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1 "Die Natur als Umwelt oder Mitwelt des Menschen" Susanne Vaaßen Über die Frage, ob unser Umgang mit der äußeren belebten und unbelebten Natur angemes- sen ist, sprechen wir immer dann, wenn etwa neue Umweltkatastrophen oder Nahrungsmit- telskandale in den Medien publik gemacht werden und wir betroffen feststellen müssen, dass unseren kurzfristigen Handlungen langfristige Konsequenzen folgen können, die auch nega- tiv auf uns zurückfallen. Im Alltag beschränken sich unsere Gedanken über den richtigen Umgang mit der Natur lediglich auf unser unmittelbares Umfeld. Unsere subjektiven Nei- gungen und partikularen Interessen an der Natur äußern sich dabei in einem Wohlgefallen an Naturschauspielen oder weitgehend unberührten Landschaften, der Liebe zu Haustieren oder schlichtweg dem bewusst sparsamen Umgang mit begrenzten natürlichen Ressourcen. Die- ser subjektiv multipel geprägte Umgang mit der Natur reicht jedoch nicht notwendigerweise über den Kreis des unmittelbaren Interesses und der Betroffenheit jedes Einzelnen hinaus und lässt sich nicht notwendigerweise für alle Menschen als allgemeinverbindliche Richtli- nie formulieren. Um einen verbindlichen Konsens hinsichtlich des angemessenen Umgangs mit der äußeren Natur zu erreichen, bedarf es der Reflexion über die Frage, von welchen grundlegenden Werten und Einstellungen unser Verhältnis zur Natur bestimmt werden soll. Dabei gilt es sowohl den subjektiven Interessen der Menschen an der Natur im Allgemeinen, als auch den an eine universale Ethik gestellten formalen Anspruch der Allgemeinheit und Notwendigkeit im Besonderen Rechnung zu tragen. 1 Dieser Reflexionsprozess ist seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, mit Aufkommen der ersten negativ auf den Menschen zurückfallenden Folgeerscheinungen der Ökologischen Krise, Gegenstand der praktischen Philosophie und angewandten Ethik. Es lässt sich seither ein regelrechter Ethikboom beobachten mit dem eine Vielzahl neuer Be- reichsethiken auftauchten, die sich unter den Begriff Ökoethik subsumieren lassen. Hierzu zählen die Ressourcenethik, die nach dem richtigen Umgang des Menschen mit begrenzten natürlichen Ressourcen fragt, die Tierethik, die sich auf schmerzempfindliche individuelle Organismen bezieht und die Naturethik, die je nach Reichweite alles Belebte oder auch die unbelebte Natur in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt. Die Grundforderung dieser neuen Bereichsethiken lautet, den sich in klassischen interper- sonalen Ethiken bislang nur auf den zwischenmenschlichen Bereich ausdehnenden Kreis der moralischen Berücksichtigungswürdigkeit auf den außermenschlichen Bereich zu erweitern. Mit dieser Forderung verbindet sich der berechtigte Anspruch zu klären, warum und wie wir diese moralische Berücksichtigungswürdigkeit legitimerweise begründen können. Die Beantwortung der Frage nach dem Warum erschöpft sich dabei nicht in dem bloßen Faktum der Notwendigkeit eines Umdenkens angesichts des steigenden Problemlösungs- drucks etwa einer wachsenden Ressourcenverknappung. Die Einsicht, dass wir lediglich ei- nes besseren Managements der Natur bedürfen, wäre an der Frage nach dem ethisch richti- gen Umgang mit der äußeren Natur im ökoethischen Diskurs vorbeigedacht! 2 Entscheidend 1 Vgl. Sabine Müller, Programm für eine neue Wissenschaftstheorie, Könighausen&Neumann, Würzburg 2004, 185ff. 2 Situationsbezogene und konsequentialistische ethische Orientierungen müssen ihrem Anspruch nach praktikabel sein, befinden sich jedoch im Rahmen des ethischen Diskurses, der Begründung und der Begriffsklärung, nicht auf derselben Ebene wie die biopolitische Debatte, in der im Einzelfall die konkrete Umsetzung von etwa Naturschutzmaßnahmen verhandelt wird.

Die Natur als Umwelt oder Mitwelt des MenschenŸen_Die... · gang des Menschen mit der äußeren Natur richtungsweisend sind: Wir erörtern die Frage nach dem angemessenen Umgang

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"Die Natur als Umwelt oder Mitwelt des Menschen"

Susanne Vaaßen

Über die Frage, ob unser Umgang mit der äußeren belebten und unbelebten Natur angemes-

sen ist, sprechen wir immer dann, wenn etwa neue Umweltkatastrophen oder Nahrungsmit-

telskandale in den Medien publik gemacht werden und wir betroffen feststellen müssen, dass

unseren kurzfristigen Handlungen langfristige Konsequenzen folgen können, die auch nega-

tiv auf uns zurückfallen. Im Alltag beschränken sich unsere Gedanken über den richtigen

Umgang mit der Natur lediglich auf unser unmittelbares Umfeld. Unsere subjektiven Nei-

gungen und partikularen Interessen an der Natur äußern sich dabei in einem Wohlgefallen an

Naturschauspielen oder weitgehend unberührten Landschaften, der Liebe zu Haustieren oder

schlichtweg dem bewusst sparsamen Umgang mit begrenzten natürlichen Ressourcen. Die-

ser subjektiv multipel geprägte Umgang mit der Natur reicht jedoch nicht notwendigerweise

über den Kreis des unmittelbaren Interesses und der Betroffenheit jedes Einzelnen hinaus

und lässt sich nicht notwendigerweise für alle Menschen als allgemeinverbindliche Richtli-

nie formulieren. Um einen verbindlichen Konsens hinsichtlich des angemessenen Umgangs

mit der äußeren Natur zu erreichen, bedarf es der Reflexion über die Frage, von welchen

grundlegenden Werten und Einstellungen unser Verhältnis zur Natur bestimmt werden soll.

