Kapitals, abersie reagierte nicht darauf. Dann trat es vordie Tür hinaus und bewegte sich plötzlichunheimlich schnell. Da verlor ich die Ner-ven. Ich wollte wissen, was ich da beobach-tet hatte, und darum rannte ich hinterher.«

Die Jäger und Doc Ming starrten den kat-zenhaften Jungen gebannt an. Jörg strichsich mit der Hand über die Stirn und fuhrfort:

»Wenn ich einen Betschiden auf dieseWeise beobachte, fällt es mir nicht schwer,ihm zu folgen, auch wenn der Betschide sichnoch so schnell bewegt. Aber dieses Etwaswar schneller als alle Jäger, die wir im Dorfhaben. Es raste durch den Dschungel, undich rannte hinterher, und plötzlich sah ich et-was, was ich noch nie gesehen habe.«

Der Junge sah zu dem uralten Roboterhin.

»Etwas Ähnliches wie das dort«, sagte erleise. »Es war nicht im Dschungel von Chir-cool entstanden, und kein Betschide hat je-mals etwas gebaut oder gemacht, was die-

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sem Etwas ähnlich sah. Es war geformt wieeine – ja, wie eine Frucht. Es war am einenEnde ganz dick, und am anderen Ende ganzdünn, und es war ziemlich groß. Es bestandaus Metall und aus einem Zeug, das durch-sichtig war wie Kristall. Es hatte ein Loch,und vor diesem Loch stand ein – ein Ding!Es hatte einen komischen, eckigen Körperund zwei Arme mit Klauen daran. Viel mehrkonnte ich nicht von ihm sehen, denn esstand zwischen hohen Pflanzen. Über demKörper gab es etwas, das bunt war, gelb,orange – aber es waren Blüten zwischen mirund diesem Etwas. Dieses Ding beobachtetemich, das spürte ich, und es stand ganz stillda. Plötzlich sagte es zu mir: ›Geh zur Lich-tung! Deinen Freunden droht Gefahr.‹ Undich sagte: ›Wer bist da? Was bist du?‹ Unddas Etwas sagte: ›Ich bin der Alte vomBerg.‹ Dann drehte das Ding sich um, aberich konnte immer noch nicht mehr von ihmsehen. Außerdem war ich wie benommen.Ich sah das Etwas plötzlich in der Keule ausMetall und etwas Durchsichtigem sitzen,und dann hörte ich das Summen. Es warsehr leise, aber ich wußte, daß man es sehrweit hören konnte. Das keulenförmige Dingbegann zu fliegen, es hob sich vom Bodenab und schwebte davon, und ich rannte einStück hinterher, aber ich war zu langsam,und schließlich erinnerte ich mich an dieWarnung, die dieses – Wesen ausgesprochenhatte. Ich rannte zur Lichtung. Lerana undDjin waren am Leben, und es war nichts voneiner Gefahr zu sehen, die ihnen drohte. Ichging zu ihnen, und gleich darauf griffen dieChircools an.«

Sekundenlang herrschte Schweigen.»War es der Alte vom Berg?« fragte Doc

Ming schließlich.»Ich weiß es nicht!« rief Jörg verzweifelt.

»Ich weiß ja nicht einmal, was es war. Alses in St. Vains Haus herumging, da war ichmir sicher, daß es lebte, aber als ich ihm ge-genüber stand …«

Er deutete auf den Roboter.»Das da sieht auch so aus, als könnte es

leben«, sagte er.

»Na schön«, murmelte Mallagan schließ-lich. »Vielleicht war er es, vielleicht war eres auch nicht.«

Er verzichtete darauf, die dritte Möglich-keit zu erwähnen – daß Jörg schlicht undeinfach einer Halluzination zum Opfer ge-fallen war. Der katzenhafte Junge war inmancher Hinsicht übersensibel. Es gabPflanzen im Dschungel von Chircool, derenBlutenstaub, wenn man ihn in konzentrierterForm in sich aufnahm, berauschend wirkteund die seltsamsten Träume hervorrief. Aufden »Kater« mochte das Zeug selbst dannnoch wirken, wenn kein anderer Betschidees wahrnahm.

Surfo Mallagan richtete sich energischauf.

»Lassen wir den Alten vom Berg aus demSpiel«, sagte er rau. »Was ist mit den Chir-cools los, Doc Ming?«

»Ich habe euch bereits erzählt, was vorhundert Jahren geschah«, sagte der Heilerseufzend. »Unzählige Chircools wandertenan unserem Dorf vorbei nach Norden. Ihrwißt, daß wir Heiler gewisse Überlieferun-gen hüten – schon vor langer Zeit hatte eseine solche Wanderung gegeben, und unsereVorfahren nannten es eine Chircool-Stam-pede. Dein Urahn und ich und drei weitereJäger folgten den Chircools. Diese Biesterwaren wie besessen. Sie marschierten nachNorden, und es kümmerte sie überhauptnicht, welche Hindernisse sich ihnen in denWeg stellten. Wir folgten ihnen bis in jenesGebirge, in dem der Alte vorn Berg hausensoll. Wir befanden uns weit jenseits derGrenzen unseres Jagdreviers, aber wir trafenauf nichts, was uns hätte angreifen können.Um etwas zu essen zu bekommen, mußtenwir die Fährte der Chircools verlassen. Umin Gebiete zu gelangen, in denen es wenig-stens ein paar grüne Blätter gab, mußten wirvon der Mitte der Spur aus fünf bis sechsStunden laufen, so breit war die Spur. In denBergen fanden wir Tausende von toten Chir-cools. Sie starben an der Kälte, am Hunger,an Erschöpfung. Immer wieder fanden wirweibliche Tiere, und Doc Mallagan und ich

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schnitten unzählige von ihnen auf. Aus ei-nem uns unbekannten Grund mußten dieWeibchen den richtigen Zeitpunkt zur Eiab-lage verpaßt haben, und die Eier waren inihnen weitergewachsen, bis verschiedeneOrgane so stark zusammengepreßt wurden,daß sie nicht mehr zu arbeiten vermochten.Keiner von uns verstand das. Die Chircoolssind sicher nicht, sehr intelligent, aber wirkonnten einfach nicht glauben, daß dieWeibchen so dumm gewesen waren, überder Raserei dieses gigantischen Beutezugseine so wichtige Sache zu vergessen.«

Doc Ming deutete zu dem Mikroskop hin.»Wenn wir das mitgehabt hätten, wären

wir vielleicht schneller auf die Lösung desRätsels gekommen. So blieb uns nichts an-deres übrig, als den Chircools weiterhin zufolgen. Als wir dann endlich sehen konnten,was jenseits des Gebirges lag, da dachtenwir, alle miteinander einen Alptraum zu er-leben.«

Den Heiler hielt es nicht mehr auf seinemPlatz. Er sprang auf und ging unruhig aufund ab.

»Kein Betschide hatte sich je zuvor soweit vom Dorf entfernt«, sagte er düster.»Wenn doch, dann kam er nicht zurück undkonnte nichts von dem berichten, was er ge-sehen hatte. Wenn es aber einer versucht ha-ben sollte, dann ist er sicher nicht ausgerech-net in das Gebirge hinaufgestiegen, wo eskalt ist und man kaum eine genießbare Beu-te findet. Vielleicht wußten unsere Urahnen,was jenseits des Gebirges lag, aber sie konn-ten vermutlich nicht einmal ahnen, was sieda sahen. Sie hätten sonst versucht, sich soweit wie möglich von diesem Ort zu entfer-nen.«

»Was habt ihr gesehen?« fragte Mallaganungeduldig.

Doc Ming zuckte leicht zusammen.»Es gibt dort ein gigantisches Tal«, sagte

er rau. »Wir sahen Seen, in denen das Was-ser kochte, und riesige Löcher im Boden,aus denen Dampf aufstieg. Und überall wa-ren Chircools. Das ganze Tal war voll vonihnen. Wir waren noch viel zu weit weg, um

zu ahnen, was sie dort unten taten, und esdauerte eine ganze Weile, ehe wir uns anden Abstieg wagten. Je näher wir ihnen ka-men, desto offensichtlicher wurde für uns,daß der größte Teil von ihnen nicht mehr amLeben war. Nur einige tausend bewegtensich noch. Von weitem sah es aus, als ob siemiteinander kämpften. Andere gruben rundum die kochenden Seen Löcher in den Bo-den. Wenn sie fertig waren, krochen sie indie Löcher hinein und kamen nicht wiederzum Vorschein. Doc Mallagan bestand dar-auf, daß wir nach unten gingen und wenig-stens einige der Tiere untersuchten. Erstaun-licherweise fanden wir zunächst nur Männ-chen. Viele von ihnen waren arg zerbissen,aber keines der Tiere wies eine tödliche Ver-letzung auf. Es war uns ein Rätsel, woran siegestorben waren. Dann gerieten wir in dieNähe einiger noch lebender Tiere, und wirbegannen zu begreifen, was in diesem Talvorging. Was wir zuerst für einen Kampf aufLeben und Tod gehalten hatten, entpupptesich als ein Paarungsritual. Jetzt wurde unsklar, warum die Weibchen, die wir unter-wegs gefunden hatten, nicht einfach den Zugder Chircools verlassen und ihre Eier irgend-wo abgelegt hatten – es war ihnen nichtmöglich gewesen, weil die Eier noch garnicht befruchtet gewesen waren. Das schien,gleich aus welchen Gründen, erst in diesemTal möglich zu sein. Wir sahen, daß diemännlichen Tiere starben, sobald sie ihrenBeitrag zur Erhaltung der Art geleistet hat-ten. Die Weibchen, die sich ihrer dickenBäuche wegen kaum noch zu bewegen ver-mochten, krochen möglichst nahe an einender kochenden Seen oder an den Rand einesdampfenden Schlundes heran und grubensich dort ein. Was in ihren Höhlen geschah,weiß bis jetzt niemand. Wir wagten es nicht,eines der Tiere auszugraben und nachzuse-hen. Klar war uns nur, daß irgendwann jun-ge Chircools aus diesen Höhlen herauskom-men würden.«

»Sie legen also Eier«, murmelte Scoutieund schüttelte sich. »Ob sie auch eine Ver-wandlung durchmachen, wie die Scouts?«

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»Ich weiß es nicht«, murmelte Doc Ming.»Mallagan wollte in dem Tal bleiben undbeobachten, wie es weiterging, aber dieserPlan erwies sich als undurchführbar. Schonnach kurzer Zeit tauchten nämlich allerleiRaubtiere aus den Bergen auf. Sie machtensich über die toten Chircools her, und es hät-te ihnen nichts ausgemacht, auch ein paarBetschiden aufzufressen.«

»Und du meinst, daß sie jetzt wieder zudiesem Tal ziehen werden?« fragte SurfoMallagan skeptisch.

»Sie tun es alle zehn Jahre«, nickte DocMing. »Normalerweise wandern sie vielweiter westlich auf das Gebirge zu. Dortkommen sie bis an das Gebirge heran, ohnedie unteren Dschungel verlassen zu müssen.Es scheint, daß sie in ihrem Zustand beson-ders empfindlich gegen Kälte sind. Im Tief-land ist es jetzt schon so heiß, daß ein Bet-schide es kaum ertragen könnte.«

»Warum mögen sie damals einen anderenWeg genommen haben?« überlegte BretherFaddon.

»Ich kann nur Vermutungen darüber an-stellen«, sagte der Heiler. »Alle zehn Jahrehabe ich ein paar zuverlässige, verschwiege-ne Jäger ausgeschickt, die von der Grenzeder Hochebene aus den Zug der Chircoolsbeobachteten. Einige Male sind die Tiereziemlich nahe an die Grenzen unseres Re-viers herangekommen, aber es wurde nie-mals so kritisch, wie damals vor hundertJahren. An jedem einzelnen Zug nehmenMillionen von Chircools teil. Diese gefräßi-gen Tiere brauchen sehr große Jagdreviere.Darum müssen wir davon ausgehen, daß rie-sige Gebiete während der Wanderung völligvon den Tieren verlassen werden. Auch dieChircools können derart große Entfernungennicht innerhalb weniger Tage zurücklegen.«

»Wenn sie auch nur einen Funken vonVerstand hätten, würden sie sich in kleine-ren Gruppen zu diesem Tal begeben«, mein-te Mallagan.

