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76 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 193. 1930 Die Kristallisationsgeschwindigkeit und die Kernzahl des Glycerins in Abhangigkeit von der Temgeratur Von G. TAMMANN und E. JENCKEL "It 3 Figureii im TexC Bekanntlich kann man aus den spezifischen Warmen eines Kristalls und seiner unterliuldten Schmelze ihre Entropien q ableiten. In Fig. 1 bezieht sich die q3-Kurve auf den Kristall und die q,-Kurve auf die unterkuhlte Schmelze. TVenn beim absoluten Nullpunkt der Tem- peratur die beiden Kurven voni gleichen Entropiewert ausgehen, so mu13 ihre Diffe- renz beim Schmelzpunkt T, gleich sein der Schmelzwarme dividiert durch die Schmelz- teniperatur: Rl TI. Dasfindet aber bei den bisher hin- reichend eingehend unter- sucbten Stoffen in keinem Fall statt. - - ist groI3er als q2 - q3, wie in Fig. 1 ; dementsprechend ist, wenn die Entropie- isobare des Kristalls festliegt, die der unterkuhlten Flussigkeit urn e c = ad parallel zur q-Achse zu verschieben. Nur beim Gly- cerin schien es, daB hier die umgekehrte Beziehung gi1t.l) Bei der Berechnung der q- Werte durch graphische Integration mar aber ein Fehler unterlaufen, bestehend in doppelter ZBhlung der q2-Flache des Glases, worauf Herr F. SIMON uns aufmerksam machte. Es liatte sich fruher q2 - q3 beim Schmelzpunkt zu 0,316 call g ergeben, wahrend nach der Kontrollrechnung fur diesen Wert 0,107 callg erhalten wurde und Herr F. SIMON den W-ert von 0,114 cal/g aus seinen Bestimmungen der spezifischen iVBrme und I 1 Iz TI Fig. 1 1) G. Taarmar;~, Ann. d. Phys. 5 (1930), 107.

Die Kristallisationsgeschwindigkeit und die Kernzahl des Glycerins in Abhängigkeit von der Temperatur

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76 Zeitschrift fur anorganische und allgemeine Chemie. Band 193. 1930

Die Kristallisationsgeschwindigkeit und die Kernzahl des Glycerins in Abhangigkeit

von der Temgeratur Von G. TAMMANN und E. JENCKEL

"It 3 Figureii im TexC

Bekanntlich kann man aus den spezifischen Warmen eines Kristalls und seiner unterliuldten Schmelze ihre Entropien q ableiten. In Fig. 1 bezieht sich die q3-Kurve auf den Kristall und die q,-Kurve auf die unterkuhlte Schmelze. TVenn beim absoluten Nullpunkt der Tem-

peratur die beiden Kurven voni gleichen Entropiewert ausgehen, so mu13 ihre Diffe- renz beim Schmelzpunkt T , gleich sein der Schmelzwarme dividiert durch die Schmelz- teniperatur: Rl TI. Dasfindet aber bei den bisher hin- reichend eingehend unter- sucbten Stoffen in keinem

Fall statt. - - ist groI3er als

q2 - q3, wie in Fig. 1 ; dementsprechend ist, wenn die Entropie- isobare des Kristalls festliegt, die der unterkuhlten Flussigkeit urn e c = a d parallel zur q-Achse zu verschieben. Nur beim Gly- cerin schien es, daB hier die umgekehrte Beziehung gi1t.l) Bei der Berechnung der q- Werte durch graphische Integration mar aber ein Fehler unterlaufen, bestehend in doppelter ZBhlung der q2-Flache des Glases, worauf Herr F. SIMON uns aufmerksam machte. Es liatte sich fruher q2 - q3 beim Schmelzpunkt zu 0,316 call g ergeben, wahrend nach der Kontrollrechnung fur diesen Wert 0,107 callg erhalten wurde und Herr F. SIMON den W-ert von 0,114 cal/g aus seinen Bestimmungen der spezifischen iVBrme und

I 1

Iz TI

Fig. 1

1) G. Taarmar;~, Ann. d. Phys. 5 (1930), 107.

G. Tammsnn u. E. JenckeI. Kristallisationsgeschwindigkeit usm. 77

a m denen von GIBSON und GIANQUE 0,103 cal/g ab1eitete.l) Der

Wert fur - betriigt 0,163 cal/g. Infolgedessen ist auch beim Schmelz- n punkt des Glycerins -- grol3er als 11, - q3.