Dabei gilt es sowohl den subjektiven Interessen der Menschen an der Natur im Allgemeinen,

als auch den an eine universale Ethik gestellten formalen Anspruch der Allgemeinheit und

Notwendigkeit im Besonderen Rechnung zu tragen.1

Dieser Reflexionsprozess ist seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, mit

Aufkommen der ersten negativ auf den Menschen zurückfallenden Folgeerscheinungen der

Ökologischen Krise, Gegenstand der praktischen Philosophie und angewandten Ethik. Es

lässt sich seither ein regelrechter Ethikboom beobachten mit dem eine Vielzahl neuer Be-

reichsethiken auftauchten, die sich unter den Begriff Ökoethik subsumieren lassen. Hierzu

zählen die Ressourcenethik, die nach dem richtigen Umgang des Menschen mit begrenzten

natürlichen Ressourcen fragt, die Tierethik, die sich auf schmerzempfindliche individuelle

Organismen bezieht und die Naturethik, die je nach Reichweite alles Belebte oder auch die

unbelebte Natur in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt.

Die Grundforderung dieser neuen Bereichsethiken lautet, den sich in klassischen interper-

sonalen Ethiken bislang nur auf den zwischenmenschlichen Bereich ausdehnenden Kreis der

moralischen Berücksichtigungswürdigkeit auf den außermenschlichen Bereich zu erweitern.

Mit dieser Forderung verbindet sich der berechtigte Anspruch zu klären, warum und wie wir

diese moralische Berücksichtigungswürdigkeit legitimerweise begründen können.

Die Beantwortung der Frage nach dem Warum erschöpft sich dabei nicht in dem bloßen

Faktum der Notwendigkeit eines Umdenkens angesichts des steigenden Problemlösungs-

drucks etwa einer wachsenden Ressourcenverknappung. Die Einsicht, dass wir lediglich ei-

nes besseren Managements der Natur bedürfen, wäre an der Frage nach dem ethisch richti-

gen Umgang mit der äußeren Natur im ökoethischen Diskurs vorbeigedacht!2 Entscheidend

1 Vgl. Sabine Müller, Programm für eine neue Wissenschaftstheorie, Könighausen&Neumann, Würzburg 2004, 185ff.

2 Situationsbezogene und konsequentialistische ethische Orientierungen müssen ihrem Anspruch nach praktikabel sein,

befinden sich jedoch im Rahmen des ethischen Diskurses, der Begründung und der Begriffsklärung, nicht auf derselben

Ebene wie die biopolitische Debatte, in der im Einzelfall die konkrete Umsetzung von etwa Naturschutzmaßnahmen

verhandelt wird.

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für die Beantwortung der Frage, warum wir den Kreis der moral community überhaupt er-

weitern sollten, ist das für die Begründung der moralischen Berücksichtigung einer Entität

jeweils angeführte Kriterium, das sehr unterschiedlich begründet werden kann und innerhalb

der divergierenden ökoethischen Konzepte für Diskussion sorgt. Der Leitgedanke der Dis-

kussion lässt sich anhand der Frage rekonstruieren, ob die nicht-menschliche Natur (Flüsse,

Steine, Pflanzen, Tiere) einen unabhängig von menschlichen Interessen und menschlicher

Wertsetzung existierenden objektiven Eigenwert (inhärenten Wert) hat, der gegen die Inte-

ressen der Menschen aufgewogen werden kann und aus dem sich schließlich eine morali-

sche Berücksichtigungswürdigkeit der nicht-menschlichen Natur ableiten lässt. In den unter-

schiedlichen ökoethischen Konzepten wird dabei eine Vielzahl von möglichen Kriterien für

die Begründung einer Eigenwerthaftigkeit der Natur angeführt.

Nach der ohnehin schon überfordernden Frage des Warum stellt sich darüber hin-

aus die Frage des Wie; Wir stellen an Ökoethiken den berechtigten Anspruch, Handlungsori-

entierungen im Umgang mit der außermenschlichen Natur, Ressourcen und Lebewesen zu

offerieren, die wir unter der Bedingung unseres Menschseins umzusetzen in der Lage sind.

An dem Warum, dem Kriterium für moralische Berücksichtigungswürdigkeit, und dem Wie,

den Grenzen von moralischer Berücksichtigungswürdigkeit, entscheidet sich, ob eine Ökoe-

thik praktikabel und alltagstauglich ist, oder ob sie den Menschen moralisch überfordert. Als

Prämisse kann dabei vorweggeschickt werden: Je größer der Kreis der moralisch zu Berück-

sichtigungswürdigen, desto größer der Aufwand und desto geringer die Praktikabilität im

Alltag.

Grundsätzlich gehen aus dieser ersten Annäherung an die Auseinandersetzung mit dem

ökoethischen Diskurs zwei Dinge hervor, die für die Frage nach dem angemessenen Um-

gang des Menschen mit der äußeren Natur richtungsweisend sind: Wir erörtern die Frage

nach dem angemessenen Umgang mit der Natur meist aus einer Außenperspektive, indem

wir die Natur als Um- und nicht als Mitwelt des Menschen und somit als sein Gegenüber be-

trachten. Zudem sind wir mit Eintreten in den Diskurs in unserer Eigenschaft als verantwort-

liche, erkennende, normen- und wertsetzende Personen angesprochen. In eben diesen ty-

pisch menschlichen Eigenschaften sehen viele Autoren die explizite Sonderstellung des

Menschen in der Natur begründet. Diese impliziten Voraussetzungen des Diskurses, die au-

ßenperspektivische Annäherung an die Natur und die explizite Sonderstellung des Men-

schen, sind es, die einer kritischen Revision unterzogen werden müssen, wenn über ökoethi-

sche Ansätze, die den Kreis der moralisch berücksichtigungswürdigen Entitäten vom Men-

schen auf andere Lebewesen erweitern wollen, befunden werden soll. Konkreter bedeutet

dies, sich die Frage zu stellen, ob der Mensch sich als Teil oder als Gegenüber der Natur

versteht und der Überlegenheitstopos des Menschen, seine Sonderstellung, aus der sich in

Abgrenzung von der übrigen Natur sein moralischer Status ableiten lässt, über jegliche Kri-

tik und Gegenargumentation erhaben ist.

Diese Grundfragen gliedern den folgenden Beitrag in zwei Teile, von denen im ersten der

Hintergrund der beiden Perspektiven auf die Natur als Um- oder Mitwelt ideengeschichtlich

rekonstruiert wird. Denn die divergierenden Sichtweisen auf die Natur sind nicht willkürlich

entstanden, sondern das Resultat eines langen Entwicklungsprozesses, der durch unter-

schiedliche gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftsgeschichtliche Faktoren motiviert

wurde. Die Darstellung der beiden Sichtweisen auf die Natur ist dabei grundlegende Bedin-

gung für das Verständnis der Argumentationsstruktur der sich ausdifferenzierenden ökoethi-

schen Ansätze - ihrer Annahme oder begründeten Ablehnung einer Eigenwerthaftigkeit der

Natur.