»Sie folgen einem Instinkt«, murmelteDoc Ming. »Ich glaube nicht, daß ein Chir-cool sich weigern könnte, diese Wanderung

in den Tod mitzumachen. Wahrscheinlichsammeln sich die Gruppen, die am weitestensüdlich leben, schon beim Einsetzen der er-sten Regenfälle. Während der Regenzeitwandern sie nach Norden, und allmählichschließen sich ihnen immer mehr Horden an.Während der Wanderung entstehen in denWeibchen die Eier, und sie wachsen unauf-hörlich. Das heißt, daß die Tiere zu einembestimmten Zeitpunkt das Tal erreichenmüssen. Sie haben gar keine andere Wähl,und sie scheinen genau zu spüren, wie vielZeit ihnen noch bleibt. Es gab Jahre, in de-nen die Regenzeit sehr kurz ausfiel. Dannließen die Chircools sich Zeit, und es kamsogar vor, daß der ganze Zug sich vorüber-gehend auflöste und die Tiere nach allenSeiten ausschwärmten, um riesige Gebietezu verwüsten. War der Regen dagegen stär-ker als in normalen Jahren, dann gerieten siein Zeitdruck und wählten einen kürzerenWeg.«

»Diesmal war es besonders schlimm«,stellte Scoutie fest. »Oder irre ich mich?«

»Durchaus nicht«, erwiderte der Heilerernst. »Die Chircools müssen sich beeilen.Der kürzeste Weg führt über unsere Hoche-bene. Im Süden gibt es nur eine Stelle, dieden Tieren einen halbwegs gefahrlosen Auf-stieg ermöglicht. Sobald sie oben sind, wer-den sie auf geradem Kurs jenen Paß ansteu-ern, über den sie in das Tal kommen.«

»Das Dorf liegt in etwa auf dieser Linie?«erkundigte sich Mallagan.

»Du sagst es«, murmelte Doc Ming be-drückt.

»Steht es fest, daß sie immer in dasselbeTal ziehen?« fragte Scoutie, die sich mitdem Unabwendbaren nicht abfinden wollte.»Könnten sie nicht ausnahmsweise woan-ders hingehen?«

»Leider nein«, antwortete Doc Ming seuf-zend. »Sie paaren sich dort vermutlich schonseit Tausenden von Jahren. In dem ganzenTal ist der Boden mit einer ungeheuerdicken Schicht bedeckt, die ausschließlichaus den zerfallenen Leibern von Chircoolsbesteht, die dort gestorben sind. Die Tiere

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werden nicht ausgerechnet jetzt ihr Verhal-ten ändern.«

»Du mußt St. Vain warnen«, stellte SurfoMallagan fest.

»Das habe ich bereits vor mehreren Tagengetan. Die zehn Jahre sind herum, und obdie Chircools dem Dorf zu nahe kommenoder nicht, läßt sich eigentlich erst dann fest-stellen, wenn im Ernstfall sowieso nichtmehr viel zu retten ist. Leider ist mir auchder Zusammenhang, den es doch offenbarzwischen der Dauer und der Stärke der Re-genzeit und dem Weg, den die Chircoolsnehmen, gibt, erst jetzt klar geworden. Inden anderen Jahren war das nicht einwand-frei zu erkennen.«

»Was hat St. Vain gesagt?« fragte Scoutiemißtrauisch.

Doc Ming zuckte die Schultern.»Er hat mich mehr oder weniger hinaus-

geworfen«, sagte er grimmig. »Die Vorstel-lung, daß Millionen von diesen Bestien aufder Wanderschaft sind, paßt nicht in seinWeltbild. Er hat mich sogar dazu gezwun-gen, euch gegenüber zu schweigen.«

»Manchmal möchte ich wissen, wie es inseinem Kopf überhaupt aussieht«, bemerkteSurfo Mallagan bitter. »Aber er wird hof-fentlich zur Vernunft kommen, ehe die Chir-cools uns erreichen. Wir müssen das Dorfverlassen und abseits vom Wanderweg derBestien abwarten, bis die Gefahr vorbei ist.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, nickte DocMing. »Wie aber sollte man wohl die Bet-schiden dazu bewegen, ihre sicheren Hüttenaufzugeben?«

»Ehe sie sich von den Chircools umbrin-gen lassen …«

»Du vergißt, was mit Lars und Djin pas-siert ist! Früher hatten wir solche Fälle häu-figer, und besonders schlimm war es, nach-dem die Chircools am Dorf vorbeigezogenwaren. Damals gab es nur noch ein knappesDutzend Jäger, und das Wild war selten ge-worden. Ein paar von den anderen gingenhinaus, und etliche davon hat es erwischt.«

Mallagan sah zu Jörg hin. Der Junge tatihm leid. Er war gerade fünfzehn Jahre alt

geworden, Djin und Lerana waren im selbenAlter. Von Anfang an hatte sich abgezeich-net, daß diese drei ein Team bilden würden.Sie hatten sich hervorragend ergänzt, und siemochten einander. Es würde schwer, sehrschwer für den Jungen werden, neue Jagdge-fährten zu finden.

»Was ist mit Djin passiert?« fragte Jörg.Doc Ming wich den Blicken des katzen-

haften Jungen aus und kratzte sich hinterdem Ohr. Er sah aus, als hätte er sich vordieser Frage schon seit geraumer Zeit ge-fürchtet.

»Er ist krank«, antwortete er gedehnt.»Sehr krank!«

»Ich möchte zu ihm.«»Das geht jetzt nicht, Jörg. Er braucht Ru-

he.«Der Junge saß ganz still da. Plötzlich aber

sprang er auf, ohne daß man ihm seine Ab-sichten vorher hätte ansehen können. Mit ei-nem weiten Satz war er bei Brether Faddon,der ihm den Weg zur Tür versperrte, stießihn zur Seite und war auch schon ver-schwunden.

»Verdammt!« stieß Doc Ming hervor. »Erwird zu ihm rennen, und wenn er Djin sosieht – er darf ihn nicht losbinden!«

Die drei jungen Jäger waren schon ausdem Zimmer heraus.

Jörg würde ohne die entsprechenden Er-klärungen niemals glauben, daß Djin an denPfahl in der dunklen Hütte gefesselt war,weil man kein anderes Mittel kannte, ihn amLeben zu erhalten. Er würde die Fesseln lö-sen – und den Jungen damit töten.

Sie hielten sich nicht mit den Stufen auf,die zur Hütte hinaufführten, sondern spran-gen einfach seitlich davon auf den Bodenhinab. Für einen Augenblick sahen sie Jörg,der bereits bei der kleinen Hütte war und imnächsten Augenblick die Tür aufreißen wür-de. Dann hörten sie das schrille Kreischen,das aus der entgegengesetzten Richtung auf-klang.

Sie drehten sich um, und sie hielten dieeinfachen Waffen in den Händen, ehe sie dieChircools überhaupt zu Gesicht bekommen

Die Jäger von Chircool 31

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hatten. Das Kreischen der Bestien kam ausder Richtung, in der die Bordküche stand.

5.

Es war später nicht schwer, die Zusam-menhänge zu erkennen und das Geschehenzu rekonstruieren.

Jene Betschiden, die in der Bordküche ar-beiteten, hatten nicht nur die Aufgabe, dieSpeisen zuzubereiten, sondern auch alle Ab-fälle, die sie nicht selbst verarbeiten konn-ten, in extra dafür hergerichtete Gruben zuschichten und mit bestimmten Blättern zubedecken. Nichts davon ging verloren. DieHäute, die Knochen, selbst das Gedärm dererlegten Tiere waren zu wertvoll, als daßman sie wegwerfen konnte.

Während der trockenen Jahreszeit fiel esden Leuten in der Küche meistens nichtschwer, die von den Jägern – und der Ver-nunft – diktierten Auflagen zu erfüllen.

Diesmal aber war die Regenzeit beson-ders hart gewesen, und es zeigte sich, daß eszumindest in einer Hinsicht keinen großenUnterschied zwischen den Betschiden undden zehnbeinigen Bewohnern des Planetengab: Der Anblick von frischem Fleisch raub-te ihnen schier den Verstand.

Sie nahmen sich diesmal nicht die Zeit,die Abfälle sorgsam zu bedecken. Sie tatendas ganze Zeug nicht einmal in die Gruben.Sie öffneten statt dessen die rückwärtige Türund warfen alles Ungenießbare einfach hin-aus. Dann machten sie die Tür wieder zuund widmeten sich der Zubereitung derSpeisen.

Vor der Bordküche hatten sich unterdes-sen noch mehr Betschiden versammelt.Ganz vorne standen die Kinder, nicht mehrals vierzig, und hinter ihnen die Mütter undVäter jener kleinen Betschiden, die nochnicht alt genug waren, daß sie auf ihren ei-genen Beinen zur Futterkrippe streben konn-ten.

Die ersten Leckerbissen wurden herausge-reicht – Innereien, hastig gebraten, innennoch fast roh und blutig. Ein erwachsener

Betschide hätte wirklich halb verhungertsein müssen, um so etwas hinunterzubrin-gen. Die Kinder aber kannten keine Beden-ken. Ob Leber oder Herz, Nieren, Lunge,Hirn oder was auch immer – sie nahmen esgierig in Empfang, bliesen darauf und schlu-gen ihre kleinen Zähne hinein.

Und inzwischen lag all der Abfall hinterder Bordküche und kein einziges Blatt hin-derte den blutigen Haufen, seine verhei-ßungsvollen Düfte in alle Richtungen zuschicken.

Es war fast schon ein glücklicher Zufall,daß eine Rotte Chircools diese lockendeBeute zuerst entdeckt hatte. Mit diesen Be-stien legte sich kein Tier an. Selbst der»Jaguar« hatte von jeder Beute einen Zinsan die unerbittlichen kleinen Räuber desDschungels zu zahlen – die Chircools dage-gen blieben immer unbehelligt.

Sie stürzten sich zuerst auf die Abfälle,und da sie, da die Beute nicht gehetzt wer-den mußte, ganz still dabei waren, bemerkteniemand ihre Anwesenheit. Aber durch dieRitzen der Tür drang der Geruch von Blut,der die Chircools rasend machte, und dazuhörten sie Stimmen. Als die Tür unter demAnsturm der gedrungenen Körper nach in-nen kippte, sahen sie auch noch Wesen vorsich, die sich bewegten.

Es gab nur eines, was die Chircools daranhinderte, vollzählig in die Bordküche einzu-dringen: Es gab zu wenig Platz darin. Siehätten sich zwar alle hineinzwängen können,aber es wäre ihnen unmöglich gewesen, indieser Enge zu kämpfen und die Beute zuschlagen.

Diejenigen, die draußen bleiben mußten,steckten die spitzen Nasen in den Wind undspürten andere, ebenfalls sehr verheißungs-volle Gerüche auf, die um die Ecke der Hüt-te herumwehten. Sie setzten sich sofort inTrab.

Ziemlich genau zu diesem Zeitpunkt tra-fen Surfo Mallagan, Brether Faddon undScoutie am Ort des Geschehens ein, undmehr oder weniger gleichzeitig erschienenweitere Jäger auf der Bildfläche – das Jagd-

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geheul der Chircools kannten sie alle. Eshatte auf sie eine ähnliche Wirkung wie dasSchrillen von Alarmsirenen auf die Vorfah-ren, die in der SOL gelebt hatten.

Die Chircools sahen die Kinder vor sich,eine hüpfende, schreiende Schar von kleinenBeutewesen, die noch nicht begriffen hatten,warum aus dem Innern der Bordküche keineweiteren Leckerbissen zum Vorschein ka-men. Nur sieben von diesen Kindern warendazu geeignet, später als Jäger in denDschungel hinauszugehen, und sie warenauch die einzigen, die spürten, daß etwasnicht stimmte. Ihre Warnschreie verhalltenungehört. Dreien gelang es, sich nach linksabzusetzen, wo es keinen einzigen Chircoolgab. Die anderen steckten mitten im Ge-wühl.

Pfeile schwirrten durch die Luft. ZweiChircools brachen getroffen zusammen, dieanderen aber kamen mit dem Schrecken da-von. Die Betschiden standen den Jägern imWege, und sie waren unfähig, so schnell zubegreifen, daß ihre Vorfreude auf kommen-de Genüsse plötzlich in einen Alptraum um-geschlagen war.

Der erste Chircool sprang und riß einKind zu Boden. Die Schreie des kleinen Bet-schiden gingen im allgemeinen Lärm unter.Surfo Mallagan schoß einen Pfeil ab und trafeinen Dorfbewohner in den Oberarm. Nochwährend der Betschide sich wegen desplötzlichen Schmerzes vornüber beugte,schoß der Jäger durch die so entstandeneLücke einen zweiten Pfeil hinterdrein. Ertraf den Chircool tödlich, aber noch im Ster-ben schlossen sich die zähnestarrenden Kie-fer um den Hals des Kindes.

