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Die Jäger von Dorkh

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Nr. 447

Die Jäger von Dorkh

Ein Heer auf Atlans Spuren

von Peter Terrid

Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahr­stuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern, Besatzern und Invasoren zu tun haben, trachtet der Arkonide danach, die Geheimnisse der Schwarzen Galaxis auszuspähen und die Kreise der Mächtigen zu stören.

Gegenwärtig geht es Atlan und seinen Gefährten Razamon und Kennon/Axton al­lerdings nicht darum, den Machthabern der Schwarzen Galaxis zu schaden, sondern es geht ihnen ganz einfach ums nackte Überleben – und das seit der Stunde, da sie auf Geheiß des Duuhl Larx im »Land ohne Sonne« ohne Ausrüstung und Hilfsmittel ausgesetzt wurden.

Die Welt, auf der die drei Männer aus ihrer Betäubung erwachen, ist Dorkh, eine Welt der Schrecken und der tödlichen Überraschungen.

Kaum sind Atlan und seine Gefährten den Nachstellungen der riesigen Raubvögel und der seltsamen Gnomen entgangen, da müssen sie auch schon vor den katzen­artigen Mavinen die Flucht ergreifen. Sie flüchten in den Dschungel und erreichen den »Jagdteppich« – und dort erwarten sie DIE JÄGER VON DORKH …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan, Razamon und Kennon-Grizzard - Drei Fremde in Dorkh.Der Extortirnser - Das Orakel der Zukahartos.Grutar-Nal-Kart - Yastor der Zukahartos.Tirkis - Ein Wandersöldner.Peinchen - Eine Heilerin.

1.

»Was habe ich davon, wenn ihr mich wei­terhin so schlecht behandelt? Als Schrott­haufen werde ich Tirn erreichen, nur weil ihr nicht wißt, wie man mit einem so kostbaren Gegenstand umzugehen hat. Banausengesin­del!«

Es gab nur ein Wesen, das sich erfrechte, in dieser Art mit mir zu reden: der Extortirn­ser. Der Götze der nomadischen Zukahartos war ein einziges Bündel von Klagen und Vorwürfen. Bevorzugtes Ziel dieser Klage­lieder war ich.

»Schweig!« herrschte ich die Positronik an, die irgendwie nach Dorkh verschlagen worden war.

»Die Helligkeit schadet meinen Sehzel­len«, beschwerte sich der Extortirnser. »Ihr hättet mich in meiner Sänfte lassen sollen.«

Hätten wir das getan, wäre unser Täu­schungsmanöver mit den Zukahartos nicht möglich gewesen. Sie hätten den Dscharkin-Fluß überquert und wären uns gefolgt. So aber jagten sie hinter einer Attrappe her, die auf einem Boot den Fluß hinunter schwamm.

Wir konnten uns also frei bewegen, jeden­falls hatte es den Anschein. Nach den Infor­mationen unseres robotischen Freundes nä­herten wir uns dem Land der Saddiers, von denen wir so gut wie nichts wußten.

Die Saddiers hatten sich als Lebensbe­reich einen Wald ausgesucht, auf den wir zuritten. Schon von weitem war zu erken­nen, daß es sich bei diesem Wald um ein schier undurchdringliches Gestrüpp handel­te. Wir würden uns jeden Meter Weges mühsam erkämpfen müssen.

»Sind die Saddiers friedliebend?« wieder­

holte ich meine Frage an den Extortirnser. Ich hatte die Frage schon einmal gestellt, aber damals war die Positronik im Hit­zerausch gewesen und hatte sehr viel Unsinn produziert. Überhaupt zeigte der Extortirn­ser einige recht seltsame Programme. Die Gedächtnislücken waren jedenfalls erheb­lich, und ich begann mich langsam zu fra­gen, ob wir nicht vielleicht einen halben Schrotthaufen mit uns herumschleppten.

Wann wir Tirn jemals erreichen würden, war eine andere Frage, auf die wir keine Antwort wußten. Auch der Extortirnser, dem am meisten an dieser Reise nach Tirn gele­gen war, vermochte nicht mehr zu sagen, als daß Tirn im Süden lag. Was uns in Tirn er­wartete – kein Kommentar. Uns wurde le­diglich in Aussicht gestellt, daß wir reiche Belohnung erhalten würden, wenn wir den Extortirnser unbeschädigt in Tirn abliefer­ten.

»Sehr!« erwiderte der Extortirnser nach langem Zögern. »Möglicherweise.«

Razamon und ich sahen uns an. Was soll­ten wir mit dieser Auskunft anfangen?

Das Waldgebiet war rasch erreicht, und zu meiner Überraschung entdeckte ich sogar einen Pfad in dem Gestrüpp, einen schmalen Streifen plattgetretenen Bodens, gerade breit genug, um einen Reiter durchzulassen.

Der größte Teil der Bäume entsprach dem Baumuster, das ich bereits von vielen Plane­ten kannte. Es gab Wurzeln, einen hölzernen Stamm und darauf eine Blätterkrone. Blatt­formen und die Struktur von Astwerk und Wurzeln unterschieden sich jedoch erheblich von dem, was ich gewohnt war.

»Dies ist kein sehr angenehmes Land«, sagte Grizzard. Seine Stimme verriet Müdig­keit; seit Tagen wurde seine Erschöpfung immer tiefgehender. Der Mann wirkte völlig

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gebrochen, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Und zu diesem körperlichen Verfall kam noch die zermürbende Qual der Seele.

»Wenn die Bewohner wenigstens freund­lich sind …«, bemerkte Razamon.

Ich war auf der Hut. Ich traute den Anga­ben des Extortirnsers nicht über den Weg.

Mein Tarpan blieb stehen und scharrte mit dem Huf. Sofort war mein Instinkt hellwach. Eine Falle.

Ich sah mich um. Von den Saddiers war nichts zu sehen. Vorsichtig stieg ich aus dem Sattel, um den Boden zu untersuchen. Wir ritten auf festgestampftem Waldboden, einer Unterlage, die gleichermaßen fest wie ela­stisch war. Eigentlich …

Sie hatten ein Loch ausgehoben, ein paar spitze Pfähle im Boden verankert und dann das Loch wieder verschlossen. So weit, so gut. Fallen dieser Machart kannte ich schon seit langem.

Das Raffinierte an dieser Falle war die Tatsache, daß sie nicht auf, sondern neben dem Weg aufgebaut worden war.

Ich wollte gerade einen Schritt auf den Grund machen, der dem Tarpan verdächtig vorgekommen war, als ich spürte, wie der Boden unter mir nachgab. Sofort schnellte ich mich zur Seite – mitten in die Falle hin­ein.

Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, genau zwischen den Pfählen zu landen. Zwar tat der Aufprall aus drei Metern ziem­lich weh, aber ich wurde nicht aufgespießt. Eine Spitze schrammte mir über den linken Oberschenkel, eine andere verschaffte mir einen dünnen Riß zwischen zwei Fingerglie­dern, ansonsten aber landete ich wohlbehal­ten auf dem Grund der Falle.

Ich blieb einen Augenblick reglos liegen, wie benommen von der Heimtücke dieser Konstruktion. Dann erschien am Rand der Grube das Gesicht des Pthorers.

»Alle Teufel«, sagte er und seine Augen weiteten sich fassungslos. »So etwas nenne ich Glück!«

Tatsächlich entsprach meine Haltung ziemlich genau der einer Varietédarstellerin,

Peter Terrid

die in einem Weidenkorb steckt, der mit Schwertern durchbohrt wird.

»Hilf mir hier heraus!« rief ich nach oben. »Ich kann mich nicht bewegen.«

»Wohin ist er verschwunden?« hörte ich eine Stimme fragen. »Wo ist er, ist ihm et­was zugestoßen? Bringt mich schnell von hier fort, bevor auch ich beschädigt werde. Kommt, ihr beiden, faßt an und helft mir.«

Razamon und Grizzard kümmerten sich nicht um das Gezeter des Schaltbaums. Ra­zamon stieg vorsichtig in die Grube hinab, in der ich gelandet war.

»Eine raffinierte Konstruktion«, sagte er anerkennend. »Und die Idee, eine Falle vor­zutäuschen und die echte Falle unmittelbar daneben zu bauen – diese Leute verstehen ihr Handwerk.«

»Saddiers«, sagte ich spöttisch. »Liebenswerte, möglicherweise friedfertige Wesen. Unser blecherner Freund muß des öfteren im Regen gestanden haben.«

»Los, vorwärts!« hörte ich den Extortirn­ser rufen. »Holla!«

»Hiergeblieben!« brüllte Razamon. »Wollt ihr wohl stehenbleiben?«

»Was ist los?« fragte ich aufgeregt. Ich konnte etwas sehen, was sich am Rand der Grube bewegte.

»Die Tarpane reagieren auf die Befehle des Extortirnsers!« rief Grizzard. »Er reitet davon!«

»Das hat uns noch gefehlt«, schrie Raza­mon wutentbrannt. »Ich werde diese ver …«

»Du wirst erst einmal helfen, daß ich aus diesem Loch herauskomme!« sagte ich.

Mit vereinten Kräften gelang es, mich aus der Falle zu befreien. Nachdenklich stand ich ein paar Minuten später am Rand des Loches. Die Abdeckung der Grube war eine Meisterleistung.

Vom Extortirnser fehlte jede Spur. Er hat­te sich davongemacht. Die beiden Tarpane, die seine Tragekonstruktion zu schleppen hatten, waren seinen Befehlen gefolgt und trabten nun durch den Wald.

»Ich wüßte gerne«, sagte Razamon nach­denklich und starrte auf die zugespitzten

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Pfähle hinab, »ob diese Falle für uns oder für Jagdwild erbaut wurde.«

Vielleicht gibt es da keinen Unterschied, wenigstens nicht für die Saddiers, gab der Logiksektor durch.

»Wir müssen vorsichtig sein«, ermahnte ich meine Gefährten. »So vorsichtig wie nur irgend möglich. Ich rechne damit, daß wir auf weitere Fallen und Hinterhalte dieser Wesen stoßen werden.«

»Und noch haben wir nicht einen Saddier zu Gesicht bekommen«, murmelte Razamon bitter.

Wir verzichteten darauf, unsere Tarpane zu besteigen. Es erschien mir sicherer, die Tiere am Zügel zu führen und selbst den Bo­den genau zu untersuchen.

Die Pfade durch den Wald waren gerade so schmal, daß ein Tarpan samt Reiter ihn passieren konnte. Das bedeutete für uns, daß einer an der Spitze gehen und als erster den Kopf hinhalten mußte. Zuerst bildete auf ei­genen Wunsch Razamon die Spitze, danach übernahm ich die Führung.

So vergingen drei Stunden, ohne daß sich etwas Bemerkenswertes zutrug. Wir konnten die Spur der beiden Tarpane sehen, die mit dem Extortirnser davongeritten waren. Of­fenbar hielten sie sich an die Pfade und ver­suchten nicht, einen anderen Weg zu finden. Den Spuren nach zu schließen, hatte es der Extortirnser nicht sehr eilig.

»Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Griz­zard. »Laß mich vorbei.«

Ich wehrte ab. »Bleib zurück«, forderte ich ihn auf. »Du

mußt deine Kräfte genauer einteilen als wir.«

»Ich brauche keine Schonung«, sagte Grizzard. Seine Stimme strafte ihn Lügen, sie verriet innere und äußere Schwäche in hohem Maß.

»Rede keinen Unfug«, versetzte Raza­mon. »Sobald wir diesen Wald hinter uns haben und eine Stadt vor uns liegt, kannst du dich ausruhen. Vielleicht finden wir auch einen Arzt für dich.«

»Ich brauche keinen Arzt«, gab Grizzard

zurück. Razamon lachte spöttisch. »Du kannst vielleicht versuchen, dir etwas

vorzumachen, alter Freund, aber nicht mir. Du bist ausgepumpt, wahrscheinlich ernst­haft krank. Alles andere ist Selbstbetrug.«

»Ich brauche keine Sonderbehandlung«, sagte Grizzard trotzig.

Ich versuchte einzulenken. »Denke logisch«, sagte ich. »Wenn wir

deine Arbeit unter uns aufteilen, wenigstens einen Teil davon, kannst du dich schonen, und wir müssen nicht sehr viel mehr arbei­ten als sonst auch. Wenn du aber darauf be­stehst, dich bis zum Zusammenbruch zu schinden, dann zwingst du uns, dich zu tra­gen. Dann wirst du eine Last für uns sein – und das nur aus einem einzigen Grund: aus Eitelkeit!«

Noch niemals zuvor hatte ich einen sol­cherart verblüfften Menschen gesehen.

Gut gemacht, gab der Logiksektor durch. Sinclair Marout Kennon hatte sich im

Lauf seines Lebens manchen Vorwurf ma­chen lassen müssen, und noch mehr Vor­würfe hatte er sich stets selbst gemacht – aber niemals hatte man ihn der Eitelkeit ge­ziehen. Ihn, der mit seinem ursprünglichen Körper so schwer vom Schicksal gestraft worden war, der danach als erster Mensch eine Vollprothese getragen hatte – ausge­rechnet ihm, der froh war, wenn er sich sei­ner ehemaligen Unansehnlichkeit nicht mehr erinnern mußte, ausgerechnet ihm machte man den Vorwurf, eitel zu sein. Dazu kam noch, daß ich es war, der ihm diesen Vor­wurf machte. Ich war sein Chef in der USO gewesen, ich kannte den früheren Sinclair Marout Kennon und seine Fähigkeiten. Daß ich es war, der ihn so schalt, traf ihn beson­ders hart.

»Ich werde tun, was Sie sagen, Sir«, mur­melte er bleich.

Ich begriff. Er dachte an seinen alten Kör­per, den er so sehr haßte und verabscheute, seinen USO-Körper.

»Weiter!« bestimmte ich. »Wir müssen diesen verflixten Schaltbaum noch vor Ein­

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bruch der Nacht finden, sonst entdecken wir ihn niemals wieder.«

»Und wozu überhaupt sollen wir ihn wie­derentdecken?« erkundigte sich Razamon spöttisch. »Ich für meinen Teil bin froh, die­ses robotische Klageweib nicht mehr sehen zu müssen.«

»Wer weiß, was der Extortirnser wirklich ist, oder wer?« gab ich zu bedenken.

Sehr intelligent war er nicht, unser Freund, der Schaltbaum. Wir entdeckten ihn kurz vor Einbruch der Nacht, und seine Lage war alles andere als beneidenswert.

»Oh, meine Freunde«, schrie die Positro­nik, als sie uns kommen sah. »Eilt mir zu Hilfe, Freunde. Helft mir!«

Der Extortirnser stak wirklich in einer für ihn hochgefährlichen Situation. Das erste seiner beiden Tragetiere war glücklicherwei­se über das Loch hinweggestiegen, das hin­tere Tier stand neben der Grube. Nur der Ex­tortirnser hatte Pech gehabt. Er hing in dem Gurtzeug, das ihn auf der Trage festhalten sollte, die von beiden Tarpanen getragen wurde. Die Trage war zur Seite gekippt, und nun hing der Extortirnser hilflos über einer Öffnung im Boden. Unten in dem Loch sa­hen wir eine beachtliche Menge eines grün­lichen Schlammes, der einen widerlichen und klebrigen Eindruck machte.

»Helft mir«, flötete der Extortirnser. »Eilt, Freunde, eilt.«

Er konnte ungemein liebenswürdig sein, wenn er etwas brauchte. Ich betrachtete kurz seine Lage und kam zu der Einsicht, daß er es so sehr wohl die Nacht über aushalten konnte.

»Das wird leider nicht gehen, o Götze der Zukahartos.«

»Warum nicht?« erkundigte sich der Schaltbaum. Hörte ich richtig, schwang da so etwas wie Panik in seiner Stimme?

»Wir müßten dich mit unseren Händen berühren.«

Diese Eröffnung verschlug dem Extortirn­ser die Sprache, aber die Angst vor dem grünlichen Schleim war offenbar stärker. Ich fragte mich, womit – wenn überhaupt – der

Peter Terrid

Extortirnser sah. Wir hatten an der Positro­nik, die mit Antennen, Schaltern, Hebeln und Knöpfen förmlich gespickt war, nicht ein einziges Teil richtig identifizieren kön­nen.

»Ich erlaube euch, mich zu berühren«, sagte der Extortirnser dann sehr scheu. »Aber wickelt euch irgend etwas um die Finger. Euer Körperschweiß könnte mir die Außenhaut verätzen.«

»Andere Sorgen hast du nicht?« fragte Razamon. Er ging zu dem Extortirnser hin­über, packte ihn und stellte ihn auf das Tra­gegestell zurück.

»So!« sagte Razamon befriedigt. »Dieses Problem wäre gelöst.«

Der Extortirnser blieb stumm, wahr­scheinlich aus Scham und verletzter Ehre.

Vielleicht aber auch, weil er als erster ge­sehen hatte, daß wir umzingelt waren.

2.

Sie sahen aus, als seien sie unmittelbar der Hölle entstiegen. Große Gestalten mit seltsam verkrümmten Gliedern, gelblich funkelnden Augen und langen Krallen an den Fingern. Die Wesen waren annähernd humanoid, das hieß, daß sie auf zwei Beinen gingen und zwei Handlungsgliedmaßen be­saßen. Außerdem war eine Gliederung in Kopf und Rumpf erkennbar, und damit wa­ren die Ähnlichkeiten auch schon erschöpft.

»Allmächtiger«, sagte Grizzard. »Saddiers!« stellte Razamon trocken fest. Die Haut der Wesen sah stumpf und rissig

aus. Wären die Bewegungen nicht gewesen, die die Saddiers ausführten, man hätte sie mühelos mit Bäumen verwechseln können. Ihre Kleidung bestand aus Blattwerk, das kunstvoll verflochten war, an den Köpfen wuchsen fahle, sehr lange Haare, die mich sofort an Luftwurzeln erinnerten.

»Wir kommen in Frieden!« beteuerte ich. »Helft mir!« kreischte der Extortirnser

los. »Diese Barbaren haben mich ver­schleppt. Rettet mich, teure Freunde, und bringt mich nach Tirn, und eure Belohnung

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wird reichlich sein.« Ich hätte das Ding am liebsten zerschmet­

tert. Das hatte uns noch gefehlt, daß uns die greinende Positronik dazwischen funkte.

»Zu Hilfe!« kreischte der Extortirnser. »Rettet mich. Ich bin der Extortirnser, und ich besitze alle Weisheit des Universums.«

Einen Augenblick später entschloß sich der Extortirnser, seine universalen Weishei­ten vorläufig für sich zu behalten. Aus der Gruppe der Saddiers kam ein Speer herange­flogen und blieb unmittelbar vor dem Tar­pan des Extortirnsers im Boden stecken.

Ich hatte die Wurfbewegung kaum mit Augen verfolgen können, und der Speer war derart krumm und verbogen, daß es mir fast als ein Wunder erschien, daß jemand eine solche Waffe überhaupt ins Ziel brachte. Es war aber geschehen, und es stellte der Ge­schicklichkeit und Gefährlichkeit der Sad­diers ein beredtes Zeugnis aus.

»Ich fürchte, wir müssen auf eine bessere Chance warten«, sagte ich zu meinen Freun­den. »Einstweilen bleibt uns nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fü­gen.«

Wir hoben die Hände – eine Geste, die bislang überall verstanden worden war.

Die Saddiers rückten näher. Ihr Lebens­raum hatte sie sichtlich geprägt. Es waren die angepaßtesten Waldkreaturen, die ich je getroffen hatte. Alles, was sie zum Leben benötigten, bezogen sie aus dem Wald. Nah­rung und Wasser, Kleidung und Waffen, Schmuck und Werkzeuge. Ihre Waffen be­standen aus hölzernen Speeren, deren Spit­zen im Feuer gehärtet worden waren, sonst trugen sie hölzerne Keulen und Messer, ebenfalls aus Holz. Steine sah ich kaum, nur ein paar Keulen, die mit handspannenlangen Stacheln besetzt waren.

Der Schmuck der Saddiers war kriegeri­scher Art und wirkte nicht gerade beruhi­gend – offenbar hatten die Saddiers die An­gewohnheit, ihren Schmuck aus den Einzel­teilen ihrer unterlegenen Gegner herzustel­len. Ich sah auf den ersten Blick recht hüb­sch gearbeitete Elfenbeinketten, bis mir der

Extrasinn bedeutete, daß es sich bei den el­fenbeinernen Stäbchen um Fingerglieder handelte.

Die Saddiers umkreisten uns, die Speere waren auf uns gerichtet. Langsam rückten sie uns auf den Pelz, drückten uns vorwärts. Uns blieb keine andere Wahl, wir mußten dieser Einladung folgen.

Sie ließen sich Zeit. Offenbar hatten sie es nicht sehr eilig, uns in ihr Dorf zu bringen.

Das Dorf gab es gar nicht. Die Saddiers wohnten nicht zwischen den Bäumen des Waldes – sie hausten in ihrem Innern.

Erst nach mehrmaligem Hinsehen ent­deckte ich die Siedlung. Zuerst war mir nur aufgefallen, daß die Saddiers nach zwei Stunden Marsch einfach stehenblieben und uns bedeuteten anzuhalten.

Dann aber entdeckte ich die ersten Woh­nungen. Die Saddiers hatten es sich in künst­lich ausgehöhlten Bäumen wohnlich ge­macht. Vielleicht lebten sie mit diesen Bäu­men in einer Art Lebensgemeinschaft, denn ich konnte sehen, daß die Bäume durchaus noch Grün trugen, also keineswegs abgestor­ben waren. Jeder Saddier hatte seinen eige­nen Baum, in dessen Stamm er lebte. Die Höhlung im Stamm wurde von Moosteppi­chen bedeckt, die mit dem Stamm so harmo­nierten, daß nur Eingeweihte in der Lage waren, die Saddier-Behausung erkennen zu können.

Fünf Minuten, nachdem wir in der Sied­lung angekommen waren, war das ganze La­ger versammelt. Ich zählte ungefähr fünfzig Saddiers, junge und alte, keiner ohne Waffe.

Sie musterten uns, und ich konnte nicht erklären, was der Ausdruck ihrer Augen be­deutete.

Wenig später wußte ich, was die Saddiers mit uns vorhatten.

Erst beim dritten Hinsehen fand ich eine Erklärung für das weißliche Blinken im Hin­tergrund. Dort lagen Knochen, ein ganzes Gebirge von Knochen.

Und jetzt wußte ich auch, was der Blick der Saddiers zu bedeuten hatte.

Ich hatte viele Arten von Blicken erlebt

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und ertragen. Neugierige, haßerfüllte und geringschätzige, ablehnende und auffordern-de, hochmütige und humorige. Aber noch nie zuvor in meinem Leben war ich derartig angestarrt worden, so gierig, so verlangend, so hungrig …

… und das letzte Wort traf den Nagel auf den Kopf.

»Bei allen Sternenteufeln!« fauchte Raza­mon. »Warum starren uns diese Kerle derar­tig an?«

»Das kann ich dir sagen, Razamon«, ant­wortete ich. »Diese Herrschaften taxieren gerade unser Schlachtgewicht.«

Seine Augen weiteten sich, als er in mei­nem Gesicht erkannte, daß ich keineswegs einen Witz machen wollte.

»Sturm und Blitz«, sagte Razamon. »Du glaubst, diese Leute wollen uns allen Ernstes … auffressen? Wie Tiere?«

»Das ist eine Frage des Standpunkts«, sagte ich. »Für die Saddiers sind wir genau­so normales Fleisch wie für uns Rinder und Schafe. Sie sehen nur unseren Wert in Form von hochwertigem Eiweiß.«

Ich sah, daß Razamon würgte. An Flucht war nicht zu denken. Wir wa­

ren umkreist von Bewaffneten, die vorderste Speerspitze zielte auf meine Kehle, knapp zehn Zentimeter vom Adamsapfel entfernt.

»Ein Alptraum«, murmelte Grizzard. »Dies alles ist nur ein Alptraum.«

Man konnte das beinahe glauben. Im Hintergrund brachten ein paar Sad­

diers einen riesigen Kessel herangeschleppt, das einzige Stück Metall, das ich bisher bei den Saddiers gesehen hatte. Andere Wald­menschen hatten unterdessen einen Dreifuß errichtet und ein großes Feuer entfacht.