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Im zweiten Teil wird die Frage nach der Begründbarkeit der Kriterien für die Anerken-

nung eines moralischen Status der außermenschlichen Natur anhand der unterschiedlichen

ökoethischen Ansätze in einem Überblick systematisch durchdekliniert. Dabei gilt es einer-

seits herauszustellen, worin die Schwierigkeit liegt, den moralischen Status all dessen, was

nicht-menschlich ist, zu begründen und andererseits den produzierten Hiatus von Mensch

und Natur und somit die Legitimierung der alleinigen Sonderstellung des Menschen im mo-

ralischen Universum kritisch zu hinterfragen.

Gegenstand der Ökoethik

Mit der Frage nach dem angemessenen Umgang des Menschen mit der Natur verbindet sich

zunächst die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand der Ökoethik. Denn mit Natur, als ei-

nem konstruierten Begriff, wird doppelaspektivisch sowohl die Gesamtheit alles Seienden,

als auch die Wesenhaftigkeit der Dinge bezeichnet. Nicht Natur ansich, sondern nur ihre

Teilbereiche wie sie sich etwa in der Ressourcen-, Tier- oder Naturethik präsentieren, kön-

nen somit Gegenstand ethischer Betrachtung sein, wobei die Naturethik (in Absehnung vom

Holismus) ebenfalls stets belebte oder unbelebte individuelle Entitäten in den Blick nimmt.

Dennoch hat die Ausdeutung des konstruierten Naturbegriffs einen wesentlichen Einfluss

auf unser Verhältnis zur äußeren Natur und somit letztlich auf unseren Umgang mit ihr, den

es im ethischen Diskurs zu verhandeln gilt.

Doch von welcher Natur, deren Teilbereiche wir klar benennen können, sprechen wir im

ökoethischen Diskurs? Wie schwierig es ist, den in seiner Mehrdeutigkeit schillernden Na-

turbegriff hinreichend zu definieren zeigt sich an den zahlreichen philosophiehistorisch re-

konstruierbaren Ausdeutungsversuchen, die ihren Ausgang in der Antike mit Aristoteles ers-

ter Definition der Natur in seinem fünften Buch der Physik nehmen. Er definierte Natur als

das von sich aus und aus sich heraus unabhängig vom Menschen Daseiende - das sein Be-

wegungsprinzip in sich trägt. 3

Mit dieser Definition wird Natur als etwas unabhängig vom Menschen Gegebenes dem

menschlich Gemachten, dem Artefakt, entgegenstellt; Eine Differenzierung, die bis heute in

unserer Vorstellung von Natur präsent ist und der grundlegenden Orientierung des Men-

schen in der Welt dient. Doch die Polarisierung von Gegebenem und Gemachten versteht

sich heute nicht mehr von selbst, denn wir leben gegenwärtig in einer weitgehend anthropo-

gen beeinflussten natürlichen Umgebung. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung gibt

es nichts in Reinform Natürliches und in Reinform Künstliches in der Welt, solange natürli-

che Entitäten menschlicher Beeinflussung unterliegen und künstlich hergestellte Dinge not-

wendigerweise eine naturale Basis haben. Dieter Birnbacher schlägt daher vor, die Dinge in

der außermenschlichen Natur in einem breiten Spektrum zwischen den beiden gedachten Po-

len der reinen Natürlichkeit und reinen Künstlichkeit vermittels unterschiedlicher Natürlich-

keits- und Künstlichkeitsdimensionen oder -grade zu verorten. Ein englischer Garten etwa

würde dann seinem natürlichen Erscheinungsbild nach nahe am Pol der phänomenalen Na-

türlichkeit liegen, und zugleich als Produkt eines bewussten planerischen Geistes ebenso ei-

nen hohen genetischen Künstlichkeitsgrad aufweisen.4

3 Vgl. K. Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. Das Verständnis der Natur, München 1995, 23-27;

111ff. 4 Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, Berlin/ New York 2006, 1-9.

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Divergierende Naturverständnisse

Anhand dieses Beispiels wird ersichtlich, dass Natur nicht ohne Weiteres auf eine allge-

meingültige Definition gebracht werden kann. Aufgrund der Schwierigkeit, den Naturbegriff

auf eine allgemeingültige Formel zu bringen, haben sich im Verlauf der Geschichte konträre

Vorstellungen von Natur herausgebildet. Das trotz evolutionärem Wandel als scheinbar un-

veränderlich vorgestellte Fundament Natur unterlag und unterliegt divergierenden Um- und

Ausdeutungen5, die von zwei unterschiedlichen epistemischen/erkenntnistheoretischen Zu-

gängen herrühren: Der rationalen, intellektuellen oder kognitiven Durchdringung der Natur

einerseits und der sinnlich-phänomenalen Sichtweise auf sie andererseits. Während Natur

vermittels eines rationalen Zugangs zu ihr durch Analyse, Sektion und Mathematizität auf

kohärente, allgemeingültige und objektive Aussagen gebracht werden kann, versteht sich

der sinnlich-phänomenale als ein emotionaler und intuitiver Zugang, der sich durch die Be-

tonung der qualitativen Wesenhaftigkeit von Natur auszeichnet.

Diesen beiden epistemischen Zugangsweisen entsprechen zwei divergierende Naturver-

ständnisse, die sich bis heute in unserer Naturbetrachtung bemerkbar machen: Das ganz-

heitliche, lebensweltlich-organizistische Naturverständnis mit seinem entsprechend sinnlich-

phänomenalen Zugang und das szientistisch, materialistisch-mechanistische Naturverständ-

nis als Folge der rationalen Durchdringung der Natur.

