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302 | Biol. Unserer Zeit | 35. Jahrgang 2005 | Nr. 5 DOI:10.1002/biuz.200410290 © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim W as wir mit unserer Nase wahrnehmen, ist eine unbegrenzte Vielfalt von Molekülen, die wir – weil wir sie riechen können – Duftstoffe nennen. Meist sind es kleine, flüchtige Moleküle, die mit der Atemluft die Nasen- höhle erreichen und dort ein olfaktorisches Signal auslö- sen. Allerdings ist unser Geruchsystem nicht darauf einge- stellt, individuelle Duftstoffe zu identifizieren, sondern dar- auf, mögliche Quellen von Duftstoffen auszumachen. So wird kaum jemand die Wahrnehmung von Amylacetat mit dem korrekten chemischen Namen dieses Duftstoffs be- schreiben. Wohl aber werden viele Menschen eine natür- liche Quelle dieser Substanz ausmachen: Bananen. Unsere Nase dient also nicht der chemischen Analyse, sondern der Identifizierung von Duftquellen in unserer Umgebung. Da riechende Gegenstände meist komplexe Mischungen un- terschiedlicher Duftstoffe verströmen, liegt dem entspre- chenden Sinneseindruck („Bananenduft“, „Kaffeeduft“) ein ebenso komplexer Wahrnehmungsvorgang zugrunde. Riechzellen in der Nase detektieren die einzelnen Duft- stoffe der Mischung, messen ihre individuelle Konzentra- tion in der Atemluft und führen diese Information dem Gehirn zur kognitiven Verarbeitung zu (Abbildung 1). Wie erkennen Riechzellen Duftstoffe? Wie erzeugen sie ein neuronales Signal? Wie werden einzelne Duftstoffe ausein- ander gehalten? Und nach welcher Strategie verfährt das Gehirn, um aus dem Riesenpuzzle einer komplexen Duft- stoffmischung ein eindeutig benennbares Geruchserlebnis abzuleiten? Die Riechforschung hat bei der Untersuchung dieser Fragen in den vergangenen Jahren wesentliche Fort- schritte erzielt, die uns erahnen lassen, was dem Wort „Rie- chen“ wirklich zugrunde liegt. Das Riechepithel In der Nasenhöhle wird die Atemluft durch ein System von Strömungskörpern dem Riech epithel zugeführt, in das Millionen von Riechzellen eingebettet sind (Abbildung 2). Die Empfindlichkeit für einen Duftstoff hängt auch von der Anzahl der Riechzellen ab. Deren Anzahl steigt mit der Fläche des Riechepithels. So kann ein Hund mit circa 100 cm 2 Riecheptihelfläche besser riechen als ein Mensch mit circa 10 cm 2 und rund zehn Millionen Riechzellen. Die Oberfläche des Riechepithels wird durch eine 5–30 µm dicke Mukusschicht bedeckt. Die Bowman’schen Drüsen sezernieren dieses visköse Sekret, das mehrere wichtige Funktionen beim Riechen übernimmt. Zum einen bewahrt der Mukus das Riechepithel vor Austrocknung. Zum anderen enthält er zum Schutz vor Infektionen sekre- torische Formen der Immunglobuline Typ A und M sowie bakteriostatische und bakterizide Proteine. Außerdem sind im Mukus Duftstoffbindeproteine gelöst, welche eine An- reicherung von Duftstoffmolekülen ermöglichen. Schließ- lich stellt die Mukuslösung die Ionen Na + , K + , Ca 2+ und Cl - bereit, die zur Erzeugung des Rezeptorstroms gebraucht werden. Das Riechepithel ist ein deutlich geschichtetes Ge- webe. Die Abgrenzung zur Nasenhöhle wird durch eine einzellige Schicht Stützzellen gewährleistet, die unter- einander durch Schlussleisten („tight junctions“) fest ver- bunden sind. Somit funktionieren die Stützzellen als eine Diffusionsbarriere zwischen dem Mukus, der das Gewebe bedeckt, und der Gewebsflüssigkeit. Unterhalb der Stütz- zellen liegen die Zellkörper der Riechzellen. Riechzellen sind primäre, bipolare chemosensorische Neurone mit ei- nem Axon, das in die paarig angelegten Riechkolben (Bul- bus olfactorius) projiziert, der ersten Verarbeitungsstation von Geruchssignalen im Gehirn. Die Dendriten der Riech- zellen enden an der Epitheloberfläche in einem „Knopf“, der seinerseits zehn bis 20 Cilien (10–50 µm lang) trägt. Knopf und Cilien ragen in das Lumen der Nasenhöhle und kommen dort mit Duftstoffen in Kontakt. Alle Proteine für die Detektion von Duftstoffen und für die intrazelluläre Sig- nalverarbeitung (die chemoelektrische Transduktion [4]) befinden sich in diesen Knöpfen und Cilien. Die unterste Schicht des Riechepithels bilden die glo- bulären Basalzellen. Dies sind neuronale Stammzellen, die Der Geruchsinn liefert uns eine große Vielfalt von Informatio- nen über unsere Umgebung und beeinflusst unsere Gefühls- welt und unser Sozialverhalten tiefgreifend. Eine ungeheure Anzahl von Duftstoffen stellt für diese Sinnesmodalität eine ähnlich komplexe Herausforderung dar wie die Vielfalt mög- licher Antigene für das Immunsystem. In der Neurophysiologie versucht man, das Riechsystem auf zellulärer und molekularer Ebene zu erforschen. Viele grundlegende Erkenntnisse haben in den vergangenen Jahren Einblicke in die einzigartige Arbeitsweise des Riechsystems ermöglicht und ein Konzept für die ersten beiden Stufen der Riechwahrnehmung erbracht: die Detektion von Duftstoffen und die neuronale Codierung der Geruchsinformation. Die molekularen Grundlagen der Geruchswahrnehmung Wie wir riechen, was wir riechen C LEMENS P RINZ ZU WALDECK | S TEPHAN F RINGS Die mit einem grünen Pfeil markierten Begriffe werden im Glossar auf Seite 309 erklärt.