Sie rührten uns einstweilen nicht an. Ab und zu glaubte ich in ihren Augen so etwas wie Erwartung sehen zu können. Offenbar waren wir nicht nur als Abendmahlzeit aus­ersehen; die Saddiers versprachen sich ver­mutlich auch von uns ein nervenkitzelndes Schauspiel.

»Bevor ich mich von diesen Kreaturen auffressen lasse, bringe ich mich lieber

Peter Terrid

selbst um«, sagte Razamon. »Und ein paar von diesen Kannibalen nehme ich mit, das schwöre ich.«

»Laß den Unsinn«, sagte ich halblaut. »Was hast du davon, wenn du ein paar von ihnen tötest? Du wirst deinem Schicksal nicht entgehen, und die Saddiers halten ihr Benehmen für völlig normal und anständig.«

»Ach?« sagte Razamon mit einem Anflug von Galgenhumor. »Anständig nennst du sie? Vielleicht, weil sie uns mit Messer und Gabel verspeisen werden?«

Wir konnten nichts tun, das war das Schlimmste dabei. Grizzard war kreideweiß geworden; der Anblick war für den ge­schwächten Mann offenbar zuviel.

»Sie wollen uns bei lebendigem Leibe sie­den«, sagte Razamon.

Die Zeit dehnte sich entsetzlich, und sie lief gleichzeitig so entsetzlich langsam. Es gab keine Flucht, und vor uns stiegen von dem Kessel Dämpfe auf.

»Ich mache das nicht mit«, sagte Raza­mon. »Jedenfalls nicht lebend. Wenn es sein muß, dann muß es sein – aber nicht auf diese Art und Weise. Lieber ersteche ich mich selbst.«

Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Das Wasser brodelte.

Der Häuptling des Waldvolks trat zu uns.

*

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte der Extortirnser. »Was machen diese Leu­te?«

»Sie bereiten ein Fest vor«, sagte ich mit bitterem Spott.

Die Saddiers sahen uns an. Erst Grizzard, dann Razamon, dann mich. Schließlich fiel ihr Blick auch auf den Extortirnser.

Der Häuptling machte eine Handbewe­gung. Vier seiner Männer stürzten vor und packten den Schaltbaum.

»Finger weg!« kreischte die Positronik. »Wollt ihr mich wohl loslassen, ihr Schwachköpfe? Barbarisches Gesindel, Un­menschenpack …«

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Er tobte und spektakelte herum, während man ihn auf den Kochkessel zu schleppte.

Wäre die Sache nicht so tödlich ernst ge­meint gewesen, ich hätte laut lachen mögen. Offenbar, spottete ich insgeheim, wollten die Saddiers erst einmal das Dosenfleisch verbrauchen. Nun, sie würden sich wundern, wenn sie den Extortirnser öffneten.

»Nicht doch!« jammerte der Extortirnser. »Laßt mich los!«

Hätte er geschwiegen, wäre er vermutlich nicht im Kessel gelandet. Die Saddiers lie­ßen sich von Äußerlichkeiten nicht beein­drucken. Was redete, lebte; was lebte, konn­te gekocht und gegessen werden.

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag be­schleunigte.

Der Extortirnser enthielt einen Energieer­zeuger, das stand für mich fest. Wenn dieses Gerät mit heißem Wasser in Berührung kam … man konnte nie wissen.

»Erbarmen!« winselte der Schaltbaum. »Tut mir das nicht an!«

Sein Wimmern wurde zu einem infernali­schen Kreischen, als die Saddiers ihn erbar­mungslos in den Kessel mit siedendem Was­ser absenkten. Dann ertönte ein gellendes Pfeifen.

Ich sah, wie sich die Saddiers verwundert anblickten. Offenbar waren sie von ihren Opfern ein ganz anderes Verhalten gewohnt. Die Szene am Lagerfeuer fiel mir ein. Der Extortirnser war außerordentlich hitzeemp­findlich – was mochte das siedende Wasser mit ihm anstellen.

Er überstand die Prozedur, das stand fest. Er gab Geräusche von sich, die zuerst nach wütendem Protest klangen, dann aber nach und nach immer freundlicher wurden.

Minuten vergingen. Dieser Tortur wäre jedes normale Lebewesen erlegen, nicht aber der Extortirnser.

»Heda!« schrie er plötzlich. »Etwas mehr Hitze bitte!«

Die Saddiers standen erstarrt. »Ich hätte es gerne etwas heißer!« schrie

der Extortirnser. »Das Wasser ist herrlich!« »Offenbar fühlt sich unser Freund wohl«,

murmelte Razamon. Aus dem Kessel stieg eine Fontäne auf,

dazu erklang ein seltsames Schnaufen. »Wundervoll«, begeisterte sich der Extor­

tirnser. »Ich habe niemals etwas ähnliches erlebt.«

Die Saddiers rührten sich nicht. Nur ein paar sehr beherzte wagten es, zu dem Kessel hinüberzugehen, in dem der Extortirnser stand und muntere Geräusche produzierte.

Die Saddiers, zwei an der Zahl, spähten vorsichtig über den Rand des Kochkessels. Ihre Augen traten hervor, ihre Gesichter ver­rieten Fassungslosigkeit.

Dann spie der Extortirnser eine wunder­hübsche Fontäne in die Höhe, knapp drei Meter hoch. Das Wasser dampfte und plät­scherte in den Kessel zurück, dabei bekamen auch die Beobachter ein paar Tropfen ab und sahen zu, daß sie sich entfernten.

Das Waldvölkchen wurde unruhig. Jedes Lebewesen wäre bei dieser Hitze längst tot gewesen. Der Extortirnser aber erzeugte im­mer größere Fontänen und erfreute sich am Plätschern. Der Kessel war bald in dichte Schwaden gehüllt.

Es wurde Zeit etwas zu unternehmen. Wenn wir eine Chance hatten, dann jetzt oder nie.

Ohne mich um die auf mich gerichteten Waffen zu kümmern, ging ich nach vorn auf den Extortirnser zu.

Die Saddiers hinderten mich nicht. Ihr Weltbild war sichtlich erschüttert. Nach we­nigen Metern war ich in dichten Dampf gehüllt. Für die Saddiers war ich damit ver­schwunden.

Mein Plan ging auf. Das Feuer unter dem Kessel loderte noch

immer, und in dieser Waschküche brauchte ich nicht lange, bis ich von Kopf bis Fuß schweißnaß war. Die Luft war so schwül, daß man sie kaum atmen konnte.

»Freunde«, rief ich aus dem Dunst. »Es ist wirklich herrlich hier. Kommt auch.«

Ich wartete noch ein paar Augenblicke, dann machte ich einige Schritte und verließ den Dunstkreis. Wie nicht anders zu erwar­

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ten gewesen war, troff meine Kleidung vor Nässe. Die Haare hingen mir naß in der Stirn – es mußte für die Saddiers so wirken, als hätte ich tatsächlich mit dem Extortirnser im Kessel gesessen.

Ich lächelte breit. Das gab den Waldleuten den Rest. Sie lie­

ßen ihre Waffen fallen und rannten krei­schend davon. Nach ein paar Augenblicken war kein einziger mehr zu sehen. Wir waren die Herren der Siedlung.

»Das verstehe, wer will«, murmelte Raza­mon.

Ich mußte ihm recht geben. Mit einem derart raschen und gründlichen Umschwung der Ereignisse hatte niemand rechnen kön­nen. Ich fragte vorsichtshalber gar nicht erst danach, was wohl geschehen wäre, hätte der Saddiers- Häuptling einen von uns als erstes Opfer auserkoren.

Grizzard sah mich aus glasigen Augen an, dann seufzte er und sank auf den Boden. Die psychische Belastung war zu stark für ihn gewesen.

Auch Razamon wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Das war sehr knapp«, seufzte er. »Heda, Freunde!« schrie der Extortirnser

aus dem Kessel. »Legt nach!« »Volltrunken«, diagnostizierte Razamon

trocken. »Lassen wir ihn, er kann wenig­stens keinen Schaden anrichten.«

Ich kümmerte mich um Grizzard. Er kam langsam wieder zu sich. Als er mich erkann­te, verzog er die Lippen zu einem traurigen Lächeln.

»Ich falle euch immer mehr zur Last«, sagte er schwach.

»Ich habe Ärgeres erlebt«, sagte ich kalt. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Wir blei­ben ein bis zwei Stunden hier. Ich möchte mir die Siedlung der Saddiers einmal aus der Nähe ansehen. Und du, Razamon, könntest auf den höchsten erreichbaren Baum klet­tern.«

»Wird gemacht«, versprach der Pthorer. »Es soll weitergehen nach Süden, nach Tirn?«

Peter Terrid

Ich nickte. »Wir bringen diese feuertrunkene Maschi­

ne nach Tirn«, sagte ich. »Und wenn es das letzte ist, was wir tun.«

Ich ließ Grizzard auf dem weichen moosi­gen Boden liegen und sah mich in der Sad­diers-Siedlung um.

Am Rand, dort wo ich es zuvor hatte blin­ken sehen, war die Müllhalde der Waldleute zu sehen – überwiegend gebleichte Kno­chen, ein grausiger Anblick.

Die Baumhöhlen der Saddiers waren kärglich eingerichtet. Sie bewiesen mir, daß diese Wesen keineswegs unintelligent wa­ren. Sehr hoch war ihre Entwicklung bisher noch nicht gediehen, sie kannten nicht ein­mal Steingeräte. Aber sie hatten schon Be­achtliches mit ihren Holz- und Knochen­werkzeugen fertiggebracht. Ich fragte mich allerdings, welche geheimnisvolle Macht die grausige Bosheit gehabt hatte, den Saddiers einen Kochkessel aus Metall zu schenken.

Ich fand des weiteren zwei Gräber. Die Toten wurden bei den Saddiers in ihren Baumhöhlen bestattet. Einer der Toten lag noch nicht lange in seinem Grab, und daher konnte ich erkennen, daß die Symbiose zwi­schen Baum und Saddier offenbar bis in den Tod ging. Der Baum begann sich um den Leichnam herum zu schließen, ihn einzukap­seln. Niemand konnte wissen, was aus dem Toten danach wurde.

»Atlan!« rief Razamon aus der Höhe. »Die Zukahartos sind uns auf der Spur.«

3.

Der Himmel mochte wissen, wie sie uns auf die Spur gekommen waren; der Himmel mochte auch wissen, was jetzt zu tun war.

Razamon kletterte von dem Baum herun­ter. Derweil kippte ich den Kessel mit dem Extortirnser darin einfach um. Das Wasser lief aus, der Extortirnser saß auf dem Trockenen. Er schimpfte und jammerte für drei, aber wir konnten uns nicht um sein Plärren kümmern. Wir mußten zusehen, daß wir uns davonmachten – nach Möglichkeit

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in südlicher Richtung. Wir befestigten den jammernden Extor­

tirn-ser auf seinem Tragegestell, dann be­stiegen wir wieder unsere Tarpane und ritten davon.

Wir mußten natürlich auf der Hut sein. Die Saddiers würden uns zwar nicht folgen, da war ich mir sicher, aber ihre Fallen waren noch überall im Wald versteckt.

Dementsprechend vorsichtig bewegten wir uns durch das Waldgebiet.

Was mich dabei erstaunte, war die Tatsa­che, daß es auf den Reitwegen tatsächlich nicht eine einzige Falle gab. Das gab mir zu denken, auch wenn ich vorläufig keine Er­klärung für diesen Tatbestand fand.

Wir setzten unseren Marsch fort, bis die Nacht uns zur Rast zwang. Es hatte sich in­zwischen ohne Absprache eine gewisse Ar­beitsteilung eingebürgert, bei der Grizzard von allen schwereren Arbeiten ausgenom­men wurde.

Obwohl wir die Zukahartos in unserem Nacken wußten, ließen wir Grizzard schla­fen, bis er von selbst erwachte. Dann erst zo­gen wir nach einem kurzen Frühstück aus Nüssen, Beeren und irgendwelchen Blattge­müse weiter.

Wir hatten noch keine Wegstunde hinter uns gebracht, als wir auf ein neues Hindernis stießen.

Wieder handelte es sich um Saddiers, die uns den Weg verstellten.

»Willkommen«, sagte der Anführer des kleinen Trupps. »Ihr wißt, daß ihr durch das Land der Saddiers reist?«

»Wir sind den Saddiers bereits begegnet«, sagte ich. Der Sprecher winkte ab.

»Das sind Ausgestoßene«, sagte er. »Wir sind die richtigen Saddiers, und ihr befindet euch auf unserem Gebiet.«

»Wir wollen nach Süden«, erklärte ich wahrheitsgemäß und sehr erleichtert.

Diese Saddiers machten einen wesentlich freundlicheren und umgänglicheren Ein­druck als ihre halbwilden Gefährten. Sie rit­ten Tarpane, trugen gewebte Kleidung und normale Waffen – Schwerter und Bögen, ab

und zu konnte ich auch ein Blasrohr sehen. »Vorsicht«, sagte der Anführer der Sad­

diers. Er drängte seinen Tarpan zur Seite. »Eine Falle.«

»Wenn ihr die Falle kennt, warum ent­fernt ihr sie dann nicht?« fragte ich ihn ent­geistert.

»Warum sollten wir?« fragte er zurück. »Es ist unsere Falle.«

»Wozu dient diese Falle?« »Wir fangen Reisende darin«, erklärte der

Saddier offen. Ich schluckte unwillkürlich. »Und was macht ihr mit den Reisenden?

Warum fangt ihr sie und laßt sie nicht unbe­helligt ziehen?«

»Jeder Reisende muß erst den Zoll zah­len«, erklärte der Saddier freundlich. »Da wir euch auf der Straße begegnet sind, erüb­rigt es sich, euch in Fallen einzufangen.«

»Ist dies euer Dorf?« fragte ich. Eine An­sammlung kleiner Hütten war zu sehen. Ty­pisch war für die Konstruktionen, daß aus der Mitte einer jeden Hütte ein Baum in die Höhe wuchs – und zwar jene Sorte Bäume, in denen auch die wilden Saddiers hausten.

»Hier leben wir, und jeder Reisende kehrt bei uns ein. So oder so.«

Ich war gewitzt. Mit diesen Baumwesen war nicht zu spaßen. Die Wilden waren schon schlimm genug gewesen; unsere jetzi­gen Begleiter verfügten obendrein noch über moderne Bewaffnung.

»Ihr erhebt Zölle, sagst du? Wofür?« Der Saddier lächelte, jedenfalls deutete

ich seine Grimasse so. Ihre Gesichter sahen genauso erschreckend aus, wie die ihrer Art­genossen im Wald, aber ich achtete nicht darauf. Man konnte sich mit den Saddiers vernünftig unterhalten, und von da an inter­essierte es nicht mehr, wie ein Lebewesen aussah. Schönheit war ohnehin ein sehr rela­tiver Begriff.

»Nun«, sagte der Reiter gedehnt. Sein Trupp, etwas mehr als zwanzig Mann, hatte uns eingeschlossen, und aus der Siedlung kam ein Dutzend anderer Reiter herange­prescht.

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»Ihr reist auf unserem Land, das genügt doch«, sagte der Saddier. »Und ihr braucht natürlich das Kodewort.«

»Ach ja?« sagte ich. »Und wofür brau­chen wir das Kodewort?«

Jetzt war die Reihe an dem Saddier, er­staunt zu sein.

»Ihr wollt nach Süden?« erkundigte er sich zweifelnd.

»Allerdings«, bestätigte ich. »Dann braucht ihr das Kodewort«, sagte

der Saddier zufrieden. »Denn es gibt nur einen Weg, der nach Süden führt. Nur an ei­ner Stelle kann man den Cañon von Fryg überqueren – und zwar nur, wenn man das Kodewort kennt.«

»Ihr Saddiers seid im Besitz des Schlüs­selworts?« fragte ich.

»Nur wir!« sagte der Saddier zufrieden. Ich sah keinen Sinn darin, mit ihm zu

streiten, zumal wir gegen die Übermacht, die uns umschloß, ohnehin keine Chance hatten. Und ich wußte aus Erfahrung, daß es absolut sinn- und zwecklos war, mit Zöllnern ir­gendwelcher Art zu argumentieren.

»Wie hoch ist der Zoll?« Der Saddier sah mich aus seinen gelbli­

chen Augen an. »Nun«, sagte er lauernd. »Was könnt ihr

geben?« Ich breitete die Hände aus. »Eigentlich nichts«, sagte ich offen. »Wir

haben unsere Waffen …« »Die unseren sind besser!« »… unsere Tarpane …« »Müde Mähren!« »… und sonst nichts.« Das Gesicht des Saddiers bekam einen

Zug von Grausamkeit. »Ihr habt eure Köpfe«, sagte er grinsend.

»Eure Hände und Füße. Ich könnte euch als Wegezoll die linke Hand und den rechten Fuß abschlagen lassen.«

»Wir würden uns zu wehren wissen«, sag­te ich scharf.

»Nun, es wird wohl nicht nötig sein«, ver­setzte der Saddier. »Ihr habt nämlich etwas vergessen in der Aufzählung.«

Peter Terrid

Ich drehte mich um. Woran dachte der Saddier? Ach ja, richtig …

»Das kommt gar nicht in Frage«, sagte der Extortirnser sofort. Er hatte begriffen, was der Saddier als Zoll haben wollte. »Ich bleibe nicht hier!«

»Ein Ding, das sprechen kann«, sagte der Saddier. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

Der Gute wußte gar nicht, wie recht er da­mit hatte, aber das erzählte ich ihm nicht.

Es war ohnehin der Extortirnser, der das Gespräch fortführte.

»Außerdem brauchen wir euch gar nicht. Wir können die Brücke auch ohne eure Hilfe passieren.«

Das traf den Saddier ins Mark. »Glaubt ihr, die Brüder Unscold lassen

euch einfach passieren?« schrie der Saddier. »Die Kagaliten werden uns durchlassen«,

sagte der Extortirnser. »Ich kenne nämlich das Kodewort.«

»Unsinn!« schrie der Saddier erregt. »Niemand außer uns kennt das Wort, und kein Saddier würde es jemals verraten. Die Kagali-ten werden euch nicht durchlassen.«

»Sie werden«, erklärte der Extortirnser selbstbewußt. Hoffentlich ging das alles gut. »Ich kenne das Wort, und jetzt verschwin­det, Waldgeschmeiß!«

Einen Augenblick lang war es still. Das hatte gesessen. Die Saddiers standen erstarrt, dann sagte ihr Anführer sehr leise:

»Nun gut, versucht es. Aber ich sage euch: solltet ihr versuchen umzukehren, weil man euch nicht durchläßt, dann wagt es nicht, bei uns zu erscheinen.«

Sie rissen ihre Tarpane herum und galop­pierten davon.

»Sehr gut«, schrie ich den Extortirnser an. »Ausgezeichnet. Erst haben wir uns die Zu­kahartos zu Feinden gemacht, nur um dir zu helfen, dann hättest du beinahe durch dein Lamentieren den Vogelleuten Unheil ge­bracht, und jetzt sind wir auch noch mit den Saddiers verfeindet.«

»Pah, was kümmert mich das. Ich bin der Extortirnser, wie du wissen solltest!«

Diesem schlichten Argument hatte ich

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nichts entgegenzusetzen. Das Selbstbewußt­sein dieser Maschine war schier unglaublich – vor allem, wenn man bedachte, wie oft sie schon erschreckende Ausfallerscheinungen gezeigt hatte, deren Folgen jedes Mal wir zu tragen gehabt hatten.

»Dann vorwärts«, bestimmte ich. »Versuchen wir unser Glück.«

Ich sah den Extortirnser an. Irgendwo in diesem Ding war eine Optik angebracht, die ich aber nicht sehen konnte. Ich wußte aber, daß der Extortirnser mich sehr wohl sehen konnte.

»Und wehe dir«, drohte ich, »wenn du nicht das richtige Losungswort weißt. Ich werde dich in den Cañon stürzen.«

»Pah«, machte der Extortirnser nur. »Robotiker müßte man sein«, murmelte

Razamon grimmig und mit einem bezeich­nenden Seitenblick auf den Schaltbaum. »Dann könnte man den Kasten wenigstens abstellen.«

Ich sah, daß Grizzard sich ein wenig ver­färbte. Sinclair Marout Kennon hatte nach einem schrecklichen Unfall, der seinen Krüppelkörper vernichtet hatte, eine Voll­prothese getragen, die erste ihrer Art in der Milchstraße – und er hatte teilweise sehr darunter gelitten, ein Hirn in einer techni­schen Schale zu sein. Erst geraume Zeit nach der Anpassung der Vollprothese hatte sich Kennons psychische Verfassung stabili­siert. Jetzt kamen die früheren Ängste wie­der ans Tageslicht – Kennon mochte es nicht, wenn in seiner Gegenwart von Robo­tern geredet wurde.

Für mich war seine Reaktion ein Hinweis auf die Verfassung des Mannes. Grizzard war auch seelisch am Ende seiner Kräfte an­gelangt. Die geringste Anspielung konnte ihn aus dem Lot bringen. Wir mußten sehr gut auf ihn achten, wenn wir verhindern wollten, daß er völlig zusammenbrach.

»Notfalls müssen wir uns den Weg über die Brücke freikämpfen«, sagte Grizzard.

Ich hütete mich zu lächeln, obwohl Griz­zards Worte zum Lachen reizten, denn von uns dreien war er als Kämpfer praktisch aus­

gefallen. Der Extortirnser war kampfkräfti­ger als Grizzard. Offenbar machte sich Griz­zard etwas vor, täuschte er sich selbst über seine Schwierigkeiten und Probleme hin­weg. Ein gefährlicher Versuch, dem wir be­gegnen mußten, bevor er sich zur Katastro­phe ausweiten konnte.

Ich trieb meinen Tarpan voran, hinter mir ritt Grizzard, dann folgten die beiden Last­tiere mit dem Extortirnser. Das Schlußlicht bildete Razamon.

Nach relativ kurzer Zeit hatten wir den Wald hinter uns gelassen. Vor uns lag wie­der Steppe, weite endlos erscheinende Step­pe, grasbestanden und die Verkörperung des Paradieses für Nomaden. Auf diesem Gelän­de waren uns die Zukahartos überlegen, wenn sie erst einmal den Wald durchquert hatten.

»Wie viele Zukahartos hast du sehen kön­nen?« fragte ich Razamon.

»Mehr als genug für jeden von uns«, ant­wortete der Pthorer trocken. »Mindestens ein paar Tausendschaften, wahrscheinlich wesentlich mehr.«

Das konnte bedeuten, daß uns das ganze Heer des amtierenden Yastors auf den Fer­sen war – und Grutar-Nal-Kart, der in dieser Saison das Amt bekleidete, hatte dreißigtau­send Mann zusammengezogen. Das war eine genügend große Meute, selbst sehr schlaue Füchse zu Tode zu hetzen. Wenn uns nicht irgend etwas einfiel, das die Zukahartos von ihrer Verfolgung abbrachte, oder wenigstens auf eine andere Spur lenkte, hatten wir keine Chance.

Nun, vielleicht bot der Cañon von Fryg eine solche Chance. Ich war fest entschlos­sen, mir den Übergang nötigenfalls freizu­kämpfen und die Brücke zu zerstören.

Von dem Cañon war allerdings nichts zu seh …

Ich konnte gerade noch rechtzeitig mein Tarpan zurückreißen. Andernfalls wäre ich verloren gewesen.

Wir hatten den Cañon bereits erreicht, und ich begriff in diesem Augenblick, wa­rum an dieser Stelle Wegezoll verlangt wer­

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den durfte. Unvermittelt fiel der Boden stark ab, und

am Ende dieser Schräge klaffte ein Ab­grund, in den ich nicht hineinschauen konn­te, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, dar­in zu verschwinden. Das Ganze erinnerte fa­tal an einen sehr langgestreckten Trichter, dessen Nordkante obendrein noch höher lag als die südliche Trichterwand. Wer sich nicht auskannte, geriet sehr leicht auf die Schräge, rutschte ab und verschwand dann in dem Felsspalt.

»Grundgütiger!« sagte Grizzard entgei­stert.

Dieser Anblick war tatsächlich schrecker­regend. Mir hatte nur ein Galoppsprung mei­nes Tarpans gefehlt, und ich wäre rettungs­los verloren gewesen.

Weißgelbe Schwaden stiegen aus dem Spalt auf, vermischt mit rötlichen, entsetz­lich stinkenden Wolken. Das Ganze wirkte wie ein Hintereingang zur Hölle, und ver­mutlich war es das auch.