Wenngleich sie sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen, sind sie doch aus einem

gemeinsamen Entwicklungsstrang heraus entstanden: Einem magisch-mythischen, vorwis-

senschaftlichen Naturverständnis, in der präphilosophischen und präwissenschaftlichen Zeit,

in der eine noch undifferenzierte Einheit von rationaler und sinnlicher Erkenntnis vor-

herrschte und sich Natur dem Menschen in einem präkognitiven Naturerleben und -

empfinden offenbarte. Die Natur wurde als eine von Kräften und Magie dynamisch durch-

strömte (Dynamismus) und allbeseelte (Animismus) vorgestellt. Naturphänomene wurden

vermittels mythischer Erzählungen plausibilisiert oder auf das Wirken von Gottheiten zu-

rückgeführt. Es herrschte noch keine Unterscheidung von Einheit/Vielheit, Identi-

tät/Differenz, Ganzheit/Teilen, Ursache/Wirkung, Theorie/Praxis, Psychischem/ Physischem

und letztlich Mensch/Natur, sondern ein Antagonismus, die Vorstellung der Ganzheit aus

der Pluralität, Widerspruch und Zweiheit, sowie die sympathetische Einheit von Mensch und

Natur.

Ausdifferenzierung und Genese des szientistischen Naturverständnisses

Die Genese des szientistischen Naturverständnisses, welches durch einen intellektuellen,

analytischen und objektivierenden Naturzugang gekennzeichnet ist, nimmt ihren Ausgang in

der Antike mit der Ausdifferenzierung von Mythos und Logos. Die mythische Erschließung

von Naturphänomenen durch ihre Zurückführung auf das Wirken von Gottheiten wird mit

der beginnenden kognitiven Durchdringung der Natur von einer zunehmend rationalen Er-

klärung abgelöst. Platon sah dabei in der intellektuellen Produktion und Rekonstruktion des

Kosmos ein hermeneutisches Instrument der Naturerkenntnis. Die hier beginnende hierar-

chische Unterscheidung von sicherer, allgemeingültiger und objektiver rationaler Erkenntnis

auf der einen Seite und der partikularen, nicht verallgemeinerbaren sinnlichen Erkenntnis

5 Vgl. J. Zimmermann, Vorwort, in: J. Zimmermann (Hg.), das Naturbild des Menschen, München 1982, 1-9.

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auf der anderen Seite wird sich wie ein roter Faden durch die Philosophiegeschichte der Er-

kenntnistheorie ziehen. 6

Einen weiteren wesentlichen Entwicklungsschritt des szientistischen Naturverständnisses

stellt die im christlichen Mittelalter dominierende Vorstellung der realen Produktion des

Kosmos durch den als Weltarchitekt vorgestellten Schöpfergott dar. Karen Gloy sieht im

Zusammenspiel des antiken Gedankenguts mit dem mittelalterlichen Schöpfungsmythos die

wegbereitende Bedingung für die Vorstellung der Welt als einer machina mundi, die sich

mit Beginn der Neuzeit und Moderne unter dem Einfluss neuer wissenschaftlicher Erkennt-

nisse, etwa der newtonschen Mechanik, und unter dem Einfluss geisteswissenschaftlicher

Strömungen, etwa dem Cartesianischen Substanzdualismus7, im Rahmen eines materialis-

tisch-mechanistischen Weltbildes verfestigt und universalisiert wird.8 Der zum Selbstbe-

wusstsein erwachte Mensch, der sich unter Berufung auf seine Gottesebenbildlichkeit als Al-

ter Deus versteht, wird selbst zum maître et possesseur de la nature9 (aus Descartes´

Discours de la méthode, 1637), zum realen Konstrukteur und Vollender der Natur.

Anhand der Uhrenwerksmetapher des mechanistischen Weltbildes lassen sich entschei-

dende Charakteristika desselben exemplifizieren: Die machina mundi wird, einem Uhrwerk

gleich, als Mechanismus vorgestellt, der quantitativ und kausal durch die reduktionistische

Zurückführung ihrer Funktionsweise auf Druck und Stoß erklärt werden kann. Ihren theore-

tischen und methodologischen Rahmen findet die durch das mechanistische Weltbild ge-

prägt Forschung im Cartesianischen Wissenschaftsparadigma und der von Francis Bacon

(1561-1626) weiterentwickelten experimentellen Methode, in welcher Naturerkenntnis unter

Laborbedingungen ausschnitthaft durch Objektivierung, Sektion, Mathematizität und Re-

duktion komplexer Zusammenhänge auf kohärente, allgemeingültige und gesetzesmäßige

Aussagen gebracht wird. Der Experimentator, so das von Bacon verwendete Bild, sitzt über

die Natur als einer Angeklagten zu Gericht und ringt ihr ihre Geheimnisse gewaltsam ab.10

Mit der Hierarchisierung der Erkenntnisvermögen gehen eine Aufwertung der

Vernunfterkenntnis und eine Abwertung der sinnlich-phänomenalen Erkenntnis, sowie die

Trennung von Theorie und Praxis, Ganzheit und Teilen, Subjekt und Objekt und schließlich

auch die Trennung von Mensch und Natur einher. Der Mensch ist aus der Natur herausgefal-

len,11

wodurch Natur zu seinem Gegenüber stilisiert wird - eine notwendige Bedingung für

die fortschreitende Instrumentalisierung und Verfügbarmachung der Natur durch den Men-

schen. Der hierin begründete Herrschafts- und Überlegenheitstopos schlägt sich heute in ei-

ner anthropozentristischen Sichtweise auf die Natur nieder, in welcher der Mensch im Mit-

telpunkt des moralischen Universums steht und ausgehend von seinen Interessen über den

angemessenen Umgang mit der Natur, die ihm als funktionale Umwelt erscheint, befindet.

6 Mit Einsetzen der theoretischen Reflexion (auf die Natur) beginnen sich die beiden epistemischen Erkenntnisvermö-

gen auszudifferenzieren: Der Ideenlehre Platons und seiner Unterscheidung von Ideen- und Sinnenwelt folgend ist der

Mensch vermittels seines rationalen Erkenntnisvermögens in der Lage, über die bloß sinnlichen Erscheinungen (den

veränderlichen Schatten der Ideen, den Abbildern) hinaus ihre Teilhabe an den unwandelbaren und ewigen Ideen (Ur-

bilder) zu erinnern. Die so geschaffene ontologische Kluft zwischen Sinnen- und Ideenwelt (der sogenannte Chorismos)

überführt in das Problem, wie das seiende Einzelding und die Idee aneinander Anteil haben (das sogenannte Methexis/

Teilhabe-Problem). 7 Im Cartesianischen Substanzdualismus wird das weitgehend unverbundene Nebeneinander von Materiellem (Ausge-

dehntem/ res extensa) und Geistigen (res cogitans) vorgestellt. 8 Vgl. K. Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. Das Verständnis der Natur, a.a.O. (Fn. 3), 138-141.