Surfo Mallagan ließ den Bogen fallen. Et-was in seinem Gehirn rastete aus. Undeut-lich nahm er Brether Faddon neben sichwahr, und auf der anderen Seite war Scoutie.Sie schrieen auf die Betschiden ein. Malla-gan hielt sich mit Schreien nicht mehr auf.

Er stieß die Fäuste zur Seite und spürte,daß er die weichen Gesichter von Betschi-den berührte. Vor ihm entstand eine Gasse,und er taumelte hindurch, sah einen sehni-

gen, grauen Körper vor sich und hielt plötz-lich das Messer in der Hand.

Die Chircools befanden sich im Blut-rausch, und sie waren auf die Kinder fixiert.Nur die kleinen Betschiden verströmten je-nen verheißungsvollen Duft nach blutigemBratensaft. Die Erwachsenen, die hinter denKindern standen, waren für die Bestien ein-fach nicht vorhanden. Später, wenn sie dieKinder getötet hatten, würden sie sich derübrigen Beute annehmen, aber das hatteZeit. Es gab – den Jaguar ausgenommen –keine einzige Tierart, die nicht vor einer an-greifenden Rotte von Chircools Reißausnahm. Stutzig wurden die Chircools erst, alsplötzlich ein ausgewachsenes Exemplar die-ser zweibeinigen Rasse zwischen ihnen undden Kindern auftauchte.

Ihr Instinkt befahl ihnen, das lebende Hin-dernis schnellstens aus dem Weg zu schaf-fen. Sechs graue Schatten sprangen den Jä-ger an.

Inzwischen hatten jedoch die Betschidenbegriffen, daß sie am Tode der Kinder mit-schuldig wurden, wenn sie nicht endlich denWeg für jene freigaben, die an Kämpfe die-ser Art gewöhnt waren. Die Menge vor derBordküche verlor sich innerhalb einer er-staunlich kurzen Zeitspanne, und die Jägertrafen keine Anstalten, irgend jemanden zu-rückzuhalten. Sie schossen einen Pfeil nachdem anderen ab, und die Chircools brachenüber Surfo Mallagan zusammen.

Niemand kümmerte sich um den Jäger.Brether stemmte gemeinsam mit zwei ande-ren Jägern die Tür zur Bordküche auf. DreiChircools waren tot, aber einer lebte noch,und er setzte gerade zum Sprung auf einenBetschiden an, der mit bleichem Gesicht ander Wand lehnte und ein scharfes Messerabwehrend vor sich hielt.

Brether Faddon stemmte sich gegen dasGewicht der Tür und verfluchte die Sturheitseiner Artgenossen – ausgerechnet diese Türhatten sie als »Sicherheitsschleuse« ange-legt. Sie bestand aus zwei Lagen von dickenBohlen, die sich während der Regenzeit mitWasser vollgesogen hatten. Da, wo sich die

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Hintertür befunden hatte, klaffte ein großesLoch in der Wand, aber den Jägern bliebnicht mehr genug Zeit, um das ganze Gebäu-de herumzurennen.

Während Brether mit den beiden anderendie Tür offen hielt, schossen Scoutie und ei-nes der Mädchen, die erst an diesem Tageoffiziell zu Jägern geworden waren, ihrePfeile auf den Chircool ab. Der Betschide,dem sie damit helfen wollten, erschwerte ih-nen ihre Aufgabe beträchtlich, indem er sichin einem plötzlichen Anfall von Wut – oderWahnsinn – dem mordlüsternen Tier entge-genwarf. Er schwang dabei das Messer undhegte wohl die Hoffnung, dem Chircool daszweckentfremdete Küchengerät ins Herzstoßen zu können. Aber erstens wußte er garnicht, wo bei einer solchen Bestie das Herzsaß, und zweitens war der Chircool, als derBetschide zustieß, längst nicht mehr da, wo-hin er gezielt hatte. Der Mann stolperte undfiel, und der Chircool warf sich über ihn, ob-wohl ihm bereits zwei Pfeile in den Flankensteckten.

»Schießt doch endlich!« schrie BretherFaddon wütend.

Sie taten die ganze Zeit über nichts ande-res. Aber es dauerte beinahe zu lange, bisdie Bestie ihnen endlich eine Gelegenheitbot, ihr den Garaus zu machen. Das Tier warsofort tot. Noch in der letzten Sekunde sei-nes Lebens öffnete es das Maul über derKehle seines Opfers. Der Betschide in seinerTodesangst schrie wie am Spieß und stießden Chircool mit den Füßen von sich.

Brether Faddon und die beiden anderenJäger sahen Betschiden durch das Loch inder Rückwand in die Bordküche klettern undließen erleichtert die schwere Tür los. Siefiel krachend zu.

Sie sahen sich schweigend an. Surfo Mal-lagan hatte sich mittlerweile von den totenChircools befreit. Er trat zwischen seineFreunde und legte ihnen schweigend dieHände auf die Schultern.

»Sehen wir uns den Schaden an«, sagte erschließlich.

*

Ein Kind war tot, zwei erwachsene Bet-schiden hatten ebenfalls ihr Leben einge-büßt, fünf waren verletzt, einer davon soschwer, daß es fraglich war, ob die Heilerihn noch retten konnten. In der Bordküchesah es aus, als habe ein Tornado darin gewü-tet.

Surfo Mallagan überblickte dieses Chaosund beobachtete die Jäger, die die Verletztennach draußen brachten. Verängstigte Bet-schiden krochen unter Tischen und aus zer-brochenen Schränken hervor. Das Feuer imHerd war erloschen. Ein sterbender Chircoolwar in die Glut gefallen. Der angesengte Ka-daver verbreitete einen grauenhaften Ge-stank.

Jeder der Jäger wußte, was getan werdenmußte, aber keiner wagte es auszusprechen.Die Dorfbewohner hingen an ihrer Bordkü-che. Es würde sie schwer treffen – aber an-dererseits waren sie selbst nicht ohneSchuld. Die Fleischabfälle einfach vor dieTür zu werfen – Surfo Mallagan fand keinenAusdruck, der ausgereicht hätte, sovielLeichtsinn treffend zu definieren.

»Hört mir alle zu!« sagte er laut. »Ihrwißt, daß es den ganzen Sommer über dau-ert, bis der Geruch der Chircools verflogenist, wenn wir nichts unternehmen. Und wirkönnen nicht einfach abwarten, denn sonsthaben wir schon in wenigen Stunden dienächste Horde auf dem Hals, und es würdenimmer mehr von den Bestien ins Dorf kom-men. Leider können wir die Bordküche aberauch nicht einfach in Brand stecken, denndas Holz ist zu naß. Ich schlage darum fol-gendes vor: Drei Teams von Jägern holen soschnell wie möglich eine ausreichende Men-ge von Räucherzeug her. Bringt alles, wasgeeignet ist, den Geruch zu verdecken, undgeht nicht zu tief in den Dschungel hinein –es treiben sich zu viele Chircools herum.«

Es war nicht nötig, lange zu fragen, werdiese Aufgabe übernehmen würde. Die Jägerverständigten sich mit kurzen Blicken unter-

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einander, dann legten einige von ihnen sichdie Bögen über die Schultern und verließendas Gebäude. Die junge Jägerin, die Scoutiegeholfen hatte, den letzten Chircool zu erle-digen, wollte sich ihnen anschließen, aberMallagan hielt sie zurück.

»Du nicht«, sagte er ruhig.Das Mädchen, ein Kind von gerade erst

vierzehn Jahren, sah ihn unwillig an.»Du hast zu wenig Pfeile übrigbehalten«,

murmelte er beschwichtigend. »Bleib hier –es gibt noch genug für dich zu tun.«

Sie war nicht mit seiner Entscheidung ein-verstanden, aber sie fügte sich seinen An-ordnungen.

»Sucht die Fleischstücke zusammen, dienoch brauchbar sind«, wandte Mallagan sichan die anderen. »Scoutie und Brether – ihrholt Baumfarnblätter. Thana, du bist dafürverantwortlich, daß kein Stück aus diesemHaus gebracht wird, das nicht verpackt ist.Alles Gerät, das mit den Chircools in Berüh-rung gekommen ist, muß hier bleiben.«

»Was hast du vor?« fragte einer der Dorf-bewohner ängstlich.

»Wir werden die Bordküche verschließenund dafür sorgen, daß dieser Gestank nichtnach draußen dringt«, erklärte Surfo Malla-gan ruhig. »Ihr selbst werdet hier bleiben,bis ich euch etwas bringe, womit ihr euchsäubern könnt.«

»Wir haben den Wassertank …«»Ja, und ihr werdet die Finger von ihm

lassen! Wenn ihr das Wasser mit diesem Ge-ruch verseucht, sitzen wir endgültig in derKlemme.«

Doc Ming steckte den Kopf zur Tür her-ein.

»Ich habe ein paar Töpfe voll Farnsaftmitgebracht«, sagte er. »Aber ich fürchte, eswird nicht reichen. Ysabel ist schon unter-wegs und holt eine neue Ladung Blätter.Was hältst du davon, wenn wir beide inzwi-schen versuchen, den Chircools den Appetitauf uns zu verderben, falls sich welche vordem Dorf blicken lassen?«

»Ist Ysabel alleine hinausgegangen?«Doc Ming lachte leise.

»Mach dir um sie keine Gedanken«, emp-fahl er spöttisch. »An ihr werden sich dieBestien die Zähne ausbeißen. Kommschon.«

Surfo nickte und ging auf die Tür zu. Einejunge Betschidin, die an dem Tuch, das siesich um den Kopf geschlungen hatte, als Kö-chin zu erkennen war, trat ihm in den Weg.

»Wenn du hinausgehst, gehen wir anderenauch!« sagte sie wütend. »Oder willst du unseinreden, daß die Chircools auf dich nichtreagieren?«

»Was ist hier los?« klang St. Vains Stim-me auf. »Was hat das zu bedeuten?«

Surfo Mallagan schob das Mädchen zurSeite und ging zur Tür. Doc Ming reichteihm eine Schale, in der sich eine trübe, grün-braune Flüssigkeit befand, und er begann,alle freien Körperstellen, die mit den Chir-cools in Berührung gekommen sein moch-ten, mit dem Zeug einzureihen. Unterdessenhatte St. Vain die Tür erreicht, wurde abervon dem Heiler aufgehalten.

»Laß mich durch!« befahl der Kapitängrob.

»Wo hast du die ganze Zeit über ge-steckt?« erkundigte Doc Ming sich spöt-tisch. »Das Geschrei der Chircools war dochim ganzen Dorf zu hören.«

»Laß mich vorbei, oder du wirst es bereu-en!« zischte St. Vain.

»Wir haben nicht sehr viel von dieserFlüssigkeit«, bemerkte Surfo Mallagan ru-hig. »Zuerst müssen die Jäger damit versorgtwerden, denn solange sie hier drin einge-sperrt sind, können sie nicht für die Sicher-heit des Dorfes sorgen. Der Rest ist für dieVerletzten bestimmt, eventuell auch für die,die die Nerven verlieren. Alle anderen wer-den warten müssen – und das würde dannauch für dich gelten.«

»Ich brauche euch Jäger nicht!«Surfo Mallagan sah erstaunt auf. St. Vain

schob Doc Ming zur Seite. Der Heiler warum vieles stärker als der Kapitän, aber erwar so überrascht, daß er tatsächlich aus-wich. Surfo Mallagan trat St. Vain geistes-gegenwärtig in den Weg.

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»Sei doch vernünftig!« sagte er laut. »Inder Bordküche gibt es nichts mehr zu sehen.Du setzt dich einem völlig überflüssigen Ri-siko aus. Es gibt genug, was du tun könn-test.«

St. Vain betrachtete den jungen Jägerkühl. Er wirkte selbstsicherer als je zuvor.

»Warum sollen wir Dorfbewohner unsmit etwas herumplagen, was ihr verschuldethabt?« erkundigte er sich. »Ihr habt dieChircools hierher gelockt.«

Mallagan war so verblüfft, daß es ihm dieSprache verschlug.

»Jetzt schweigst du!« rief der Kapitän tri-umphierend. »Du hast nicht erwartet, daßich die Wahrheit herausbekommen könnte,nicht wahr? Natürlich, für euch sind wir alleja nur arme Narren, die nichts vom Dschun-gel verstehen.«

»Du lieferst mir gerade den Beweis dafür,daß wir uns schleunigst zu dieser Meinungbekehren sollten«, sagte Mallagan gedehnt.»Was wirfst du uns jetzt schon wieder vor?«

»Ihr habt Jörg ins Dorf zurückgebracht«,stieß St. Vain hervor. »Und er hatte vorhermit Chircools gekämpft. Wenn also jemandmit seinem Geruch die Bestien hier herge-lockt hat, dann war er es. Er und Lerana.«

»Das Mädchen ist tot«, gab Mallagan mitsteinerner Miene zu bedenken. »Könntest dues also wenigstens jetzt aus dem Spiel las-sen?«

»Ihr habt sie begraben. Hättet ihr sie indie Schlucht geworfen, dann wären viel-leicht auch die Chircools nicht ins Dorf ge-kommen.«

»So einen Unsinn kann ich mir nicht län-ger mitanhören!« stieß Doc Ming wütendhervor.