R Tl

R Tl Wenn auch fur stabile Kristallformen die Beziehung - grol3er

als q2 - q3 allgemein gelten sollte, so ware es doch moglich, dal3 fur instabile Formen die umgekehrte Beziehung gilt und da13 dann bei instabilen Formen auch ein zweiter Schmelzpunkt T', auftritt, bei dem die Kristalle mit der hochviskosen Flussigkeit oder dem GIase im Gleichgewicht sind. Wenn die Entropieisobare einer instabilen Form f g parallel der Entropieisobaren der stabilen Form ab verlauft (die spezifischen Warmen also einander gleich sind) und die Schmelz- temperaturen der stabilen und instabilen Form sich nicht merklich

unterscheiden, so ist e g gleich - der instabilen Form, daher schneiden

sich die Entropieisobaren der unterkuhlten Schmelze e d und des instabilen Kristalls f g im Punkte k , und bei der Temperatur T',, bei der die Flaehenstucke e g ic und k h i einander gleich werden, liegt der zweite Schmelzpunkt T', der instabilen Form. Riickt bei unver- anderter Lage der Entropieisobaren der Schmelzpunkt der in- stabilen Form T', zu tieferen Temperaturen, so ruckt der zweite Schmelzpunkt T', zu hoheren Temperaturen. Hierbei mu13 aber auch die Entropieisobare der instabilen Form um das Stuck g rn nach unten verschoben werden, wodurch die Temperatur des zweiten Schmelz- punktes T', zu tieferen Temperaturen verschoben wird.

Die spezifischen Warmen instabiler Formen in Abhangigkeit von der Temperatur sind bisher nicht bestimmt worden, und daher isl auch die Lage ihrer Entropieisobaren unbekannt. Bekannt sind nur die Schmelztemperaturen und Schmelzwarmen einer Reihe von in-

stabilen und stabilen Formen, aus denen sich die Werte - - -,

zu 0,005 bis 0,05 ableiten,), wahrend die Differensen --- - (q2 - q3)

fur funf Stoffe zwischen 0,007 und 0,08 schwanlren.3) Wenn die Entro- pieisobaren der instabilen und der stabilen Kristallform einen gro13en Abstand voneinander haben, so besteht sehr wohl die Moglichkeit des Auftretens eines zweiten Schmelzpunktes fur eine instabile Form.

Tl

R 91

R R Tl TI

R Tl

1) F. SXQX u. 3'. LANGE, Z. Physik 35 (1926), 227. 2 , A. W. R. MULLEB, Z. phys. Chem. 86 (1914), 234. 3, G. Taniiwaux, 1. c.

T $ Zeitschrift fur anorganische uiid allgemeine Chemie. Band 193. 1930

Beim absoluten Nullpunkt ist erfahrungsgemaI3 die Entropie der Stoffe im glasartigen Zustand grol3er als die einer stabilen Kristallart, was darauf zuriickgefiihrt werden kann, dal3 bei regelloser Anordnung der Molekule die Stabilitat des Molekulhaufens kleiner sein wird, ah bei einer stabilen Anordnung in einem Gitter. Es wfireaber denkbar, daB

es aueh molekulare Anord- nungen in anderen Gitterii gibt, welche instabiler sind als die regellose.

Es sohien unsnichtohne Interesse zu sein, den Weg anzugeben, auf dem man be- sonders fur instabileFormen den xweiten Schmelzpunkt

Fig. 2 zeigt die Bb- hangiglreit der Kristalji-

sationsgeschwindigkeit (K. G.) von der Temperatur fur zwei von einander unabhangige Versuchsreihen an demselben Glycerinpraparat .

Zwischen -3 und -40 liegt das Maximum der KG., bei -45O mi113 man sclion 8,3 Stunden warten, damit die Grenze zwischen Kri- stall und Schmelze urn 1 mm vor- schreitet. Bei dieser Temperatur ist das Glycerin nocli eine hoch- viskose Flussigkeit , denn der Wendepnnkt auf der Kurve der spezifischen Warmen nach der Temperatur liegt bei -890 und

- 60° - 700 bei dieser Temperatur sollte auch das Glycerin sprode werden, doch wurden schon bei -75O in ein-

zelnen Fallen spontane Sprunge im Glycerin, das sich in einer Glas- rohre befand, beobachtet.