Die molekularen Grundlagen der Geruchswahrnehmung Wie wir ... · 304 |Biol. Unserer Zeit |35. Jahrgang 2005 |Nr. 5 onspotenziale ist abhängig von der Konzentration des Duft-stoffs

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302 | Biol. Unserer Zeit | 35. Jahrgang 2005 |Nr. 5 DOI:10.1002/biuz.200410290 © 2005 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

W as wir mit unserer Nase wahrnehmen, ist eine unbegrenzte Vielfalt von Molekülen, die wir – weil

wir sie riechen können – Duftstoffe nennen. Meist sind eskleine, flüchtige Moleküle, die mit der Atemluft die Nasen-höhle erreichen und dort ein olfaktorisches Signal auslö-sen. Allerdings ist unser Geruchsystem nicht darauf einge-stellt, individuelle Duftstoffe zu identifizieren, sondern dar-auf, mögliche Quellen von Duftstoffen auszumachen. Sowird kaum jemand die Wahrnehmung von Amylacetat mitdem korrekten chemischen Namen dieses Duftstoffs be-schreiben. Wohl aber werden viele Menschen eine natür-liche Quelle dieser Substanz ausmachen: Bananen. UnsereNase dient also nicht der chemischen Analyse, sondern derIdentifizierung von Duftquellen in unserer Umgebung. Dariechende Gegenstände meist komplexe Mischungen un-terschiedlicher Duftstoffe verströmen, liegt dem entspre-chenden Sinneseindruck („Bananenduft“, „Kaffeeduft“) einebenso komplexer Wahrnehmungsvorgang zugrunde.

Riechzellen in der Nase detektieren die einzelnen Duft-stoffe der Mischung, messen ihre individuelle Konzentra-tion in der Atemluft und führen diese Information dem Gehirn zur kognitiven Verarbeitung zu (Abbildung 1). Wieerkennen Riechzellen Duftstoffe? Wie erzeugen sie ein neuronales Signal? Wie werden einzelne Duftstoffe ausein-ander gehalten? Und nach welcher Strategie verfährt dasGehirn, um aus dem Riesenpuzzle einer komplexen Duft-stoffmischung ein eindeutig benennbares Geruchserlebnisabzuleiten? Die Riechforschung hat bei der Untersuchung

dieser Fragen in den vergangenen Jahren wesentliche Fort-schritte erzielt, die uns erahnen lassen, was dem Wort „Rie-chen“ wirklich zugrunde liegt.

Das RiechepithelIn der Nasenhöhle wird die Atemluft durch ein System vonStrömungskörpern dem Riech�epithel zugeführt, in dasMillionen von Riechzellen eingebettet sind (Abbildung 2).Die Empfindlichkeit für einen Duftstoff hängt auch von derAnzahl der Riechzellen ab. Deren Anzahl steigt mit derFläche des Riechepithels. So kann ein Hund mit circa 100cm2 Riecheptihelfläche besser riechen als ein Mensch mitcirca 10 cm2 und rund zehn Millionen Riechzellen.

Die Oberfläche des Riechepithels wird durch eine 5–30 µm dicke Mukusschicht bedeckt. Die Bowman’schenDrüsen sezernieren dieses visköse Sekret, das mehrerewichtige Funktionen beim Riechen übernimmt. Zum einenbewahrt der Mukus das Riechepithel vor Austrocknung.Zum anderen enthält er zum Schutz vor Infektionen sekre-torische Formen der Immunglobuline Typ A und M sowiebakteriostatische und bakterizide Proteine. Außerdem sindim Mukus Duftstoffbindeproteine gelöst, welche eine An-reicherung von Duftstoffmolekülen ermöglichen. Schließ-lich stellt die Mukuslösung die Ionen Na+, K+, Ca2+ und Cl-

bereit, die zur Erzeugung des � Rezeptorstroms gebrauchtwerden.

Das Riechepithel ist ein deutlich geschichtetes Ge-webe. Die Abgrenzung zur Nasenhöhle wird durch eineeinzellige Schicht Stützzellen gewährleistet, die unter-einander durch Schlussleisten („tight junctions“) fest ver-bunden sind. Somit funktionieren die Stützzellen als eineDiffusionsbarriere zwischen dem Mukus, der das Gewebebedeckt, und der Gewebsflüssigkeit. Unterhalb der Stütz-zellen liegen die Zellkörper der Riechzellen. Riechzellensind primäre, bipolare chemosensorische Neurone mit ei-nem Axon, das in die paarig angelegten Riechkolben (Bul-bus olfactorius) projiziert, der ersten Verarbeitungsstationvon Geruchssignalen im Gehirn. Die Dendriten der Riech-zellen enden an der Epitheloberfläche in einem „Knopf“,der seinerseits zehn bis 20 � Cilien (10–50 µm lang) trägt.Knopf und Cilien ragen in das Lumen der Nasenhöhle undkommen dort mit Duftstoffen in Kontakt. Alle Proteine fürdie Detektion von Duftstoffen und für die intrazelluläre Sig-nalverarbeitung (die chemoelektrische Transduktion [4])befinden sich in diesen Knöpfen und Cilien.

Die unterste Schicht des Riechepithels bilden die glo-bulären Basalzellen. Dies sind neuronale Stammzellen, die

Der Geruchsinn liefert uns eine große Vielfalt von Informatio-nen über unsere Umgebung und beeinflusst unsere Gefühls-welt und unser Sozialverhalten tiefgreifend. Eine ungeheureAnzahl von Duftstoffen stellt für diese Sinnesmodalität eineähnlich komplexe Herausforderung dar wie die Vielfalt mög-licher Antigene für das Immunsystem. In der Neurophysiologieversucht man, das Riechsystem auf zellulärer und molekularerEbene zu erforschen. Viele grundlegende Erkenntnisse habenin den vergangenen Jahren Einblicke in die einzigartige Arbeitsweise des Riechsystems ermöglicht und ein Konzept fürdie ersten beiden Stufen der Riechwahrnehmung erbracht: die Detektion von Duftstoffen und die neuronale Codierungder Geruchsinformation.

Die molekularen Grundlagen der Geruchswahrnehmung

Wie wir riechen, was wir riechenCLEMENS PRINZ ZU WALDECK | STEPHAN FRINGS

Die mit einem grünen Pfeil markierten Begriffewerden im Glossarauf Seite 309 erklärt.

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zur Proliferation und Zellteilung fähig sind. Ihre Aufgabe istes, Riechzellen zu ersetzen, die nur eine Lebenserwartungvon vier bis sechs Wochen haben. Die reifenden und diffe-renzierenden Basalzellen wandern in die oberen Schichtendes Epithels und bilden schließlich chemosensorische Ci-lien an der Oberfläche. Somit herrscht im adulten Riech-epithel ein Gleichgewicht zwischen Zelltod und Zellpro-liferation und eine Population aus Riechzellen stellt zu je-dem Zeitpunkt eine Mischung aus Zellen unterschiedlicherReifestadien dar.

Die Regeneration, beziehungsweise die Neurogeneseder Riechzellen wirft zwei bis jetzt unbeantwortete Fragenauf. Wie wird entschieden, welches der etwa 1000 Riech-rezeptorgene eine nachwachsende Riechzelle exprimiert?