Er packte St. Vain im Genick, drehte ihnzur Seite und deutete mit der freien Handauf die blutigen Überreste der Beutetiere,die auf dem Boden verstreut waren.

»Das da hat die Bestien angelockt!«fauchte er dem Kapitän ins Ohr, und St.Vain zuckte zusammen. »Diese Dummköp-fe, die für euch das Essen kochen, haben denganzen Kram einfach hinausgeworfen. Und

ich will dir noch etwas sagen: Kein Jäger,nicht einmal die jüngsten unter ihnen, wärejemals so unvorsichtig, eine Spur für dieChircools zu legen, die direkt ins Dorf führt.Sie setzen ihr Leben für euch aufs Spiel,aber es würde ihnen nicht einmal im Traumeinfallen, euch einen Teil des Risikos aufzu-laden.«

Surfo Mallagan, der in aller Eile den Rei-nigungsvorgang zu Ende führte, sah plötz-lich, wie St. Vains rechte Hand unter demFellumhang verschwand, und für den Bruch-teil einer Sekunde nahm er ein metallenesFunkeln wahr. Er sprang vor und riß DocMing an den Schultern zurück.

»Was, zum …«, rief der Heiler er-schrocken und wütend zugleich, aber St.Vain drehte sich blitzschnell um, und derHeiler verstummte.

Der Kapitän lachte höhnisch auf.»Das habt ihr nicht erwartet, wie?« fragte

er. »Ich war darauf gefaßt, daß es zu einerMeuterei kommen wird. Schon die ganzeZeit hindurch habe ich euch beobachtet.Was habt ihr eigentlich vor? Wollt ihr unsalle ins Unglück reißen? Oder liegt euchmehr daran, aus dem Schiff verbannt zuwerden, wie unsere Vorfahren von der SOLverbannt wurden? Ihr braucht euch nichtlänger anzustrengen – wir brauchen euchnicht mehr!«

Doc Ming begann plötzlich zu lachen.»Laß dich nicht von ihm bluffen!« sagte

er zu Surfo Mallagan. »Diese Waffe istschon seit Jahrhunderten unbrauchbar.«

Auch Surfo Mallagan wußte, daß es nocheinige von diesen alten Waffen gab, und daßsie genauso tot waren wie der Roboter, dender Heiler aufbewahrte. Aber gleichzeitigsah er ein leichtes Flimmern vor der Mün-dung des silbrig glänzenden Rohres und einkleines, rotes Licht am oberen Ende desLaufes. Ein Instinkt verriet ihm, daß ihmvon diesem uralten Ding Gefahr drohte. Erzog Doc Ming mit sich ein paar Schritte vondem Kapitän weg. Der Heiler riß sich ärger-lich los.

»Laß den Unsinn!« befahl er grob. »Na

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los, St. Vain! Zeig mir, was das Ding dortkann!«

Der Kapitän lachte höhnisch und drückteauf den Auslöser der Waffe. Im gleichenAugenblick verschwand das Flimmern vorder Öffnung, und das winzige Licht erlosch.Dafür erklang eine Stimme.

»Ich gab dir die Waffe, damit du das Dorfvor einer großen Gefahr bewahren kannst«,sagte sie traurig. »Statt dessen richtest du sieauf deine Artgenossen. Du zwingst mich,mein Geschenk zurückzunehmen.«

St. Vain stand da wie vom Donner gerührtund starrte auf die Waffe in seiner Hand. Erschüttelte sie wütend und schleuderte sieschließlich von sich.

»Das ist Betrug!« schrie er in den blassenHimmel von Chircool hinauf. »Du hast michbetrogen, Alter vom Berg. Ich verfluchedich und deine Geschenke!«

Er rannte davon, auf die Kommandozen-trale zu. Surfo Mallagan sah ihm wie erstarrtnach. Er begriff die Zusammenhänge sofort.

Jörg hatte behauptet, in der Behausungdes Kapitäns etwas Fremdes gespürt zu ha-ben und gemeint, daß es sich dabei um denAlten vorn Berg gehandelt haben müsse.Der Junge hatte sich nicht geirrt. Entsprachauch das, was er später im Dschungel gese-hen hatte, der Wahrheit?

Doc Ming hob die nutzlose Waffe auf undsteckte sie sich in den Gürtel.

»Man kann nie wissen«, bemerkte er da-zu. »Vielleicht überlegt unser Schutzgeist essich noch einmal.«

Damit wandte er sich ab und stapfte umdas Haus herum. Mallagan folgte ihm wiebetäubt.

»Wir bleiben zusammen«, entschied DocMing. »Laß uns nach weiteren Jägern su-chen. Wir werden selbst die Kinder brau-chen. Gütiger Himmel, ich dachte, wir hät-ten es nur mit dem Zug der Chircools zu tun.Daß diese Idioten die Biester schon vorherherlocken – damit habe ich wirklich nichtrechnen können.«

6.

Sie trommelten alle Jäger zusammen, diezum Teil erst nach dem Überfall ins Dorfzurückkehrten, und holten auch die Jungenund Mädchen zusammen, deren Ausbildungnoch nicht abgeschlossen waren. Wer mitPfeil und Bogen, Wurfschlingen und Mes-sern auch nur halbwegs gut umgehen konn-te, mußte jetzt mithelfen, das Dorf zu schüt-zen. Auch einige der »Schiffsbewohner« be-griffen, in welcher Gefahr sie schwebten.Sie griffen mit zu, wo immer sie konnten.Doc Ming ließ sie die toten Chircools samtund sonders in die Schlucht werfen, und siegehorchten, obwohl ihnen nicht recht wohldabei war. Andere hoben die vom Blut derBestien durchtränkten Sandschichten vor derBordküche sorgfältig ab und füllten sie inebenfalls blutbespritzte Behälter aus derBordküche. Die Behälter wurden mit demSand und allen verwendeten Werkzeugenebenfalls in die Schlucht geworfen.

Inzwischen kehrten die ersten Jäger zu-rück, und Ysabel brachte frische Blätter, dieDoc Ming und ein paar Helfer eiligst zer-stampften. Ein großer Haufen Blätter wurdein der Mitte der Bordküche aufgeschichtet,und Doc Ming setzte das Zeug eigenhändigin Brand. Als die ersten Rauchwolken ausden Fenstern quollen, begann man, alle Öff-nungen, selbst die feinsten Ritzen, mit Holz,Steinen, Lehm, Moos und Blättern – allem,was sich nur fand – zu verschließen. Manholte zähen Schlamm von den Feldern undbedeckte den Boden vor der Küche damit,schmierte Schlamm auf das Dach und dieBalken, bis die Bordküche, auf die die Bet-schiden so stolz gewesen waren, einem riesi-gen, unförmigen Haufen Unrat glich. Erstals nichts von dem beißenden Rauch, dendie schwelenden Blätter erzeugten, mehrnach draußen drang, war Doc Ming zufrie-den, und auch das letzte Loch dicht überdem Boden, das dem schwelenden BrandLuft zuführte, wurde verschlossen.

»Werden wir nie wieder hinein können?«fragte eine Frau beklommen.

Der Heiler schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte er hart. »Sobald das alles

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getrocknet ist, werden wir es verbrennen.Gewöhnt euch an den Gedanken, daß ihr eu-re Nahrung für einige Zeit so genießenmüßt, wie sie aus dem Wald kommt. Bauteuch Kochhütten – oder zwingt St. Vain da-zu, daß er euch erlaubt, Feuerstellen in denHäusern anzulegen.«

»Warum sollten sie das jetzt noch tun?«fragte Surfo Mallagan spöttisch. »Es lohntsich nicht.«

»Was meinst du damit?« erkundigte sichdie Betschidin beunruhigt.

Surfo Mallagan sah sie mitleidig an. Ererkannte sie jetzt. Es war Raissa Yaal, derenjüngster Sohn während der Regenzeit ge-storben war.

»Das da war nur der Anfang«, sagte erund deutete auf die Bordküche.»Normalerweise gibt es in der Nähe desDorfes keine Cllircools. Die Tiere ziehensich hier zusammen, weil die Zeit der Paa-rung bevorsteht. Sie werden nach Nordenziehen, gemeinsam mit allen anderen Chir-cools, die es auf diesem Teil des Planetengibt – und das sind Millionen.«

Sie sah ihn erschrocken an, aber er merk-te, daß sie das Ausmaß der Bedrohung nichtwirklich begriff. Für sie war die Ansamm-lung von Hütten kein »Dorf«, sondern einSchiff, und die Außenwelt war Teil diesesSchiffes, ein begrenzter Raum, der aus un-verständlichen Gründen von fremden Le-bensformen übernommen worden war. DerÜberlieferung zufolge hatten die ersten Bet-schiden sich erbittert gegen die Natur vonChircool gewehrt und versucht, sie nach ih-rem Willen zu verändern. Sie waren ge-scheitert – vielleicht war das einer der Grün-de, die sie bewogen hatten, sich in einen gei-stigen Minikosmos zurückzuziehen. Sie be-griffen bis heute nicht, oder besser: Sie woll-ten es nicht begreifen, daß sie einer eigen-ständigen Welt nur mit Aufgeschlossenheitund der Bereitschaft, sich anzupassen, be-gegnen konnten.

»Ich glaube dir nicht«, sagte Raissa leise.»Millionen – es sind große Tiere, nichtwahr? Sie hätten gar nicht alle Platz in unse-

rer Welt!«Surfo Mallagan drehte sich um und sah

Doc Ming hilfesuchend an.»Es hat keinen Sinn«, murmelte der Hei-

ler. »Sie werden es dir selbst dann nichtglauben, wenn schon die ersten paar tausendChircools an uns vorbeigezogen sind.«

Er hat recht, dachte Surfo Mallagan be-troffen. Aber es muß einen Weg geben, sievon hier wegzubringen.

Er zerbrach sich den Kopf über diesesProblem. Es war eine Aufgabe, die seinenVerstand überforderte, und sein Unterbe-wußtsein lenkte ihn ab, indem es ihn sich anetwas ganz anderes erinnern ließ.

»Wir haben Jörg vergessen«, stieß er er-schrocken hervor.

Doc Ming winkte ab.»Ich habe nachgesehen, bevor ich zur

Bordküche kam«, erklärte er bedrückt. »Jörgund Djin sind verschwunden.«

»Dann müssen wir sie suchen!«»Wo?« fragte der Heiler trocken.Als er Surfo Mallagans Betroffenheit be-

merkte, legte er ihm beruhigend die Handauf die Schulter.

»Vielleicht ist alles nur halb so schlimm«,tröstete er. »Immerhin ist es dem Kater ge-lungen, Djin aus der Hütte hinauszubringen.Ich hätte das nicht für möglich gehalten. DieAngst des Jungen ist in diesem Stadium sogroß, daß es selbst einem erwachsenen Bet-schiden kaum möglich wäre, ihn zu bändi-gen – und wenn man die Gewalt über einensolchen Kranken verliert, dann ist es mei-stens auch schon zu spät.«

»Du meinst, Jörg hat es geschafft, ihn zuberuhigen?«

»Es ist nicht ganz unmöglich«, meinteDoc Ming vorsichtig. »Ich nehme an, siesind jetzt irgendwo da draußen im Dschun-gel.«

»Dann sind sie beide so gut wie tot.«Doc Ming sah den jungen Jäger nach-

denklich an.»Das muß nicht sein«, murmelte er. »Dein

katzenhafter junger Freund hat schon wie-derholt bewiesen, daß seine Instinkte siche-

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rer und besser funktionieren als die aller an-deren Betschiden.«

»Instinkt alleine reicht nicht aus«, knurrteSurfo Mallagan bitter. »Damit kann man dadraußen noch lange nicht überleben – vor al-lem nicht jetzt.«

»Das stimmt«, sagte der Heiler bedächtig.»Aber wenn zu den Instinkten auch noch dasnötige Wissen kommt, sieht es schon andersaus, und daß ihr die Kinder gut unterwiesenhabt, ist mir bekannt. Was die ungewöhnli-chen Umstände betrifft – ich habe die Spu-ren der beiden weit genug verfolgt, um si-cher sein zu können, daß sie sich nach Ostengewandt haben. Keiner der Jäger, die vondort zurückkehrten, hatte Zusammenstößemit Chircools zu melden.«

Surfo Mallagan setzte unwillkürlich zumLaufen an, besann sich dann aber.