»Dort verläuft ein Weg!« sagte Razamon. »Seht ihr? Dort drüben!«

Er deutete auf den schmalen Strich auf grünem Grund, sehr weit entfernt. Offenbar gab es dort einen Pfad, der die schrägen Wände hinabführte – genau das also, was wir brauchten.

Vorsichtig ritten wir auf den Weg zu. Es war, wie sich herausstellte die Fortsetzung des Trampelpfades, auf dem wir den Wald der Saddiers durchquert hatten. Mit nur ge­ringem Gefälle führte der Weg in die Tiefe.

Der Cañon machte an dieser Stelle einen Bogen, wir konnten daher nicht erkennen, wohin der Weg führte.

»Worauf wartet ihr?« erkundigte sich un­ser Herr und Gebieter. »Vorwärts!«

»Gemach«, widersetzte sich Razamon. »Atlan, was meinst du?«

»Es hat keinen Sinn, an dem Cañon ent­langzureiten und nach einem Übergang zu suchen«, sagte ich. »Ich glaube den Sad­diers, daß eine Überquerung des Cañons nur an dieser einen Stelle möglich ist – was also gibt es zu überlegen?«

Peter Terrid

Razamon warf einen Blick auf den Weg, dann auf die gegenüberliegende Kante.

»Aussichtslos«, sagte ich eilig. »Erstens wirst du beim Anlauf den Halt verlieren und abrutschen. Und selbst wenn dein Tarpan den Sprung schafft, auf der anderen Seite wird das Tier mit Sicherheit keinen Halt fin­den.«

»Du hast recht«, sagte Razamon nach kur­zem Zögern. Wieder ein Seitenblick auf Grizzard. Ich begriff, daß der Pthorer, wäre er allein gewesen, das selbstmörderische Wagnis eingegangen wäre.

»Versuchen wir unser Glück«, sagte Raz­amon. Er trieb seinen Tarpan vorwärts.

Der Weg führte sanft in die Tiefe. Wir mußten beim Reiten nur darauf achten, daß wir von diesem Weg nicht abkamen, denn das wäre der sichere Tod gewesen.

Gefährlicher Dampf stieg aus dem Cañon auf, und die Feuchtigkeit dieser Dämpfe hat­te nicht nur den Wuchs des Grases an den Wänden gefördert – sie sorgte auch dafür, daß diese Wände feucht und beinahe seifig glatt blieben. Ein Schritt zur Seite konnte genügen, es gab nirgendwo einen Halt, einen Felsen oder Baum, der den Sturz in die Tiefe hätte aufhalten können.

Ich spürte den Boden leise zittern. Viel­leicht waren kleine Vulkane am Werk in dieser Schlucht, möglich war auch, daß dort in der Tiefe ein Strom sich tobend seinen Weg gebahnt hatte.

Wir erreichten die Biegung des Cañons, ein weiteres Stück des Weges war zu erken­nen.

Und dann tauchte der eigentliche Cañon auf.

Was wir sahen, war nicht der Eingang zur Hölle. Es schien die Hölle selbst zu sein.

Tief unten, mindestens fünfhundert Meter unter uns tobte eine feurige Flüssigkeit, et­was, das Dampf und Rauch erzeugte und Feuerkaskaden in die Höhe schäumen ließ, etwas, das grollte und brodelte und wütete. Ein gräßlicher Gestank lag in der Luft, die, heiß und feucht zugleich, sich auf Atem und Gemüt legte.

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»Fürchterlich!« jammerte der Extortirnser leise. »Entsetzlich.«

Immer tiefer führte der schmale Pfad hin­ab in die schaurige Tiefe. Was dort unten gegen den Felsen brandete, war nicht zu se­hen. Es hatte jedenfalls dafür gesorgt, daß die Wände fast senkrecht abfielen. Und die­se Wände waren schwarz und kahl.

»Vorsicht«, rief Razamon. »Grizzard!« Der Angerufene schwankte leicht im Sat­

tel. Sein Gesicht war fast weiß. Es war infam, aber es war vermutlich das

einzige Mittel. »Kennon!« rief ich laut und durchdrin­

gend. »Sie Jämmerling. Nehmen Sie sich zu­sammen!«

Irgendwo, tief in seinem Inneren, war noch die alte Angst verwurzelt, schlecht oder minderwertig zu sein. Mein bösartiger Appell an diese Angst half. Grizzard richtete sich wieder auf.

»Zu Befehl, Sir!« sagte er leise.

4.

»Du wirst uns dieses verfluchte Wort sa­gen, Waldmann, oder wir werden dir jedes Glied einzeln abhacken!«

Grutar-Nal-Kart, Yastor der Zukahartos und auf der Jagd nach dem Dieb des Extor­tirnsers, hielt dem Saddier die Spitze seiner Lanze an die Kehle.

»Herr!« wimmerte der Saddier. »Ich darf nicht. Wir Saddiers leben von den Zöllen. Würden wir das Kodewort verraten, müßten wir verhungern.«

Grutar sah sich um. Seine Krieger hatten den Wald in Brand

gesteckt. Der Wind wehte aus dem Süden und trieb die Flammen vor sich her. Mit et­was Glück war das Land der Saddiers in kurzer Zeit ebenfalls Steppe.

Die Saddiers waren von Grutars Kriegern zusammengetrieben worden. Es war ein jämmerlicher Haufen, und Grutar konnte kaum begreifen, warum die Saddiers überall so gefürchtet waren. Damit würde es ein En­de haben.

»Die Beute ist lausig«, sagte Hirundo, der jüngere Bruder des Yastors. »Reichtümer haben sie jedenfalls nicht gesammelt.«

»Rede«, sagte Grutar-Nal-Kart. »Wenn du nicht redest, wird von eurem Volk niemand übrigbleiben. Wir werden jedem einzelnen die Köpfe vor die Füße legen, Weiber und Kinder eingeschlossen.«

»Die Frauen auch?« fragte Hirundo ent­geistert. »Ich gebe zu, sie sind nicht schön, jedenfalls nicht alle und nicht für uns …«

»Die Frauen zuerst, dann die Kinder. Als letztes werden wir die Männer niederma­chen.«

Grutar zuckte nicht mit einer Wimper bei diesen Worten. Er hätte sich nicht gescheut, die Saddiers töten zu lassen, und die Wald­leute spürten das. Ihre Frauen hätte Grutar allerdings verschont. Er hatte insgeheim den Plan gefaßt, der verheerenden Frauenknapp­heit der Zukahartos dadurch ein Ende zu be­reiten, daß er bei allen umliegenden Völkern Frauen raubte.

Mit den Saddier-Weibern hatte Grutar wenig im Sinn. Sie gefielen ihm nicht, aber das brauchte er dem Waldmann nicht auf die Nase zu binden.

»Also?« Der Saddier zitterte am ganzen Körper. Grutar schnippte mit den Fingern. Zwei

Dutzend seiner Reiter sprengten los. Sie schlugen mit den Schäften ihrer Speere auf die Gefangenen ein, trennten auf diese Wei­se die Männer von den Frauen und Kindern, umzingelten sie und holten mit den Speeren zum tödlichen Wurf aus.

»Also?« Grutar hob die Hand, krümmte die Finger. »Nein, Herr! Ich werde reden.« Grutar unterließ das Fingerschnippen. »Wie lautet das Wort?« »Herr, ich mache euch einen Vorschlag.

Ich werde euch begleiten und an der Brücke das Wort für euch sprechen. Die Kagaliten werden euch durchlassen, alle.«

»Waldmann«, sagte Grutar drohend. »Versuche nicht, uns zu täuschen. Wir wer­den jeden einzelnen deiner Leute rösten,

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wenn du uns hereinzulegen versuchst.« »Ich werde euch über die Brücke helfen«,

versprach der Saddier. »Ihr könnt euch dar­auf verlassen.«

»Gebt ihm einen Tarpan, und dann vor­wärts!« sagte Grutar. »Wie weit ist dieser Verbrecher voraus?«

»Nur wenige Stunden, Herr. Ihr werdet ihn bald erreicht haben.«

»Und er führte das Heiligtum mit sich?« »Das seltsame Gebilde, das reden kann?

Ja, Herr. Sie hatten den Extortirnser bei sich.«

Grutar nickte zufrieden. »Dann werden wir sie einfangen«, sagte

er. »Und sie werden den Tag bedauern, da sie

geboren wurden.« Die Zukahartos preschten los. Diese Hatz

bereitete ihnen Vergnügen, zumal sie unter Grutars Führung den Saddiers einen ver­nichtenden Schlag hatten beibringen kön­nen. Vielen erschien es als durchaus mög­lich, daß die Zukahartos unter der Führung dieses Yastors zu den Herren der Welt auf­stiegen, die allem geboten außer dem Wind und der Sonne.

»Was hast du mit ihnen vor, wenn du sie eingefangen hast?« wollte Hirundo wissen, der neben Yastor ritt.

»Was weiß ich«, sagte Grutar amüsiert. »Ich werde eine Antwort finden, sobald sich die Frage wirklich stellt, eher nicht. Ich hof­fe nur, daß sie wenigstens den Extortirnser gut behandelt haben.«

»Glaubst du an das Heiligtum?« Grutar lachte laut auf. »Ein Heiligtum war dieser Extortirnser

nie, und er wird auch nie eines werden. Ich bin sicher, daß das Ding mit den Fremden zusammenarbeitet – andernfalls hätte uns der Extortirnser längst mit irgendwelchen Zeichen zu helfen versucht. Ich wäre froh, wenn dieses Ding zerstört wäre – am besten von den Fremden.«

»Und was willst du tun, wenn die Frem­den die Brücke bereits passiert haben?«

»Heda, Waldmann, komm her!«

Peter Terrid

Der Saddier folgte eilig der Aufforderung. Das Reiten behagte ihm nicht, das war zu sehen. Noch weniger behagte ihm die Nähe des Yastors, auch das ließ sich nicht leug­nen.

»Herr?« »Wozu dient eigentlich das Kodewort?«

fragte Grutar. »Nun«, antwortete der Saddier feierlich;

dann sah er Grutars drohenden Blick und be­eilte sich mit seiner Erklärung. »Die Brücke über den unüberwindlichen Cañon von Fryg wird von den Kagaliten bewacht, den Brü­dern Unscold.«

»Wie viele Brüder?« »Drei«, sagte der Saddier. »Und einer ist

schrecklicher als der andere. Kein Lebewe­sen kann ihnen widerstehen. Sie sind groß und stark und wild, sie haben Klauen und Zähne, und sie töten jeden, der versucht, die Brücke zu überqueren – ohne Ausnahme.«

»Und das Wort?« »Nennt man dieses Wort, so verfallen die

Brüder in tiefen Schlaf. Dann kann man die Brücke ungefährdet überqueren. Und nur wir Saddiers kennen dieses Wort.«

»Wie lange hält die Wirkung des Wortes an?«

»Eine halbe Stunde, vielleicht ein wenig mehr, vielleicht ein wenig geringer.«

»Wir können nicht in einer halben Stunde das ganze Heer übersetzen lassen«, gab Hirundo zu bedenken. »Dreißigtausend Mann, dazu die Tiere …«

Grutar lächelte böse. »Aber man kann in einer halben Stunde

drei Brüdern die Schädel abschlagen«, sagte er grinsend.

Der Saddier rollte mit den Augen. »Aber dann könnte ja jeder über die

Brücke, ohne Ausnahme, einfach jeder, der kommt.«

»Richtig«, bestätigte Grutar. »Und wir könnten keine Zölle mehr erhe­

ben. Wir müßten verhungern …« Ein Blick des Yastors zeigte dem Saddier,

wie wenig interessiert Grutar an seinem Pro­blem war.

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»Ihr müßt langsamer reiten«, sagte der Saddier. »Wir werden sehr bald den Cañon erreicht haben.«

Grutar ließ seinen Tarpan in langsameren Schritt verfallen. Er wußte nicht viel über die Schlucht, die diesen Namen trug, nur daß sie sehr gefährlich war.

»Dort ist der Cañon«, rief der Saddier. »Seht ihr ihn, Herr? Und dort ist auch der Weg, der zu den Kagaliten führt …«

*

Rechnerisch herrschte zwischen uns Gleichstand: drei gegen drei. In Wirklichkeit aber waren wir hoffnungslos unterlegen.

Die drei Brüder Unscold, die Kagaliten, machten ihrem Ruf als Brückenwächter alle Ehre. Es waren abscheuliche Kreaturen, die praktisch nur aus Muskulatur und organi­schen Waffen zu bestehen schienen – Klau­en, Krallen, Reißzähnen, Hörnern. Ihre ge­schuppten Leiber waren riesig, und dem ent­sprachen ihre Tatzen und Pranken.

»Heilige Galaxis«, rief Razamon aus, als er die Brückenwärter sah.

Es führte kein Weg an ihnen vorbei. Sie standen auf der Brücke, sie hatten uns kom­men sehen können. Der Weg hinab zur Brücke war lang genug, um ihnen Zeit zu geben, in Position zu gehen.

Die Brücke war eine rohe Konstruktion aus Holz, die keinen sehr vertrauener­weckenden Eindruck machte. Offenbar war die Brücke schon vor sehr langer Zeit erbaut worden, und seither hatte niemand mehr dar­an gedacht, die morsch gewordenen Balken auszutauschen. Nun, mich wunderte das nicht – wer hätte auch den Mut aufgebracht, in der Nähe der Brüder Unscold Reparatur­arbeiten auszuführen.

Sie standen mitten auf der Brücke, neben­einander, Schulter an Schulter. Sie waren zu dritt, aber jeder einzelne von ihnen hätte ausgereicht, uns mehr als genug zu tun zu geben. Mit dem »Ausdem-Weg-räumen« würde es nicht so leicht werden, wie ich das ursprünglich angenommen hatte. Und eine

Zerstörung der Brücke war völlig ausge­schlossen – die Brüder Unscold würden dem sicherlich nicht tatenlos zusehen wollen.

»Ich hoffe, du kennst das Wort, auf das die Brüder reagieren«, sagte ich zum Extor­tirnser. »Sieh dir die Schlucht an!«

»Ich kenne das Wort«, beteuerte der Schaltbaum. »Ihr könnt ganz ruhig sein, ich weiß, was ich tue – meistens.«

»Hoffentlich!« wünschte ich laut. Mein Tarpan erreichte die Brücke als er­

ster. Das Holz gab einen seltsam glocken­ähnlichen Klang, als es vom Huf des Tarpan getroffen wurde.

Die Brüder Unscold starrten uns an. Wenn in den Fratzen überhaupt ein Aus­druck zu sehen war, dann der viehischer Rohheit. Wer immer die Brüder zu Brücken­wärtern gemacht hatte, er hatte offenkundig etwas gegen Reisende.

»Ich grüße euch«, sagte ich freundlich zu den Brüdern.

»Hä?« machte einer, die anderen beiden folgten seinem Beispiel.

»Dürfen wir passieren?« fragte ich weiter. Unterdessen hatte auch Grizzard die Brücke erreicht. Er nahm sich wieder zusammen, darauf hoffend, daß er vielleicht doch den Beweis erbringen konnte, daß ihm nichts fehlte.

Der Älteste der Brüder, die einander an Scheußlichkeit nichts nachgaben, machte ei­ne fahrige Geste, dann grinste er. Ein paar der Zähne in seinen Kiefern fehlten, zwi­schen den anderen Zähnen schimmerte es schwärzlich. Geronnenes Blut? Diesen Brü­dern traute ich alles zu.

»Grrr!« machte einer der Unscolds. »Auf denn, Extortirnser, sage ihnen das

Wort!« »Wort, ja!« meinte einer der Unscold. »Heda, Schuppiger!« sagte der Extortirn­

ser. »Ich bin der berühmteste, ja einzigartig­ste Extortirnser und muß nach Tirn. Ich hof­fe, daß der Klang meines Namens genügt, dir zu zeigen, daß wir passieren dürfen.«

»Hä?« Intelligenzbestien waren sie nicht, die

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Wärter der Brücke. »Sag das Wort, Extortirnser!« forderte

Ra-zamon den Schaltbaum auf. »Sage ihnen das Schlüsselwort, damit wir weiterkön­nen!«

»Ich bin der Extortirnser«, sagte der Schaltbaum mit erhobener Stimme. »Das ge­nügt doch wohl!«

Die Brüder Unscold ließen mir keine Zeit, mir Rachepläne auszudenken für den lügne­rischen Extortirnser. Wir hatten das Kode­wort nicht gesagt, und der Langmut der Brü­der Unscold hatte seine Grenzen. Diese Grenze war überschritten – sie griffen an.

Ich warf mich von meinem Reittier zur Seite, landete hart auf der rechten Schulter und rollte mich ab. Irgend etwas knackte in meinem Körper, aber ich kam wieder auf die Beine. Einen Herzschlag später hatte ich mein Schwert in der Hand.

Ich duckte mich, und die Pranke, die nach mir gelangt hatte, zischte über meinen Kopf hinweg. Sofort schlug ich mit der Klinge nach, traf den Arm und riß mir fast das Ge­lenk aus der Schulter. Die Brüder wurden von ihren Schuppen wie von Stahl gepan­zert, und diese Panzerung war obendrein noch elastisch. Es fehlte nicht viel, und ich hätte mein Schwert verloren.

Der nächste Hieb fegte Grizzard aus dem Sattel, warf ihn auf den Boden und ließ ihn ein paar Meter weit rutschen.

»Hierher, Bestie!« schrie ich, in dem Ver­such, einen der Brüder vom Angriff auf den halb bewußtlosen Grizzard abzulenken. »Her zu mir!«

Sie taten mir den Gefallen, und ich bekam einen Hieb vor die Brust, der mir schlagartig den Atem nahm. Sterne tauchten in meinem Gesichtsfeld auf, das sich rasend schnell veränderte, weil ich unter der Wirkung des Hiebes wie betrunken taumelte.

Dieses Taumeln war meine Rettung, denn ich torkelte genau zwischen zweien der Brü­der hindurch, genau in dem Augenblick, in dem beide zum unwiderruflich letzten Hieb ausholten. Statt mir den Schädel einzuschla­gen, trafen sie sich gegenseitig. Jetzt war die

Peter Terrid

Reihe an ihnen zu torkeln. Obwohl mir alles vor den Augen flimmer­

te, setzte ich nach. Ob meine Schwerthiebe die Giganten beeindruckten, ließ sich nicht ausmachen. Jedenfalls wichen sie ein paar Augenblicke lang zurück, dann aber sam­melten sie sich und drangen wieder vor.

Ich wiederholte den Trick, der mir gerade erst das Leben gerettet hatte, diesmal aber mit Absicht. Ich duckte mich und rannte den Brüdern entgegen. Sie krachten in ihrer blin­den Wut mit den Köpfen zusammen und prallten gegen die Brüstung. Das Holz barst geräuschvoll. Einer der Brüder konnte sich festkrallen, der andere stürzte mit heiserem Brüllen in die Tiefe.

»Einer!« rief Grizzard. Die beiden anderen waren mehr als genug

für uns. Razamon hatte alle Hände voll zu tun, um nicht erschlagen zu werden. Er machte es wie ich, er versuchte weniger mit der Waffe in der Hand zu kämpfen als viel­mehr mit dem Kopf. Die Brüder Unscold waren zwar groß und kräftig, gefährlich wa­ren sie mit Sicherheit, aber ihre Verstandes­kapazität war ein wenig kärglich ausgefal­len.

»Beeilt euch!« schrie Grizzard plötzlich mit letzter Kraft. »Die Zukahartos kom­men!«

Jetzt saßen wir endgültig in der Klemme. »Duck dich!« rief ich Razamon zu. Die

Pranke fegte über seinen Kopf hinweg. Ich nahm Anlauf und rannte mit voller Kraft ge­gen den Unscold. Der Hüne geriet ins Wan­ken, Razamon folgte meinem Beispiel, und wieder brach die Brüstung, und einer der Kagaliten stürzte in die Tiefe.

»Jetzt Nummer drei!« sagte Razamon schweratmend.

Der dritte der Kagaliten war damit be­schäftigt, wieder auf die Brücke hinaufzu­klettern, von der er beinahe gefallen wäre. Ich sah, wie das Holz splitterte, wo er seine Krallen ins Gebälk schlug.

»Hierher!« rief ich. »Nun komm doch, Feigling!«

Die Kagaliten waren offenbar intelligent

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genug, um beleidigt werden zu können. Brüllend vor Wut stürzte der Unscold auf mich zu.

Es war halber Selbstmord, aber ich sah kein anderes Mittel. Ich rannte auf die Bre­sche zu, die der zweite Kagalit geschlagen hatte. Ein Satz, angeführt mit aller Kraft, die ich noch aufbringen konnte, ließ mich zur Seite fliegen. Ich bekam den Rest des Gelän­ders zu fassen.

Wenn das Holz jetzt nicht hielt … Es hielt. Ich bekam es zu fassen, schwang

daran herum und ließ den Kagaliten an mir vorbeilaufen, hinab in die endlose Tiefe. Ich selbst baumelte am Geländer, schaffte es aber mit Razamons Hilfe, wieder auf die Brücke zu können.

»An die Arbeit«, sagte ich, sobald ich das Holz der Brücke unter meinen Füßen spürte. »Wir müssen die Brücke hinter uns abbre­chen, sonst werden wir die Zukahartos nie los!«

Wir jagten die Tarpane hinüber, dann machten wir uns ans Werk. Die Zukahartos kamen immer näher. Der Yastor trieb sie zu unerbittlicher Eile an. Ab und zu, wir sahen es nur undeutlich, glitt einer der Reiter aus und verschwand mit seinem Tier in der Tie­fe.

»Schneller!« rief Grizzard. »Ihr habt nur noch wenige Minuten!«

Ich hackte und schlug wie besessen nach den Tauen, mit denen die Holzkonstruktion zusammengehalten wurde. Einzelne Taue hatte ich bereits durchtrennt, aber der größte Teil der Konstruktion stand noch.

»Sie kommen!« Ich sah, wie der vorderste Zukaharto auf

die Brücke zu reiten versuchte, und im glei­chen Augenblick hörte ich das markerschüt­ternde Knirschen und Ächzen, mit dem die gesamte Brücke den Halt verlor und in die Tiefe stürzte, ihren Wächtern nach. Wir hat­ten es gerade noch geschafft.

5.

Endlich wieder reine, klare Luft, kalt und

erfrischend. Wir hatten den Cañon von Fryg hinter uns gelassen, zusammen mit den wut­schäumenden Zukahartos, allen voran Grut­ar-Nal-Kart, der uns beim Wegreiten mit ei­ner erlesenen Auswahl von Flüchen und Verwünschungen bedacht hatte.

Zu seinem Leidwesen waren seine Bogen­schützen und Speerschleuderer nicht gut ge­nug gewesen, um uns treffen zu können, und wir hatten keine Zeit mit langen Dialogen vertan. Wir hatten uns sofort davongemacht, möglichst schnell weg von dem unheimli­chen Cañon und den darin brodelnden Flüs­sigkeiten und ihrem Gestank.

Der Weg aus der Schlucht heraus war nicht wesentlich leichter gewesen als der Ritt hinein. Wir hatten dabei allerdings fest­stellen können, daß es offenbar keine andere Brücke über die Schlucht gab. Die Zukahar­tos hatten wir also für immer hinter uns ge­lassen. Dieses Bewußtsein gab uns Ruhe und Frieden und eine gewisse Gelassenheit zurück. Jetzt hatten wir es nicht mehr ganz so eilig. Wir konnten Grizzard ruhen lassen, wann immer er der Ruhe bedurfte.

»Halt!« sagte ich, sobald wir den Rand der Ebene erreicht hatten. Das Land auf die­ser Seite des Cañons sah ähnlich aus wie der Jagdteppich – so bezeichneten die Zukahar­tos die Savanne, in der sie lebten.