Und wie findet das Axon einer neu gebildeten Riechzelleihren Weg zu der richtigen Schaltstelle im Gehirn? Bevorwir diese noch weitgehend ungeklärten Fragen diskutieren,beschreiben wir zunächst, wie ausdifferenzierte Riechzel-len die chemische Information über einen Duftstoff in einelektrisches Signal umsetzen – die olfaktorische � Signal-transduktion.

Signaltransduktion in RiechzellenNachdem die Duftstoffe von Riechzellen erkannt wurden,antworten die Zellen erst mit einem � Rezeptorpotenzial,das die Riechzellen depolarisiert. Überschreitet die Depo-larisation einen gewissen Schwellenwert, wird eine Salvevon � Aktionspotenzialen ausgelöst. Die Frequenz der Akti-

A B B . 1 Ein erfreulicher Nachmittag! Sie nehmen einen Cappuccino im Garten und genießen Duft und Anblick dereben erblühten Rosen. In hundert Metern Entfernung, verbor-gen hinter Büschen und Blumen, wird jedoch ein Stinktier vonIhrem Hund geärgert und revanchiert sich mit einer Ladunggiftiger Stinkflüssigkeit. Der Wind steht günstig, nur geringeSpuren des Stinktierduftes gelangen bis zu Ihnen und mischensich unter den Rosen- und Kaffeeduft in Ihrer Nase. Riechzel-len im Riechepithel (rot) am Dach der Nasenhöhle werdendurch die komplexe Duftmischung stimuliert und geben dieGeruchsinformation an die Riechkolben des Gehirns (braun)

weiter. Dort wird die Information vorsortiert und an verschie-dene Verarbeitungszentren des Gehirns (violett) weitergelei-tet. Die Geruchsinformation wird blitzschnell sortiert, mit Er-innerungen abgeglichen und bekannten Geruchsquellen zuge-ordnet. Obwohl Ihre Nase nur wenig Stinktierduft abbekommen hat,stellt Ihr Gehirn den Kaffee- und Rosenduft in den Hinter-grund. Sie konzentrieren sich auf die unangenehme Duftnote,werden alarmiert und bereiten sich darauf vor, Ihren Platz beiden Rosen zügig zu verlassen. Illustration: Elisabeth Brinkmeier, aquarium illustration.

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onspotenziale ist abhängig von der Konzentration des Duft-stoffs. Je höher die Konzentration, desto höher die Fre-quenz.

Welcher Weg führt von der chemischen Stimulation derRiechzelle zu diesen elektrischen Signalen? EingeatmeteDuftstoffe lösen sich im Mukus und binden an Duftstoffre-zeptoren in den Cilien. Diese Duftstoffrezeptoren sind Pro-teine in der Cilienmembran, die von Duftstoffen aktiviertwerden und dabei intrazelluläre Signalverarbeitungspro-zesse anstoßen (siehe Kasten auf dieser Seite). Duftstoff-rezeptoren dienen einerseits zur Erkennung spezifischerDuftstoffe, andererseits zur Signalverstärkung. Verstärkungberuht darauf, dass ein einzelnes Rezeptormolekül mehrereSignalübertragungsproteine (G-Proteine) aktiviert, von de-nen jedes ein Zielenzym anschalten kann (Abbildung 3).Bei den Riechzellen ist dieses Zielenzym eine membran-ständige Adenylatcyclase (AC III). AC III synthetisiert den intrazellulären Botenstoff cAMP (zyklisches Adenosin-monophosphat) und damit ist das Signal im Zellinneren an-gekommen. Jetzt wird der Duftstimulus in ein elektrischesSignal umgewandelt. Zunächst bindet cAMP an so genannteCNG-Kanäle (CNG = cyclic nucleotide-gated, zyklisch-nuk-leotid-gesteuert). Diese � Ionenkanäle bestehen aus vierUntereinheiten (2 x CNGA2; 1 x CNGA4; 1 x CNGB1b) undwerden durch Bindung von cAMP geöffnet. Das führt dazu,dass die Kationen Ca2+ und Na+ aus dem Mukus in das Cili-enlumen einströmen und dadurch ein depolarisierendesRezeptorpotenzial erzeugen. Diese initiale Depolarisationwird dann etwa zehnfach verstärkt, weil das einströmendeCa2+ Chloridkanäle öffnet, die Cl--Ionen aus dem Zell-Lu-men in den Mukus leiten. Erst dieser Cl--Strom führt zurelektrischen Erregung der Riechzelle, zum Feuern von Ak-tionspotenzialen. Der Rezeptorstrom hat somit eine kleinekationische und eine große anionische Komponente.

Eine solche Zusammenarbeit von Kationen- und Chlo-ridkanälen ist ungewöhnlich für Sinneszellen, bei denender Sinnesreiz im Allgemeinen nur zum Öffnen oderSchließen von Kationenkanälen führt. Der physiologischeSinn dieser Sonderlösung hat sich uns noch nicht ganz er-schlossen. Vielleicht ist es eine Anpassung an die geometri-schen Verhältnisse in den Cilien. Die Cilien sind so dünn(0,1 – 0,2 µm Durchmesser), dass sie keine Mitochondrienbeherbergen können. Mitochondrien aber liefern den ATP-Nachschub, der für die Synthese von cAMP gebraucht wird.Es ist denkbar, dass die Signaltransduktion mit ATP sparsamumgeht und die notwendige Signalverstärkung durch dieAktivierung von Cl–-Kanälen erreicht.

Riechzellen reagieren meist nur kurz auf eine Stimula-tion mit Duftstoffen. Auch wenn die Duftstoffe kontinuier-lich angeboten werden, feuern die Zellen nur für wenigeSekunden (Abbildung 4), danach werden sie stumm – sieadaptieren. Die � Adaptation wird durch verschiedene in-hibierende Prozesse vermittelt, die den Rezeptorstrom ter-minieren. Kontrolliert werden diese Prozesse durch ebendasjenige Ca2+, das bei Öffnung der CNG-Kanäle in die Ci-lien gelangt. Es handelt sich also um eine Ca2+-vermittelte

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Bei dieser Darstellung des Riechepithels befindet sich dasLumen der Nasenhöhle oben. Das Riechepithel wird von ei-ner Schicht Epithelzellen („Stützzellen“) zur Nasenhöhle hinabgeschlossen. Die Riechzellen haben durch ihre chemosen-sorischen Cilien Kontakt zur Atemluft. Da Riechzellen nureine Lebenszeit von wenigen Wochen haben, werden siekontinuierlich aus Vorläuferzellen („Basalzellen“) nachge-bildet. Im Gewebe unterhalb des Epithels sammeln sich dieAxone der Riechzellen zu Faserbündeln. Hier findet manauch Blutgefäße und die sezernierenden Abschnitte von Bowman´schen Schleimdrüsen. Aus Anholt, 1987 [1].