Auch wenn es noch so schwer war – dieSicherheit des Dorfes ging vor. Vielleichtkonnten sie am Abend den Spuren der Jun-gen folgen, jetzt war es jedenfalls unmög-lich.

Wenig später sah er sich gezwungen, dasauch Brether Faddon und Scoutie zu erklä-ren.

»Nun gut«, lautete Scouties bitterer Kom-mentar. »Opfern wir unsere beiden Freunde,damit wir diese Narren vor etwas beschützenkönnen, was es ihrer Meinung nach gar nichtgibt.«

*

Am Nachmittag wurden vier Rotten vonChircools von Jägern entdeckt und unschäd-lich gemacht. Die Tiere näherten sich demDorf so unverfroren, als rechneten sie mitkeiner Gefahr. In ihrem Leichtsinn waren siedenn auch verwundbar – es gab weder Totenoch Verletzte.

Am Abend rief St. Vain die Bewohner desDorfes zum Hangar. Doc Ming, der ganzselbstverständlich das Kommando über dieJäger übernommen hatte, beorderte SurfoMallagan und seine beiden Gefährten zurSchlucht. Sie sollten die Trauernden vor

Überfällen sichern. Da sie zwar nicht zu denältesten, wohl aber geschicktesten und erfah-rensten Jägern gehörten, schickte er sie aufdie Westseite des Dorfes und überließ es ei-ner sechsköpfigen Gruppe von Jungen undMädchen, die östliche Grenze des Dorfeszur Schlucht hin zu sichern.

Es war bereits dämmerig, und aus derSchlucht stiegen bleiche Nebelschwadenauf. Die drei Jäger waren gezwungen, naheam Ort des Geschehens zu bleiben, denn inder beginnenden Dunkelheit war die Gefahrgroß, daß Chircools sich hinter ihremRücken an die Trauergäste heranschlichen,wenn sie sich allzu weit entfernten. Sie hör-ten den monotonen, beklemmenden Gesang,und gegen seinen Willen drehte Mallagansich um.

Die fünf Meter hohe Gleitbahn erhob sichdüster gegen den Himmel. Oben, auf demPodest, stand St. Vain, und zwei Betschidentrugen die Toten nacheinander hinauf. DieLeichen waren mit Fellen und Häuten um-hüllt, die man mit Kalkschlamm weiß ge-färbt hatte. St. Vain sprach ein paar feierli-che Worte und breitete noch eine besondereHaut über die Toten. Eine gelbe Sonne undsieben blaue Punkte waren mit Pflanzenfar-ben darauf gemalt. Niemand wußte genau,was dieses Zeichen zu bedeuten hatte. DocMing hatte einmal behauptet, es sollte dieSonne symbolisieren, die den BetschidenLicht und Wärme spendeten, und die blauenPunkte wären Symbole für die Planeten, diediese Sonne umkreisten.

Die erste Leiche wurde auf die Gleitflächegeschoben, und St. Vain sprach die Worte,die Surfo Mallagan so sehr haßte.

»Ich übergebe dich dem unendlichen All,das unser aller Heimat ist.«

Der Tote rutschte die Fläche hinunter undstürzte über den Rand der Schlucht.

»Raumbegräbnis«, nannte man das. Mal-lagan wußte nicht, ob die Zeremonie, die derÜberlieferung zufolge stattfand, seit es Bet-schiden auf Chircool gab, wirklich Ähnlich-keit mit den Bestattungsriten derer hatte, diein der SOL lebten. Er konnte es sich nicht

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vorstellen.Als Jäger wußte er, daß alles Leben auf

diesem Planeten in letzter Konsequenz demBoden, auf dem es ging oder in dem es wur-zelte, sein Leben verdankte. Im Boden keim-ten die Samen der Pflanzen, und dorthinkehrte durch das Wirken unzähliger Tiere al-les zurück, was starb. Die Fleischfresser er-nährten sich von Tieren, die die Pflanzenvertilgten, die im Boden wurzelten, aberauch sie selbst wurden irgendwann Opferdes Dschungels und kehrten in diesen näh-renden Boden zurück, um als Bestandteil derKrume dessen Fruchtbarkeit zu bewahren.Für die Jäger – wenigstens für die meistenvon ihnen – war es ein Akt der Feindselig-keit gegenüber diesem Planeten, wenn dieBetschiden sich weigerten, sich diesem ewi-gen Kreislauf einzugliedern.

Mallagan sah, wie die Mutter des Kindes,das vor der Bordküche gestorben war, dieRampe hinaufstürmte und schreiend denLeichnam ihres Sohnes festzuhalten ver-suchte. Er mußte sich zwingen, auf seinemPosten zu bleiben und die Blicke von demschrecklichen Bild zu wenden.

In Augenblicken wie diesen haßte er St.Vain und alle anderen »Schiffsbewohner«.Er war froh, daß es ihnen gelungen war,Lerana vor der Gleitbahn zu bewahren. Ersah ein, daß es für die Toten keine Rollemehr spielte, was mit ihnen geschah, aberder Gedanke daran, daß sie alle dort unten inder Schlucht lagen, die so grauenhaft tiefwar, flößte ihm Furcht ein.

Ein Rascheln lenkte ihn ab, und er wardankbar für das Geräusch. Wachsam spähteer in die Dämmerung, darauf gefaßt, imnächsten Augenblick einer Horde blutgieri-ger Chircools gegenüberzustehen. Statt des-sen polterte auf zehn plumpen, kurzen Bein-chen ein Tier aus dem Dickicht, das einerumgedrehten kleinen Schüssel ähnelte. Aufdem hornigen Rücken saßen drei Längsrei-hen von weißlichen Borsten, und der Panzerwar bunt gefleckt. Ein kurzer, spitzerSchwanz und eine ebenfalls kurze, spitzeSchnauze ragten vorne und hinten aus dem

Panzer hervor – wo das jeweilige Ende desTieres saß, konnte man ohne eingehendeUntersuchung eigentlich nur aus seiner Be-wegungsrichtung erkennen.

Surfo Mallagan betrachtete das kleineWesen verwundert. Es kam arglos auf ihnzu, und er hob den Bogen, ließ ihn dann aberwieder sinken.

Die Vorfahren hatten diese Tiere nochnicht gekannt und ihnen keinen Namen ver-liehen. Sie waren selten und lebten sehr zu-rückgezogen. Die Jäger tauften diese Wesen»Schnüffeltierchen«. Es waren harmlose,liebenswerte Wesen, und sie galten bei de-nen, die ihr halbes Leben im Dschungel ver-brachten, als Glücksbringer. Die Schnüffel-tierchen hatten zartes, sehr wohlschmecken-des Fleisch, aber man schoß sie höchstensim äußersten Notfall, und so mancher Jägerhatte beim Anblick dieser possierlichenBeute sein weiches Herz entdeckt.

Mallagan bückte sich und schnalztelockend mit der Zunge. Das Schnüffeltier-chen hielt kurz inne, hob den spitzen Kopf,und seine Nase bewegte sich flink von einerSeite auf die andere.

»Komm her«, lockte Mallagan. Er pflück-te ein aromatisches Blatt von einem Strauch,an den ein Schnüffeltierchen niemals heran-gelangen würde, und streckte es dem kleinenKerl entgegen. Das kleine Wesen eilte hastigherbei und hielt dann so plötzlich an, daß essich fast überschlagen hätte. Der Jäger war-tete geduldig, bis das Tier seine Scheu über-wunden hatte und ihm mit seiner winzigen,weichen Schnauze das Blatt zwischen denFingern hervorzog.

»Wenn du wirklich Glück bringst«, sagteder Jäger leise, »dann solltest du bei mirbleiben.«

Das Schnüffeltierchen hörte für einen Au-genblick auf zu kauen und streckte den Kopfso weit unter dem Panzer hervor, daß Malla-gan die kleinen, schwarzen Augen sehenkonnte. Das Tier betrachtete den Betschideneingehend, und diese Blicke berührten denJäger auf seltsame Weise. Fast schien esihm, als läge eine Spur von Intelligenz darin.

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Er streckte die Hand aus, strich behutsamüber die dünnen Borsten und war verwun-dert darüber, daß das Tier diese Liebkosungduldete.

Er pflückte ein zweites Blatt, und als ersich nach Abschluß der Feierlichkeiten mitseinen Freunden traf, rumpelte »Tolpatsch«,wie er das Wesen inzwischen nannte, eifrighinter ihm her.

Brether Faddon betrachtete das Tier ver-wundert. Scoutie dagegen bückte sich undstreichelte spontan den kleinen, schuppigenKopf, der sich ihr entgegenstreckte.

»Wo hast du es her?« fragte sie lächelndund sah zu Surfo Mallagan auf.

»Es ist mir zugelaufen«, murmelte der Jä-ger.

Er zögerte kaum merklich.»Hebe ihn auf!« sagte er.Scoutie schob vorsichtig eine Hand unter

Tolpatschens weichen Bauch. Das Tierchenrollte sich leicht zusammen.

»Es hält sich fest«, stellte sie überraschtfest und hob das Tier hoch. Tolpatsch hingauf ihrer Hand wie eine kleine, fette Raupe.Mallagan beobachtete ihn genau. DasSchnüffeltierchen hielt die Beine still, undes reckte den Kopf und sah Scoutie auf-merksam an. Es verhielt sich wie das einzigezahme Schnüffeltierchen, das er kannte, unddas gehörte Ysabel. Sie trug es unter ihremUmhang mit sich herum, wenn sie in denDschungel ging, hütete sich aber, das kleineWesen herumzuzeigen. Surfo Mallagan be-zweifelte, daß außer ihm und Doc Ming ir-gend jemand von der Existenz des Tierchenswußte.

Er dachte daran, daß Ysabel oft alleine inden Dschungel ging – und sie war weit überhundert Jahre alt.

»Es heißt, daß diese Tiere Glück brin-gen«, sagte er zu Scoutie. »Du solltest Tol-patsch behalten.«

Scoutie warf ihm einen seltsamen Blickzu.

»Er soll selbst entscheiden, bei wem erbleibt«, meinte sie und setzte das Schnüffel-tierchen auf den Boden zurück.

Halte dich an siel bat Surfo Mallagan in-ständig in Gedanken. Sie braucht dich nöti-ger als ich!

Ganz sicher konnte ein Schnüffeltierchenkeine Gedanken lesen, und überhaupt zwei-felte Surfo Mallagan daran, daß diese Wesenauch nur einen Funken von Verstand besa-ßen – sie hätten sich sonst nicht so zutrau-lich gegeben. Aber er war doch ein wenigbeeindruckt, als Tolpatsch kurze Zeit zöger-te, seine kleine Nase bald auf den Jäger,dann wieder auf Scoutie richtete undschließlich zielbewußt hinter dem Mädchenhertrampelte.

Im Dorf war es ruhig. Die Jäger und alleBetschiden, die sich dazu entschlossen hat-ten, entgegen allen Schiffstheorien die Ge-fahr, die von den Chircools her drohte, ernstzu nehmen, wechselten sich nach einem ge-nauen Plan bei der Bewachung des Dorfesab. Für Surfo Mallagan und seine beidenGefährten sah dieser Plan eine mehrstündigeSchlafpause vor. Sie wurden lange vor Mor-gengrauen unsanft aus dem Schlaf gerissen,weil eine Horde von Chircools trotz der Wa-chen bis ins Dorf vorgedrungen war.

Der Vorfall war schnell beigelegt, wasman nicht zuletzt Scoutie zu verdanken hat-te. Während Surfo und Brether auf den Weghinabsprangen und den Chircools den Wegabzuschneiden versuchten, blieb sie seelen-ruhig oben an der Treppe stehen und sandteden rasenden Bestien einen Pfeil nach demanderen entgegen. Trotz der Dunkelheit trafsie mit fast jedem Schuß. Vier Chircools wa-ren so schnell, daß sie Scoutie eigentlichhätten erreichen müssen, aber aus irgendei-nem Grunde hielten sie die Jägerin nicht füreine geeignete Beute: Sie rannten an ihr vor-bei und boten ihr damit Gelegenheit, nochzwei weitere Chircools zu töten, ehe Bretherund Mallagan die beiden anderen erledigten.

Natürlich war Scoutie eine hervorragendeJägerin, und das Ganze war nicht so unge-wöhnlich, daß es Verdacht erregen konnte.Aber als Mallagan in die Hütte zurückkehr-te, sah er, wie Scoutie die Hand unter dieFellbluse steckte und das Schnüffeltierchen

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hervorholte.»Komischer Kerl«, sagte sie verblüfft.