»Und nun zu dir, Extortirnser«, sagte ich ergrimmt. »Du wirst dich erinnern, was ich dir prophezeit habe für den Fall, daß du das Kodewort nicht kennst.«

»Nicht doch!« jaulte die Maschine auf. »Es ist doch gutgegangen!«

»Das ändert nichts daran, daß wir um ein Haar das Leben verloren hätten«, sagte ich und stieg von meinem Tarpan. »Es ist aus mit dir, Extortirnser!«

»Rühr mich nicht an«, kreischte die ver­ängstigte Positronik. »Ich habe mich geirrt, das gebe ich zu, aber das kann doch jedem passieren.«

»Nicht einem Extortirnser«, sagte ich und ging langsam zu den beiden Tarpanen hin­über, auf denen das Tragegestell für den Ex­tortirnser ruhte. »Ein Extortirnser, der sich

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irrt, ist defekt und muß abgeschaltet werden. Du bist wertlos geworden, Extortirnser. Du bist nichts weiter als Schrott, noch dazu höchst unhandlich und lästig.«

»Schrott«, keifte der Extortirnser. »Das wagst du mir zu sagen, mir, dem Extortirn­ser? Ich werde dir beweisen, daß ich kein Schrott bin. Ich werde … faß mich nicht an, Erbarmen, faß mich nicht an.«

Ich hatte wenig Gefallen daran, die seltsa­me Maschine zu quälen, die ganz offenkun­dig mit einem ziemlich starken positroni­schen Gefühlsersatz ausgerüstet worden war – und unter diesen Gefühlen waren eine schier unglaubliche Eingebildetheit und Ar­roganz mit einer panischen Berührungsangst gekoppelt worden. Ich wollte den Extortirn­ser nicht wirklich abschalten, ich wollte le­diglich feststellen, wie weit seine einge­speiste Programmierung von den anschei­nend heißgelaufenen Gefühlskomponenten überwuchert oder gar zerstört worden war. Schocktherapie hätte man das Verfahren nennen können.

»Du bist nutzlos, Extortirnser. Was du sagst, stimmt nicht, ja, es schadet uns so­gar.«

»Das ist nicht wahr«, kreischte der Extor­tirnser. »Nimm die Hände da weg, sage ich dir. Nimm die Hände weg. Ich werde dir zei­gen, daß ich groß und einmalig bin, aber erst wenn wir in Tirn sind. Vorher kann dir höchstens der Sprechpilz bestätigen, wel­chen Wert ich darstelle.«

Ich blieb unvermittelt stehen. »Sprechpilz?« »Sprechpilz«, bestätigte der Extortirnser.

»Er steht ein paar tausend Schritte südlich von hier, wenn ich mich nicht irre …«

»… was sehr häufig vorkommt«, ergänzte ich den Satz. »Gut, Extortirnser, wir werden zu diesem Sprechpilz reiten. Gibt es aber keinen solchen sprechenden Pilz, dann wer­den wir dich hier irgendwo zurücklassen, Wind, Wasser und Sonne hilflos und schutz­los ausgesetzt. Der Rost wird dich langsam verzehren, Extortirnser. Hörst du – der Rost!«

Peter Terrid

Offenbar hatte ich der Positronik damit einen gehörigen Schrecken eingejagt. Sie gab ein glucksendes Geräusch von sich und schwieg danach.

»Glaubst du wirklich an solchen Unfug?« erkundigte sich Razamon im Losreiten. »Diese Maschine lügt doch, wenn sie ihre Sprecheinheit einschaltet – also nahezu un­unterbrochen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß man in den Extortirnser nur falsche Informationen eingespeist hat. Irgend etwas von dem, was er sagt, muß einfach wahr sein.«

»Ich glaube dem Ding kein Wort«, knurr­te Razamon. »Wahrscheinlich heißt er noch nicht einmal Extortirnser, dieser blecherne Hochstapler!«

Ich mußte grinsen. »Fehlt nur noch, daß du ihm Heirats­

schwindel vorwirfst«, sagte ich.

*

Razamon hatte sich geirrt. Ausnahmswei­se hatte der Extortirnser nicht gelogen.

Es gab den Sprechpilz. Er stand mitten in der Savanne, knapp

drei Meter hoch, einer gigantischen Speise­lorchel sehr ähnlich. Wie er dort hingekom­men war, erschien mir unbegreiflich, aber der Sprechpilz war zweifelsfrei Tatsache und keine Einbildung.

Wir sahen ihn schon von weitem. In dem flachen, struppigen Gras war es nicht zu übersehen. Seine Farbe spielte ins Rötliche, der Stamm war dunkelbraun, der Hut war von riesiger Größe.

»Hm«, sagte Razamon, und er sagte es mit deutlicher Anspielung auf den Extortirn­ser. »Ich mag Pilze, auch sehr große Pilze.«

»Barbar«, schimpfte der Extortirnser. »Man kann den Sprechpilz doch nicht ein­fach verzehren.«

»Das bleibt abzuwarten«, sagte Razamon. »Es wird davon abhängen, was der Sprech­pilz zu erzählen hat.«

Wir hatten unterdessen den Sprechpilz er­reicht. Wo sich das Sprechorgan befand,

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konnte man nicht sehen. Um so besser konn­ten wir den Pilz hören.

»Willkommen, edle Herren«, sagte der Sprechpilz. Erst jetzt konnte ich sehen, daß der Hut des Pilzes aussah wie ein Tierfell, mit langen seidigen Haaren. Vielleicht han­delte es sich bei dem Gebilde um eine Krea­tur des Zwischenreichs, halb Tier, halb Pflanze.

»Du bist der Sprechpilz?« fragte ich. »Ich bin, war, werde sein«, antwortete der

Sprechpilz. »Die Zeiten enden niemals, nur das Leben findet seine Erfüllung.«

»Noch ein Orakel«, knurrte Razamon bis­sig.

»Wir wollen nach Süden reiten«, sagte ich. »Was werden wir dort finden?«

»Süden«, antwortete der Sprechpilz. »Wo der Wind keine Grenze hat, wo der Keil sich findet, wo Leben beginnt und Leben endet. Ihr wollt nach Süden?«

»Wir wollen«, sagte ich. »Wir suchen Tirn, die Stadt, aus der der Extortirnser kommt.«

»Zähle die Schritte, Wanderer, vergleiche sie mit der Zahl der Sterne und erkenne dei­ne Winzigkeit. Groß ist das Land, und es gibt viele Orte darauf. Du willst nach Tirn?«

»Wir wollen den Extortirnser dort ablie­fern«, erklärte ich. Mit diesem Orakel war nicht sehr leicht zu verhandeln, besonders nicht, wenn es jede Frage mit der Wiederho­lung der Frage zu beantworten versuchte.

»Geh nach Tirn«, sagte das Orakel. »Du wirst finden, was du gesucht hast. Viel wirst du sehen, du und deine Begleiter, und die Schärfe des Messers wird dich nicht verseh­ren.«

Das hörte sich einigermaßen verheißungs­voll an – wenn an der Prophezeiung etwas Wahres war, was sich erst noch herausstel­len mußte.

»Was ist Tirn für ein Ort? Wer lebt dort?« »Born der Wiedergeburt ist Tirn, Stätte

des Segens und des Heiles. Man wird dir nehmen, was dir nicht gehört, und man wird dir neu geben, was dir nicht gehört. Einen Freund wirst du finden in Tirn, einen Freund

wirst du verlieren in Tirn.« »Wie die Pythia in Delphi«, murmelte

Grizzard. »Jeder Spruch hat zwei Gesich­ter.«

»Du, der du aus der Ferne kamst und ge­hen wirst in andere Fernen, der du nahmst, um zu geben, der du alles verlieren wirst, was du besessen hast, um es neu zu gewin­nen, sei bereit.«

»Bereit wozu?« fragte Grizzard hastig. »Aufzugehen im Ganzen«, sagte der

Sprechpilz. »Eins zu werden mit dem Im­merwährenden – dies ist deine Bestim­mung.«

Ich sah, wie Grizzard blaß wurde. Was hatte dieser Spruch zu bedeuten? Der Spruch ließ viele Interpretationen zu, schlechte und gute, und es war Grizzard anzusehen, daß er mit dem Schlimmsten rechnete.

»Werden wir Tirn erreichen?« fragte ich den Sprechpilz. Das Fell auf dem Hut des Pilzes bewegte sich leicht.

»Ihr werdet das Ziel finden«, lautete die Antwort. »Aber hütet euch vor der Falsch­heit. Wer betrügen will, wird betrogen wer­den.«

Auch aus dieser Aussage ließ sich allerlei herauslesen, sie war vieldeutig und unklar, vermutlich mit voller Absicht.

»Wir werden also Tirn finden?« wieder­holte ich meine Frage.

»Finden werdet ihr, was ihr niemals ge­sucht«, antwortete der Sprechpilz. »Verlieren werdet ihr, was euch nie gehört.«

Auch dieser Spruch ließ Grizzard bleich werden. Ich konnte mir vorstellen, was er dachte: Er nahm an, daß sich der Spruch auf ihn bezog, daß er den Körper, den er über­nommen hatte, wieder verlieren würde.

»Was ist mit den Zukahartos?« fragte Ra­zamon. »Werden sie die Brücke über den Cañon neu erbauen können?«

»Die Rache endet nie, und nie versiegt der Haß des Beraubten. Der Speer der strafen­den Gerechtigkeit verfehlt nimmer sein Ziel.«

Wir sahen uns an. Diese Aussage ließ nur eine Interpretation zu – die Zukahartos wür­

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den uns in absehbarer Zeit wieder auf den Fersen sein. Und wenn es stimmte, was der Sprechpilz von sich gab, dann hatten wir keine Zeit mehr zu verlieren.

»Wir bedanken uns«, sagte ich zum Sprechpilz. Ihn weiter zu befragen, erschien mir sinnlos. Wenn wir schon die Antworten auf klare Fragen nicht verstanden, was soll­ten wir dann auf Grundsatzfragen für Ant­worten bekommen.

Tu's! Ich zögerte noch einen Augenblick, dann

folgte ich dem Rat des Logiksektors. »Was weißt du über den Dunklen Oheim,

Sprechpilz?« Sekunden vergingen, in denen kein Laut

zu hören war, dann antwortete der Sprech­pilz:

»Alles fließt, und das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!«

Auch damit ließ sich nichts anfangen. Was der Sprechpilz sagte, war bereits vor langer Zeit gesagt worden. Alles fließt, ist in Bewegung, ändert sich – diese Erkenntnis stammte von dem griechischen Philosophen Heraklit. Daß das Ganze mehr war als die Summe seiner Teile, stammte von Aristote­les. Beide Sätze waren vernünftig und wahr, galten als große philosophische Erkenntnisse – aber in diesem Sinnzusammenhang ließ sich daraus nichts ableiten.

»Setzen wir unseren Ritt fort«, sagte ich. »Es hat keinen Sinn, sich weiter mit diesem Orakel herumzuschlagen – etwas anderes als dunkle Sinnsprüche werden wir von ihm nicht zu hören bekommen.«

Wir stiegen wieder auf unsere Tarpane. »Der Wind weht«, sagte der Sprechpilz.

»Alles Leben ist Bewegung.« Das waren die letzten Worte, die wir von

dem Sprechpilz zu hören bekamen.

*

»Was habe ich gesagt«, erklärte der Ex­tortirnser. »Habe ich nicht gesagt, daß es den Sprechpilz gibt, das geheimnisvolle Orakel auf dem Weg nach Tirn? Und gibt es

Peter Terrid

nicht auch Tirn, die intakte Stadt. Und ihr habt gewagt, an mir zu zweifeln. An mir! Am Extortirnser! Schande über euch!«

»Schweig!« brüllte Razamon, den das Ge­schwätz des Schaltbaums am meisten nervte.

Der Sprechpilz lag hinter uns, war am Ho­rizont verschwunden. Wir ritten über die Grassteppe, offenbar auf einen Wüstenstrei­fen zu. Der Bewuchs wurde immer kärgli­cher, und es ließ sich absehen, daß es bald gar kein Gras mehr geben würde. Das hieß für uns, daß wir nicht nur kein Futter für die Tarpane mehr finden würden, wir würden voraussichtlich auch kein Wasser mehr fin­den. Auf diese Möglichkeit waren wir nicht vorbereitet, jedenfalls nicht ausreichend.

Unsere Ausrüstung war seit unserer Flucht aus dem Zeltlager der Zukahartos im­mer mehr zusammengeschmolzen, und die schmucke Lederkleidung der Leibgardisten des Y-astors hatte unter den Strapazen der Flucht einiges an Glanz und Festigkeit ein­gebüßt.

»Gibt es im Süden Wasser?« fragte ich den Extortirnser.

»Sehr viel Wasser«, behauptete die Po­sitronik. »Wie könnte es eine Stadt geben ohne Wasser.«

Das war richtig, aber seit der Extortirnser seine Heimat das letzte Mal gesehen hatte, waren ein paar Jahrhunderte vergangen, und in der Zwischenzeit konnte sich manches ge­ändert haben.

»Und auf dem Weg nach Tirn?« fragte ich weiter.

»Viel Wasser!« beteuerte die Positronik. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ich bin ja bei euch.«

Razamon zuckte zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht. Ich sah, wie er mit dem Kopf schüttelte.

»So etwas von Selbstbewußtsein ist mir noch nicht untergekommen«, sagte er dann fassungslos. »Das Ding kann sich nicht ein­mal von allein bewegen, aber es tut so, als könne es alle Feinde des Universums besie­gen.«

»Pah«, machte der Extortirnser.

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Ich sah mich nach Grizzard um. Er hing mehr auf seinem Tarpan als daß er saß. Ich fing einen Blick von ihm auf, in dem sich pure Verzweiflung spiegelte.

Ich wandte mich zu Razamon. »Ich schlage vor, daß wir rasten. Du

könntest versuchen, ein Stück Wild zu schießen, ich kümmere mich derweil um das Lager.«

Nur ganz kurz wanderte Razamons Blick zu Grizzard.

»Ich werde sehen, was ich erbeuten kann«, sagte er dann und trieb seinen Tarpan voran. »Ich schlage vor, ihr lagert in der Senke dort drüben.«

Die Mulde war genau das richtige für uns. Sie schützte uns vor dem Wind und machte uns unsichtbar für jeden Reiter. Der Boden war ein wenig feuchter, das Gras daher safti­ger und weicher.

Ich kam gerade noch schnell genug aus dem Sattel, um Grizzard auffangen zu kön­nen, bevor er auf dem Boden aufschlug.

Ich legte ihn auf dem Gras ab. Seine Stirn war heiß, er fieberte stark. Der Puls war zu hoch und schlug zu hart. Grizzard ging es sehr schlecht.

»Ich kann mich nicht mehr richtig bewe­gen«, murmelte Grizzard. Er hatte die Au­gen geschlossen. »Die Verbindung zwischen Gehirn und Körper ist gestört.«

»Wahrscheinlich nur ein verschlepptes Fieber«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Der Marsch über das Gebirge, unsere Flucht – du hattest nie Zeit, dieses Fieber auszukurieren. Schwindelgefühle, Händezit­tern und dergleichen sind bei solchen Fiebe­ranfällen völlig normal.«

Grizzard verzog das Gesicht zu einem bit­teren Lächeln.

»Ich glaube kein Wort davon«, sagte er. »Aber wir werden sehen, was passiert.«

Er richtete sich ein wenig auf. Ich schob ihm einen Sattel in den Rücken. Jetzt konnte er aufrecht sitzen und verfolgen, was vor­ging.

Ich sammelte ein wenig Holz für ein Feu­er. Es gab genug davon, vor allem Taumel­

weiden, ausgedörrte Sträucher, fast kugel­förmig, die vom Wind über die Ebene ge­trieben wurden. Sie brannten vorzüglich, langsam und gleichmäßig, genau richtig für uns. Ich sammelte in der näheren Umgebung des Lagers genug davon, um das Feuer auch die Nacht über unterhalten zu können. In Ebenen wie dieser wurde es tagsüber sehr heiß, weil die Sonne nahezu ungehindert einstrahlen konnte. Nachts wurde es dafür ebenso kühl.

Nach kurzer Zeit – das Feuer brannte ge­rade – kehrte Razamon zurück. Er trug ein Tier über der Schulter.

»Ich weiß nicht, was es ist und wie es heißt, aber es besteht aus Fleisch«, sagte er und ließ seine Beute auf den Boden fallen. »Ich bin gespannt, wie es schmecken wird.«

Sachkundig brach er das Tier auf, schlug es aus der Decke und bereitete es zum Bra­ten vor. Ich sammelte währenddessen ein paar Kräuter, um den Wohlgeschmack zu er­höhen und über die voraussichtliche Zähig­keit des Bratens hinwegzukommen. Wir hat­ten keine Zeit, das Fleisch abhängen zu las­sen, und nicht ausgereiftes Fleisch wurde in aller Regel entsetzlich zäh.

Nach wenigen Minuten drehte sich der Braten über dem leise knisternden Feuer. Ein appetitlicher Duft breitete sich aus und verhieß eine wohlschmeckende Mahlzeit.

Plötzlich wurde über diesem Knistern ein anderes Geräusch hörbar. Huftrappeln. Raz­amon und ich wechselten einen raschen Blick.

»Ich sehe nach«, sagte der Pthorer. Er stand auf und stieg die Schräge der Mulde hinauf.

Nach kurzer Zeit hatte er die Quelle des Geräusches gefunden.

»Ein Reiter«, rief Razamon zu uns herab. »Mit vier Packtieren. Sonst ist niemand zu sehen.«

»Gefährlich?« »Ich glaube nicht«, antwortete Razamon.

»Er hat mich gesehen und kommt näher.« »Soll er«, antwortete ich und drehte den

Braten. »Das Fleisch wird auch für vier Per­

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sonen reichen.«

6.

Er hobbelte seine Tarpane neben der Mul­de an, dann kam er langsam herangeschrit­ten, eine große, hagere Erscheinung. Der Mann machte ein sehr düsteres Gesicht, fast schon drohend. Dennoch war er unbewaff­net, von einem Messer abgesehen, das in seinem Gürtel steckte.

Er blieb neben dem Feuer stehen und sah auf den Braten hinab.

»Setz dich und iß mit«, forderte ich ihn auf.

»Ich bin Tirkis«, sagte der Mann und hockte sich neben das Feuer. »Ich bin der Wandersöldner.«

Ich hütete mich zu lächeln. Für einen käuflichen Kriegsmann war er zu wenig be­waffnet. Dennoch war es möglich, daß er die Wahrheit sagte.

»Braucht ihr einen Soldaten?« Razamon und ich sahen uns an. »Wir sind auf der Reise nach Tirn«, sagte

ich. Vielleicht konnte uns der Wandersöld­ner nützlich sein – nützlicher jedenfalls als der Extortirnser, den wir vorsichtshalber weit vom Lagerfeuer entfernt abgestellt hat­ten.

»Ich kenne Tirn«, sagte Tirkis ruhig. »Ich könnte euch führen.«

»Gegen Sold?« »Gegen Sold«, bestätigte Tirkis. »Was verlangst du, und wofür verlangst

du es?« Tirkis sah mich an. In seinen Zügen spie­

gelte sich Verbitterung. »Ich werde euch hinführen«, sagte er

langsam. »Sicher und ohne Gefahr. Ihr braucht euch keine Sorgen um eure Sicher­heit zu machen, wenn ich euch beschütze.«

»Das höre ich gerne«, sagte ich. »Und was verlangst du als Bezahlung?«

»Metall!« sagte Tirkis. »Kein Gold, das kann ich nicht brauchen. Ich benötige gewis­se Teile für meine Streitaxt Kordran.«

»Ich kann die Waffe nirgends sehen«,

Peter Terrid

versetzte ich verblüfft. Tirkis deutete über die Schulter. »Liegt auf den Packtieren«, sagte er und

schnitt sich ein Stück aus dem Braten. Sein Messer war sehr scharf.

»Es sind vier Packtiere«, sagte Razamon sanft.

»Ich weiß«, antwortete Tirkis gelassen. Er pustete auf das Fleisch, um es abzukühlen. »Es ist eine große, furchtbare Waffe, diese Streitaxt Kordran. Darum brauche ich vier Packtiere, um sie zu transportieren.«

»Heben kannst du sie nicht?« Tirkis bemerkte sehr wohl den Spott in

Ra-zamons Stimme, aber er ging nicht dar­auf ein.

»Das Fleisch ist gut«, sagte er kauend. »Ich kann die Streitaxt heben, wenn sie fer­tig ist. Noch ist sie nicht fertig.«

»Und was machst du mit dem Metall?« »Ich schmelze es ein und baue es an Kor­

dran«, sagte Tirkis. »Ich kann viel Metall brauchen.«

»Kein Edelmetall?« fragte ich vorsichts­halber.

»Ich brauche weder Gold noch Silber«, sagte Tirkis wegwerfend. »Ich brauche gutes Metall, mit dem man etwas anfangen kann.«

Ich überlegte nicht lange. Ein paar Stücke Metall würden sich die Tirn-Bewohner den Rücktransport ihres Extortirnsers wohl ko­sten lassen, sagte ich mir.

»Wir nehmen dich in Dienst«, erklärte ich Tirkis. Der Wandersöldner sah uns einen Augenblick lang zweifelnd an; wir sahen ihm wohl nicht genügend zahlungskräftig aus.

»Wir werden dich bezahlen, sobald wir in Tirn angekommen sind«, sagte ich. Tirkis nickte zufrieden.

»Wir müssen dich allerdings auf eines aufmerksam machen«, sagte Razamon, der den Wandersöldner mißtrauisch beäugte. »Wir haben den Zukahartos ihr Heiligtum gestohlen, den Extortirnser, den du hier se­hen kannst.«

Tirkis machte keine großen Umschweife. »Wie viele?« fragte er knapp.

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»Der Yastor mit seinem ganzen Heer«, antwortete ich. »Schätzungsweise dreißig­tausend Mann.«

Tirkis machte eine wegwerfende Handbe­wegung.

»Ihr könnt ruhig schlafen«, sagte er selbstsicher. »Ich werde über euch wachen.«

Woher dieser Mann sein Selbstvertrauen bezog, war mir ein Rätsel. Aber ich spürte, daß Tirkis die Wahrheit sagte – wir waren sicher in seinem Schutz, so seltsam sich das auch anhören mochte.

Ich hatte daher keinerlei Hemmung, mich nach dem Essen auszustrecken und tief und fest zu schlafen. Tirkis hielt Wache.

*

Am nächsten Morgen war Tirkis noch im­mer wach. Er hatte das Feuer unterhalten, und er hatte in der Nacht Zeit gefunden, un­sere Vorräte zu ergänzen. Neben den Tarpa­nen lagen prall gefüllte Wasserschläuche, ein paar Schritte neben dem Feuer erkannte ich Wildabfälle. Tirkis hatte in der Nacht ge­jagt und auch dabei Erfolg gehabt.

Er grüßte freundlich, soweit ihm das mit seiner düsteren Miene möglich war. Er schi­en es gewohnt zu sein, daß er die Arbeit zu tun hatte, während seine Kundschaft sich auf die faule Haut legte.

»Wenn du willst, kannst du jetzt ein paar Stunden schlafen«, schlug ich dem Wander­söldner vor.

»Ich schlafe während der Arbeit nicht«, erklärte der Wandersöldner bestimmt. »Was ist mit eurem Gefährten?«

»Er ist krank«, sagte ich. Grizzard lag noch am Boden und schlief. Sein Gesicht zeigte eine wächserne Blässe. »Allein sei­netwegen müssen wir nach Tirn. Der Extor­tirnser behauptet, dort könne man uns hel­fen.«

Tirkis warf nur einen flüchtigen Blick auf den Extortirnser.

»Ich werde euch nach Tirn führen«, ver­sprach er. »Und es wird schnell gehen.«

Wir ließen uns Zeit mit dem Frühstück,

um Grizzard nicht zu sehr zu beanspruchen. Sein Zustand war beängstigend. Was ich insgeheim befürchtet hatte, drohte wahr zu werden – es kam zu einem Wettlauf auf Tod und Leben. Wir mußten den immer schwä­cher und hinfälliger werdenden Grizzard so schnell wie möglich in die Hände eines Fachmanns bringen – aber dabei war unsere Geschwindigkeit in ganz erheblichem Maß von Grizzards körperlicher Verfassung ab­hängig. Möglich, daß wir diesen Wettlauf bereits verloren hatten. Da es aber keine an­dere Chance gab, blieb uns auch keine Alter­native. Wir mußten nach Tirn, je schneller, desto besser.

Beim Aufsitzen sah ich zum ersten Mal die Streitaxt Kordran des Wandersöldners wenigstens teilweise. Zu erkennen waren vier Teilstücke, jedes auf einem Packtier festgezurrt, und eines skurriler als das ande­re. Daß alle vier Teile zusammen eine Streitaxt darstellen sollten, mußte einem wirklich gesagt werden – von selbst wäre niemand auf diesen Gedanken verfallen. Die vier Teilstücke sahen zwar sehr metallisch aus, glänzten und blinkten in der Sonne und waren unzweifelhaft auch sehr schwer – nur bildeten sie keine Streitaxt. Dazu fehlte vor allem der Stiel, den man bei einer Axt füg­lich erwarten durfte.