D U F T S TO F F R E Z E P TO R E N |Der Durchbruch für die Erforschung der Riechsystems gelang mit der Entdeckung derDuftstoffrezeptoren im Jahr 1991 [2]. Linda Buck und Richard Axel wurden im vergange-nen Jahr für diese Entdeckung mit dem Nobelpreis für Medizin und Physiologie ausge-zeichnet. Linda Buck begeisterte sich für die Fähigkeit des Riechsystems, ähnlich dem Im-munsystem eine offenbar unbegrenzte Anzahl unbekannter Substanzen zu erkennen.Dafür – so postulierte sie – müssten die Riechzellen eine große Zahl unterschiedlicherDuftstoffrezeptoren exprimieren. Linda Buck spekulierte, dass diese Rezeptoren zu denG-Protein-gekoppelten Rezeptoren gehörten, die alle eine strukturelle Gemeinsamkeithaben: Sie liegen mit sieben transmembranen Regionen in der Plasmamembran von Zel-len. Ihre Suche nach solchen Proteinen in Riechzellen war erfolgreich: Sie fand mit Hilfeder PCR-Methode (Polymerase-Kettenreaktion) die vermutlich größte Genfamilie in un-serem Genom, die Duftstoffrezeptoren. Die Gene der Duftstoffrezeptoren bestehen nuraus Exons (codierender Bereich der DNA). Das Fehlen von Introns schließt die Möglichkeitdes alternativen Spleißens der RNA als Erklärung für die Vielfalt von Duftstoffrezeptorenaus. Tatsächlich gibt es bei Säugetieren etwa 1300 separate Gene für Riechrezeptoren.Bei uns Menschen sind davon nur rund 350 funktionsfähig geblieben [8]. Der Rest sindPseudogene, die durch Mutationen unbrauchbar wurden; ein Indiz dafür, dass nur eingeringer Selektionsdruck auf den Erhalt des menschlichen Riechsystems wirkt. Überra-schenderweise sind Duftstoffrezeptoren nicht nur auf das Riechsytem beschränkt, manfindet sie auch in Spermien [10]. Neue Arbeiten haben gezeigt, dass Spermien einen Re-zeptor für den Maiglöckchenduft Bourgeonal besitzen und ihre Schwimmgeschwindig-keit und Bewegungsrichtung an diesem Duftstoff ausrichten können. Hier deutet sichan, dass zwei wichtige biologische Phänomene, die Chemosensorik und die Chemotaxis,das gleiche molekulare Repertoire zu nutzen scheinen.

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Rückkopplungshemmung. Mehrere molekulare Mechanis-men dieser Rückkopplung sind mittlerweile entschlüsseltworden. Die CNG-Kanäle der Riechzellen haben kontinu-ierlich Calmodulin gebunden, ein Ca2+-Bindeprotein, dasden Kanälen als Ca2+-Sensor dient. Wenn Ca2+ durch dieKanäle einströmt, bindet es an das Calmodulin und bewirkteine Konformationsänderung. Diese wiederum hat zurFolge, dass die CNG-Kanäle schließen: Die Signalweiterlei-tung ist damit unterbrochen.

Calmodulin vermittelt auch andere adaptive Mechanis-men. Zum einen wird das Enzym Phosphodiesterase durchCa2+/Calmodulin aktiviert (Abbildung 3). Phosphodie-sterase spaltet cAMP und entfernt damit den Botenstoff derSignaltransduktion aus den Cilien. Des Weiteren wird dis-kutiert, ob AC III durch eine Ca2+/Calmodulin abhängigeKinase phosphoryliert und damit gehemmt wird. Dieswürde zusätzlich den Nachschub von cAMP unterbinden.

Auch die Duftstoffrezeptoren unterliegen einer Kon-trolle: Rezeptorkinasen können die aktivierten Duftstoffre-zeptoren phosphorylieren und damit abschalten. Es hatden Anschein, dass mehr molekulare Mechanismen für dasAbschalten des Rezeptorstroms als für seine Verstärkungeingesetzt werden. Dieser Umstand unterstreicht die be-sondere Bedeutung der Adaptation für Riechzellen. Riech-zellen sind nicht für Dauerstimulation ausgelegt, sondernfür kurze, repetitive Stimulationen, wie sie beim Schnüffelnauftreten.

Von der Nase ins GehirnDie Leistungen des Riechsystems kann man mit denen desImmunsystems vergleichen. Beide Systeme müssen einepraktisch unbegrenzte Vielfalt unterschiedlicher Substan-zen (Antigene beziehungsweise Duftstoffe) erkennen.

Beide bedienen sich einer ungeheuren Anzahl von Erken-nungsproteinen. Während im Immunsystem eine schier un-endliche Menge unterschiedlicher Immunglobuline durch

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Riechzellen sind bipolare Neurone, de-ren Dendrit an der Epitheloberflächeeinen Schopf sensorischer Cilien trägt.Hier ist eine isolierte Riechzelle ge-zeigt. Die schematische Darstellung illustriert, welche Prozesse ablaufen,wenn die Zelle einen Duftstoff detek-tiert. Die grünen Pfeile zeigen aktivie-rende, die roten adaptierende Pro-zesse (Beschreibung im Text). AC:Adenylatcyclase Typ III; AMP: Adeno-sinmonophosphat; cAMP: cyclischesAdenosinmonophosphat; [Ca2+]i: in-trazelluläre Ca2+-Konzentration; Golf:olfaktorisches G-Protein; PDE: Phos-phodiesterase; R: Duftstoffrezeptor.Die molekulare Struktur der Ca2+-akti-vierten Chloridkanäle (grünes Symbol)ist noch unbekannt. Riechzelle ausKleene und Gesteland, 1981 [5].

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Reaktion einer einzelnen Riechzelle auf anhaltende Stimu-lation mit dem Eukalyptus-Duftstoff Cineol. Während dieZelle auf 10 mikromolar Cineol nicht reagiert, feuert sie beihöheren Konzentrationen jeweils eine Salve von Aktionspo-tenzialen (senkrechte Striche). Die Dauer der Salven nimmtzwar bei zunehmender Duftstoffkonzentration zu, aberschon nach wenigen Sekunden adaptiert die Zelle. Verändertnach Reisert und Matthews, 2001 [9].