»Vorhin hat er sich so fest an mich geklam-mert, daß ich ihn mitnehmen mußte.«

Tolpatsch war also bei ihr gewesen, alsdie Chircools sich so merkwürdig benah-men.

7.

Als am nächsten Morgen vier Horden vonChircools sich nacheinander dem Dorf nä-herten, brach unter einigen Betschiden einePanik aus. Der Anblick der geifernden Tiere,das Geschrei und Gequietsche, das Singender Bögen und die hastigen Aktivitäten derJäger, die nach jeder Schlacht sofort die to-ten Bestien beseitigten, das alles war zu vielfür sie.

Sie waren friedliche Leute, die der Aus-einandersetzung mit dem Dschungel schondeshalb aus dem Wege gingen, weil siedraußen gezwungenerweise hätten tötenmüssen. Sie verabscheuten den Gebrauchvon Waffen, und sie haßten alles Blutvergie-ßen. Solange die Kämpfe zwischen den Jä-gern und ihrer Beute weitab vom Dorf statt-fand, konnten sie sich beruhigt ihren Illusio-nen hingeben und den Glauben nähren, daßman auch in dieser Welt auf friedliche Wei-se zu überleben vermochte.

Nicht genug damit, daß sie nun auf drasti-sche Weise eines Besseren belehrt wurdenund begreifen mußten, daß es den Chircoolsvöllig gleichgültig war, ob sie einen friedli-chen Dorfbewohner oder einen bewaffnetenJäger auffraßen – das Nahrungsproblembrachte weitere Schwierigkeiten mit sich.

Die Bordküche konnte nicht mehr benutztwerden. Nur dort aber gab es jene Geräte,mit deren Hilfe man große Mengen vonFleisch, Früchten und Wurzeln so gründlichzerkleinern und vermischen konnte, daß nie-mand mehr dem Gemisch ansah, welcherHerkunft es war. Nur etwa ein Drittel der imDorf lebenden Betschiden ernährte sich fastausschließlich von den undefinierbaren Brei-en, die auf solche Weise entstanden. Sie

aßen bestenfalls bestimmte Früchte roh undim Urzustand. Die anderen waren durchausdazu bereit, auch einmal gebratenes Fleischzu verzehren, wenn auch einige es vorzogen,dabei die Augen zu schließen.

Das »Küchenpersonal« hatte sich in eini-gen Kochhütten niedergelassen, die ihnenvon Jägern zur Verfügung gestellt wurden.Dort gab es die zum Zerkleinern der Nah-rung nötigen Geräte nicht, und selbst wennes sie gegeben hätte, wäre es unmöglich ge-wesen, eine solche umständliche und zeit-raubende Form der Nahrungszubereitungunter den gegebenen Umständen zu prakti-zieren.

Alles Fleisch, das man am Tag zuvor hat-te retten können, mußte nach Doc MingsAnweisungen sofort verbraucht werden –Abfälle wanderten diesmal in die Schlucht,anstatt weiter verarbeitet zu werden. Manmußte alles tun, um die Chircools nicht nochzusätzlich ins Dorf zu locken. Bei Tagesan-bruch zogen einige Jäger nach Osten davon.Was sie an Beute heimbrachten, war kaumgenug, um den ärgsten Hunger zu stillen.Obwohl aber alle Betschiden nach der lan-gen, entbehrungsreichen Regenzeit ausge-hungert waren, weigerten sich die Anhängerder »Schiffsnahrung«, auch nur ein StückFleisch zu sich zu nehmen. Möglicherweisehätte ein Machtwort des Kapitäns sie zu derEinsicht bewegen können, daß es nicht nurunvernünftig, sondern im höchsten Maß ge-fährlich für alle Betschiden war, wenn einDrittel der Dorfbevölkerung ausgerechnetjetzt eine Fastenkur einlegte. Aber St. Vaindrückte sich vor der Verantwortung undblieb in seiner »Kommandozentrale«.

Doc Ming, der seine Pappenheimer kann-te, unternahm, als das Frühstück ausgegebenwurde, einen Rundgang, der ihn zu allen vonden Köchen und Köchinnen besetzten Koch-hütten führte, und er erwischte auch prompteine ganze Reihe von Betschiden, die dasKüchenpersonal dazu zu überreden versuch-te, daß sie ihnen trotz aller Schwierigkeitenkleine Portionen der gewohnten Nahrungzubereiteten. Nicht selten war das Küchen-

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personal auch durchaus bereit, solche Extra-wünsche zu erfüllen. Doc Ming machte allenBetroffenen daraufhin klar, daß er auf kei-nen Fall erlauben werde, daß man Fleischverarbeitete. Niemand wollte den Sinn desVerbotes eingehen – bis St. Vain auf derBildfläche erschien.

Es war ein Auftritt, wie der Kapitän ihnsich schlimmer in seinen schrecklichstenAlpträumen nicht hätte ausmalen können.

Seine Gefährtin war kurz zuvor in einerKochhütte erschienen und hatte dort die ihrund St. Vain zustehende Fleischration abge-holt – roh und unbearbeitet. In der Komman-dozentrale hatte sie dann damit begonnen,das Fleisch zu zerstampfen und zu zerreiben,und weil ihr der Geruch, der ihr dabei in dieNase stieg, so unangenehm war, kam sie aufdie glorreiche Idee, die Fensterläden zu öff-nen und frische Luft hereinzulassen. Diewachsamen Posten bemerkten eine Hordevon Chircools, die Kurs auf die Kommando-zentrale nahmen. Die Rotte war ungewöhn-lich groß – über zwanzig dieser Bestienpreschten über den Ackerstreifen heran. Vierdavon erreichten ihr Ziel, zweien gelang es,in das Gebäude einzudringen. Drei weitereHorden waren im Anmarsch. Keripha Yaalkonnte sich rechtzeitig zurückziehen, da siedurch das Kampfgeschrei gewarnt wurde.Auch dem Kapitän gelang die Flucht, aberangesichts der Tatsache, daß die Bestien be-reits im Hause waren, wurde er von solcherPanik befallen, daß er laut schreiend – nochdazu beinahe unbekleidet – die Dorfstraßeentlanghetzte.

Mit seinem Geschrei und seiner offen-sichtlichen Angst steckte er die mit DocMing streitenden Betschiden an, und imHandumdrehen herrschte ein wahres Chaos.

Als endlich wieder Ruhe eintrat und DocMing von St. Vain und Keripha Yaal nacheinigen Schwierigkeiten die Wahrheit erfah-ren hatte, fiel es ihm nicht schwer, die Bet-schiden endlich zur Einsicht zu bringen. DieAngst vor den Chircools war größer als derEkel vor Fleisch, das sich in einem halbwegsnatürlichen Zustand befand.

Gerade als die von diesem Problem be-troffenen Betschiden sich zögernd bereit er-klärten, es wenigstens zu versuchen, stelltees sich heraus, daß so gut wie nichts mehr dawar, woran sie ihren guten Willen hätten be-weisen können.

Doc Ming vertröstete sie, konnte es sichaber nicht ganz verkneifen, seiner HoffnungAusdruck zu geben, daß es ihnen eine Lehresein möge. Danach begab er sich schleunigstauf die Suche nach Surfo Mallagan und des-sen beiden Freunden.

»Es muß etwas geschehen«, sagte derHeiler resolut. »Wir haben keine Vorrätemehr, und was die anderen Gruppen bis jetztgebracht haben, das ist zum Sattwerden zuwenig und zum Verhungern zu viel.«

Scoutie tastete nach einer Beule, die sichan ihrer Schulter abzeichnete.

»Wir werden etwas besorgen«, sagte sielächelnd.

Doc Ming warf ihr einen scharfen Blickzu.

»Was hast du da?« fragte er. »Bist du ver-letzt?«

Scoutie sah Surfo Mallagan hilfesuchendan. Er nickte ihr beruhigend zu.

»Es ist nur ein Schnüffeltierchen«, erklär-te er. »Ich habe es gestern Abend gefun-den.«

Doc Ming schwieg ein paar Sekunden.»Darf ich es sehen?« fragte er dann über-

raschend sanft.»Ich weiß nicht, ob es hervorkommen

wird«, erwiderte Scoutie schulterzuckend.»Versuche es«, bat der Heiler.Tolpatsch hatte sich nicht von Scoutie

trennen wollen, als sie die Hütte verließ, under konnte erstaunlich hartnäckig sein. Siefragte sich immer wieder, wie dieses kleine,auf den ersten Blick so plumpe Wesen esfertigbrachte, sich derart intensiv an ihrerSchulter festzuhalten. Diesmal schien Tol-patsch allerdings der Ansicht zu sein, daß ei-ne kurze Trennung ihm keinen Schaden zu-fügen würde. Es gelang ihr mühelos, dieHand unter den Bauch des Tierchens zuschieben und es hervorzuholen. Sie hielt

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dem Heiler das Schnüffeltierchen hin, aberDoc Ming schüttelte den Kopf.

»Du solltest es niemals aus der Hand ge-ben«, sagte er ernst. »Es muß sich auf dicheinstellen können. Ich hoffe, du hast es nichthochgehoben, bevor Scoutie es angefaßt hat,Surfo!«

»Nein«, sagte Mallagan überrascht.»Warum fragst du danach?«

»Weil es wichtig ist«, murmelte DocMing und sah Scoutie und das Schnüffeltier-chen nachdenklich an. »Laß es an seinenPlatz zurückkehren, Scoutie.«

Er sah zu, wie das winzige Wesen unterdem Kragen der Fellbluse verschwand.Schließlich gab er sich einen Ruck.

»Ich habe euch von dem alten Doc Malla-gan erzählt«, sagte er. »Er besaß ebenfallsein solches Tier, und er war überzeugt da-von, daß er ihm in vielen Fällen sein Lebenverdankte. Ich hielt das damals für einenAberglauben, aber als wir die Chircools ver-folgten, kamen mir gewisse Zweifel. DocMallagan schien im voraus zu wissen, wo esfür uns gefährlich wurde. Es war, als hätte ereinen sechsten Sinn. Er behauptete, das lägean seinem Schnüffeltierchen, das ihn immerrechtzeitig warnte. Man mag darüber denkenwie man will, aber Doc Mallagan war einerder wenigen Jäger, die nicht irgendwo drau-ßen im Dschungel, sondern in ihrer Kojestarben. Etwas später fand Ysabel ein sol-ches Wesen, und die beiden sind seitdembeinahe unzertrennlich. Ysabel ist über ein-hundertdreißig Jahre alt, aber sie geht alleinein den Dschungel, und ich bin beinahe si-cher, daß ihr dort draußen niemals etwas ge-schehen wird.«

Die drei Jäger sahen den Heiler verwun-dert an.

»Aber es ist nur ein Tier«, sagte BretherFaddon schließlich. »Es ist niedlich und nett,aber ich kann mir nicht vorstellen, daß eseinen Menschen beschützen könnte.«

Scoutie lächelte plötzlich.»Es könnte trotzdem so sein«, meinte sie.

»Vorhin, als die Chircools die Dorfstraßeherunterrasten, da wollte ich genau wie ihr

versuchen, ihnen den Weg abzuschneiden.Aber plötzlich hatte ich das Gefühl, daß dasnicht gut war. Ich richtete mich danach –und das Ergebnis kennt ihr!«

»Du solltest von jetzt an auf solche Ge-fühle achten«, nickte Doc Ming. »Je besserdu dich auf das Schnüffeltierchen und dieseGefühle einstellst, desto öfter werden solcheDinge sich ereignen.«

Er stand auf und deutete nach Osten.»Jetzt weiß ich, daß ich die richtige Wahl

getroffen habe«, sagte er leise. »Geht – undbringt um Himmels willen etwas mit, wasviel Fleisch hergibt. Ich werde ein paar an-dere Gruppen hinausschicken. Sie sollenFrüchte, Blätter und Wurzeln holen, so vielewie möglich. Ich fürchte, uns bleibt nichtmehr viel Zeit.«

»Wir drei alleine werden nicht viel heran-schaffen können«, gab Mallagan zu beden-ken.