»Das sieht sehr interessant aus«, sagte ich. »Und sehr schwer.«

»Es ist schwer«, bemerkte Tirkis, als er sich in den Sattel schwang. »Aber ich werde die Axt leicht schwingen können, wenn sie erst einmal fertig ist.«

»Wie lange, glaubst du, wirst du noch daran arbeiten müssen?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Wan­dersöldner. »Vielleicht nicht mehr sehr lan­ge. Es wird davon abhängen, wie gefährlich die Reise nach Tirn wird – und wieviel ihr mir dafür zahlen werdet.«

»Wir sind nicht sehr reich«, sagte ich. »Ich werde bekommen, was ich brauche

und für richtig erachte«, antwortete Tirkis gelassen. Er sah mich an. »Ich bekomme im­mer, was ich verlange.«

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26

Offenbar hatte er seine Bezahlung früher immer nur nach erheblichen Kämpfen be­kommen, jedenfalls klang seine Stimme da­nach. Sie verriet die Bitterkeit eines Mannes, der überall auf Lug und Trug, auf Hinterlist und Täuschung gestoßen war.

In diesem Fall hätte ich seine Liste nur verlängern können. Was ich dem Wander­söldner versprochen hatte, mußte ich erst noch verdienen – aber ich war zuversichtlich und guten Willens.

Unser kleiner Trupp setzte sich in Bewe­gung.

Die lange Ruhe hatte Grizzard gutgetan. Er saß aufrecht im Sattel, und sein Gesicht zeigte eine einigermaßen normal aussehende Farbe. Ich war allerdings gespannt, wie sich Griz-zards Verfassung im Lauf des Tages ändern würde.

»Dorthin«, sagte Tirkis. Er ritt voran, hin­ter ihm trabten am langen Zügel die Packtie­re. Ich bildete das Schlußlicht, vor mir ritt der Extortirnser auf seinem Gestell. Raza­mon hielt sich in Grizzards Nähe, um ihm im Notfall beispringen zu können.

»Wer ist diese Gestalt dort vorne?« fragte der Extortirnser, kurz nach Beginn der Rei­se.

»Tirkis, der Wandersöldner«, erklärte ich dem Schaltbaum. »Er wird uns nach Tirn führen.«

»Einfach so?« »Gegen Bezahlung«, sagte ich. »Er sagt,

er brauche Metalle zur Fertigstellung seiner Streitaxt Kordran.«

»Metalle?« kreischte der Extortirnser auf. »Er meint mich, ist dir das nicht klar? Er will mich schänden. Er wird mich zerstören! Schick ihn fort!«

»Das werde ich nicht tun«, protestierte ich. »Ich nehme an, daß deine Leute in Tirn genügend Metall für Tirkis haben werden, wenn wir ankommen.«

»Ha!« sagte der Extortirnser. »Wenn wir ankommen, sagst du. Weißt du denn nicht, was er machen wird, der Wandersöldner? Er wird uns eine Falle stellen, er wird dich und deine Freunde meucheln und dann wird er

Peter Terrid

über mich herfallen, mich anfassen … ent­setzlich. Schick ihn fort!«

»Er steht in unserem Sold«, sagte ich hart. »Wenn dir das nicht paßt, kannst du ja ver­suchen, aus eigener Kraft nach Tirn zu kom­men.«

»Erpressung!« schrie der Extortirnser. »Nötigung! Elender Verbrecher!«

Der Extortirnser keifte und kreischte, bis Tirkis sein Tier langsam etwas zurückfallen ließ und zu mir aufschloß. Er deutete auf den Extortirnser.

»Das Ding besteht wohl aus Metall«, sag­te er beiläufig.

»Da hast du's!« jaulte der Extortirnser. »Er will mich plündern!«

»Er besteht aus Metall, glaube ich jeden­falls«, antwortete ich. »Aber unser Ziel ist es, den Extortirnser wohlbehalten in Tirn ab­zuliefern – nicht ihn auszuschlachten.«

In dem Gesicht des Wandersöldners zuck­te kein Muskel.

»Metall«, sagte er nur und sah den Extor­tirnser an. »Viel Metall, und selten dazu. Nun … wir werden sehen.«

Er trieb seinen Tarpan an und kehrte an die Spitze des Zuges zurück.

Irgendwie – ich wußte selbst nicht, wie ich auf diesen Gedanken kam – erinnerte er mich an die Magier aus der Großen Barriere von Oth. Der Gedanke war eigentlich völlig absurd, denn wir waren unendlich weit von Pthor entfernt – dennoch, irgendwie …

Vielleicht lag es an der Aura des Geheim­nisvollen, die Tirkis um sich verbreitete. Möglich, daß mich auch das kräftige Rot seines Anzuges irritierte – ein roter Anzug in einer grünbraunen Steppe stellte nicht ge­rade eine ideale Tarnung dar.

Und ich fragte mich auch, aus welcher Quelle der Mann sein unerschütterliches Selbstvertrauen bezog. War vielleicht doch etwas an der Geschichte von der Super-Streitaxt, die so schwer war, daß zehn Mann sie vermutlich nicht hätten heben können.

Warte ab, bis du es erlebst, gab der Lo­giksektor durch.

Die Tarpane jedenfalls, die Tirkis mit sei­

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ner Axt bepackt hatte, waren besonders stark und unermüdlich im Schleppen. Schon nach kurzer Zeit war zu sehen, daß sie sich erheb­lich mehr anstrengen mußten als unsere Reittiere. Ich machte Tirkis darauf aufmerk­sam.

Einen kurzen Augenblick lang zeigte sein Gesicht Verblüffung, dann winkte er ab.

»Die Tiere haben schon mehr ausgehal­ten«, sagte er. »Und falls es nötig sein sollte, besorge ich neue Tarpane.«

»Und wo, wenn ich fragen darf?« erkun­digte sich Razamon.

»Beispielsweise von denen dort«, sagte Tirkis und deutete über die Schulter.

Ich richtete mich auf und drehte mich im Sattel herum.

»Alle Teufel!« stieß Razamon hervor. »Die Zukahartos!«

Dieser Grutar war ein hartgesottener, zä­her Bursche, der offenbar nicht leicht zu schlagen war. In Windeseile hatte er eine neue Brücke über den Cañon von Fryg ge­schlagen und war übergesetzt. Der Himmel wußte, wieviele Zukahartos er geopfert hat­te, um die Brücke in diesem Tempo neu zu bauen.

»Wir müssen verschwinden«, rief Raza­mon. »Sie haben uns längst gesehen, und bei diesem Tempo haben Sie uns in spätestens zwei Stunden.«

Wirklich war zu sehen, wie die Zukahar­tos sich zur Verfolgung formierten, sobald sie genau wußten, mit wem sie es zu tun hat­ten. Von jetzt an war die Jagd auf uns eröff­net, eine Hetzjagd, an deren Ende für uns nur der Tod stehen konnte, wenn uns nicht etwas einfiel.

»Nun, Wandersöldner, zeige deine Kunst«, sagte Razamon. »Vernichte sie.«

Tirkis sah mich an. »Soll ich sie wirklich vernichten?« fragte

er zweifelnd. Er sprach geradeso, als sei er tatsächlich

in der Lage, das Heer des Yastors zu ver­nichten, er ganz allein.

»Natürlich nicht«, sagte ich mit leisem Spott. »Es würde genügen, sie von unserer

Spur abzulenken – wenigstens für kurze Zeit.«

Tirkis machte einen tiefen Atemzug. Der Mann wurde zu einem immer größeren Rät­sel. War er erleichtert, daß ich ihm nicht die Tötung der Zukahartos zur Aufgabe machte?

»Reitet voran!« schlug Tirkis vor. »Nehmt meine Packtiere mit. Ich werde das Heer der Zukahartos zurückschlagen.«

Razamon sah mich an. Aus seinem Blick sprach großer Zweifel, der bei diesen Wor­ten des Wandersöldners seine Berechtigung hatte.

»Ist einer allein nicht ein wenig viel?« spottete Razamon.

Tirkis maß ihn mit einem verweisenden Blick.

»Reitet!« sagte er energisch. »Ihr werdet erleben, was ich vermag. Und sollte ich scheitern, dann nehmt meine Streitaxt und werdet glücklich damit.«

Ich griff in die Zügel des vordersten Pack­tiers und zog es hinter mir her.

»Ich fürchte«, sagte Razamon, als wir au­ßer Hörweite waren, »daß wir bald zwei Schrotthaufen mit uns herumzuschleppen haben – die Streitaxt und den Extortirnser.«

»Frechheit«, maulte der Schaltbaum. Ich wandte mich um. Tirkis war verschwunden.

*

Nebel war aufgezogen und deckte den Hügel, den wir gerade passiert hatten. Von seiner Spitze aus hatten wir die heranjagen-den Zukahartos sehen können.

»Nebel?« fragte der Logiksektor mit scheinheiliger Freundlichkeit. »Mitten in der Steppe?«

Das kam mir allerdings auch sehr rätsel­haft vor. Nebel bei einer Lufttemperatur von mehr als fünfundzwanzig Grad? Noch dazu in einer knochentrockenen Landschaft? Zu allem Überfluß auch noch auf einen einzigen Hügel konzentriert …?

Ich hatte mich geirrt. Der Nebel konzen­trierte sich keineswegs auf diesen einen Hü­

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gel. Er breitete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit aus, Hügelabwärts. Der Wind wehte uns sacht in den Rücken, den­noch kroch die Nebelwand auf uns zu.

»Das ist Tirkis' Werk«, sagte Razamon beeindruckt.

Wir hielten an, um das Schauspiel verfol­gen zu können. Wie Tirkis es fertigbrachte, diesen künstlichen Nebel zu erzeugen, blieb sein Geheimnis. Es stand nur fest, daß er ein Meister in dieser Kunst war. Nach wenigen Minuten bereits war ein großer Teil des Ho­rizonts in dichten, undurchdringlichen Nebel gehüllt. Darin mochten die Zukahartos uns suchen – sie würden mit etwas Glück auf unserer Seite ein paar Tage dazu brauchen, wenn der Nebel anhielt.

Dann war die Wand heran. Gerade noch hatte ich den Schatten mei­

nes Tarpans betrachtet, und einen Herz­schlag später – ich streckte die Hand aus, und der Vergleich stimmte buchstäblich – konnte ich die eigene Hand nicht mehr se­hen. Ich konnte meine Schultern noch erken­nen, alles andere war verschwunden in dem weißen Schein des Nebels.

Von ferne her klangen wilde Geräusche, von Nebel stark gedämpft und verfremdet.

»Alle Teufel«, sagte Razamon. »Atlan, kannst du mich hören?«

»Hören ja, sehen nicht«, rief ich zurück. »Grizzard?«

»Ich bin hier«, hörte ich die Stimme. »Ich halte eines der Packtiere von Tirkis.«

»Razamon«, rief ich. »Versuche, dich an meiner Stimme zu orientieren und suche nach den Packtieren des Wandersöldners. Melde dich, wenn du eines gefunden hast.«

»Wird gemacht!« rief der Pthorer. »Einstweilen kann ich nicht einmal mein ei­genes Tier finden.«

»Du sitzt darauf«, rief Grizzard. »Und wo ist der Extortirnser? Irgendwo muß das Ding doch stecken.«

»Ich verbitte mir diese unehrerbietigen Anreden«, ereiferte sich der Schaltbaum. »Das gehört sich nicht, einem Extortirnser gegenüber. Ich kann mit Fug und Recht …«

Peter Terrid

»Das Blechding habe ich gefunden«, mel­dete Razamon.

»Nimm die Finger da weg«, kreischte zur Bestätigung unser empfindsamer Robot­freund.

»Wende dich nach Südosten«, riet ich Razamon.

»Teurer Freund«, erklang die Stimme des Pthorers. »Wenn ich wüßte, wo oben und unten ist, wäre ich glücklich. Wie, zum Teu­fel, soll ich mir in dieser Waschküche eine Himmelsrichtung aussuchen?«

»Nach Gefühl«, riet ich ihm. »Kannst du mich hören?«

»Die Worte hör ich wohl«, sagte Raza­mon, »allein mir fehlt die Richtung.«

»Grizzard? Welches Tier hast du gefun­den?«

»Den Schecken«, antwortete Grizzard so­fort.

Ich erinnerte mich an die Formation der vier Packtiere.

»Razamon, versuche, mit dem Extortirn­ser zwischen meiner Stimme und der von Grizzard durchzureiten. Dann müßtest du …«

»Eines von den Viechern finden«, gab Razamon bekannt. »Bereits geschehen. Ich habe einen Tarpan von Tirkis gefunden.«

Ich atmete erleichtert auf. Wenigstens war unsere Gruppe wieder beisammen.

»Ich kann mich auf den Extrasinn verlas­sen«, sagte ich laut. »Ich werde versuchen, den Nebel in südlicher Richtung zu verlas­sen.«

Ich trieb meinen Tarpan voran. Das Tier war nicht sehr erbaut von der Aussicht, ohne erkennbares Ziel in die undurchdringliche Dunstküche marschieren zu müssen. Es bockte gehorchte dann aber, wenn auch nur langsam.

Der Logiksektor gab mir die Richtung an, genau südlich. Ich hoffte, daß auch Tirkis wußte, wie er sich in diesem Nebel zu bewe­gen hatte. In diesem Fall mußten wir uns ir­gendwo im Süden begegnen – so hoffte ich jedenfalls.

Obwohl ich mir sicher war, mit Hilfe des

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Logiksektors die Himmelsrichtung einiger­maßen deutlich erkennen zu können, kamen wir nur langsam voran. Es erwies sich als sehr schwierig, die nervösen Tarpane in Be­wegung zu halten.

Diese Aufgabe wurde zudem durch die Geräusche erschwert, die durch den Nebel drangen, seltsame, fremde Klänge.

Es dauerte eine halbe Minute, bis ich die­se Klänge analysiert hatte. Dann aber wurde der Lärm immer klarer und deutlicher – und eindeutiger.

Jemand marschierte uns entgegen. Genau-er gesagt ein ganzes Heer.

7.

Der Boden dröhnte unter dem Marschtritt der Kolonnen, die uns entgegen gingen. Es mußten Tausende sein, vielleicht ein paar Hunderttausend. Woher diese Truppen so schnell gekommen waren, wer sie befehlig­te, welchem Volk sie angehörten, was sie wollten … auf diese Fragen konnte ich selbst mit Hilfe des Extrasinns keine Ant­wort geben.

Immer lauter wurde der Klang, das Stampfen der Füße, das Trappeln und Schnauben der Tarpane. Dazwischen er­klang das scharfe Klirren von Waffen.

»Leise«, raunte ich. »Vielleicht marschie­ren sie an uns vorbei.«

Die Wahrscheinlichkeit war gering. Dem Klang nach zu urteilen, stampfte uns eine Heeressäule entgegen, die mindestens einen Kilometer breit war. Der Klang verriet des weiteren, daß dieses Heer auch sehr weit in die Tiefe hinein gestaffelt war.

Der Logiksektor meldete sich mit einem blitzschnellen Impuls.

Ich stöhnte unterdrückt auf. Der Extrasinn hatte anhand der Geräusche zu schätzen ver­sucht, was da auf uns zukam. Die Schätzung belief sich im Minimum auf eine Dreivier­telmillion Mann – unvorstellbar.

»Vom Regen in die Traufe«, kommentier­te Razamon meine Berechnung. »Sie kom­men immer näher!«

Bald mußten sie uns erreicht haben, und dann würden wir eine Antwort auf die Frage bekommen, was aus uns wurde. Ich konnte Schwerter klirren hören, dazwischen heisere Kommandorufe, die ich nicht verstand.

Und dann begann dieses gigantische Heer zu singen, eine wilde Melodie, schauerlich anzuhören. Ich begriff, daß es sich um eine Art psychologischer Kriegsführung handel­te, aber das vertrieb nicht die immer größer werdende Besorgnis.

Hörner klangen durch den Nebel, dazu immer wieder das eintönig stampfende Tapp, Tapp der Schritte.

»Die werden uns zu Brei trampeln«, mur­melte Razamon. Ich konnte ihn wegen des Nebels kaum hören. »Atlan, ich schlage vor, daß wir uns melden, bevor wir unter die Hu­fe geraten.«

»Einverstanden«, sagte ich. Wenig später begannen wir zu rufen. Aber wir bekamen keine Antwort. Der

Marsch der Hunderttausenden ging unauf­haltsam weiter. Ich hätte gerne gewußt, was der Yastor der Zukahartos für ein Gesicht machen würde, wenn die Phalanx der Geg­ner aus dem Nebel hervorbrach und sich auf ihn zuwälzte.

»Ein paar Augenblicke noch«, sagte Raz­amon. »Sie sind höchstens hundert Meter entfernt. Ich möchte wissen, wo die Leute herkommen – von Tirn etwa?«

»Meine Leute!« jubelte der Extortirnser. »Habe ich es nicht gesagt?« »Dann gibt dich zu erkennen, Blechkerl!«

rief Razamon. »Du hast nur noch …« Es war zu spät. Der Boden bebte, und

dann waren sie heran. Überall um uns herum erklang die Luft

vom Waffenlärm, und ich erwartete in je-dem Augenblick, die Speerspitzen aus dem Nebel auftauchen zu sehen. Aber nichts der­gleichen geschah.

Dem Klang nach wurden wir niedergerit­ten oder -getrampelt, aber zu sehen war nicht das geringste.

»Tirkis!« rief ich. Das Heer, das in diesem Augenblick über

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uns hinwegmarschierte, war, wie auch der Nebel, ein Werk des Wandersöldners. Gleichgültig, wie er dieses Wunder voll­bracht hatte, es tat in jedem Fall seine Wir­kung. Ich wischte mir den Schweiß aus der Stirn.

Fiktion war das Heer, die Riesenarmee. Sie bestand nur aus Klängen, aber diese Klänge waren perfekt. Auch wir hatten uns davon täuschen lassen, sogar der Extrasinn war auf diese akustische Spielerei hereinge­fallen.

Was mochte das Herandonnern der Waf­fenwalze auf die Zukahartos für einen Ein­druck machen? Wahrscheinlich steckten sie wie wir im Nebel, und ich vermutete, daß sie bei diesem Geräuschorkan auseinandersto­ben wie welke Blätter. Die Zukahartos wa­ren tapfere Leute, aber dieses fürchterliche Heranmarschieren aus dem Nebel war für die abergläubischen Gemüter dieser Leute wohl entschieden zu viel.

»Armer Yastor«, sagte Razamon, der of­fenbar ähnliche Überlegungen angestellt hat­te.

»Heda, Leute!« schrie der Extortirnser. »Ich bin es, euer Extortirnser. Nehmt mich mit. Hallo, Freunde!«

Auch der Schaltbaum war der akustischen Täuschung erlegen, nur hatte er noch nicht begriffen, was sich tatsächlich abgespielt hatte.

»Schrei nicht«, antwortete Razamon. »Es gibt kein Heer. Das Geräusch war nur eine Projektion.«

»Von wem?« fragte der Extortirnser. »Vermutlich von Tirkis, und der hat auch

diesen famosen Nebel fabriziert«, sagte Raz­amon.

»Aha«, sagte der Extortirnser. »Das alles hat also Tirkis gemacht, und er will vermut­lich dafür bezahlt werden. Mit Metall, nicht wahr, mit kostbarem, unersetzlichem Metall – mit Extortirnsermetall, denn eure Waffen wird der Wandersöldner kaum brauchen können. Oh, was für eine Verschwendung. Aufhören, sage ich, abschalten, genug ge­spielt. Die Sache wird mir zu teuer!«

Peter Terrid

»Ach was«, versetzte Razamon. »In Tirn wird sich genügend Metall für den Wander­söldner finden. Du machst dir überflüssige Sorgen, Extortirnser!«

»Wieviel Sorgen ich mir mache, das bleibt mir vorbehalten«, jammerte die Po­sitronik. »Ihr habt zu schweigen, und nun Schluß mit diesem Unfug!«

Wir ritten weiter in die Richtung, die mir der Extrasinn andeutete, einer hinter dem anderen und untereinander sorgsam gesi­chert. Wir hatten ein ganz besonders Augen­merk auf Grizzard gerichtet, dem der Nebel gar nicht bekam. Ab und zu konnte ich ihn jämmerlich husten hören.

»Ich kann etwas erkennen«, konnte ich nach einiger Zeit melden. »Dort vorne wird es heller!«

Tatsächlich hatte der Nebel bald ein Ende. Erst als wir die Nebelwand verließen, konn­ten wir die gewaltigen Abmessungen dieses künstlichen Gebildes erkennen – sie er­streckte sich kilometerweit, ragte minde­stens tausend Meter in die Höhe und war er­schreckend dick und kompakt.

»Ich möchte wissen, wie er das gemacht hat«, murmelte Grizzard mit fiebrigen Au­gen. »Ob er tatsächlich zaubern kann?«

Ich preßte die Zähne zusammen. Was Grizzard da sagte, war blanker Unfug, und keiner mußte das besser wissen als er, der unbestechliche Kosmokriminalist. Wieweit war das Denken dieses Mannes schon zer­mürbt, daß er sich in solche Hoffnungen flüchtete?

»Du kannst ihn selber fragen«, meldete Razamon. »Dort kommt er!«

Gemächlich, beinahe gelangweilt trabte Tirkis heran. In seinem Gesicht zeigte sich kein Ausdruck von Stolz oder Zufriedenheit. Er hatte getan, was von ihm – gegen Bezah­lung – erwartet worden war, mehr nicht.

»Vorzügliche Arbeit«, lobte ich den Wan­dersöldner. »Ich vermute, daß du diese Ne­belwand künstlich geschaffen hast – und auch das Heer, das wir heranrücken hörten.«

Tirkis verzog das Gesicht zu einem freud­losen Lächeln.

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»Nur ein paar Spielereien«, sagte er weg­werfend. »Mich würde aber interessieren, wie ihr es geschafft habt, so genau die Him­melsrichtung einzuhalten? Steht ihr mit den Geistern in Verbindung, die Erde und Him­mel und Luft und Wasser beherrschen?«

»Nur eine kleine Spielerei«, antwortete ich lächelnd.

Tirkis sah mich einen Augenblick lang schweigend an, dann nickte er.

»Reiten wir weiter«, sagte er langsam. »Ihr wollt doch noch immer nach Tirn?«

»Tirn ist unser Ziel«, sagte ich. »Nur Tirn interessiert uns, die intakte Stadt.«

»Sieh mich nicht so an«, keifte der Extor­tirnser. »Sieh mich nicht so gierig an, Tirkis. Ich kann deine schmutzigen Gedanken le­sen. Du kannst dich kaum zurückhalten, du willst nach mir greifen, an mir herumtasten …«

»Wen interessiert schon, was ich will«, sagte Tirkis. »Weiter!«

*

Die depressive Stimmung, die Tirkis um sich herum verbreitete, ergriff auch uns in immer stärkerem Ausmaß. Dazu kam noch Grizzards Zustand, der sich immer mehr verschlechterte. Die Zeit arbeitete gegen uns, und sie zerrann uns unter den Fingern.

Das Gelände war leicht hügelig, und am Horizont konnten wir die Andeutung eines mittelhohen Gebirges erkennen. Dorthin mußten wir reiten, so erklärte jedenfalls Tir­kis, der Wandersöldner. Irgendwo inmitten dieses Höhenzugs sollte, laut Tirkis, Tirn liegen.

Ich hoffte sehr, daß diese Prognose stimmte, denn lange würde Grizzard nicht mehr durchhalten.

Am Abend dieses Tages war es soweit. Grizzard kippte aus dem Sattel, fieberglü­hend, mit klappernden Zähnen und zucken­den Gliedern.

»Er wird nicht mehr reiten können«, sagte Tirkis nach einer flüchtigen Untersuchung.

»Wollt ihr ihn weiter mitnehmen, oder

soll er hier sterben? Wir könnten seine Lei­den verkürzen.«

»Ausgeschlossen«, sagte ich sofort. »Wir wollen nach Tirn, um ihn zu retten, nicht, um ihn zu töten. Wir werden versuchen, eine Trage für ihn zu bauen.«

Tirkis sah mich schweigend an. In seinen Augen war für sehr kurze Zeit Verblüffung zu lesen, sogar ein wenig Sympathie, dann aber nahm das Gesicht wieder den alten Ausdruck an, voll Qual und Bitterkeit.