Cilien

Dendrit

Soma

Axon

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somatische Rekombination entsteht, werden Duftstoffre-zeptoren durch etwa 1000 – 1300 individuelle, intronloseGene codiert (siehe Kasten auf Seite 304). Aber im Unter-schied zum Immunsystem muss das Riechsystem seine In-formation einer kognitiven Analyse zuführen. Gerüchemüssen analysiert, mit Erinnerungen verglichen und mitEmotionen verknüpft werden. Und letztendlich müssenVerhaltensmuster mit Geruchsempfindungen abgestimmtwerden, ein manchmal lebenswichtiger Prozess, wie bei-spielsweise beim Ekel auslösenden Geruch von verdorbe-nem Fleisch. Welche Art von Information erreicht das Ge-hirn aus der Nase? In welcher Weise wird das Feuern vonelektrisch erregten Riechzellen im Gehirn interpretiert?

Mäuse haben circa zehn Millionen Riechzellen. Unter-sucht man die Expression eines bestimmten Duftstoffre-zeptors, findet man Riechzellen mit diesem Protein ver-streut und scheinbar ungeordnet innerhalb eines großenAreals des Riechepithels. Aufgrund der Verteilung der Duft-stoffrezeptoren kann man mehrere solche Areale mit einerjeweils spezifischen Subpopulation von Rezeptoren ausma-chen. Wenn man annimmt, dass jede Riechzelle nur ein ein-ziges Duftstoffrezeptorgen exprimiert, sollte man erwar-ten, dass sich insgesamt etwa 1000 Riechzellpopulationen(jede mit einem anderen Duftstoffrezeptor) mit jeweilsetwa 10.000 Zellen zu den zehn Millionen Riechzellen ei-

ner Maus aufsummieren. Histologische Experimente be-stätigen diese Größenordnungen und bilden die Grundlageder „Eine-Riechzelle-ein-Duftstoffrezeptor“-Hypothese [6].

Diese Hypothese wird weiter gestützt von der Beob-achtung, dass jeder Duftstoffrezeptor auch die „Adresse“für das Axon einer Riechzelle festzulegen scheint: AlleRiechzellen mit gleichem Duftstoffrezeptor schicken ihreAxone zu wenigen gemeinsamen Schaltstellen im Riech-kolben des Gehirns (Abbildung 5) [11]. In diesen Schalt-stellen (wegen ihrer Kugelform als „Glomeruli“ bezeichnet)vereinen sich die Axone tausender Riechzellen gleicher Selektivität (mit gleichem Duftstoffrezeptor) und bilden Sy-napsen mit einigen wenigen nachgeschalteten Neuronen,den Mitralzellen.

Die meisten Duftstoffrezeptoren, die man bisher unter-sucht hat, führen die Axone ihrer Riechzellen zu je vier Glo-meruli, jeweils zwei in dem Riechkolben, der von einer derbeiden Nasenhöhlen versorgt wird. Das macht bei rund1000 unterschiedlichen Rezeptoren circa 4000 Glomeruli.Duftstoffrezeptoren scheinen also eine Doppelfunktion imLeben der Riechzellen zu haben. Sie entscheiden darüber,auf welche Duftstoffe die Zelle anspricht, und sie bestim-men, wo im Riechkolben sie ihre Synapsen bilden.

Vieles an diesen faszinierenden Vorgängen ist noch un-verstanden. Wie wird entschieden, welches Duftstoffre-

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Die linke Grafik zeigt die Lage des Riechepithels im hinteren Teil der Nasenhöhle einer Maus. Die Abtrennung zum Gehirn bil-det eine poröse Knochenplatte (Siebbein, Lamina cribrosa), durch deren Poren die Axone der Riechzellen ins Gehirn gelangen,um dort im Riechkolben (Bulbus olfactorius) ihre Synapsen zu bilden. Der Ausschnitt rechts zeigt schematisch, wie die Axonegleicher Duftstoffselektivität (hier: gleicher Farbe) auf gemeinsame Schaltstellen konvergieren. Diese Schaltstellen („Glome-ruli“) sammeln Signale von mehreren tausenden Riechzellen und verschalten sie mit wenigen Mitralzellen (hier nicht gezeigt),die das Riechsignal an höhere Ebenen der zentralen Verarbeitung weiterleiten.

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zeptorgen in einer nachwachsenden Riechzelle aktiviertwird? Wie wird die Transkription der anderen 1000 Rezep-torgene verhindert? Welches Signal leitet ein neues Axonzum richtigen Glomerulus? Wie wird die Bündelung dervielen Axone und die Bildung des Zielglomerulus in derEntwicklung des Riechsystems erreicht und stabilisiert?Vielleicht werden auch hier Parallelen zum Immunsystemzur Aufklärung einiger Fragen beitragen. Immunglobulineund Duftstoffrezeptoren werden monoallelisch exprimiert.Rückkopplungssignale eines Genproduktes scheinen inbeiden Systemen die Expression auf ein einzelnes Allel zubeschränken. Es ist möglich, dass das Genprodukt einesDuftstoffrezeptorgens selbst als Repressionssignal wirkt,dass die Expression aller anderen Mitglieder der Genfamilieverhindert. Intensive Forschungsbemühungen sind zur Zeitder Frage gewidmet, wie sich das Riechepithel kontinuier-lich regeneriert und dabei eine sinnvolle Verbindung zumGehirn aufrechterhält.

Beim Eintritt ins Gehirn werden die Axone der Riech-zellen also sortiert. Jeder der etwa 4000 Glomeruli einerMaus bekommt die Information von einer Population vonRiechzellen, die das gleiche Duftstoffrezeptorgen expri-mieren. Bedeutet das, dass jeder Glomerulus (beziehungs-weise die von ihm versorgten Mitralzellen) nur auf eineneinzigen Duftstoff reagiert? Kann man nur so viele Duft-stoffe riechen, wie man unterschiedliche Duftstoffrezepto-ren hat; also eine Maus etwa 1000, ein Mensch etwa 350Duftstoffe? Moderne neurophysiologische Methoden ha-ben diese Frage geklärt. Die Aktivität von Glomeruli undMitralzellen wurde bei Tieren sichtbar gemacht, währendman ihnen unterschiedliche Duftstoffe zu riechen gab. Manfand heraus, dass ein einzelner Duftstoff mehrere Glome-ruli aktivieren kann, und dass jeder einzelne Glomerulusvon verschiedenen Duftstoffen aktiviert werden kann(siehe Kasten auf dieser Seite). Der Grund dafür ist, dassDuftstoffrezeptoren relativ unspezifisch sind: Jeder Rezep-tor kann verschiedene Duftstoffe binden und jeder Duft-stoff kann an unterschiedliche Rezeptoren binden. Aller-dings ist die Reaktion verschiedener Riechzellen auf den-selben Duftstoff unterschiedlich stark – vermutlich, weilzwei unterschiedliche Rezeptoren sich immer in ihrer Bin-dungsaffinität für denselben Duftstoff unterscheiden.