9 Ebd., 179.

10 Ebd., 180f.

11 Ebd., 18.

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Das ganzheitliche Naturverständnis

Das ganzheitliche Naturverständnis ist nicht allein als Reaktion auf die Zuspitzung des

szientistischen Naturverständnisses in der Vorstellung der Welt als machina mundi zu be-

greifen. Beide Naturverständnisse entwickelten sich vielmehr parallel zueinander, was auf

die Überlieferungsgeschichte und eine stark voneinander abweichende Rezeption antiker

Schiften etwa von Platon und Aristoteles im Mittelalter und in der Renaissance zurückzufüh-

ren ist, die einmal mehr im Sinne eines szientistischen, einmal mehr im Sinne einer ganz-

heitlichen Betrachtung der Natur ausgelegt wurden.12

Von vorrangigem Interesse ist nun die

sinnlich-phänomenale Zugangsweise zur Natur, die in der ganzheitlichen Betrachtung der

Natur als alternatives Erkenntnisvermögen in den Mittelpunkt gestellt wird.

In der ganzheitlichen, organizistisch-lebensweltlichen Sichtweise auf die Natur wird die

Einheit von Mensch und Natur vorgestellt, in welcher der Mensch als besonders aktiver Teil

hervorgehoben wird. Die Natur selbst wird nicht als Mechanismus, sondern als belebter Or-

ganismus vorgestellt; An die Stelle der Uhrwerksmetapher tritt bezeichnenderweise das Bild

der Deutschen Eiche. Naturerkenntnis ist dem Menschen neben dem rationalen ebenfalls

durch einen emotionalen und sinnlichen Zugang, durch Kontemplation, Anschauung, Phan-

tasie, Gefühle und Empathie möglich, in denen ein Raum für eine Stimmung des Sich-Eins-

Fühlens mit der Natur, eine partnerschaftliche, zwischendingliche Ich-Du-Beziehung eröff-

net wird.

Besonders deutlich sehen wir diesen Naturzugang bei den Naturphilosophen des deut-

schen objektiven Idealismus und der Romantik vergegenwärtigt. Etwa bei Friedrich Wil-

helm Joseph Schelling (1775-1854), der die Natur als eine ideell verfasste betrachtete, deren

ideellen Prinzipien sich im Laufe der Entwicklung entfaltet haben und so die Natur sich im

Menschen selbst bewusst werden konnte. Oder etwa bei dem Dichter und Schriftsteller der

Romantik Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, 1772-1801), dessen

romantische Naturauffassung insbesondere anhand seiner Romanfragmente Heinrich von

Ofterdingen oder den Lehrlingen zu Sais rekonstruiert werden kann.

Novalis betrachtete Unbewusstes und Sinnliches neben der Ratio als Erkenntnisvermö-

gen. Wissen und Empfinden warem ihm eins. Entgegen einer objektiven szientistischen Na-

turerkenntnis galt es daher, den subjektiven Erfahrungsraum für eine Überwindung der Sub-

jekt-Objekt-Dichotomie zu öffnen und die Wesenhaftigkeit der Natur zur Sprache zu brin-

gen; Eine Aufgabe, die dem Dichter der Romantik zukam. In der Traum- und Schattenmeta-

phorik, in Phantasie, Märchen, Poesie und der magischen Einbildungskraft äußerte sich das

Bedürfnis und die Sehnsucht nach Unendlichkeit, sowie des Hinübergleitens und Ver-

schwimmens der Subjekt-Objekt-Grenzen, von Mensch und Natur. Besonders prägnant wird

die Gegenüberstellung von der szientistisch-rationalen und ganzheitlich-sinnlichen Zu-

gangsweise zur Natur in einem Gedicht aus Novalis Romanfragment Heinrich von

Ofterdingen:

12 Vgl. K. Gloy, Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. Das Verständnis der Natur, a.a.O . (Fn. 3), 138.

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Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen

Wenn die so singen, oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freye Leben

Und in die Welt wird zurück begeben,

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

Zu echter Klarheit wieder gatten,

Und man in Mährchen und Gedichten

Erkennt die wahren Weltgeschichten,

Dann fliegt vor Einem geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort. 13

Der epistemisch sinnlich-phänomenale Zugang zur Natur findet Eingang auch in die wis-

senschaftlichen Untersuchungsmethoden. An die Stelle des analytischen Experimentators

tritt daher der Naturbeobachter, der auf den Spuren der Natur wandelt, anstatt sie kogniti zu

durchdringen, Alchemie statt Chemie, Astrologie statt Astronomie betreibt. Dem

Cartesianischen Wissenschaftsparadigma wird das Romantische Wissenschaftsparadigma

entgegengestellt, das auf ganzheitliche Betrachtung, Kooperation und sinnlichem

Erkenntnisvermögen aufbaut.14

In der ganzheitlichen Betrachtung der Natur liegen die

Wurzeln heutiger physiozentrischer Ansätze ökologischer Ethik begründet, demjenigen

Lager im ökoethischen Diskurs, das der Natur einen inhärenten, objektiven, vom Menschen

unabhängig existierenden Eigenwert zuschreibt, aus dem ein moralischer Status der nicht-

menschlichen Natur abgeleitet werden soll.

Dominanz der szientistischen Sichtweise auf die Natur:

Die Mehrdeutigkeit des Naturbegriffs, die sich auch in den divergierenden Naturverständnis-

sen niederschlägt, ist „nicht allein Ausdruck eines definitorischen Mangels, dem durch die

Vereinbarung allgemeingültiger Verwendungsregeln ein für allemal Abhilfe geschaffen wer-

den könnte“15

, sondern liegt Jörg Zimmermann zufolge in der (hier nur aspektivisch darge-

stellten) Vielfalt motivierender historischer und gesellschaftlicher Faktoren begründet. Es

lässt jedoch ein Naturverständnis herausstellen, das bis heute unsere Vorstellung von und in-

folgedessen unseren gegenwärtig instrumentalisierenden Umgang mit der äußeren nicht-

menschlichen Natur bestimmt: Das szientistische Naturverständnis, in dem die Möglichkeit

der Instrumentalisierung und Verfügbarmachung der Natur als Umwelt genuin veranlagt ist.