»Wie ihr meint«, sagte Tirkis. »Ich werde Material für die Trage besorgen.«

Er stieg von seinem Tarpan. »Bleibt hier und hütet das Feuer«, sagte

er. »Ich bin bald wieder zurück.« Er huschte davon. »Was hältst du von dem Burschen?« frag­

te Razamon. Er wechselte den kühlenden Umschlag auf Grizzards Stirn gegen ein fri­sches Tuch aus.

»Schwer zu sagen«, antwortete ich, wäh­rend ich das Feuer anmachte. »Er scheint mir aber auf seltsame Weise ehrlich zu sein und verdient unser Vertrauen. Immerhin hat er sein Wort erfüllt – er hat uns die Zukahar­tos vom Halse geschafft.«

»Da wäre ich nicht ganz so sicher«, sagte Razamon. »Sieh einmal dorthin!«

Er deutete auf die Ebene, die wir in den letzten Stunden durchquert hatten. Am Rand unseres Gesichtsfelds zeichnete sich gegen den dunkler werdenden Himmel der Schein zahlreicher Feuer ab.

»Ich verwette meinen Kopf«, sagte Raza­mon, »daß dies Zukahartos-Lagerfeuer sind. Sie geben nicht auf – dieser Grutar-Nal-Kart ist entschieden zäher, als wir angenommen hatten.«

»Zugegeben«, sagte ich. »Ich bin mir auch sicher, daß die Zukahartos längst noch nicht aufgegeben haben; dafür ist unsere Beute zu kostbar, wenigstens in ihren Au­gen.«

»Pah«, machte der Extortirnser. »Sie werden aber auch ebenso sicher un­

sere Spur verloren haben«, fuhr ich fort. »Und bis sie unsere Fährten entdeckt haben,

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sind wir längst in Tirn und in Sicherheit.« »Ha«, machte Razamon spöttisch. »Dein

Wort in des Extortirnsers Ohr.« Die Positronik kam nicht dazu, eine Be­

merkung zu machen. Ein leiser, klagender Laut lag plötzlich in

der Luft, ein Klang von wehmütiger Sehn­sucht, und er erzeugte ein entsprechendes Gefühl.

Tirkis! gab der Logiksektor durch. Immer stärker wurde das Gefühl. Es zog

mich dorthin, wo dieser betörende Klang er­tönte. Dort, so spürte ich ganz genau, würde das Leben angenehm und leicht sein, würde ich Freunde finden, Gefährten …

Tirkis, wiederholte der Logiksektor. Laß dich nicht überrumpeln!

Grizzard richtete sich trotz seines Fiebers auf. Seine Augen flackerten. Er murmelte einen Namen, den ich nicht verstehen konn­te. Ich begriff nur eines – Grizzard, fieberge­schwächt, war der Verlockung zur Gänze er­legen.

Wie Tirkis diesen Trick praktizierte, wuß­te ich nicht, aber ich wußte, daß ich Grizzard zurückhalten mußte. Der Mann war der halb telepathischen Lockung völlig verfallen.

Grizzard stand auf, er schwankte leicht. »… s' ist ein Wunsch, auf innigste zu wün­

schen«, murmelte er mit schwerer Zunge. »Hamlet, III, 1; der große Monolog«, gab

der Extrasinn kurz und präzise durch. Grizzard war nicht nur körperlich am En­

de, er war auch psychisch total entkräftet. Er wünschte sich den Tod, der seiner Qual ein Ende setzen sollte.

»Halte ihn fest«, rief ich Razamon zu. »Er darf nicht weglaufen!«

Wir mußten uns anstrengen, um Grizzard bändigen zu können. In seinem Fieberwahn entwickelte er plötzlich ungeahnte Kräfte. Es gab ein stummes, verbittertes Ringen, das erst dann ein Ende fand, als der seltsame Lockruf plötzlich verstummte. Kurz zuvor, ich hätte es wegen des Ringkampfs fast nicht bemerkt, gab es noch einen feinen, ste­chenden Impuls, gleich einem hohen, spit­zen Schrei, der plötzlich erstickt wurde.

Peter Terrid

»Legen wir ihn wieder hin«, schlug ich vor.

Sanft legten wir den ohnmächtigen Griz­zard auf den Boden. Ich sah, wie Razamon die Lippen zusammenpreßte.

»Zwei Tage noch«, sagte er leise. »Höchstens, und keine einzige Stunde mehr.«

Zutreffend, kommentierte der Logiksek­tor.

Zu meiner Erleichterung kehrte Tirkis in diesem Augenblick wieder. Er trug in der Hand sein Messer, und hinter sich her schleifte er das gewaltigste Fell eines Raub­tiers, das ich jemals gesehen hatte.

Tirkis deutete über die Schulter. »Das Fleisch liegt dort hinten«, sagte er

und hockte sich nieder. »Ich werde aus dem Fell eine Trage für den Kranken herstellen.«

Fasziniert sah ich ihm zu. Er schnitt ein rechteckiges Stück aus dem Fell heraus, roll­te es zusammen und legte das Fell neben das Feuer. Ein unangenehmer Geruch breitete sich aus, und ich sah zu, daß ich auf die windabgekehrte Seite des Feuers rückte.

»Es geht leider nicht anders«, sagte Tirkis achselzuckend. Aus dem restlichen Fell schnitt er lange Streifen, die er zu Zöpfen flocht.

»Wir werden den Kranken auf das Fell le­gen«, verriet er uns seine Absicht. »Und mit diesen Gurten werden wir dieses Fell, an den Sätteln der Tarpane befestigen.«

»Etwas unhandlich«, gab Razamon zu be­denken. »Wäre es nicht wesentlich einfa­cher, eines oder zwei der Packtiere …«

Tirkis sah ihn nur an, mehr tat er nicht. Razamon entschuldigte sich mit einer Geste für den Frevel, daß er sich an Tirkis Streitaxt hatte vergreifen wollen.

»Wir könnten«, sagte der Wandersöldner, »natürlich auch anders vorgehen. Ihr erlaubt mir, den Extortirnser einzuschmelzen und zu einer Streitaxt zu fügen – dann würden die beiden Tragtiere des Extortirnsers frei für den Kranken.«

»Einschmelzen?« schrie der Extortirnser mit sich überschlagender Stimme. »Seid ihr

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von Sinnen? Mich einschmelzen.« »Es war nur ein Vorschlag«, sagte Tirkis

und arbeitete weiter an dem Seil aus Rohle­der, das er gerade flocht. »Ihr könnt es euch ja überlegen.«

»Da gibt es nichts zu überlegen«, mischte sich der Extortirnser ein. »Wir werden nach Tirn reisen, nötigenfalls auch ohne …«

»Ja?« »Wir reisen nach Tirn«, sagte der Extor­

tirnser hastig. »Irgendwie. Wir werden schon einen Weg finden, ganz sicher.«

»Hast du diese seltsame Lockung ausge­stoßen?« fragte ich Tirkis.

Er nickte nur. »Es hilft mir beim Jagen«, sagte er ein­

fach. »Wie hast du dieses Riesentier erlegt?«

fragte Razamon. »Mit dem Messer«, sagte Tirkis ruhig.

»Ich arbeite am liebsten mit dem Messer.« »Meine Hochachtung«, sagte Razamon,

und ich merkte seiner Stimme an, daß er es ernst meinte. »Es gehört Mut dazu, auf ein solches Tier mit dem Messer loszugehen.«

»Nicht einmal«, sagte Tirkis, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. »Es ist dies ledig­lich eine Frage des Messers. Ich habe ein ziemlich gutes Messer, müßt ihr wissen. Es ist sehr scharf.«

»Das kann ich sehen«, sagte ich, davon beeindruckt, mit welcher Gewandtheit er die Riemen aus der Haut des erlegten Tieres schnitt. Unterdessen briet Razamon das Fleisch des Tieres über dem Feuer.

»Wann werden wir voraussichtlich Tirn erreichen?« fragte ich.

Zum erstenmal sah ich Tirkis lächeln. »Morgen«, sagte er. »Morgen abend.«

8.

»Das soll Tirn sein? Die intakte Stadt?« »Das ist Tirn«, sagte Tirkis ruhig. Wir hielten oben auf dem Berg, unter uns

erstreckte sich das Tal. In diesem Tal lag Tirn.

»Meine Heimat«, freute sich der Extor­

tirnser. »Endlich daheim.« Es gehörte ein wahrhaft robotisches Ge­

müt dazu, sich in Tirn heimisch zu fühlen. Tirn mochte einmal groß und bedeutend

gewesen sein, wahrscheinlich auch intakt. Jetzt aber war nur noch ein Ruinenfeld zu erkennen.

»Was, um Himmels willen, ist mit Tirn geschehen?« fragte ich entgeistert.

Ich konnte nur noch Ruinen sehen, umge­worfene Mauern, geborstene Wände, schwarz und verbrannt.

»Ich habe es euch gesagt«, erklärte Tirkis. »Dies ist Tirn.«

Den nächsten Satz sprach er jetzt noch nicht, aber er würde nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Tirkis erwartete sein Honorar – aber wo­her sollte ich in dieser verbrannten Steinwü­ste kostbares Metall nehmen? Wir würden wohl oder übel auf unsere Waffen verzich­ten müssen, so sehr der Verlust auch schmerzen sollte.

»Extortirnser«, sagte ich beschwörend. »Ist dies wirklich Tirn?«

»Nun ja«, sagte der Schaltbaum. »Als ich Tirn verließ, sah es ein wenig anders aus. Aber es könnte Tirn sein.«

»Ich fragte nicht, ob es Tirn sein könnte? Ich will wissen, ob das da Tirn ist!«

»Möglich«, sagte der Extortirnser. »Vielleicht aber auch nicht.«

Der Wandersöldner machte jeder weiteren Erörterung ein Ende.

»Dies ist Tirn«, sagte er. »Ich erwarte meine Bezahlung.«

»Tja«, sagte ich, und sofort nahm das Ge­sicht des Wandersöldners einen harten Aus­druck an. »Die Sache ist die, daß ich eigent­lich gehofft hatte, für den Extortirnser, der zu dieser Stadt gehörte, genug Metall zu be­kommen, um dich zu bezahlen.«

»Deine Pläne interessieren mich nicht«, sagte Tirkis. »Ich will mein Honorar.«

»Wir können nur unsere Waffen anbieten, mehr haben wir nicht.«

»Atlan!« rief Razamon entgeistert. Tirkis ließ sich davon nicht beeindrucken.

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»Ihr wußtet, daß ich eure Waffen nicht brauchen kann. Ich habe es euch gesagt. Gebt mir also gutes Metall, und ich will wei­terziehen.«

»Etwas anderes haben wir nicht«, sagte ich. »Vielleicht später …«

»Kein Später«, sagte Tirkis hart. »Jetzt, oder Siartar, mein Messer, wird sprechen. Ihr könnt mir den Extortirnser geben, damit wäre ich zufrieden.«

»Was höre ich?« schrie die Maschine. »Oh Grauen! Helft mir, Atlan, Razamon …«

»Über die Maschine kann ich nicht verfü­gen«, sagte ich. »Sie gehört den Einwohnern von Tirn.«

»Gut denn, wenn du es nicht anders willst«, sagte Tirkis. Er stieg langsam von seinem Tarpan. »Das Messer wird entschei­den.«

»Mach ihn nieder!« schrie der Extortirn­ser.

»Töte ihn, Atlan!« Ich gebot der Maschine mit einer Handbe­

wegung Schweigen. Ich wollte von Tirkis nicht im Unfrieden scheiden, auf der ande­ren Seite wollte ich natürlich auch nicht den Extortirnser herausrücken.

Ich stieg ebenfalls vom Tarpan, desglei­chen Razamon.

»Ich will nicht kämpfen«, sagte ich. »Es wird uns beiden nichts nützen.«

»Das ist mir egal«, sagte Tirkis hart und bitter. »Ich bin das schon gewohnt, daß man versucht, mich zu betrügen. Entweder du zahlst, oder du wirst sterben, und deine Ge­fährten mit dir.«

»Nimm den Mund nicht zu voll!« rief Razamon wütend.

»Warum kannst du nicht warten?« fragte ich den Wandersöldner.

Tirkis aber zeigte keinerlei Gemütsbewe­gung.

»Zahlt ihr?« fragte er, während er gleich­sam gemütlich sein Messer zog und die Klinge prüfte.

»Überlaß ihn mir!« rief Razamon. Ich hielt ihn zurück. »Tirkis!« beschwor ich den Söldner. »Wir

Peter Terrid

sind in der Überzahl. Wenn du den Kampf verlierst, wirst du gar nichts bekommen, vielleicht wirst du sogar getötet. Warum willst du nicht warten?«

»Tirkis wartet nie«, sagte der Wander­söldner. »Und er tötet jeden, der sein Ver­sprechen nicht hält.«

Razamon verlor die Geduld. Er griff nach seinem Schwert.

»Zurück!« rief ich, aber leider zu spät. Der Kampf hatte bereits begonnen.

Razamon hatte sein Schwert gezogen, und ich wußte, wie geschickt der Pthorer eine solche Waffe zu handhaben wußte. Er holte zu einem Schlag aus, der, wenn er traf, Tir­kis den Schädel vom Rumpf trennen mußte. Der Wandersöldner tauchte unter dem mör­derischen Hieb weg, kam wieder hoch und sprang zur Seite.

»Razamon!« rief ich. »Er hat nur ein …« Ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden.

Wieder hatte Razamon ausgeholt, wieder zischte seine Klinge durch die Luft. Dann gab es einen hellen Schlag, ein Klirren – mit einem häßlichen Geräusch flog die Spitze des Schwertes zur Seite. Tirkis hatte mit sei­nem Messer einen Hieb geführt und die Klinge getroffen.

»Noch einmal gelingt dir das nicht«, knurrte Razamon. Er ließ sein Schwert wir­beln, daß es fast wie eine kompakte Masse wirkte. In Tirkis' Gesicht zuckte kein Mus­kel. Schritt für Schritt wich der Wandersöld­ner zurück.

Dann machte er einen Schritt nach vorn, und wieder zuckte Siartar, sein Messer.

Diesmal brach Razamons Schwert unmit­telbar über dem Heft. Während die Klinge auf den Boden polterte, sich überschlug und klirrend in einer Felsspalte verschwand, sah Razamon starr auf das Heft, dann schleuder­te er die nutzlos gewordene Waffe zur Seite.

Er war verloren, wenn ich ihm nicht bei­sprang.

Mit einem Ausdruck des Bedauerns auf dem Gesicht ging Tirkis auf Razamon zu, sichtlich entschlossen, ihn zu töten.

»Erst mußt du mich bezwingen«, rief ich.

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Ich sprang vor, das Schwert in der Hand. Bei Razamon mochte der Trick verfan­

gen, nicht aber bei mir. Es war extrem un­wahrscheinlich, daß wir beide so schlecht geschmiedete Schwerter aus der Waffen­kammer des Yastors gefischt haben sollten. Wenn Razamons Waffe nichts taugte, dann mußte ich eben die Last des Kampfes tragen.

Tirkis wandte sich um, dann zuckte er mit den Schultern.

Er wirkte wie jemand, der etwas für ihn Unangenehmes zu einem Ende bringen muß.

Ich fintierte. Ich wollte den Wandersöldner nicht töten.

Ich wollte ihn nur entwaffnen, dafür sorgen, daß er zur Besinnung kam und sich mit ei­nem vernünftigen Angebot zufriedengab.

Mehr plante ich nicht. Daher auch ver­suchte ich einen Schlag nach seinem Hand­gelenk zu führen – vorsichtshalber mit der flachen Klinge. Ich wollte ihn entwaffnen, nicht verstümmeln.

Der Schlag ging daneben. Tirkis parierte ihn geschickt und griff dann selbst an.

Mochte er es nur versuchen. Ich hatte Zen-Bogenschießen gelernt, ich war in Da-gor ausgebildet worden, und das vom besten Meister, den es jemals gegeben hatte, von Fartuloon, dem Bauchaufschneider. Ich hatte mit dem gladius gekämpft, dem römischen Kurzschwert der Legionäre, die ihr Hand­werk wahrlich verstanden hatten; ich hatte schwere Zweihänder geführt, und ich hatte mich mit den Degenakrobaten gerauft. Vor dem Wandersöldner war mir nicht bange.

Bald besann ich mich eines Besseren. Tirkis war ein Gegner, der keiner Schule

angehörte, weil er als Kämpfer eine Klasse für sich darstellte.

Er konterte den Fußtritt, mit dem ich ihn aus dem Gleichgewicht bringen wollte. Er parierte mit seinem Schwert scheinbar mü­helos die Quarten und Quinten, mit denen ich ihm auf den Leib rückte. Er meisterte je­de Attacke, die ich mit dem Schwert als Hiebwaffe führte, er verstand sich auch dar­auf, Angriffe nach Degenart abzuwehren. Selbst als ich in meiner Bedrängnis auf die

altjapanische Schwerttechnik zurückgriff, je­nes perfekteste Todesballett, das je einem Menschenhirn entsprungen war – selbst da hielt Tirkis meinen Angriffen stand. Er pa­rierte nur, er griff nicht selbst an. Er schien mich studieren zu wollen, meine Möglich­keiten ausloten zu wollen. Er hatte nur sein Messer, aber das genügte ihm.

Er schien in seinen Bewegungen erheb­lich schneller zu sein als ich. Obwohl ich die längere Reichweite besaß und dazu noch die weiter reichende Waffe, kam ich ihm nie na­he genug, um ihn treffen zu können.

Nach wenigen Minuten begann ich zu schwitzen. Langsam dämmerte mir, daß der Sieg in diesem Kampf bei weitem nicht so sicher feststand, wie ich das im Anfang ge­glaubt hatte.

Langsam gingen mir nämlich die Tricks aus, und es gelang mir einfach nicht, die Ab­wehrmauer dieses Mannes zu durchbrechen.

»Ihr solltet aufhören«, sagte Razamon, als Tirkis und ich für ein paar Augenblicke lang nach Luft schnappten – der Wandersöldner übrigens erheblich weniger heftig als ich.

Tirkis schnaubte verächtlich. In einer blitzschnellen Bewegung führte er Siartar, sein Messer, an die Lippen. Er sah mich an, traurig, wie es schien.

»Wir hätten Freunde werden können«, sagte er leise.

Ich begriff. Jetzt war die Reihe an Tirkis, den Angrei­

fer zu machen. Der Wandersöldner hatte sich angesehen, was ich zu bieten hatte, jetzt wollte er ein Ende machen.

Mir blieb noch ein Trick übrig, ein ziem­lich hinterhältiges Manöver, das noch selten seine Wirkung verfehlt hatte.

Ich ließ das Schwert aus der rechten Hand in die Linke gleiten.

Mochte Tirkis zusehen, wie er mit der veränderten Situation fertig wurde.

Er wurde damit fertig.

*

Ein einziger Hieb mit dem Messer genüg­

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te, und mein Schwert war als Waffe wertlos geworden. Und ich begriff: nicht Schmiede­fehler waren die Ursache gewesen, daß Raz­amon seine Waffe eingebüßt hatte. Die un­glaubliche Schärfe des Messers Siartar hatte Razamons Schwert einfach durchtrennt – wie auch mein Schwert.

Sofort ließ ich die Waffe fallen. In der Rechten hielt ich schon die Keule. Ich schwang sie von unten nach oben, wollte Tirkis in den Magen treffen. Noch immer wollte ich kein Blutvergießen.

Meine Rücksicht wurde mir schlecht ge­lohnt.

Tirkis hieb mit seinem Messer eine einfa­che Bewegung von oben nach unten. Die Keule wurde in der Mitte durchtrennt.

»Alle Teufel!« schrie Razamon auf. Die Zeit der Fairneß war vorbei. Es galt

das Leben, jeder Trick war erlaubt. Wo Köpfe auf dem Spiel standen, war auch der Einsatz gezinkter Karten legitim.

Ich sah aus dem Augenwinkel heraus und daher ziemlich undeutlich, wie Razamon zu einem Felsbrocken griff, etwas größer als ein normaler Kopf. Er hob den Brocken hoch, bog sich nach hinten, um Schwung zu bekommen …

Tirkis machte nur einen Schritt zur Seite. Eine atemberaubend schnelle Bewegung sei­nes mörderischen Messers ließ mich mit ei­nem gewaltigen Satz zur Seite springen. Einen Herzschlag lang konnte ich in den Kampf nicht eingreifen.

Auch der Fels, von Razamon mit aller er­denklichen Kraft geschleudert, vermochte die Schärfe des Messers nicht zu überwin­den. Tirkis vollführte einen Lufthieb, und der Fels fiel, in zwei Teile gespalten, auf den Boden.

»Wir ergeben uns«, schrie ich, bevor eine Katastrophe eintreten konnte. »Razamon, sei vernünftig.«

Tirkis hielt inne. Er sah mich an. »Was hilft es euch«, sagte er düster. »Ich

werde euch töten.« »Und was ist mit diesem dort?« sagte ich

und deutete auf Grizzard. »Hat auch er den

Peter Terrid

Tod verdient?« »Nein«, sagte Tirkis und damit saß er in

der Falle. »Bist du bereit, ihm zu helfen?« fragte ich

weiter. »Helfen? Wie könnte ich das?« fragte Tir­

kis verwundert. »Ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, was ihm fehlt.«

»Du verurteilst ihn zum Tode, wenn du uns tötest«, sagte ich. »Er braucht unsere Hilfe, um am Leben bleiben zu können.«

Tirkis wog das fürchterliche Messer Siar­tar in der Hand. Woraus mochte dieses Mes­ser bestehen, das alles zerschnitt und zerteil­te, was es nur gab?

»Er wird nicht beide brauchen«, sagte Tir­kis. »Und es genügt mir, wenn einer von euch beiden stirbt.«

»Wer?« fragte ich. Tirkis grinste böse. »Macht das unter euch aus«, schlug er

vor. »Ich gebe euch die Zeit dazu.« »Wir sind Freunde«, sagte ich. »Freunde

kämpfen nicht gegeneinander.« »Nicht einmal, wenn es um den Kopf

geht?« fragte Tirkis. »Ich lasse euch die Wahl, einer von euch oder beide.«

»Oder drei!« konterte ich. »Tötest du uns beide, muß auch er sterben.«

Tirkis knirschte mit den Zähnen. »Betrogen«, murmelte er. »Wieder betro­

gen!« »Wir wollen dich nicht täuschen«, sagte

ich. »Ich habe mich nur verrechnet. Laß uns nach Tirn gehen, vielleicht findet sich in den Ruinen Metall.«

»Wieder getäuscht«, sagte Tirkis. Es klang herzzerreißend. Offenbar hatte jeder seiner Auftraggeber versucht, ihn zu betrü­gen und um seinen Lohn zu prellen. Das machte seine Verbitterung erklärlich, auch sein düsteres Gesicht.

»Wir könnten ihm wenigstens ein Stück vom Extortirnser geben«, sagte Razamon. »Nicht viel, aber doch wenigstens etwas – wir wollen nicht im Unfrieden auseinander­gehen.«

»Was?« schrie der Extortirnser. »Ein

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Stück von mir? Seid ihr närrisch, ihr Tröpfe? Ein Stück von mir abtrennen?«

»Wenn du nicht auf der Stelle schweigst …«, brüllte Razamon. »Halte deinen ble­chernen Schnabel und denke nach, was an dir zu erübrigen ist. Denn ich schwöre dir, so wahr ich Razamon heiße, ich übergebe dich dem Wandersöldner ganz, wenn du nicht dein Lamentieren und Jammern ein­stellst.«

Ein paar der metallenen Gliedmaßen des Extortirnsers zuckten verzweifelt.

»Bist du damit einverstanden?« fragte ich Tirkis.

Er sah mich mit unaussprechlicher Trauer an.

»Was bleibt mir anderes«, sagte er leise. »Gebt mir, was ihr erübrigen könnt, dann zieht in Frieden und vergeßt mich.«

»Also, Blechbursche«, sagte Razamon. »Hast du es dir überlegt?«

Der Extortirnser war recht kleinlaut ge­worden.