Welche Information bekommt das Gehirn von dieserAnsammlung relativ ungenauer Sensoren? Ein heillosesDurcheinander? Ganz im Gegenteil! Durch die geringe Se-lektivität der Rezeptoren wird die Leistungsfähigkeit desRiechsystems enorm gesteigert. Jeder einzelne Duftstoff aktiviert mehrere Glomeruli, manche stärker, mancheschwächer. Das Gehirn stützt seine Identifizierung diesesDuftstoffs daher nicht auf die Aktivität eines einzelnenGlomerulus. Vielmehr analysiert es das Aktivitätsmuster,das von vielen Glomeruli im Riechkolben erzeugt wird,wenn ein Duftstoff gerochen wird. Abbildung 6 zeigt amBeispiel des Riechkolbens der Maus zwei unterschiedlicheAktivitätsmuster, die von den Duftstoffen 2-Hexanon undBenzaldehyd ausgelöst werden. Das räumliche Aktivitäts-

muster für einen bestimmten Duftstoff ändert sich mit derKonzentration des Duftstoffes, denn bei einer höherenKonzentration werden zusätzliche Glomeruli rekrutiert.

Auch der zeitliche Verlauf der Aktivität eines Glomeru-lus spielt bei der Duftstoffwahrnehmung eine Rolle. Die Ak-tivität eines jeden Glomerulus kann im Verlauf von nur ei-ner Sekunde erheblich zu- oder abnehmen. Riechforscheram Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung in Hei-delberg haben entdeckt, dass auch solche schnellen Akti-vitätsänderungen für die Unterscheidung von Duftstoffenausgewertet werden [3]. Die Identität eines Duftstoffs wirdalso in dem räumlichen und zeitlichen Aktivitätsmusterder Glomeruli im Riechkolben codiert. Das Riechsystemkann damit wesentlich mehr Duftstoffe unterscheiden alses Duftstoffrezeptoren hat. Denn die Anzahl unterschiedli-cher Aktivitätsmuster ist praktisch unbegrenzt. Mit der An-nahme, dass zehn Glomeruli ausreichen, um die Identitäteines jeden Duftstoffs zu codieren, kann man abschätzen,dass das menschliche Riechsystem in der Lage sein sollte,etwa 1018 Duftstoffe auseinander zu halten!

D I E S E L E K T I V I T Ä T D E R D U F T S TO F F R E Z E P TO R E N |

Jede Riechzelle exprimiert vermutlich nur eines der über tausend Duftstoffrezeptorgene.Das bedeutet aber nicht, dass sie nur auf einen einzigen Duftstoff reagieren kann. Hierist schematisch dargestellt, was aus vielen Untersuchungen der Duftstoffselektivität vonRiechzellen hervorgegangen ist. Die Aktionspotenziale symbolisieren dabei die Reakti-onsstärke. Die Zelle mit Rezeptor 1 reagiert nur auf den Duftstoff 4, einer Substanz, dieim Übrigen alle anderen Zellen unterschiedlich stark aktiviert. Die Zelle mit Rezeptor 2reagiert dagegen auf vier von fünf Testsubstanzen und zeigt dabei die stärkste Reaktionmit Duftstoff 4. Dieses Schema soll verdeutlichen, dass das Gehirn aus der Aktivität einereinzelnen Riechzelle keine Information gewinnen kann. Die Analyse aller fünf Riechzellenermöglicht dagegen eine eindeutige Identifizierung des Duftstoffs. Jede Spalte dieser Tabelle zeigt ein für einen bestimmten Duftstoff spezifisches Aktivitätsmuster. Die Aus-wertung von räumlichen und zeitlichen Aspekten solcher Aktivitätsmuster von Riech-zellen unterschiedlicher Selektivität ist die Grundlage der vermutlich unbegrenzten Un-terscheidungsfähigkeit des Riechsystems.

Riechzelle 1

Riechzelle 2

Riechzelle 3

Riechzelle 4

Riechzelle 5

Duftstoff 1

Duftstoff 2

Duftstoff 3

Duftstoff 4

Duftstoff 5

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Die Komplexität dieser Musteranalyse wird noch größer,wenn nicht nur ein einzelner Duftstoff, sondern ein realerGeruch wahrgenommen wird, der sich aus mehreren hun-dert Duftstoffen zusammensetzen kann. Der Riechkolbenverfügt über ein neuronales Netzwerk, das bei der Auswer-tung dieser Informationsfülle hilft (siehe Kasten auf dieserSeite). Die von diesem Netzwerk vorbearbeitete Geruchs-information wird durch den Tractus olfactorius über dieprimäre Riechrinde zum olfaktorischen Cortex geleitet.

Neueste Erkenntnisse haben ergeben, dass große Teileder Riechbahn am Thalamus vorbei zum Cortex verlaufen,eine höchst merkwürdige Entdeckung [7]. Gilt doch derThalamus als Schaltstelle, die alle Sinneseindrücke dem Be-wusstsein zuführt. Offensichtlich kann aber Geruchsinfor-mation ohne Verarbeitung im Thalamus wahrgenommenwerden – eine neue und noch unverstandene Seite desRiechsystems. Neben den Wegen zur bewussten Geruchs-wahrnehmung führen mehrere Riechbahnen in das limbi-sche System. Durch den Hypothalamus wirken Geruchssig-nale direkt auf das endokrine System, denn der Hypothala-mus kontrolliert die Hypophyse und damit die Produktionvieler Hormone. Verschaltungen mit der Amygdala unddem Hippocampus sorgen für die Verknüpfung von Riech-information mit emotionalen Inhalten, Erinnerungen, As-soziationen und Motivationen. Wenn auch die Details die-ser zentralen Verarbeitung weit weniger gut verstandensind als die Funktion von Riechzellen, so ist doch deutlich,dass das Riechsystem nicht in erster Linie zur bewusstenAnalyse der Atemluft dient. Die vielfältigen Verbindungenmit dem limbischen System zeugen von der Bedeutung einer direkten, bewusstseinsunabhängigen Wirkung derGeruchsinformation auf das Verhalten. Es ist eben wenigerinteressant, den Geruch eines nahenden Wolfsrudels aufseine chemischen Bestandteile hin zu analysieren, als dieGeruchsquelle zu identifizieren, in Panik zu verfallen undso schnell wie möglich auf den nächsten Baum zu kommen.