Die Problematik, den Begriff der Natur in seiner Doppelaspektivität von physischer Natur

einerseits und Wesenhaftigkeit andererseits philosophisch hinreichend zu definieren, ge-

reichte der Naturwissenschaft zum Vorteil, die eine Vormachtstellung auf die Erklärung der

Natur erhebt und den Begründungsanspruch der Philosophie in den Hintergrund zu drängen

versucht ist. Die einstige Totalvorstellung von Natur ist einem objektiven naturwissenschaft-

lichen Naturbegriff gewichen. 16

Die unauslotbare Affäre wird zu einem wissenschaftlich

13

Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Reclam, Stuttgart 1987, 178f. In Tiecks Bericht über die Fortsetzung des Romans

steht vermerkt, dass das Gedicht in das Romanfragment eingebaut werden sollte. 14

Vgl. Sabine Müller, Programm für eine neue Wissenschaftstheorie, a.a.O. (Fn. 1), 71. 15

J. Zimmermann, Vorwort, in: J. Zimmermann (Hg.), das Naturbild des Menschen, München 1982, 8. 16

Vgl. J. Zimmermann, Vorwort, in: J. Zimmermann (Hg.), das Naturbild des Menschen, München 1982, 7f.

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analysierbaren und rekonstruierbaren Gegenstand. Die sinnlich-phänomenale Naturerkennt-

nis wird aus Mangel an Objektivität und aufgrund ihrer formalen Schwächen zu einer Pri-

vatangelegenheit erklärt.

Der Szientismus ist gekennzeichnet durch eine Ablehnung des Übersinnlichen und eine

Anerkennung lediglich dessen, was erfahrbar ist. Dieses Wirklichkeitsverständnis, so And-

reas Vieth und Michael Quante, sei sehr verengt, da es Realität mit Existenz identifiziere.

Die Alltagserfahrung und die naturwissenschaftlichen Erfahrungen in der Physik und der

anorganischen Chemie widersprächen diesem Reduktionismus grundsätzlich.17

Diese re-

duktionistische, weil einseitig naturwissenschaftliche Sichtweise auf die Natur bleibt daher

nicht unkritisiert. So argumentieren viele Autoren, der Substanzdualismus oder die Ver-

absolutierung der analytischen Methode des cartesianischen Wissenschaftsparadigmas seien

ungeeignet, um qualitative Phänomene und Ganzheiten, insbesondere lebendige Systeme,

Autopoiesis und Komplexitäten zu verstehen, da sie Organismen nach dem unpassenden

Modell des Mechanismus beschreiben - und sie somit entqualifizieren. Nicht das Erkennt-

nisstreben, das Objektivitätsideal oder die empirische Ausrichtung der Naturwissenschaft als

solcher ist dabei zu bemängeln, sondern die Übertragung des Objektivitätsideals auch auf

andere, alternative Naturverständnisse. 18

Die naturwissenschaftliche Betrachtung der Natur

führt auf ihrem Gebiet zu zweckmäßigen, adäquaten Beschreibungen, die intersubjektiv

kommunizierbar sind. Diese Deskriptionen sind jedoch allenfalls als aspektivische Darstel-

lungen eines bestimmten erkenntnistheoretischen Zugangs zur Natur zu betrachten. Denn

sobald der naturwissenschaftliche Rahmen verlassen ist und im Rahmen eines ökoethischen

Diskurses die Frage nach der Wesenhaftigkeit (die aristotelische Ti-Estin-Frage) oder Ei-

genwerthaftigkeit der Natur gestellt wird, endet der Legitimitätsbereich naturwissenschaftli-

cher Deskriptionen. Heute sehen wir in der ökoethischen Diskussion daher vermehrt eine

Rehabilitation der organizistischen Sichtweise auf die Natur, die sich u.a. an eben genannten

Strömungen historisch rückversichert.

Natur im Alltagsverständnis

Dass sich die Natur nicht einseitig auf einen naturwissenschaftlichen Begriff bringen lässt,

zeigt sich insbesondere anhand unseres alltäglichen Naturverständnisses, das der

Reduzierung der Natur auf ein naturwissenschaftliches Verständnis ein vielstimmiges

Naturmotiv19

entgegenstellt, welches im Alltagsbewusstsein und in der Alltagssprache

aufgegriffen wird. Unser alltägliches Natürlichkeitsverständnis speist sich dabei aus

partikularen Einstellungen und Interessen, kulturell geprägten vor-wissenschaftlichen

Annahmen über die Natur und nicht zuletzt auch aus bestimmten naturwissenschaftlichen

Wissensvoraussetzungen. Diese Interessen, Neigungen und kulturellen, religiösen oder

anthropomorphisierenden Sichtweisen, können unser Verständnis für Natur partikular einfär-

Inwiefern jedoch letztlich die Naturwissenschaften selbst dem Anspruch auf Objektivität gerecht werden ist nicht ohne

Grund Gegenstand zahlreicher Diskussionen, denn letztlich stehen heute viele Forschungsvorhaben im Dienst höherer

Ziele, denen forschungsrichtungsleitende Wertvorstellungen und subjektive Interessen vorangehen. 17

Vgl. A. Vieth/ M. Quante, Chimäre Mensch?, in: K. Bayertz (Hg.), Die menschliche Natur. Welchen und wieviel

Wert hat sie?, Paderborn 2005, 211f. 18

Vgl. Sabine Müller, Programm für eine neue Wissenschaftstheorie, a.a.O. (Fn. 1), 47/ 56-60. 19

Vgl. O. Schwemmer, Einleitung des Herausgebers, in: O. Schwemmer (Hg.), Über Natur, Frankfurt am Main 1987,

7.

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ben und Einfluss auf den Umgang mit ihr nehmen, ersichtlich etwa an den Lehrtraditionen

der Buddhisten oder der indischen Jaina, die sich durch einen rücksichtsvollen Umgang mit

ihrer Umwelt auszeichnen. Die alltäglichen Naturverständnisse stehen neben dem

dominierenden naturwissenschaftlichen Naturverständnis jedoch in einer defizitäre Position,

da sie aus rein naturwissenschaftlicher Sichtweise als irrational, partikular und spekulativ

dargestellt und somit entsprechend naturwissenschaftlicher Prämissen nicht als wirkliche Er-

kenntnis akzeptiert werden.20

Bezeichnenderweise ist das Natürlichkeitsverständnis in den

verschiedenen Ausprägungen durch eine kontinuierliche Positivierung des Naturnahen

gekennzeichnet, was sich in prägnanter Weise auch anhand der Verwendung des

Naturbegriffs in der Alltagssprache ablesen lässt.