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Welcher Teil deines Körpers wäre denn überflüssig. Sage es mir?«

»Hm«, machte Razamon betroffen. Ich versuchte einen Kompromiß zu fin­

den. »Sobald wir Tirkis bezahlt haben, ziehen

wir nach Tirn, und in der Stadt werden wir wohl Mittel und Wege finden, das Teil zu ersetzen, das du Tirkis geben sollst.«

»Nur zu«, sagte der Extortirnser. »Teilt mich nur auf, verhökert und verschleudert mich. Immer war ich für euch da, ich gab euch mein Bestes, und das ist nun der Dank. Aber macht nur zu, nehmt keine Rücksicht auf den armen alten Extortirnser. Ihr habt ja nie Rücksicht genommen. Immer war ich nur euer Sklave und durfte für euch schuf­ten. Nur zu, nehmt keine Rücksicht auf mich. Ich werde es ohnehin nicht mehr lange machen, denn in einer solchen Welt mit sol­chen Leuten möchte ich nicht leben. Worauf wartet ihr noch?«

Der Bursche, der den Extortirnser pro­grammiert hatte, verstand offenbar etwas

von Psychologie. Die Tirade des Extortirn­sers war herzzerreißend, und der Jammerton gelang ihm vortrefflich.

»Schweig!« brüllte Razamon. »Sage uns, was wir abtrennen können, und danach schweig.«

»Ich werde schweigen«, sagte der Extor­tirnser. »Jawohl, ich werde schweigen, viel­leicht bald für immer. Aber der Tag wird kommen, da werdet ihr an meine Worte den­ken.«

»Tirkis, nimm dein Messer«, sagte Raza­mon. »Ich halte das nicht länger aus.«

»Haltet ein!« wimmerte der Extortirnser. »Wenn es denn sein muß … siehst du jenen rötlichen Kasten? Ja, dort. Ihn trenne ab, und dann hebe dich hinfort.«

Tirkis zückte sein Messer, und einen Au­genblick später war der Kasten abgetrennt, den der Extortirnser bezeichnet hatte. Un­willkürlich wartete ich auf ein jämmerliches Klagelied der Positronik, aber der Leidge­sang unterblieb.

Tirkis beäugte das Metall von allen Sei­ten, er leckte sich die Lippen.

»Sehr gut«, sagte er. »So etwas fehlte mir noch. Ich bin mit dieser Bezahlung einver­standen. Ja, ich bin sogar sehr zufrieden. Ein höchst bemerkenswertes Stück Metall.«

Er hockte sich hin und begann damit, ein Feuer zu entfachen. Ich hatte große Lust, ihm beim Basteln an der Streitaxt über die Schulter zu lugen, aber Tirkis scheuchte uns mit heftigen Handbewegungen davon.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Mochte er mit der Streitaxt glücklich werden.

Ich winkte Razamon. Wir bestiegen unse­re Tarpane. Der Ritt konnte weitergehen.

Unter uns lag Tirn.

9.

Rußgeschwärzte Mauern, so weit das Au­ge reichte. Geborstene Ziegelwände, verbo­gene Leitungsrohre. Angerostete Stahlstre­ben, Straßenpflaster, das sich krümmte wie der Rücken einer Schlange. Trichter an Trichter, kleine, mittlere, große Einschläge.

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An einigen Stellen war ein wenig Weiß er­kennbar, größtenteils mit dunkelbraunen Flecken gesprenkelt. Nichts funktionierte mehr. Am Rand der Straßen die Wracks von Fahrzeugen, bis hart an die Grenze der Uni­dentifizierbarkeit zusammengeschmolzen.

Tirn war ein Bild der Verwüstung. Die Aussage, daß kein Stein mehr auf dem ande­ren stand, hier hatte sie ihre Berechtigung. Ein Schutthaufen von beachtlichen Ausma­ßen, das war alles, was von Tirn zu sehen war. Wenn es eine Stadt gab, die den Aus­druck intakt nicht verdiente, dann war das zweifelsohne Tirn.

Wir ließen unsere Tiere bereits in den Au­ßenbezirken von Tirn in sehr langsamen Schritt fallen. Auch den Tarpanen war die Stadt unheimlich.

Über Tirn lag Brandgeruch, ein scharfes Aroma nach verbranntem Holz, darüber, pe­netrant und unverkennbar, der widerliche Geruch verbrannten Fleisches.

»Hier lebt noch jemand«, sagte Razamon. »Der Gestank ist frisch.«

Ich nickte. »He, Extortirnser«, sagte ich. »Wo

stecken nun deine Leute?« Der Extortirnser gab keine Antwort. Mir war ganz und gar nicht wohl in dieser

Trümmerstadt. Irgend etwas irritierte mich an dem Schutthaufen, und bald wußte ich auch was – die Spuren der Verwüstung, die allenthalben zu sehen waren, trugen eine Handschrift, die ich nur zu gut kannte – es sprach einiges dafür, daß Tirn seine Zerstö­rung entfesselter atomarer Energie verdank­te. Dabei ließ sich nicht feststellen, ob ein Reaktor hochgegangen war oder ob Tirn mit Kernbomben beschossen worden war. In beiden Fällen war allerdings die Frage inter­essant, wer auf diesem Planeten mit atoma­ren Kräften umging. Bisher hatten wir, von Extortirnser einmal abgesehen, keinerlei An­zeichen für hochentwickelte Technik finden können.

»Wer mag das hier angerichtet haben?« sagte Razamon.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Und ich

Peter Terrid

finde nicht einmal den Ansatz zu einer Ant­wort.«

Die Atmosphäre war bedrückend, und ei­ne innere Stimme sagte mir, daß es in die­sem Trümmerhaufen nicht geheuer war. Ge­fahr umgab uns, lauerte bei jedem Schritt, unsichtbar, unhörbar, aber deswegen nicht minder bedrohlich.

»Was wollen wir eigentlich noch hier?« fragte Razamon. Immer wieder sah er sich um. Offenbar empfand er die schweigende Bedrohung durch die Ruinenstadt ebenso stark wie ich. »Vor allem: wo sollen wir hier Hilfe für Grizzard bekommen?«

Ich gebot ihm mit einem Handzeichen Halt.

»Dort vorne«, sagte ich und deutete auf ein Trümmerstück. »Hinter dieser Mauer hat sich etwas bewegt. Ich werde nachsehen.«

»Gib auf dich acht«, sagte Razamon. Er nahm den Zügel meines Tarpans, wäh­

rend ich aus dem Sattel glitt und langsam auf die Stelle zuging, an der ich die Bewe­gung gesehen hatte. Es war still, beklem­mend still. Dieses drückende Schweigen wurde nur ab und zu vom Schnauben oder Hufescharren eines Tarpans unterbrochen.

Ich hielt mein Messer in der Hand, die einzige Waffe, die ich noch besaß. Wir muß­ten unbedingt dafür sorgen, daß wir irgend-wo unsere Ausrüstung ergänzen konnten.

Ich bog um die kleine Mauer, hinter der ich etwas gesehen zu haben glaubte.

Zu sehen war nichts, nur platter Boden, aus Steinplatten zusammengesetzt. Ein paar Schritte weiter führte eine Treppe in einen dunklen Kellerraum hinab. Ich blieb stehen, auf der obersten Stufe des Kellers.

»Atlan!« Ich hörte Razamons Ruf, und ich vertrö­

delte keine Zeit damit, mich nach dem Je­mand oder Etwas umzusehen, vor dem Raz­amons Ruf mich warnen sollte. Ich machte einen Schritt zur Seite, aus der Gefahrenzo­ne heraus.

Der Schritt kam zu spät. Etwas traf mich mitten in der Bewegung am Rücken und warf mich aus der Bahn. Ich schwankte,

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strauchelte, fiel. Haltlos kollerte ich die Stu­fen hinab. Im Fallen konnte ich einen schwärzlichen Schemen erkennen, der sich scharf im Eingang des Kellers gegen den hellen Himmel abzeichnete.

Gewohnheitsmäßig hatte ich das Messer mit aller Kraft festgehalten, und ich war kaum an der untersten Kellerstufe angekom­men, da stand ich auch schon wieder auf den Beinen.

Gerade rechtzeitig. Ich stach zu und traf etwas, das schrie und

ins Dunkel zurückhuschte. Ein pestilenziali­scher Geruch schlug mir entgegen, ein Ge­stank nach Moder und Verwesung.

Das Wesen auf der Kellertreppe stieß ein heiseres Krächzen aus.

Genau gesehen konnte ich es nicht, aber ich sah die Silhouette. Danach hatte ich es mit einem annähernd humanoiden Wesen zu tun, aber einem, das – vielleicht durch radio­aktive Strahlung – mutiert war. Leicht schwankend stieg der Angreifer die Treppe hinab.

Ich hatte keine Lust, mich noch tiefer in die Dunkelheit treiben zu lassen, in die Klauen irgendwelcher Gefährten des Mon­strums. Ich suchte nach einer Wand, die meinen Rücken decken konnte. Nach vorn, so hoffte ich jedenfalls, konnte ich mich mit dem Messer zur Wehr setzen.

Meine Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel. Ich konnte eine Wand erkennen und hastete darauf zu. Aus dem Grau des Dämmerlichtes löste sich eine Gestalt, ein alptraumhaftes Wesen, eine groteske Kari­katur eines Menschen. Das Gesicht war nichts weiter als ein entsetzliches Ge­schwulst, ein unförmiger Fleischklumpen, in dem sich nur mit Mühe die gelblich funkeln-den Augen erkennen ließen. Verkrümmte Arme griffen nach mir, bewehrt mit Krallen, deren Schärfe ich lieber nicht zu spüren be­kommen wollte.

»Bleib zurück, Razamon!« rief ich. »Ich werde allein fertig!«

Das war zwar gelogen, aber die Lüge war notwendig. Wenn Razamon von einer dieser

Kreaturen auch nur geritzt wurde, war er un­rettbar verloren. In diesem von Leichenge­stank verpesteten Keller mußte selbst die ge­ringfügigste Hautverletzung zu einer tödli­chen Leichengiftinfektion führen. Ich war dagegen durch meinen Zellaktivator gefeit, Razamon hatte kein Gegenmittel.

Ich stach zu, traf, und wieder gellte ein Schrei durch den Keller. Irgendwo in der Ferne wurde er von einem Echo zurückge­worfen, verwandelt in ein gieriges Keuchen.

»Gggrrrr!« machte der größte meiner Gegner.

Zu sinnvoller Artikulation waren diese Geschöpfe nicht mehr fähig. Sie waren, so schien es mir, Opfer der Radioaktivität in Tirn, Mutanten des Grauens. Sie waren Op­fer, aber mein Mitleid konnte soweit nicht gehen, daß ich mich von ihnen auffressen ließ.

Ich handhabte das Messer vorsichtig. Ich wollte und durfte die Waffe nicht verlieren.

Ein Fußtritt, trotz der Dunkelheit genau gezielt und präzise treffend, ließ eine Krea­tur zurücktaumeln, und der Raum füllte sich mit ihrem Schmerzensgeheul.

Ich duckte mich unter einem Prankenhieb hinweg, der mir den Kopf abgerissen hätte, dann stach ich erneut zu. Aufbrüllend zog die Bestie den verletzten Arm zurück.

Etwas huschte über meinen Fuß. Ratten, oder jedenfalls ihre Entsprechung. Der Blut­geruch hatte die Tiere angelockt. Es wurde höchste Zeit für mich, aus diesem Keller zu verschwinden.

Ich sah Razamon im Eingang auftauchen. Wieder wurde ich angegriffen. Die Kellerbe­stien waren zwar gierig, aber zu meinem Glück auch recht plump. Ich wich der At­tacke aus, schlüpfte an dem größten der An­greifer vorbei und hastete die Treppe hinauf.

Razamon nahm mich oben in Empfang. »Nichts wie weg von hier«, stieß ich her­

vor. »Das ist leichter gesagt als getan«, ver­

kündete Razamon trocken. »Wir haben näm­lich Besuch bekommen.«

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40

*

Sie hatten es tatsächlich geschafft, die Zu­kahartos. Sie hatten unsere Spur wiederge­funden und sich sofort wieder auf unsere Fersen geheftet. Jetzt umstanden sie Tirn, und eine Abteilung Elitesoldaten, angeführt von Grutar-Nal-Kart, dem derzeitigen Ya­stor, hatte sich bis ins Innere der Stadt vor­gewagt.

An Gegenwehr war natürlich nicht zu denken. Bevor wir auch nur einen Schritt hätten machen können, wären wir mit Pfei­len gespickt gewesen – wie das Kellermon­strum, das unvorsichtigerweise hinter mir aus dem Dunkel auftauchte und ein paar Herzschläge später zurückfiel.

»Ich freue mich, euch wiederzusehen«, sagte Grutar. Ich erkannte ihn leicht, er ritt einen wundervollen Tarpan. »Wie ich sehe, seid ihr noch beisammen. Nur seht ihr nicht mehr ganz so schmuck aus wie bei eurer Ab­reise.«

Der Spott traf. Wir sahen wieder so aus, wie uns der Yastor gefunden hatte – abgeris­sen, müde und ausgepumpt, ohne Waffen und Ausrüstung.

»Sogar unser Heiligtum findet sich«, sag­te Grutar.

Ich begriff nicht ganz, worauf er hinaus­wollte. Seine Stimme troff von Spott, aber er zeigte keine offene Aggression.

»Funktioniert der Extortirnser noch?« fragte Grutar-Nal-Kart. »Oder habt ihr ihn zerstört?«

»Du kannst ihn sehen«, sagte ich. Grutar trieb seinen Tarpan zum Extortirn­

ser hinüber. Ein paar der metallenen Aus­wüchse der Positronik zuckten, aber der Ex­tortirnser sagte nichts.

Er hat Tirkis seine Sprechmembran über­lassen, informierte mich der Logiksektor.

»Warum schweigt der Extortirnser«, frag­te Grutar.

»Er wollte Tirn sehen, seine Heimat«, schwindelte ich, um eine faule Ausrede kei­neswegs verlegen. »Du kannst sehen, was

Peter Terrid

aus Tirn geworden ist. Darum hat der Extor­tirnser gelobt, bis an sein Ende zu schwei­gen.«

Grutar fixierte mich. »Ist das wahr?« fragte er und zog die Au­

gen zusammen. »Gewiß«, antwortete ich mit größtmögli­

cher Ruhe. »Herr«, sagte einer der Soldaten.

»Können wir nicht …?« Jetzt erst fiel mir auf, daß die Zukahartos

keineswegs sehr heldenhaft dreinblickten. Offenbar verspürten selbst die Elitesoldaten des Yastors Grauen beim Anblick der Stadt Tirn.

»Nehmt den Extortirnser und schafft ihn ins Lager«, bestimmte Grutar-Nal-Kart. »Und paßt auf, daß er nicht beschädigt wird. Er ist jetzt noch kostbarer als jemals zuvor.«

Die Positronik dauerte mich. Jetzt würde sie für immer bei den Zukahartos bleiben müssen. Die lange Reise nach Süden war vergeblich gewesen. Tirn existierte nicht mehr, jedenfalls nicht in der Form, in der der Extortirnser sie gekannt hatte.

»Was ist mit eurem Gefährten?« fragte Grutar. Woher diese plötzliche Teilnahme, fragte ich mich.

»Er ist krank«, antwortete ich. »Vielleicht wird er bald sterben.«

Der Yastor begann zu lachen. Er wollte sich förmlich ausschütten vor Lachen.

»Sehr gut«, prustete er. »Vielleicht wird er bald sterben. Du Narr, er wird gewiß sehr bald sterben. Ihr alle werdet bald sterben, nicht vielleicht, sondern so sicher wie ich Yastor der Zukahartos bin.«

Ich sagte besser nichts zu diesem Aus­bruch des Zukahartos.

»Gebt eure Waffen ab«, befahl Grutar. Das Arsenal war kümmerlich, die Überga­

be brauchte nur ein paar Augenblicke. »Und nun, Freunde, sagt mir: was soll ich

mit euch machen?« Ich rührte mich nicht. Was hätte ich auch

dazu sagen sollen? Grutar bleckte die Zähne. »Eigentlich«, sagte er undeutlich, »sollte

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ich euch sofort erschlagen lassen. Verdient hättet ihr es, ja, euch gebührte ein noch grausamerer Tod. Aber ich will milde sein, denn ihr habt mir, ohne es zu wissen, einen großen Dienst erwiesen.«

Jetzt durfte ich etwas sagen. »Ein stummes Orakel ist wirklich prak­

tisch, nicht wahr?« erkundigte ich mich. Wieder grinste der Yastor. »Recht hast du«, sagte er. Jetzt konnte er

seine eigenen Entscheidungen jederzeit als Äußerungen des unfehlbaren Extortirnsers ausgeben. Vermutlich hatte ich gerade den Beginn einer Yastor-Dynastie erlebt, der er­sten im Volk der Zukahartos.

»Und weil du mir geholfen hast, werde ich dir helfen«, sagte Grutar. »Ich lasse euch am Leben. Eure Waffen und Tarpane – un­sere Waffen und Tarpane genaugenommen, ihr Diebsgesindel – werden wir mitnehmen. Aber euren Freund dürft ihr behalten.«

Ich verstand, was er vor hatte. Tirn flößte ihm Grauen ein, seinen Soldaten nicht min­der. Und sie wollten es Tirn überlassen, uns umzubringen. Zwar würden sie es nicht erle­ben können, wie wir starben, aber es würde Grutar sicherlich viel Spaß bereiten, sich auszumalen, wie wir in Tirn elend zugrunde gingen.

»Was sagst du dazu?« fragte Grutar. »Ich bedanke mich, edler Yastor«, ant­

wortete ich höflich. »Lump!« knirschte Grutar. Er trieb seinen

Tarpan an mich heran. Seine Hand fuhr zum Gürtel. Einen Augenblick später krachte sei­ne Keule auf meinen Schädel. Ich hatte mich nicht gewehrt, um ihn nicht noch mehr zu reizen.

Besinnungslos brach ich zusammen.

*

Das erste Gefühl beim Wiedererwachen war Schmerz, das zweite Erleichterung. Ich lebte noch, alles andere war in diesem Au­genblick unwichtig.

»Da bist du ja wieder«, sagte Razamon freundlich.

Ich stellte fest, daß ich am Boden lag und Razamon neben mir hockte. Ein paar Schrit­te entfernt stand die Trage mit Grizzard. Sonst waren wir allein.

»Sie sind weg?« fragte ich und rieb mir den schmerzenden Schädel.

»Sobald du am Boden lagst«, sagte Raza­mon. »Sie haben uns nichts gelassen außer ein paar Lumpen und dem Leben. Waffen, Tarpane, Wassersäcke, Proviant … nichts.«

»Wir stehen also mit dem Rücken zur Wand?«

Razamon nickte. Ich setzte mich langsam auf. »Wie lange war ich besinnungslos?« frag­

te ich. »Ein paar Stunden«, erwiderte Razamon.

Er half mir auf die Beine. »Es wird bald dämmern, und ich glaube, daß dann das Viehzeug aus den Kellern auch die Straßen unsicher machen wird.«

»Und wir haben keine Waffen«, murmelte ich. »Eine beneidenswerte Situation.«

Razamon streckte die Hand aus. »Ich könnte mir vorstellen, daß es dort

drüben vielleicht noch ein unbeschädigtes Haus gibt«, sagte er. »Und wenn nicht unbe­schädigt, dann wenigstens so gut erhalten, daß wir uns darin behaupten können. Wir müssen ein Quartier für die Nacht finden.«

»Dann vorwärts«, sagte ich. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Es war keine einfache Arbeit für uns, Grizzard durch die Stadt zu schleppen. Nach dem Zusammenbruch hatte niemand daran gedacht, die Straßen freizuräumen. Dement­sprechend ging unser Weg über Stock und Stein, und dabei mußten wir höllisch aufpas­sen, daß wir unterwegs nicht Grizzard verlo­ren, denn wir hatten nicht einmal mehr Ma­terial, ihn auf der Trage festzubinden.

So bewegten wir uns durch Tirn, die in­takte Stadt. Armer Extortirnser, er hatte sich so sehr auf die Rückkehr gefreut. Ich ver­suchte mir vorzustellen, wie ich reagiert hät­te, wäre ich nach zehn Jahrtausenden Erd-Exil nach Arkon zurückgekehrt und hätte dort nichts gefunden als drei verbrannte, leb­

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lose Planeten um eine zerstörte Sonne. Und wie lange würde dieses Exil dauern?

Wie lange würde ich mit dem Dimensions­fahrstuhl Pthor reisen müssen – wenn ich es überhaupt schaffte, nach Pthor zurückzukeh­ren –, bis ich die Erde wiedersah, die meine neue Heimat geworden war? Wieder Jahr­tausende?

Sehr vernünftig, kommentierte der Logik­sektor. Zerbrich dir nur den Kopf darüber, was in tausend Jahren sein wird. Was mor­gen früh sein wird, wirst du bei diesem Ver­fahren gar nicht mehr erfahren.

Der Extrasinn hatte wie üblich recht. Es gab andere Probleme zu lösen als dieses. Als erstes mußten wir ein Quartier für die Nacht finden, und diese Aufgabe erwies sich mit jeder verstreichenden Minute als dringlicher.

Es begann zu dämmern, und mit der her­einbrechenden Dämmerung erwachte Tirn zu schaurigem Leben.

Erst einzeln, dann zu Paaren, schließlich in kleinen Gruppen tauchten sie auf, die Be­wohner von Tirn. Es waren nicht alles mon­ströse Mutanten, die meisten sahen für Dorkh-Verhältnisse annähernd normal aus. Dennoch waren auch sie von der Stadt ge­prägt worden, in der sie lebten. Einigen fehl­ten Gliedmaßen, andere waren erblindet. Ich sah Albinos mit rötlich leuchtenden Augen, kahle Schädel und Gestalten, die von Kopf bis Fuß behaart waren.

Es waren Gestalten, wie sie in Alpträu­men oder Elendsvierteln entstanden, ge­zeichnet vom immerwährenden Kampf um das nackte Leben, vom Hunger gequält, von Krankheiten erschüttert, niemals satt, nie­mals ausgeruht. Nun, wir paßten uns diesen Bedingungen an, unfreiwillig zwar, aber dennoch in immer stärkerem Maß.

Sie umschlichen uns, belauerten uns. In ihren Augen stand Gier geschrieben,

aber auch Gefühle wie Angst, Verzweiflung, Hunger. Sie dauerten mich, aber das konnte natürlich nicht bedeuten, daß ich mich ihnen als Opfer anbot.

»Bald haben wir es geschafft«, stieß Raz­amon hervor. »Dort ist unser Unterschlupf.«

Peter Terrid

10.

Die alte Frau stand im Eingang. Sie hieß Peinchen, und ihr gehörte das Haus.

Haus war eine sehr hochtrabende Be­zeichnung für eine Unterkunft, die auf je-dem leidlich zivilisierten Planeten sofort von den zuständigen Behörden geschlossen wor­den wäre. Die Wände des sogenannten Hau­ses standen schief, zeigten Risse und Sprün­ge, daß einem vom bloßen Anblick übel werden konnte.

Aber die gesamte wacklige Konstruktion hielt, und sie war vor allem wasserfest. Obendrein ließ sie sich leicht verteidigen – wenn man Waffen hatte – und sie schützte auch ein wenig vor dem kühlen Wind, der über Tirn strich.

»Wer seid ihr?« sagte Peinchen zur Be­grüßung.

Sie hatte uns kommen hören und war im Eingang stehengeblieben, um uns mustern zu können. Sie sah nicht wesentlich besser aus als ich in meinen Lumpen.

Wir setzten Grizzard behutsam ab. »Ich bin Peinchen, und dies ist mein Haus«, sagte sie.

»Razamon«, stellte ich vor. »Dieser unser Freund heißt Grizzard, und ich bin Atlan.«

Im Gesicht der alten Frau zuckte etwas. Kannte sie den Namen?

Narr, sagte der Logiksektor trocken. Wo­her wohl?

»Was ist mit ihm?« fragte Peinchen. Ihre Stimme war für jeden qualvoll anzuhören.

»Ist er krank?« Ich nickte, und die Alte grinste mit ihrem

zahnlosen Mund. »Dachte ich es mir doch«, sagte Peinchen.

»Und ich soll ihn wieder gesund machen?« Offenbar war ich an die lokale medizini­

sche Größe geraten. Wenn dieses Weib alles war, was Tirn an medizinischer Versorgung aufzuweisen hatte, war es um Grizzard sehr schlecht bestellt.

»Wenn du es vermagst«, sagte ich vor­sichtig.