»Das ist mir klar«, sagte der Heiler ernst.»Aber wen – außer euch dreien – sollte ichjetzt wohl auf die Jagd schicken?«

*

»Ich verstehe nicht, wozu wir St. Vainbrauchen«, sagte Brether Faddon, währendsie ihre Ausrüstung durchsahen und sich mitfrischen Pfeilen versahen. »Doc Ming wäreein viel besserer Kapitän!«

»Du vergißt, daß der Kapitän gewähltwird«, bemerkte Mallagan. »Die Schiffsbe-wohner würden Doc Ming keine einzigeStimme geben.«

»Könnt ihr an nichts anderes denken?«fragte Scoutie ärgerlich. »Habt ihr schonvöllig vergessen, daß Jörg und Djin ver-schwunden sind?«

»Nein«, sagte Mallagan gelassen. »Aberwas hätten wir für die beiden in der Nachttun sollen?«

»Jetzt ist nicht mehr Nacht!«»Da hast du völlig recht. Und weil das so

ist, werden wir jetzt ganz nebenbei nach denbeiden Ausschau halten.«

Scoutie sah ihn mißtrauisch an.

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»Du willst mir hoffentlich nicht einreden,daß du das die ganze Zeit über vorhattest?«fragte sie.

»Natürlich hatte ich das«, antwortete erseufzend. »Es war doch völlig klar, daß DocMing uns früher oder später losschickenwürde, und da wir wissen, daß es im Westenzur Zeit von Chircools nur so wimmelt, wares auch klar, daß wir genau in die Richtunggehen würden, in die auch Jörg sich gewandthat.«

»Die Spur ist jetzt schon alt«, gab Scoutiezu bedenken. »Wir hätten nicht so langewarten sollen.«

Mallagan sah sie nur schweigend an. DieChance, daß sie die beiden Jungen lebendfanden, war ohnehin denkbar gering. Nichtohne Grund waren es fast ausnahmslos Drei-er-Teams, die auf die Jagd gingen. Ein ein-zelner Betschide konnte sich vielleicht einegewisse Zeit durchschlagen, aber er würdeso gut wie keine Beute, die immerhin mit-helfen mußte, rund zweihundertfünfzigMenschen zu ernähren, ins Dorf heimbrin-gen. Bei zwei Personen bestand stets die Ge-fahr, daß der eine den Gefahren des Dschun-gels zum Opfer fiel und der andere zwar sichselbst, nicht aber die Beute zu retten ver-mochte. Mehr als drei Betschiden dagegenwaren zu auffällig und lockten das Raub-zeug an.

Jörg war genaugenommen alleine, und erhatte noch dazu den kranken Jungen beisich. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Ent-weder hatte Jörg für sich und Djin ein siche-res Versteck gefunden – oder beide Jungenwaren tot.

»Wenn wir noch mehr Zeit verschwen-den«, knurrte Brether Faddon, »dann findenwir sowieso nichts mehr von ihnen.«

Scoutie fuhr entsetzt auf, und Mallaganwarf dem Freund einen ärgerlichen Blick zu.

»Das ist doch wahr, oder nicht?« fragteder Jäger wütend. »Packt eure Sachen einund kommt!«

Sie begegneten vielen aufgeregten Bet-schiden, als sie die Dorfstraße hinuntergin-gen. Es schien, als hielte es plötzlich nie-

mand mehr in den »Kabinen« aus. Nur we-nige von denen, die scheinbar ziellos herum-liefen, hatten wirklich etwas draußen zu tun.Die anderen reagierten lediglich ihre Angstab.

»Doc Ming sollte sie möglichst bald dazubringen, in den Hütten zu bleiben und sichstill zu verhalten«, bemerkte Brether Faddonbeunruhigt. »Soviel Lärm und Bewegungmuß die Chircools ja regelrecht herlocken.«

»Ich bin sicher, daß Doc sich bereits Ge-danken darüber macht«, sagte Mallagan be-schwichtigend. »Hier ungefähr müßte Jörgzum Dschungel hinübergelaufen sein.«

»Ich habe ja gleich gesagt, daß wir keineSpuren mehr finden werden«, murmelteScoutie. »Oder seht ihr etwas?«

»Wir werden uns auf unser Glück verlas-sen müssen«, sagte Surfo Mallagan leicht-hin.

Sie überquerten den Ackerstreifen, aufdem der Schlamm in der Hitze zu dicken,sich an den Rändern aufwölbenden Schollengetrocknet war, erreichten den mit niedrigenPflanzen bewachsenen Grenzstreifen undtauchten in das Dämmerlicht des Dschun-gels hinein. Hier nach Spuren suchen zuwollen, war beinahe sinnlos, jedenfalls dann,wenn so viel Zeit vergangen war wie in die-sem Fall.

»Ich glaube, wir sollten näher an dieSchlucht herangehen«, bemerkte Scoutie zö-gernd. Mallagan nickte nur und ließ die Jä-gerin an sich vorbei. Auch wenn er nichtrestlos überzeugt davon war, daß ihnen dasSchnüffeltierchen von Nutzen sein konnte –im Augenblick mußten sie für jeden noch sovagen Hinweis dankbar sein.

Scoutie blieb anfangs ab und zu stehen.Sie mißtraute selbst diesen Gefühlen, die siein die eine oder andere Richtung zu drängenversuchten. Aber sie dachte an Doc MingsRatschläge und gab am Ende doch jedes Malnach. Als sie nach etwa einer halben Stundean eine Stelle kamen, an der der Boden aus-nahmsweise weder von Pflanzen, noch vonfaulenden Blättern bedeckt war, fanden sieFußspuren, die unverkennbar von zwei Men-

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schen herrührten, die hier entlanggegangenwaren. Das war noch längst kein Beweis da-für, daß sie auf der richtigen Fährte waren,denn das Alter der Abdrücke war schwer zubestimmen. Dennoch schöpften sie neueHoffnung, und Scoutie vertraute nun endgül-tig auf die Gefühle, die das Schnüffeltier-chen ihr auf rätselhafte Weise vermittelte.

Die Schlucht, in die die Betschiden ihreToten warfen, begann ein kurzes Stück innordwestlicher Richtung vom Dorf entferntin einem ungeheuer tiefen Felskessel, dessenWände so steil waren, daß bisher niemand inihn hatte hinabsteigen können. Sie knickte inHöhe des Dorfes scharf nach Osten ab undführte schließlich in einem weiten Bogennach Süden. Die südliche Schlucht, in derdie drei Freunde am Tag zuvor gejagt hatten,mündete in die gewaltige Kluft, die bis anden Rand der Hochebene heranreichte undin ihrer ganzen Länge völlig unzugänglichwar. Eine Unzahl von Wasserläufen, ange-fangen vom kaum fußbreiten Rinnsal bis hinzu reißenden Flüssen, die man nur auf müh-sam angelegten, schwankenden Hänge-brücken zu überqueren vermochte, ver-schwanden in diesem Abgrund. An jenerStelle, an der die Schlucht im Tiefland ende-te, begann ein breiter Strom, der sich zu-nächst mit urwüchsiger Gewalt ein Bettgrub, das er pausenlos veränderte, schließ-lich aber ruhiger wurde und in weiten Mäan-dern dahinfloß.

Am Ufer eines Wildbachs, der auf dieSchlucht zufloß, fanden sie erneut Spuren,und sie waren diesmal so deutlich, daß eskeinen Zweifel mehr geben konnte: Hier wa-ren Djin und der »Kater« vorbeigekommen.Ausgewachsene Jäger hätten größere undtiefere Abdrücke hinterlassen, und von denjüngeren war mit Sicherheit niemand in denletzten Stunden so weit vorgedrungen. Älterals einige Stunden aber konnten die Spurennicht sein.

Sie folgten den Abdrücken, die einigeMeter am Bach entlangführten. Dann warder Boden so dicht bewachsen, daß sienichts mehr zu erkennen vermochten, denn

die Pflanzen des Dschungels richteten sichnormalerweise binnen kaum einer halbenStunde wieder auf.

Scoutie schritt schneller aus, und die bei-den Jäger folgten ihr. Sie kamen derSchlucht so nahe, daß sie das Brausen desWasserfalls hörten, in dem sich der Bach indie Tiefe ergoß. Der Boden war hier felsig,und die dünne Humusschicht über den Stei-nen konnte nur noch niedrigen Büschen undflach wurzelnden Farnen Halt bieten. Dannblieben auch sie zurück. Vor den Jägern lageine mit streng riechenden, hartblättrigenKräutern bewachsene Fläche, aus der hierund da Felsblöcke herausragten, die ganzvon Moosen und Schlingpflanzen überwu-chert waren. Inmitten dieser für die Jägerfremdartigen Landschaft lag ein kleiner See,der zwar vom Bach gespeist wurde, dessenWasser aber ruhig und still aussah. AmRand des Sees gab es ein paar niedrigeBaumfarne, und an einem der rauen, zerklüf-teten Stämme hing eine Felljacke in derSonne.

Sie verständigten sich mit einem kurzenBlick und schlichen vorsichtig weiter. Siehatten Mühe, sich so lautlos vorwärtszube-wegen, wie sie es vom Dschungel her ge-wöhnt waren. Dort gab es keine dürrenZweige und kein trockenes Laub, dieknacken und rascheln konnten. Im Dschun-gel war alles, was nicht mehr lebte, in Fäul-nis begriffen, und man ging wie auf einemdicken, weichen Teppich.

Sie verursachten mehr Lärm, als irgendeinJäger jemals hätte überhören können. DerBesitzer der Felljacke aber zeigte sich nicht,und die Schlußfolgerung, die sich daraus er-gab, hätte Brether Faddon und Surfo Malla-gan fast dazu bewegen, auf den Rest der Su-che zu verzichten. Was immer dort drübenan dem See geschehen war – sie kamen zuspät. Nach so langer Zeit lohnte es sich nichteinmal, nach Überresten zu suchen, die manins Dorf zurückbringen konnte.

Scoutie schritt nichtsdestotrotz zielsicheraus, näherte sich dem Baumfarn, umging ihnund blieb dicht am Ufer des Sees stehen. Die

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beiden anderen folgten ihr niedergeschlagen– und dann sahen sie Jörg Breiskoll.

Der Junge lag dicht am Ufer im Moos undrührte sich nicht. Aber er atmete und warunverletzt, soweit es sich auf den erstenBlick feststellen ließ.

Surfo Mallagan ging an Scoutie vorbei zudem Jungen, bückte sich und legte die flacheHand an Jörgs Hals. Ihm blieb gerade nochgenug Zeit, um festzustellen, daß das Blutruhig und kräftig durch die Adern des Jun-gen pulste, dann sprang Jörg fauchend auf.

Der Jäger warf sich nach hinten, rolltesich ab und brachte sich so aus der unmittel-baren Nähe des »Katers«. Als er wieder aufdie Füße kam, stand Jörg wie erstarrt da undsah die Jäger verblüfft an. Surfo Mallagansah sich unauffällig nach Djin um, konnteihn aber nicht entdecken. Dafür sah er jetzteinen frisch geschlagenen jungen Baum-stamm, der ins Wasser hineinragte und des-sen am Ufer liegendes Ende mit schwerenSteinen beschwert war. Und er sah noch et-was: Dicht neben dem Stamm gab es imMoos einen großen Abdruck, wie er ihnnoch nie gesehen hatte. Der Abdruck waroval, und rundherum gab es ein paar Löcherim Moos, als hätte jemand mit einem spitzenStock ein paar Mal in die grüne Masse hin-eingestochen. Das Oval war so groß, daßzwei ausgewachsene Betschiden nebenein-ander darauf hätten liegen können.

Den Jäger überlief ein Schauder beim Ge-danken daran, welches Ungetüm diese Spurhinterlassen haben mochte. Man wußte, daßes im Tiefland Tiere gab, die groß genugwaren, um einen Betschiden aus purem Ver-sehen zu zertreten. Aber auf der Hochebenefanden diese Giganten nicht genug Nahrung,und es war ihnen wahrscheinlich auch zukalt.

Lebten solche Bestien etwa unten in derSchlucht, und gab es hier einen Weg, aufdem sie zum Dschungel hinaufsteigen konn-ten, um sich dort auf die Jagd zu begeben?

»Ihr kommt zu spät«, sagte Jörg plötzlich.»Er ist schon lange wieder weg.«

»Wer ist weg?« fragte Surfo Mallagan

schärfer, als er es beabsichtigt hatte, denndie ungewohnte Umgebung machte ihn ner-vös.

»Der Alte vom Berg«, erklärte Jörg gelas-sen.

8.

Je länger sie an dem kleinen See blieben,desto mehr gewöhnten sie sich an die offeneLandschaft, den Sonnenschein, den Geruchder Kräuter und die ungewohnte Stille, diedurch das Rauschen des nahen Wasserfallsnur noch unterstrichen wurde. Es gab vieleTiere in diesem Gelände, aber sie waren alleklein und relativ harmlos.

»Hier gibt es keine Feinde«, behaupteteJörg. »Wir waren stundenlang an diesemSee, ehe der Alte vom Berg kam, und nichtshat uns angegriffen. Wir haben sogar gejagt,das heißt, ich habe ein paar Wassertiere ge-schossen und sie gebraten, und kein einzigerRäuber hat uns beim Essen gestört.«

Das klang so unglaublich, daß es ihnennicht gelang, ihre Skepsis zu verbergen.