Positivierung der Natur in der Alltagssprache

Die implizite Bevorzugung des Natürlichen vor dem Künstlichen spiegelt sich in der Spra-

che wider. Äußerungen, die das Wort natürlich enthalten, werden zunächst im positiven

Sinne verstanden, es sei denn, die Aussagen widersprechen unsere eigenen Überzeugungen.

Der Begriff natürlich findet etwa in rein moralisch wertender Bedeutung Verwendung als

Gegenbegriff zum Widernatürlichen, Abartigen, Degenerierten oder Perversen, oder im Sin-

ne des Vertrauten, Selbstverständlichen und Normalen; Mit natürlich bezeichnen wir auch

Authentisches, Unverfälschtes, Echtes und Spontanes – als Gegenbegriffe fungieren hier das

eher negativ konnotierten Gekünstelte, Affektierte, übermäßig Angepasste. In dieser Bedeu-

tung wird Natürlichkeit häufig mit der Vorstellung von Freiheit, Ungezwungenheit und In-

dividualismus verbunden; Eine weitere Verwendung des Begriffs natürlich funktioniert als

Synonym für Stimmiges, Organisches, Harmonisches, Proportioniertes im Gegensatz zum

Unstimmigen, Anorganischen, Dissonanten und Deformierten. Schließlich gibt es noch die

Konnotation des Natürlichen mit dem Reinen, die zu einer Positivierung des Begriffs beitra-

gen. Unreinheit, Gefährlichkeit und Schaden werden zumindest in unserer Kultur häufiger

mit der Belastung durch zivilisatorische Aktivitäten assoziiert. In all diesen Verwendungen

ist mit natürlich jedoch gerade nicht die Natur, sondern das von kulturellen Normen und so-

zialen Erwartungen Bestimmte gemeint (Tradition, Herkunft, Orientierung).21

Dieser Natürlichkeitsbonus macht sich auch an der von der sozialpsychologischen Risi-

koforschung verschiedentlich beobachteten Tendenz bemerkbar, dass natürliche Übel und

Gefahren eher toleriert werden, als anthropogen verursachte, obwohl Naturkatastrophen wie

Erdbeben, Lawinen und Überschwemmungen das gleiche Schadensausmaß und die gleiche

Schadenswahrscheinlichkeit aufweisen können, wie etwa menschlich bewirkte Kriege,

Chemieunfälle oder etwa Reaktorkatastrophen. Erklärt wird dies in der Soziopsychologie

mit der kognitiven Dissonanz als einer lebensdienlichen Strategie, sich an das Unvermeidba-

re zu gewöhnen.22

Doch anhand der an der Bedeutungsfamilie des Wortes natürlich ersichtlichen Positivie-

rung kann nicht erklärt werden, woher Natur ihre positive Konnotation bezieht. Sie lässt sich

Dieter Birnbacher zufolge jedoch an einigen wesentlichen geistesgeschichtlichen Anhalts-

20

Vgl. Fridolin Stähli, Vom erzieherischen Wert einer holistischen Umweltethik,

http://web.fhnw.ch/personenseiten/fridolin.staehli/_files/Holismus_Kurzfassung.pdf, (letzter Zugriff 09.07.2011). 21

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 31ff. 22

Ebd.: 37. Nicht zu vergessen, dass menschlich verursachte Katastrophen auf verantwortliche Personen zurückgeführt

werden können, insofern suprastrukturell angelegte Organisationsformen dies zulassen.

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punkten rekonstruieren: So wurde der Natur sowohl im Platonismus als auch im alttestamen-

tarischen Schöpfungsmythos, der im Sinne eines Auftrages zur Bewahrung, Hege und Pflege

und nicht als Herrschaftsauftrag gedeutet werden kann, ein Eigenwert zugestanden. Bei

Aristoteles besitzt die Natur im Gegensatz zum Artefakt das bereits erwähnte ihr inne-

wohnende Prinzip der Bewegung oder des Wachstums: die Entelechie, die unweigerlich

werthaft-positiv aufgeladen ist. Jedes Lebewesen strebt diesem Bewegungsprinzip zufolge

telelogisch nach seiner Selbstentfaltung, welche nicht nur für das Lebewesen selbst ein Gut,

sondern als Selbstzweck ansich gut ist. Eine psychologische Erklärung für die positive Wer-

tung des Natürlichen folgt dem Modell der Übertragung einer natürlichen Wertschätzung

unserer Eltern und Vorfahren auf die Vorgeschichte der Menschheit.23

Das Naturmotiv wird

Jörg Zimmermann zufolge auch in Anspruch genommen, um das zu charakterisieren, was

nicht durch praktische Absichten oder Sinnsuche inspiriert wurde. Der Rückgriff auf die Na-

tur komme der Sehnsucht des Menschen entgegen, in etwas Festem und Beständigem Halt

zu finden, das nicht der Wandelbarkeit menschlicher Einstellungen unterworfen ist. Mit Na-

tur werde somit etwas bezeichnet, das sich vor dem Hintergrund der wechselhaften Ge-

schichte unseres Denkens, den sich verändernden Ansichten und Meinungen, als feste

Orientierungsmarke, als etwas Konstantes und Invariantes abhebe.24

Diskreditierung von Natürlichkeitsargumenten im ethischen Diskurs

Während sich in der Alltagssprache der normative Gehalt des Naturbegriffs äußert, ist die

Berufung auf die Natur als Begründungsinstanz in der akademischen Ethik jedoch weitge-

hend diskreditiert. Sogenannte Natürlichkeitsargumente, die im ökoethischen Diskurs für die

Begründung des moralischen Status der Natur angeführt werden, haben mit epistemologi-

schen/ erkenntnistheoretischen und ontologischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Ein-

wände gegen die Berufung auf die Natur als einer Begründungsinstanz lassen sich systema-

tisch darstellen.

a) metaethische, logische und semantische Einwände

Kritisiert wird etwa die Multifunktionalität der Begriffe Natur und natürlich, wie sie sich

bereits in der Eingangsdarstellung des Definitionsproblems oder in der alltagssprachlichen