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Ich nahm mir vor, aufzupassen. Wenn Peinchen Grizzard mit irgendwelchen Kräu­tern zu Leibe rückte, wollte ich vorkosten. Ich hatte keine Lust, Grizzards gefährdetes Leben auch noch durch die absonderlichen Praktiken einer alten Kräuterhexe unsicher zu machen.

»Könnt ihr zahlen?« fragte Peinchen. »Womit?« »Wie immer«, krächzte die Alte. »Keiner

hat Geld, aber alle wollen sie von Peinchen behandelt werden. Nun gut, bringt den Kran­ken herein.«

Wir hoben Grizzard auf und trugen ihn sehr vorsichtig in das Innere der Hütte.

Am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrt­gemacht, als ich das Innere von Peinchens Praxis zu sehen bekam.

Was sich uns darbot, war ein mit mor­schen Mauern umkleideter Müllhaufen, ein Berg von Unrat, der einen gräßlichen Ge­stank verbreitete. Von Mobiliar war nichts zu sehen, ich erkannte lediglich einen Hau­fen Gestrüpp, der Peinchen offenbar als La­ger diente. An den Wänden hingen, wie Per­len an Schnüren aufgereiht, Kräutersträuße, auf einem Etwas, das man wohlwollend als Regal bezeichnen konnte, lagen einige To­tenschädel, vermutlich die letzten Patienten dieser Dame.

Eines aber sprach für Peinchen – es war ziemlich warm in ihrer Hütte, und dieses Ar­gument gab den Ausschlag.

»Legt ihn dorthin«, sagte die Alte und deutete auf ihr Lager. Ein paar Schritte ent­fernt knisterte ein kleines Feuer. Darüber hing an einem Dreibein ein Kessel, in dem eine Flüssigkeit seltsam geheimnisvoll bro­delte. Betäubende Dämpfe stiegen von dem rußgeschwärzten Kessel auf.

Es war die reinste Hexenküche, und zum Interieur paßte auch die Bewohnerin dieses Gebäudes. Ähnlich verwittert wie die Wän­de war die Haut der Alten, von Flecken übersät, runzlig und rissig. Ihre Hände wa­ren fast fleischlos, desgleichen der Schädel. Die Lippen waren messerrückenschmal und stets zusammengepreßt. Ihr Ausdruck verriet

Härte und Entschlossenheit. »Was ist das?« fragte ich und deutete auf

den Kessel. »Geht euch nichts an«, knurrte Peinchen.

»Sagt mir lieber, was mit eurem Freund los ist. Sehen die Leute bei euch zuhause alle so aus wie ihr?«

Ich fand an Razamon, Grizzard und mir nichts Auffälliges. Dann aber wurde mir be­wußt, daß wir drei für die Bewohner von Dorkh ebenso seltsam aussehen mußten wie sie umgekehrt für uns. Unseren Augen er­schienen die Zukahartos beispielsweise be­sonders unansehnlich zu sein – wohingegen die Zukahartos vermutlich uns für bemer­kenswert häßliche Geschöpfe hielten.

»Wir sehen alle so aus, und das ist nicht unsere Schuld«, antwortete ich auf Pein­chens Frage. Dann versuchte ich ihr zu er­klären, mit welchem Problem Grizzard kämpfte. Ich war mir zwar sicher, daß die Alte kein Wort verstand, aber ich wollte nichts unversucht lassen.

»Ich habe verstanden«, sagte Peinchen schließlich. »Mann in Mann, und Mann in Mann kämpft gegen Mann. Er wird ster­ben.«

»Nicht, wenn wir es verhindern können«, sagte ich scharf.

Die Alte grinste mich an. »Habe ich gesagt, wann er sterben wird?«

fragte sie zurück. »Wollt ihr essen?« »Davon?« fragte ich und deutete dabei auf

den Kessel. »Davon«, sagte die Alte. »Schmeckt gut

und ist gesund.« Mit diesem reichlich fadenscheinigen Ar­

gument mochte man Kinder ködern, mich aber nicht. Dennoch nickte ich – was halfen alle Argumente, wenn in den Eingeweiden der Hunger wühlte?

»Bedient euch«, sagte Peinchen. »Näpfe sind hier, und Löffel liegen dort.«

Die Behausung Peinchens war ein Alp­traum für jeden Hygienefanatiker. Eine grö­ßere Menge Unrat auf so enger Stelle war ei­gentlich nur noch auf vorsintflutlichen Müll­halden zu finden. Die Näpfe waren innen

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mit einer undefinierbaren Paste überzogen, und an den hölzernen Löffeln klebten noch die Reste der letzten Mahlzeit.

»Gibt es hier irgendwo Wasser?« fragte ich. »Sauberes, klares Wasser?«

»Draußen«, sagte Peinchen. Sie beugte sich über Grizzard und sah ihm aufmerksam ins Gesicht.

Ich ging hinaus. Es war finster geworden, und über Tirn spann sich das Netz der nächt­lichen Geräusche, Trittschall, lautloses At­men, ein Kratzen hier, ein Fauchen dort. Von irgendwoher kam ein gellender Schrei, anderswo brach etwas knirschend.

Ich fand in der Nähe der Hütte eine Quel­le und wusch Näpfe und Löffel darin aus, dann kehrte ich in die Hütte zurück. Pein­chen hatte unterdessen Grizzards Oberkör­per entblößt.

»Kannst du ihm helfen?« fragte ich. Sie sah mich verweisend an. »Niemand kann wirklich helfen«, sagte

sie. »Wenn er sterben will, wird er sterben, wenn er bereit ist zu leben, wird ihm das Le­ben erhalten.«

»Was willst du tun?« fragte ich. »Sieh zu, aber schweige und verrate

nichts«, sagte Peinchen. Sie schien ihrer Sa­che sehr sicher zu sein.

Ich füllte meinen Napf mit dem Sud aus dem großen Kessel. Das Zeug roch erbärm­lich, und ich konnte nur hoffen, daß es uns nicht umbrachte. Nach dem ersten Schluck der grünlichen Brühe hatte ich das Gefühl, mein Magen lege sich in Knoten, dann aber breitete sich die Wärme der Suppe im Kör­per aus, und der zweite Schluck schmeckte schon etwas weniger widerlich.

»Keine Angst«, riet ich Razamon. »Man kann die Suppe essen.«

Die Alte hatte Grizzard unterdessen gänz­lich entkleidet. Grizzard wirkte ausgemer­gelt, müde, zu Tode erschöpft. Er war nur noch der Schatten seiner selbst. Und was noch schlimmer war, er hatte fast völlig die Kontrolle über die Muskulatur des übernom­menen Körpers verloren.

»So etwas habe ich nie erlebt«, sagte die

Peter Terrid

alte Frau. »Und ich bin wahrlich alt genug. Mehr als vier Beben habe ich miterlebt.« »Beben?« »Nun ja«, sagte Peinchen. »Ab und zu be­

wegt sich Dorkh, mal oft, mal weniger oft. In letzter Zeit bewegt es sich häufiger.«

»Wie bewegt sich das Land? In Wellen? Bewegt es sich auf und nieder?«

Die Alte sah mich aufmerksam an. »Was willst du da wissen, fremder

Mann?« »Ich will alles wissen, was auf Dorkh ge­

schieht.« »Du bist fremd hier«, sagte Peinchen.

»Über alles Maß hinaus fremd. Ich habe nie Wesen wie dich und deine Freunde gesehen, und ich sage euch, sie kommen alle zu Pein­chen, alle. Ich müßte dich etwas fragen, At­lan, aber ich werde dir dennoch antworten. Es ist, als ob du springst und wieder herun­terkommst, nur daß nicht du gesprungen bist, sondern Dorkh.«

Ich nickte langsam und sah Razamon an. Dorkh – handelte es sich dabei um einen

zweiten Dimensionsfahrstuhl? Ein Gegen­stück zu Atlantis?

»Der Blutdschungel«, murmelte Raza­mon. »Es würde passen.«

»Von dort kommt ihr?« fragte die Alte und machte eine beschwörende Geste.

War der Dimensionsfahrstuhl Dorkh viel­leicht defekt? Oder womöglich ausrangiert, obwohl ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen konnte. Dorkh stand irgendwo in der Schwarzen Galaxis, vermutlich in der Nähe des Rghul-Reviers. Kannte Duuhl Larx diesen Dimensionsfahrstuhl? Und wenn ja, warum hatte er uns dann darauf ab­gesetzt? Möglich war auch, daß Duuhl Larx sich unserer unfreiwilligen Hilfe bedienen wollte, um sich in den Besitz des Fahrstuhls zu setzen.

»Denkbar ist viel«, sagte Razamon, als habe er meine Gedanken lesen können.

»Wo können wir mehr erfahren?« fragte ich Peinchen. »Wir suchen alles nur denkba­re Wissen. Bücher, Aufzeichnungen, weise Leute, die berichten können, was geschehen

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ist und wer es getan hat.« »Da seid ihr hier falsch«, kicherte Pein­

chen. »In Tirn Weise – ein seltsamer Gedan­ke. Wenn ihr euch mit einem weisen Mann unterhalten wollt, dann müßt ihr euch süd­östlich halten.«

»Was werden wir dort finden?« fragte ich. Peinchen schien durch mich hindurchzu­

blicken. Sie begann in einer unbekannten Sprache

zu murmeln, fast zu singen. Ein seltsames, erschreckendes Lied.

»Viel werdet ihr sehen«, sagte sie dann verständlicher. »Es gibt nicht sehr viele, die es geschafft haben, nicht seit Tirn … aber das ist Vergangenheit.«

»Was ist mit Tirn geschehen?« fragte ich. »Darüber spricht man nicht«, wies sie

mich zurecht. »Geht nach Südosten, nach Turgan. Dort werdet ihr Antwort finden – wenn ihr ankommen solltet.«

»Sehr verheißungsvoll«, knurrte Raza­mon.

Ich wurde nicht schlau aus Peinchen; die ganze Szenerie hatte etwas Gespenstisches, Unwirkliches. Das seltsame Gebaren der Frau kam zu der absonderlichen Einrichtung und den Gegebenheiten draußen. Wir saßen in dieser Hexenhütte, tranken Suppe – die inzwischen vorzüglich zu schmecken be­gann – und unterhielten uns auf höchst be­fremdliche Art und Weise, indem wir anein­ander vorbeiredeten. Und draußen lauerte in den Ruinen der Stadt Tirn der Tod in tau­sendfältiger Verkleidung. Wir konnten in der Ferne Heulen hören, dazwischen langge­zogene, klagende Rufe.

»Mach den Platz am Feuer frei«, sagte Peinchen und stieß mich zur Seite. Sie fisch­te aus dem Gerümpel einen zweiten Kessel, den sie über dem Feuer aufhängte. Fast au­genblicklich verbreitete sich ein seltsamer Geruch in Peinchens Behausung – er erin­nerte an Menthol, war aber wesentlich schärfer.

»Eine Handvoll von diesen Kräutern«, murmelte Peinchen. »Und dann von diesem Sud …«

Vor ein paar Jahrhunderten hätte man die Frau auf der Erde öffentlich verbrannt, und während ich ihr zusah bei ihren Hantierun­gen, konnte ich sehr gut die Angst der dama­ligen Menschen vor solch geheimnisvollem Tun verstehen.

Die Alte ging die Liste ihrer Kräuter und Mixturen durch. Ich verstand davon kein Wort, die meisten Pflanzen waren mir schon im Originalzustand unbekannt, in ihrer ge­trockneten Form erkannte ich sie überhaupt nicht wieder.

Ich bemerkte allerdings, daß Peinchen sehr zielsicher arbeitete. Sie schien sehr ge­nau zu wissen, was sie wollte.

Und auf seltsame Art begann ich Pein­chen zu trauen. Die Alte war eine Hexe wie aus dem Bilderbuch, aber ich hatte Vertrau­en zu ihr.

Narr, der ich war. Hatte die Alte etwas in die Suppe gemixt, eine Droge, die meinen Verstand einschläfern sollte, meine Wach­samkeit unterdrückte? Wer konnte schon wissen, was Peinchen wirklich wollte. Ar­beitete sie vielleicht mit den Geschöpfen des Grauens zusammen, die nächtens die Stra­ßen von Tirn bevölkerten?

Sie hat dir keine Droge verabreicht, mel­dete der Logiksektor trocken und dämpfte meine plötzlich aufkeimende Besorgnis.

Mit einem Spatel rührte Peinchen in ih­rem Sudkessel. Der Geruch nach starker Arznei wurde immer stärker.

»Mit dem Zeug kann man wahrscheinlich Tote zum Leben erwecken«, murmelte Raz­amon beeindruckt.

Peinchen arbeitete ungerührt weiter. Sie gab geheimnisvoll schillernde Flüssigkeiten in den Kessel, rührte um und sang dazu in ihrer unverständlichen Sprache. Es hörte sich an wie eine magische Beschwörung – und vielleicht war es das auch.

Endlich war die Salbe fertig, ein gelbli­ches Gemisch aus Fett, Kräutern und Pflan­zenessenzen. Der Geruch allein war umwer­fend.

»Du kannst mir helfen«, sagte Peinchen. »Muß ich denn alles allein machen?«

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Mit vereinten Kräften machten wir uns daran, die warme Salbe auf dem Körper un­seres Freundes zu verteilen. Langsam und gründlich rieben wir Grizzard ein, von Kopf bis Fuß. Sogar die Haare bekamen eine Por­tion von der Salbe ab.

»Das genügt«, sagte Peinchen schließlich. »Er wird vielleicht schon bald gesund sein.«

»Hoffentlich«, sagte ich und versuchte meine salbenverschmierten Hände an einem Fetzen abzuwischen, den ich gefunden hatte. Peinchen sah das.

»Zu spät, Söhnchen«, kicherte sie. »Die Salbe ist längst in deinen Körper eingedrun­gen. Du wirst bald merken, wie sie wirkt.«

»Razamon«, sagte ich. »Sollte mir oder Grizzard etwas zustoßen …«

»Mit Vergnügen«, sagte Razamon knur­rend und drehte der alten Frau symbolisch den Hals um.

Peinchen bedachte Razamon mit einem verweisenden Blick.

»Redet nicht«, sagte sie energisch. »Helft mir lieber. Wir müssen den Kranken zu­decken.«

Irgendwie wurde mir anders, ganz anders. Die Bilder vor meinen Augen waren plötz­lich seltsam unscharf. Und der Stoff, den ich aufhob, um Grizzard damit zu bedecken, fühlte sich seltsam flauschig an, ganz weich und warm, und ich hätte mich am liebsten in eine riesige Rolle dieses Stoffes eingerollt.

Grizzards Haut hatte eine krebsrote Farbe angenommen, und sein Gesicht sah lustig blau aus, als wir ihn zudeckten.

»Hexe!« schrie Razamon. »Was hast du getan.«

»Schweig!« herrschte Peinchen ihn an. »Setz dich hin und warte ab.«

»Tu, was sie sagt«, befahl ich Razamon, jedenfalls dem linken von den beiden Raza­mons, die mir gegenübersaßen. Dann split­terte das Bild völlig auf.

Bunte Pfeile kamen aus dem Nirgendwo, trafen meinen Körper und streichelten ihn. Eine Stimmung tiefen inneren Friedens überkam mich. Ich streckte mich auf safti­gem Gras aus und sah hinauf in den Him-

Peter Terrid

mel, der blau und strahlend auf mich herab­schien. Goldene Punkte bewegten sich auf diesem Hintergrund, tanzten und umschwirr­ten einander und bildeten ein skurriles Bal­lett.

Und dann, einen Herzschlag später, wogte das Feuer in die Höhe, schoß hinauf zum Himmel, durchsetzte das Grün, ließ es ver­schwinden. Aus dem Idyll war ein Zerrbild des Grauens geworden, und ich wußte, dies alles geschah in mir, spiegelte die Seiten wi­der, die in mir verborgen waren. Da war Idyll und Schrecken, da war Sanftmut, aber auch Grausamkeit.

Ich wußte, daß ich – wie jeder Mensch – von jeder nur denkbaren Geisteshaltung et­was abbekommen hatte, und das schloß die üblen Eigenschaften ein. Jeder Mensch war irgendwo ein bißchen grausam, jeder Schur­ke irgendwo friedfertig. Es war dies bei je-dem normalen Menschen zu finden, und wer gelernt hatte, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, der wußte auch, daß es keinen voll­kommen guten Menschen geben konnte, so wenig wie einen vollkommen schlechten Menschen.

Ich hörte gellendes Schreien, und ich be­griff: das war Grizzard, der diese Tortur in noch stärkerem Maß ertragen mußte.

Die Droge der Heilerin zerrte den Charak­ter auseinander, holte geheime Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche ans Tageslicht, verzerrte und vergröberte sie.

Für Grizzard mußte dieser Vorgang be­sonders grauenvoll sein. Er lebte seit Tagen bereits mit diesem Gefühl.

Ich verlor die Kontrolle über meinen Kör­per.

Mein Ich löste sich von meinem Leib, stieg hinauf in die Höhe des blutroten Him­mels, über dem das Feuer waberte. Ich woll­te hinein in dieses Feuer, in die Wärme, die es symbolisierte, aber etwas hielt mich zu­rück.

Ich drehte mich um und sah unter mir das Meer, die blaue Kälte des Ozeans, durch­setzt von Eisbergen, die langsam über das Wasser drifteten. Unwillkürlich versuchte

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ich in die Höhe zu steigen, aber es zog mich immer tiefer hinab, herunter auf das Wasser, dessen Kälte mir entgegenwehte. Klar wie Kristall war das Wasser, man sah jede Ein­zelheit, man sah die Struktur der Eisberge, man sah den Gischt auf den Wellen tanzen.

Dazu erklang Musik, hohe, schleifende Töne, wie von einer nicht gestimmten Glas­harmonika stammend. Der schneidende Klang fraß sich ins Hirn und schuf dort Schmerz.

Und ich wußte über mir die Wärme, den Wohlklang, aber meine Reise ging immer tiefer hinab.

Genug jetzt, sagte eine Donnerstimme. Langsam kam ich wieder zu mir. Ich be­

griff, daß ich nur eine winzige Ahnung von der halluzinogenen Wirkung der Droge ver­spürt hatte, die gröbsten Auswirkungen hatte der Extrasinn abgefangen.

»Was ist das für ein Zeug?« fragte ich Peinchen, als ich wieder leidlich bei Sinnen war.

Peinchen starrte mich entgeistert an. »Wieso kannst du normal sprechen?«

fragte sie erregt. »Wieso wirkt das Mittel bei dir nicht?«

Ich winkte ab. Grizzard bäumte sich auf seinem Lager

auf. Er hatte buchstäblich Schaum vor dem

Mund, sein ganzer Körper war verkrampft und verzogen, die Muskeln starr. Seine Au­gen drohten aus den Höhlen zu treten und waren blutunterlaufen.

Ich drängte die Gefühle zurück, die in mir aufsteigen wollten. Ich hatte von diesem Teufelszeug lediglich etwas an den Händen abbekommen; Grizzard aber war am ganzen Körper damit eingerieben worden.

»Du wirst ihn damit töten«, rief ich. »Er wird leben«, sagte Peinchen. »Setz

dich hin, Atlan, und sieh zu. Dein Freund leidet jetzt, aber er wird morgen erwachen, und dann wird er nicht mehr leiden.«

»Wenn er nicht völlig den Verstand ver­liert«, sagte ich. Wieder kam eine Welle aus dem Innern hochgeschwappt, und wäre der

Extrasinn nicht gewesen, wäre ich von die­ser Welle von Empfindungen hinweggeris­sen worden. Die Droge war teuflisch stark.

»Er ist jetzt nicht mehr allein«, sagte Peinchen. »Das Gute in ihm streitet mit dem Schlechten, die Tapferkeit trifft die Feigheit. Er wird jeder Seite seines Wesens begegnen müssen. Und dann werden sie alle zusam­men den Körper wieder übernehmen.«

Ich konnte mir das nur schwer vorstellen, aber es war zu spät, um etwas zu unterneh­men. Längst war Grizzards Körper von dem Gift verseucht, und die einzige Person, die eventuell ein Gegenmittel gewußt hätte, war Peinchen.

Ohne sich um mich zu kümmern, nahm Peinchen einen feuchten Lappen auf und wischte damit über Grizzards Stirn. Sie mur­melte leise Worte in einer fremden Sprache.

Ich lehnte mich zurück. Es erforderte un­geheure Kraft, sich gegen die Wirkung der Droge aufzulehnen.

»Leg dich hin und schlaf«, sagte Raza­mon. »Ich werde wachen und auf euch beide aufpassen.«

Ich nickte schwach, dann streckte ich mich auf dem Boden aus. Einen Herzschlag später war ich eingeschlafen, hinübergeglit­ten in eine atemberaubende, bizarre Traum­welt.

*

Als ich erwachte, hockte Razamon neben mir, und ich brauchte nur in sein Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß alles in Ordnung war.

»Es geht ihm gut«, sagte Razamon als er­stes.

Ich richtete mich auf. Grizzard lag auf dem Boden. Das Gesicht hatte eine normale Farbe, und seine Gesichtszüge verrieten Ru­he und Frieden. Um seine Lippen schien ein Lächeln zu schweben.

In der Nähe hockte Peinchen auf dem Bo­den und sah mich triumphierend an.

»Was habe ich gesagt«, murmelte sie. »Peinchen kann alles heilen, wirklich alles.«

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Ich stand auf und ging zu Grizzard hinüber. Sein Puls schlug kräftig und regelmäßig, al­lein das war schon eine gute Nachricht.

»Er hat viel Flüssigkeit verloren«, sagte Peinchen. »Er wird viel trinken müssen in den nächsten Stunden.«

In diesem Augenblick verspürte auch ich einen quälenden Durst. Ich ging nach drau­ßen und holte Wasser.

Von den gespenstischen Bewohnern Tirns war nichts zu sehen. Die lichtscheuen Ge­stalten hatten sich in das Dunkel der Keller zurückgezogen.

Als ich meinen Durst gestillt hatte, fühlte ich mich wieder fit, wesentlich stärker als am vorangegangenen Tag. Ob das an der Droge lag oder einfach daran, daß ich lange geschlafen hatte, ließ sich nicht feststellen.

Ich kehrte in Peinchens Behausung zu­rück. Grizzard war erwacht und lächelte schwach.

»Wie geht es?« erkundigte ich mich und gab ihm einen Napf voll Wasser. Er trank langsam und bedächtig.

»Besser«, sagte Grizzard dann. »Ich kann nicht sagen wie, aber es geht mir besser.«

»Er wird langsam ganz und gar gesund werden«, sagte Peinchen, sichtlich stolz auf ihr Werk. »Er wird niemals wieder so leiden wie in der letzten Zeit.«

Dieser Erfolg war wirklich beein­druckend. Die alte Hexe verstand ihr Hand­werk vortrefflich. Ich hätte zu gerne gewußt, wie sich die Mediziner im USO-Center Ta­hun dazu geäußert hätten.

Peter Terrid

»Bist du reisefertig?« fragte ich Grizzard. Er überlegte nicht lange. »Wenn wir nicht rasen, werde ich mithal­

ten können«, sagte er. »Ich glaube, daß ich bald wieder bei Kräften sein werde. Wo ist unsere Ausrüstung?«

»Zerstört«, sagte Razamon. »Wir haben unsere Hände und unseren Verstand, mehr nicht.«

Grizzard blickte an sich herunter. Auch unsere Kleidung war stark reparaturbedürf­tig. Wir sahen wieder so aus, wie wir am Fuß der Sirva-Gipfel ausgesehen hatten, be­vor wir auf die Zukahartos gestoßen waren, arm, mittellos, abgerissen.

»Keine gute Ausgangsposition«, befand Grizzard. »Wohin geht die Reise?«

»Nach Südosten, nach Turgan«, sagte ich. Wir verabschiedeten uns von Peinchen.

Ich hätte der alten Frau gerne irgend etwas als Belohnung dagelassen, aber wir hatten nichts, war wir verschenken konnten. Wir mußten es dabei bewenden lassen, uns auf­richtig und ehrlich bei ihr zu bedanken. Vielleicht fand sich später eine Möglichkeit, Peinchen zu helfen.

Dann machten wir uns auf den Weg. Der Marsch durch Dorkh ging weiter.

Nach Südosten. Nach Turgan. Wem oder was entgegen?

E N D E

Weiter geht es in Atlan Band 448 von König von Atlantis mit: Die Todeswüste von H. G. Ewers