N E U RO N A L E V E R S C H A LT U N G I M R I EC H KO L B E N |

Die Axone der Riechzellen sind in etwa 4000 Glomeruli verschaltet – kugelförmigen Ner-vengeflechten in der äußersten Schicht der Riechkolben. Die Axone der Zellen mit glei-chem Duftstoffrezeptor (der gleiche Duftstoffrezeptor wird hier durch die gleiche Farbesymbolisiert) konvergieren auf die gleichen Glomeruli. In den Glomeruli bilden die AxoneSynapsen mit den Hauptdendriten von Mitralzellen. Da jede Mitralzelle nur mit einemGlomerulus verbunden ist, bewahrt sie dessen Duftstoffselektivität. Querverbindungenzwischen den Glomeruli werden durch periglomeruläre Zellen gebildet, die die Mitralzel-len in benachbarten Glomeruli hemmen können. Neben ihren Hauptdendriten bilden dieMitralzellen auch Sekundärdendriten, an denen sie synaptische Kontakte mit inhibitori-schen Interneuronen (Körnerzellen) empfangen. Die Körnerzellen werden selbst durchAbzweigungen der Mitralzellaxone aktiviert, verarbeiten aber auch Eingänge von ande-ren Bereichen des Gehirns (rote Pfeile). Die vielfältigen hemmenden Verbindungen die-nen zur Vorverarbeitung des Riechsignals. Vermutlich lassen die inhibitorischen Inter-neurone durch die Hemmung von nur schwach aktiven Mitralzellen ein duftinduziertesAktivitätsmuster deutlicher hervortreten (Kontrastverschärfung). Die aufgearbeitete In-formation wird in Form eines räumlichen und zeitlichen Aktivitätsmusters von den Mit-ralzellen an die primäre Riechrinde (Area prepiriformis und Cortex periamygdaloideum)weitergegeben.

A B B . 6 | A K T I V I T Ä T S M U S T E R I M R I EC H KO L B E N

Zur Darstellungder Aktivität ein-zelner Glomeruliim Riechkolbender Maus wurdenRiechzellen mit ei-nem Fluoreszenz-farbstoff beladen,der auf Änderun-gen der intra-zellulären Ca2+-Konzentrationreagiert. Dieser Farbstoff breitet sich in der gesamten Riechzelle aus, bis in deren präsynaptischen Endigungen in den Glomeruli. Mit dem Fluo-reszenzmikroskop kann man deshalb die Glomeruli als kugelförmige Knäuel von Axonendigungen erkennen (links). Gibt man dem Tier den Duft-stoff 2-Hexanon zu riechen, werden einige der Glomeruli aktiv (Mitte). Man erkennt das in einer Falschfarbendarstellung, bei der die intrazelluläreCa2+-Konzentration farbcodiert ist: je höher die Ca2+-Konzentration, desto wärmer der Farbton. Ca2+ steigt an, wenn die Riechzellen feuern und zurSignalübertragung auf die Mitralzellen Ca2+ in die präsynaptischen Endigungen aufnehmen. Bei Stimulation mit Benzaldehyd reagiert eine andereGruppe von Glomeruli. Jeder Duftstoff erzeugt so ein Aktivitätsmuster im Riechkolben. Aus Wachowiak et al., 2004 [12].

Ruhefluoreszenz 2-Hexanon Benzaldehyd

Cilien

Riechzellen

Siebbein

Glomeruli

Mitralzellen

Körnerzellen

periglomeruläreZellen

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Nr. 5 | 35. Jahrgang 2005 | Biol. Unserer Zeit | 309

R I E C H E N | N EU RO PH YS I O LO G I E

ZusammenfassungDas Riechsystem der Säugetiere ist in der Lage, eine nahezuunbegrenzte Vielzahl von Duftstoffen zu detektieren und zuunterscheiden. Es kann Duftstoffquellen identifizieren undvorteilhafte Verhaltensmuster auslösen. Neurophysiologi-sche Forschungen am Riechsystem von Nagetieren geben Ein-blicke in die Arbeitsweise dieser Sinnesmodalität, die im Le-ben vieler Säugetiere eine lebenswichtige Rolle spielt. Die ver-mutlich größte Genfamilie, die Duftstoffrezeptorgene, stattetdas Riechsystem mit mehr als 1000 unterschiedlichen Rezep-torproteinen aus, die auf zehn bis 50 Millionen Riechzellenverteilt sind. Jede Riechzelle exprimiert vermutlich nur einesdieser Gene und erhält dadurch seine Duftstoffselektivität.Da die Axone aller Riechzellen gleicher Selektivität auf ge-meinsame Schaltstellen im Riechkolben des Gehirns konver-gieren, entsteht eine räumliche und zeitliche Riechinforma-tion, die vom Gehirn sowohl zur kognitiven Auswertung alsauch zur Steuerung vegetativer Funktionen genutzt wird.

Literatur[1] R.R.H. Anholt, Primary events in olfactory reception, Trends in Bio-

chemical Sciences 1987, 12, 58-62. [2] L. Buck, R. Axel, A novel multigene family may encode odorant re-

ceptors: a molecular basis for odor recognition, Cell 1991, 65, 175-187.

[3] R.W. Friedrich, Real time odor representation, Trends in Neuroscien-ces 2002, 25, 487-489.

[4] S. Frings, Chemoelectrical signal transduction in olfactory sensoryneurons of air-breathing vertebrates, Cellular and Molecular LifeSciences 2001, 58, 510-519.

[5] S.J. Kleene, R.C. Gesteland, Dissociation of frog olfactory epitheliumwith N-ethylmaleimide, Brain Research 1981, 229, 536-540.

[6] P. Mombaerts, Odorant receptor gene choice in olfactory sensoryneurons: the one receptor-one neuron hypothesis revisited, CurrentOpinion in Neurobiology 2004, 14, 31-36.

[7] M. Murakami, H. Kashiwadani, Y. Kirino, K. Mori, State-dependentsensory gating in olfactory cortex, Neuron, 2005, 46, 285-296.

[8] T. Olender, E. Feldmesser, T. Atarot, M. Eisenstein, D. Lancet, The ol-factory receptor universe – from whole genome analysis to struc-ture and evolution, Genetics and Molecular Research 2004, 3, 545-553.

[9] J. Reisert, H.R. Matthews, Response to prolonged odour stimulationin frog olfactory receptor cells, Journal of Physiology 2001, 534,179-191.

[10] M. Spehr, G. Gisselmann, A. Poplawski, J.A. Riffell, C.H. Wetzel, R.K.Zimmer, H. Hatt, Identification of a testicular odorant receptor me-diating human sperm chemotaxis, Science 2003, 299, 2054-2058.