Die Kernzahl des Glycerins in Abhangigkeit von der Temperatur ist in Fig. 3 wiedergegeben. Die Rijhrchen, welche mit demselben Praparat gefullt waren, wurden 20 MinuOen auf die in Fig. 3 ange- gebenen Temperaturen abgekuhlt und darauf zur Entwicklung der Kristallisationszentren auf Oo erwiirmt. Bei dieser Temperatur konnte

ZC* 70' O0 -fO0 -ZOO0 -30° -400 -54O best'immaii konnte.

Fig. 2

300

200

roo

-'0° Temp. - 40a

Fig. 3

G. Tammann u. E. Jenckel. Kristallisationsgeschwindigkeit USW. 7'3

nach etwa 10 Minuten die Zahlung der entstandenen Spharolite vor- genommen werden. Die Anzahl der Kerne pro Kubikzentimeter ist in den drei Rohrchen recht verschieden. Diese Verschiedenheit kann durch einen verschiedenen Wassergehalt bedingt sein, da beim Fullen derselben verschieden grol3e Mengen Wasser vom Glycerin angezogen werden.

Das Glycerin war zweimal im Vakuum destilliert, wobei je ein Viertel im Vor- und Nachlauf blieben. Die mittlere Fraktion ging zwischen 165 und 170O bei 9 mm Hg-Druck uber. Der Schmelzpunkt war 19,5O, wahrend der hochste bisher gefundene Schrnelzpunkt zu 20° angegeben wird. Das zur Bestimmung der Kernsahl verwandte Glycerin hatte etwa 8 Tage unter trockenem PetrolMher gestanden. Wenn das Praparat nicht unter Petrolather gestanden hatte, so wurden auch nach stundenlanger Unterkuhlung auf -63O lieine Kerne in demselben gefunden.

Das Maximum der Kernzahl ist sehr ausgepragt und liegt zwischen -60 und -62O und zwar hangt die Lage des Maximums, wie auch friiherl) gefunden u'ar, von der absoluten Zahl der Kerne nicht ab-

Zur Bestimmung der Temperatur des zweiten Schmelzpunktes ware in analoger Weise eu verfahren, mie bei Kristallen, die sich iiberhitzen lassen.2)

Wenn man die Kristalle des Glycerins in moglichst fein verteiltem Zustande, also rnit moglichst grol3er Obsrfliiche, in einem Dilato- metergefaB erzeugt, so kann man durch die Volumenverkleinerung der Dilatometerfullung die K. G. zu noch tieferen Temperaturen ver- folgen, als durch Messung der Iinearen Verschiebungsgeschwindigheit der Grenze zwischen den Kristallen und der Schmelze. Denn es gilt die Proportion

F . lTI R. G. TI

I<. G. tp, F . I , =---

wo F die Oberflache der Glycerinkristalle und 2 die Skalenteile am Dilatometer bezeichnen, um welche der Meniskus im Dilatometerrohr in gleichen Zeiten sinkt.

Bei -50,2O wurde Z T 1 zu 17,7 Skalenteilen in 0,5 Stunden und bei -61,3O 2, zu weniger als 0,5 Skalenteilen in derselben Xeit ge- funden. Bei -50,2O ergibt sich durch Extrapolation die KG. z a

1) G. TAYMANN, Z. phys. Chem. 25 (1898), 453. 2) G. TAMMANN, Aggregatzustande S. 279.

$0 Zeitschrift fiir anorganische und allgemeine Chemie. Band 193. 1930

0,001 mrn pro Xinute, dementsprechend ist die KG. bei -61,30 kleiner als 0,000028 mm pro Minute und man muBte, um bei -61O einen Wert fiir die KG. mit dem Dilatometer zu finden, der aul3erhalb der Fehlergreneen liegt, wenigstens 5 Stunden die Temperatur bei -60° auf =0,l0 halten. Die bei dieser Temperatur unvermeidlichen Schwan- kungen konnen allerdings durch Messung der Meniskendifferenzen auf der Skala deq Dilatometers mit Kristallen und eines ihm gleichen ohne Kristalle zum Teil eliminiert werden. Immerhin steht man vor sehr grol3en Schwieriglieiten bei der Messung von sehr kleinen Werten der K. G. Diese honnten in gewissen Fallen durch Zusatz von Bei- mengungen behoben werden, da solche Zusatze den ersten Schmelz- pu1llit esniedrigen und den zweiten erhohen.

Gbttimgcm, P~Lysikalisch-Ghemisches Institut.

Bci der Redaktion eingegmgen am 8. August 1930.