»Ich werde es euch beweisen!« verkünde-te Jörg.

Verwundert sahen sie ihm zu, als er einenPfeil in die Hand nahm und damit ein kurzesStück in den See hineinwatete. Er hielt sichdicht bei dem Baumstamm und hielt an, alser an die im Wasser liegenden Zweige ge-langte. Er beugte sich tief hinab, beschattetedie Augen und spähte ins Wasser, und einenAugenblick später stieß der Pfeil nach unten,und als Jörg ihn wieder heraufzog, zappelteein silbriges Etwas daran, lang wie ein Un-terarm. Jörg schleuderte seine Beute anLand. Das Tier landete neben Brether Fad-don, und der folgte seinen Jagdinstinktenund tötete das Tier mit einem Messerstich,ehe er auch nur Zeit fand, es genauer zu be-trachten.

Der Junge watete lachend aus dem Was-ser, während die drei Jäger schweigend aufdie Beute blickten. Sie sahen eine schuppen-häutige, fußlose Kreatur mit langgestreck-tem, seitlich abgeflachtem Körper, an dessen

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Rücken und Bauch seltsame, farbige Fran-sen saßen.

»So etwas habt ihr gegessen?« fragte Sur-fo Mallagan skeptisch.

»Es schmeckt sehr gut«, nickte Jörg undbrach dürre Zweige aus dem Gewirr derKrauter. Ehe die Jäger sich noch von ihrerÜberraschung erholen und gegen so vielLeichtsinn protestieren konnten, flackertebereits ein kleines Feuer auf. Surfo Malla-gan warf einen Blick auf die Umgebung.

»Wir werden es probieren«, entschied erseufzend. »Gibt es viele solche Tiere in demSee?«

»Sehr viele«, antwortete Jörg, rollte zweiSteine neben das Feuer, spießte seine Beuteauf einen grünen Zweig und hängte sie überdie Flammen. »Ich glaube, sie kommen ausdem Bach.«

»Es riecht merkwürdig«, stellte Scoutiefest.

»Dafür schmeckt es um so besser«, mein-te Jörg gelassen.

Mallagan beschloß, sich nicht weiter überdiese seltsame Beute zu wundern, sondernstatt dessen jene Frage zu stellen, die ihmschon lange auf der Zunge lag.

»Wo ist Djin?«»Der Alte vom Berg hat ihn geholt«, mur-

melte Jörg und blickte angelegentlich in dieFlammen.

In Mallagans Gehirn keimte ein schreckli-cher Verdacht. Konnte es sein, daß der Jun-ge – bewußt oder unbewußt – der furchtba-ren Wahrheit auswich, indem er sich auf ei-ne Lügengeschichte konzentrierte?

Niemand wußte, ob es den Alten vomBerg wirklich gab. Unzählige Sagen berich-teten von ihm, und es schien, als hätte diesesWesen einige Male ganz konkret dasSchicksal der Betschiden beeinflußt, aberMallagan war nicht so leichtgläubig, als daßer all das unbesehen hätte glauben können.Nicht einmal die Tatsache, daß St. Vainplötzlich eine der alten Waffen durch dieGegend schleppte und diese Waffe noch da-zu funktionstüchtig zu sein schien, konnteihn von der Existenz des Alten vom Berg

überzeugen. Er hegte schon seit langem denVerdacht, daß die »Kommandozentrale«noch einige Geheimnisse barg. Seit zwanzigGenerationen wählten die Betschiden in re-gelmäßigen Abständen ihren »Kapitän«, undimmer waren es Leute aus der Familie St.Vain gewesen, die dieses Amt bekleideten.Nach Mallagans Meinung konnte das nichtdaran liegen, daß die Betschiden den St.Vains so uneingeschränktes Vertrauen ent-gegenbrachten. Er glaubte vielmehr, daß denKapitänen Möglichkeiten zur Verfügungstanden, die Betschiden zu beeinflussen –und daß sie diese Mittel geheim hielten.Vielleicht hatten sie hier und da keine ande-re Möglichkeit gesehen, als in besonderenFällen diese Mittel auch für andere Zweckezum Einsatz zu bringen, und um sich nichtbei der erstbesten Gelegenheit dieser Art zuverraten, hatten sie die Sage vom Alten vomBerg aufgebracht.

Mallagan sah sehr deutlich, daß seine Ar-gumentation einen schwachen Punkt hatte.St. Vain war ausgesprochen eitel. Er würdees nicht fertig bringen, um eines Prinzipswillen sein Licht unter den Scheffel zu stel-len. Und dann war da noch die Stimme, dieaus der Waffe gekommen war. Hatte siewirklich dem Alten vorn Berg gehört? Odergehörte sie einem längst verstorbenen Sola-ner, der irgendeinen Trick in die Waffe ein-gebaut hatte?

Unwillkürlich sah Mallagan nach Norden.Verschwommen zeichnete sich im Dunst derFerne die Kette schneebedeckter Berge ab,hinter denen das Tal der Chircools lag. Ir-gendwo in diesen Bergen sollte der Altevom Berg hausen. Die Berge waren füreinen Betschiden so gut wie unerreichbar.Zu Fuß, quer durch den Dschungel derHochebene, brauchte man Tage, um den Fußdes Gebirges zu erreichen. Man mußte dabeidie Grenzen des Jagdreviers verlassen, denKreis der Jaguare durchstoßen und stand an-schließend der gänzlich ungezähmten Naturgegenüber. War nicht auch die riesige Ent-fernung, in der man den sagenhaften Wohn-sitz des Alten vom Berg angesiedelt hatte,

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ein Indiz dafür, daß es sich um nichts ande-res als ein Hirngespinst handelte? Wie sollteein Wesen, das so weit vom Dorf entferntwar, über die Vorkommnisse in der Siedlungunterrichtet sein, und wie sollte es von Fallzu Fall prompt zur Stelle sein und eingrei-fen, wenn es doch tagelang durch denDschungel marschieren mußte?

»Was ist mit Djin passiert?« fragte Malla-gan. »Er ist tot, nicht wahr?«

Jörg sah von der über dem Feuer brutzeln-den Beute auf.

»Nein«, sagte er fest. »Er lebt, und derAlte vom Berg wird ihn heilen. Er hat es mirversprochen.«

Mallagan setzte zu einer ironischen Be-merkung an, aber Jörg ließ ihn nicht zu Wortkommen.

»Ich weiß, wie es für dich klingen muß«,sagte er niedergeschlagen. »Aber es ist dieWahrheit. Djin war schon krank, bevor ichihn ins Dorf brachte. Unterwegs ist er plötz-lich losgerannt und in den Bach gesprungen.Ich habe vorher die Angst in ihm gespürt,und als ich ihn herausholte, war die Angstweg – aber sie wurde doppelt so stark, als erbegriff, daß ich ihn nicht ins Wasser zurück-lassen würde. Ich habe es damals noch nichtbegriffen, aber als ich ihn in der Hütte sah,da sehnte er sich nach dem Wasser. Erglaubte, daß er sich darin sicher fühlen wür-de. Ich habe ihm versprochen, ihn zu diesemSee zu bringen, weil er hier im Wasser lie-gen konnte, ohne zu ertrinken. Der Weghierher war schlimm, aber wir haben es ge-schafft, und sobald er im Wasser lag,schwand seine Angst. Trotzdem habe ich esnicht gewagt, in der ganzen Zeit auch nur ei-ne Minute zu schlafen. Vor etwa«, er sah zurSonne hinauf, »zwei Stunden kam dann derAlte vom Berg. Er hat ein Ding, mit dem erdurch die Luft schwebt. Ich habe es schonim Dschungel gesehen und euch davon er-zählt. Das Ding landete dort, bei dem Baum.Ihr könnt noch die Spur sehen, die es hinter-lassen hat. Der Alte vom Berg kam herausund sagte zu mir: ›Die Chircools kommen.Am Abend werden sie dem Dorf so nahe

sein, daß man sie hört. Die Betschiden brau-chen dich, und darum werde ich mich umDjin kümmern. Er wird gesund werden. Ruhdich aus, es sind Jäger unterwegs, die dichsuchen. Zeige ihnen diesen Platz.‹ Dann bater mich, Djin aus dem Wasser zu führen. Ichgehorchte, und er nahm so ein merkwürdi-ges Gerät, wie Doc Ming es in seinem Hausaufbewahrt, drückte es gegen Djins Arm,und es zischte. Einen Augenblick später be-nahm sich Djin fast so wie früher. Er gingmit dem Alten vom Berg in das schwebendeDing, und sie flogen davon. Ich bin danneingeschlafen.«

Die Jäger schwiegen lange Zeit. SurfoMallagan beobachtete den katzenhaften Jun-gen nachdenklich, und er kam zu demSchluß, daß er Jörg glauben mußte. Der Jun-ge hatte ihn noch nie belogen. Mallagan warsicher, die volle Wahrheit gehört zu haben.Die Erkenntnis, daß es den Alten vom Bergallen Zweifeln zum Trotz wirklich gab, trafihn wie ein Schock.

»Warum solltest du uns diesen Platz zei-gen?« fragte Scoutie. »Woher wußte erüberhaupt, daß wir nach dir gesucht haben?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte Jörg.»Aber was den Platz betrifft – der See liefertNahrung für viele Betschiden, wenn mansich nicht ausschließlich von diesen Tierenernährt. Und diese Gegend ist sicherer alsder Platz, auf dem unsere Vorfahren dasDorf gebaut haben.«

Surfo Mallagan schüttelte seine Betäu-bung ab.

»Es riecht gut«, bemerkte er und deuteteauf den Braten, dessen Haut sich braun ge-färbt hatte. »Aber es ist ein Geruch, der imDschungel unbekannt ist. Wir werden eineAnzahl von diesen Tieren erlegen und sieins Dorf bringen.«

Als sie einige Zeit später aufbrachen, dawußten sie, daß sie reiche und wohl-schmeckende Beute ins Dorf brachten – vor-ausgesetzt, es gelang ihnen, die silbrigenTiere gegen allerlei Räuber zu verteidigen.

Schon bald erkannten sie, daß ihnen gera-de das keine Mühe bereiten würde. Von ei-

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ner Minute zur anderen geriet der Dschungelin Aufruhr. In Scharen drangen Tiere der un-terschiedlichsten Arten aus dem Dickicht,und keines griff das andere an, auch wennsie erbitterte Feinde waren. Sie alle hattennur noch ein Ziel: die Flucht. Die Betschi-den hatten lediglich darauf zu achten, daßsie nicht von einem dieser vor Furcht halbwahnsinnigen Wesen umgerannt wurden.

Die Angst der Tiere wirkte ansteckend.Die Jäger hasteten schweigend dahin, undsie waren weit weniger wachsam als sonst,denn es zog sie unwiderstehlich zum Dorf,zu der einzigen Stätte auf diesem Planeten,in der Menschen lebten.

Der Strom der fliehenden Tiere versiegte,und ein Geräusch wurde hörbar, das ihnendas Blut in den Adern gerinnen ließ: Ein fer-nes, intensives Heulen, in das sich das Kra-chen stürzender Bäume mischte. Sie ranntenüber den weichen Boden, und keiner von ih-nen dachte noch daran, den Bogen schußbe-reit zu halten. Wenn das, was da aus der Fer-ne herankam, sie erreichte, dann würden ihreWaffen ihnen nichts mehr nützen.

Sie legten die Entfernung zum Dorf in ei-

nem Bruchteil der Zeit zurück, die sie fürden Hinweg gebraucht hatten. Noch wäh-rend sie die letzten Meter im Schutz der ho-hen Bäume zurücklegten, hörten sie ein an-deres, fremdes Geräusch, das das Heulenüberlagerte. Sie traten aus dem Dschungelheraus und sahen nach oben, von wo diesesGeräusch zu kommen schien.

Sie sahen ein großes, schneeweißes Ding,das hoch oben in der Luft schwebte. Es hatteentfernt die Form eines vornabgerundetenspitzen Dreiecks, und es mußte riesig sein.Es senkte sich summend und pfeifend demDorf entgegen.

Jörg war der erste, der die Wahrheit zubegreifen glaubte. Er warf die Beutetierevon sich und raste los, dem Dorf entgegen.

»Es ist die SOL!« schrie er dabei. »Sieholen uns ab!«

Surfo Mallagan und Brether Faddon folg-ten ihm. Sie merkten nicht, daß Scoutie zu-rückblieb und ratlos die Hand auf das kleineWesen legte, das auf ihrer Schulter saß.

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