[11] J. Strotmann, Targeting of olfactory neurons, Cellular and MolecularLife Sciences 2001, 58, 531-537.

[12] M. Wachowiak, W. Denk, R.W. Friedrich, Functional organization ofsensory input to the olfactory bulb glomerulus analyzed by two-photon calcium imaging, Proceedings of the National Academy ofSciences USA 2004, 101, 9097-9102.

G LOSSA R |Adaptation: In der Sinnesphysiologie bezeichnet man mit Adaptation dieFähigkeit von Sinneszellen, ihre Empfindlichkeit an die Reizintensität anzupas-sen. Bei gleichbleibender Reizintensität kann Adaptation dazu führen, dass dieSinneszellen nur kurz (phasisch) erregt werden. Wenn die Reaktion auf einen Reiz zunächst stark, dann aber infolge adaptiver Prozesse anhaltendschwächer ist, spricht man von einer phasisch-tonischen Reaktion. Riech-zellen reagieren meist phasisch.

Aktionspotenzial: Ein stereotyper Nervenimpuls (Amplitude: ca. 100 mV;Dauer: ca. 2 ms), der zur Erregungsweiterleitung im Nervensystem dient. DieInformation wird in der Frequenz von Aktionspotenzialen codiert.

Cilien: sind dünne Plasmafortsätze (Durchmesser ca. 0,2 µm), die durchaxial verlaufende Mikrotubuli stabilisiert werden. Dabei verlaufen zwei Tubulientlang des Zentrums der Cilie, und ein Kranz aus neun Tubulidupletts ist ent-lang der Plasmamembran angeordnet. Während bei Einzellern Cilien meistzur Bewegung dienen, sind die Cilien der Riechzellen und Photorezeptoren vonSäugetieren unbeweglich und auf die sensorische Signaltransduktion speziali-siert. Sie enthalten alle Proteine, die von der Detektion des Reizes bis zur Er-zeugung des Rezeptorpotenzials gebraucht werden.

Epithel: Grenzgewebe, Schleimhaut. Epithelien bilden die oberste Schicht le-benden Gewebes an der Körperoberfläche und kleiden die Lunge, das Gastro-intestinalsystem und andere Hohlräume aus. Das Riechepithel ist ein Neu-roepithel, denn es besteht vorwiegend aus Neuronen. Es ist die einzige Stelledes Körpers, an der Neurone in direkten Kontakt mit der Außenwelt treten. Esist vermutlich auch das einzige Nervengewebe, in dem kurzlebige Neuronenkontinuierlich nachgebildet werden.

Ionenkanäle: Die Plasmamembran der Zellen ist für Ionen weitgehend un-durchlässig. Die Passage von Ionen zwischen Cytoplasma und Außenmedium

wird durch Transportproteine ermöglicht, die in die Membran eingelassensind. Die höchste Transportrate leisten Ionenkanäle, Membranproteine, dieeine Pore öffnen und damit einen Ionenfluss von 1 – 10 Millionen Ionen proSekunde leiten können. Der durch diese Ionenflüsse erzeugte Strom ist die Ba-sis aller bioelektrischen Phänomene. Transduktionskanäle sind Ionenkanäle inSinneszellen, die durch den Sinnesreiz gesteuert werden und den Rezeptor-strom generieren.

monoallelische Expression: Die Gene der Autosomen liegen in zwei Allelenvor. Im Allgemeinen werden beide Allele abgelesen und die von ihnen codier-ten Proteine werden exprimiert (biallelische Expression). Zu den wenigen au-tosomalen Genen, bei denen nur ein Allel abgelesen wird (monoallelische Ex-pression), gehören einige Gene des Immunsystems, die Duftstoffrezeptorensowie Gene, die genomischer Prägung unterliegen.

Rezeptorstrom/-potenzial: Bei Detektion eines Reizes kommt es zur Öff-nung von Transduktionskanälen in der Plasmambran einer Sinneszelle (bei-spielsweise in der Cilienmembran einer Riechzelle). Durch die Transduktions-kanäle fließt Strom in die Zelle (Rezeptorstrom) und erzeugt eine Verände-rung des Membranpotenzials (Rezeptorpotenzial). Bei ausreichend großemRezeptorpotenzial kann die Sinneszelle ein Signal erzeugen, dass dem Gehirneine Sinneswahrnehmung ermöglicht.

Signaltransduktion: Zellen reagieren auf äußere Einflüsse mit intrazel-lulären Prozessen. Um eine sinnvolle Reaktion auszulösen, müssen die Zellenexterne Stimuli detektieren, die Information auf die Zellinnenseite weiterleitenund dort angemessene physiologische Prozesse in Gang setzen. Dieser ge-samte Prozess wird als Signaltransduktion bezeichnet. Bei Sinneszellen stehtdabei die Transduktion des externen Reizes (Duft bei Riechzellen, Licht beiPhotorezeptoren) in ein für das Gehirn verwertbares sensorisches Signal imVordergrund.

Mehr zum Themafinden Sie auch indem von StephanFrings und JonathanBradley herausgege-benen Buch „Trans-duction Channels inSensory Cells“, Wiley-VCH, Wein-heim 2004. 304 S., X 139,–. ISBN 3-527-30836-9.

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Die AutorenClemens Prinz zu Waldeck, geboren 1975 in Frank-furt/ Main. Von 1995-2003 Studium der Biologie ander Universität zu Köln. Für seine Diplomarbeit un-tersuchte er am Institut für Biologische Informati-onsverarbeitung, Forschungszentrum Jülich, mu-tierte Ionenkanäle aus Photorezeptoren. Im Rahmenseiner Doktorarbeit an der Universität Heidelberg giltsein Forschungsinteresse den Adaptationsprozessenin Riechzellen.

Stephan Frings, geboren 1956 in Bonn. Von 1980-1985 Studium der Biologie in Konstanz. 1989 Pro-motion in Tierphysiologie an der University ofOtago, Dunedin, Neuseeland. Danach elektrophysio-logische Arbeiten an Riechzellen an der Universitätdes Saarlandes und im Forschungszentrum Jülich.Seit 2002 Professor für Molekulare Physiologie amInstitut für Zoologie der Universität Heidelberg. SeinForschungsgebiet ist die chemoelektrische Transduk-tion in Riechzellen.

Korrespondenz: Prof. Dr. Stephan FringsAbteilung für Molekulare PhysiologieHeidelberger Institut für ZoologieUniversität HeidelbergIm Neuenheimer Feld 230D-69120 HeidelbergEmail: [email protected]