Positivierung angekündigt hat. Die Offenheit des Naturbegriffs ist insofern problematisch,

als dass sie zu Konfusionen und Scheinargumenten förmlich einlädt. Es besteht die begrün-

dete Befürchtung, dass die Berufung auf Natur und Natürlichkeit vielen Ethikern und Mora-

listen als Freibrief dienen könnte, ihre jeweiligen persönlichen moralischen Intuitionen in

die Natur hineinzuprojizieren. Eine Argumentation mit Natürlichkeitsbegriffen kann immer

nur dann akzeptabel sein, wenn klargestellt wird, auf welche Natur und welche Art von Na-

türlichkeit man sich beruft. Daran fehlt es jedoch in den meisten naturalistischen Argumen-

ten; So wird die Glaubwürdigkeit der Argumentation generell und von Natürlichkeitsargu-

menten im Besonderen geschmälert.25

Einer der bekanntesten Einwände ist der des Naturalistischen Fehlschlusses, ein

von Edward Moore um etwa 1903 geprägter Begriff. Das Prinzip des Naturalistischen Fehl-

23

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 35-37. 24

L. Schäfer, Wandlung des Naturbegriffs, in: J. Zimmermann (Hg.), Das Naturbild des Menschen, a.a.O. (Fn. 13), 11-

13. 25

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 19.

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schlusses besagt, dass Normen und Werte nicht aus der Natur oder den bloßen Naturge-

schehnissen abgeleitet werden können, da sie stets einer rationalen Begründung bedürfen.26

Der Naturalistische Fehlschluss ist eng mit einem ethischen Einwand gegen die Berufung

auf die Natur als einer ethischen Begründungsinstanz verbunden:

b) ethischer Einwand:

Das Hauptargument normativ ethischer Einwände lautet, die Natur eigne sich nicht als

Vorbild menschlichen Handelns, da sie nicht nur moralisch indifferent sei, sondern auch

zerstörerisch und verschwenderisch walte.27

Die Berufung auf die Natur als moralische Be-

gründungsinstanz, etwa die Zurückführung eigener Handlungen auf Naturgegebenheiten an-

statt auf vernünftige Gründe und somit eigene Zwecksetzung, habe daher schon immer ve-

rantwortungseliminierend gewirkt.

Der Naturalistische Fehlschluss bleibt im ökoethischen Diskurs jedoch als vielzitiertes

und überstrapaziertes Totschlagargument, das allzu schnell bei der Hand ist, nicht unkriti-

siert. Vieth und Quante sind etwa der Meinung, dass die strikte Trennung zwischen deskrip-

tiven und evaluativen Eigenschaften in den Randbereichen der Naturwissenschaften zwar

möglich sei, im Bereich der Biologie und speziell der Biologie des Menschen jedoch gäbe es

Begriffe (Leben, Gesundheit, …), denen ein evaluativ-deskriptiver Doppelcharakter zu ei-

gen sei. Bei diesen Begriffen könne eine Unterscheidung von Deskription und Normativität

nur um den Preis eines Reduktionismus gelingen.28

So ist insbesondere in physiozentrischen

ökoethischen Ansätzen, die für eine Eigenwerthaftigkeit der Natur plädieren, eine partielle

Renaissance von Natürlichkeitsargumenten zu beobachten, die sich mit der Berufung auf

den evaluativ-deskriptiven Doppelcharakter natürlicher Dimensionen als Dimensionen auch

des guten menschlichen Lebens gegen den voreiligen Naturalistischen Fehlschluss verteidigt

wissen wollen.

c) pragmatische Einwände

Eine weitere Gefahr bei der Berufung auf die Natur wird darin gesehen, dass bestehende

natürliche Unterschiede zwischen Geschlechtern, Rassen, Ethnien usf. mit der Berufung auf

die Natur eine objektive Basis für Diskriminierung und Rechtmäßigkeit einer Ungleichbe-

handlung erhalten könnten.29

Attraktivität der Natur als ethische Begründungsinstanz

Trotzdem Natürlichkeitsargumente aufgrund der oben genannten Einwände in der akademi-

schen Ethik weitgehend diskreditiert sind, ist die Natur in der anwendungsorienierten Öko-

und Biomedizinethik aus mehreren Gründen als Berufungsinstanz zur Rechtfertigung mora-

lischer und anderer sozialer Normen attraktiv. Denn sie erfüllt die Bedingungen, die eine

universalistische Ethik – das dominante Ethikmodell der abendländischen Philosophie – an

begründete moralische Normen stellt: Die Natur wird aus naturwissenschaftlicher Perspekti-

ve als von universalen und ausnahmslos geltenden Naturgesetzen durchherrscht vorgestellt

26

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 17. 27

Ebd., 19. 28

Vgl. A. Vieth/ M. Quante, Chimäre Mensch?, in: K. Bayertz (Hg.), Die menschliche Natur. Welchen und wieviel

Wert hat sie?, a.a.O. (Fn. 14), 205f. 29

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 21.

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und ist in dieser Eigenschaft, anders als die Menschenwelt, in ihren Verlaufsformen un-

wandelbar. Ihre Teilelemente (Prozesse, Ereignisse, Gesetzmäßigkeiten, Unveränderlichkeit)

sind objektiv und unabhängig von bestimmten kulturell geprägten Perspektiven und Deu-

tungen. Zudem ist sie, anders als die Menschenwelt, grundlegend egalitär, denn sie ist im

Prinzip für alle in gleicher Weise kognitiv zugänglich. Kraft der Universalität bietet sich die

Natur in besonderer Weise als idealer Nachfolger für verloren gegangene religiöse und an-

dere kulturelle Gemeinsamkeiten an. Dank ihrer Objektivität soll die aus der Natur abgelei-

teten Normen auf einem festen Fundament - einem fundamentum in re- ruhen, das gegen

Willkür, Suggestion und Manipulation stärker gefeit ist, als bestehende, pluralistisch zerfal-

lene Morallehren, so Birnbacher.30

Der Einwand jedoch, dass der ethische Naturalismus stets verantwortungseliminierend

gewirkt hat, trifft die Kritik an der Berufung auf die Natur als einer moralischen Begrün-

dungsinstanz im Kern. Der ethische Naturalismus unterminiert unser Rechts- und Moralver-

ständnis, das grundlegend auf der Annahme aufbaut, dass menschliche Handlungen und et-

waige Folgen auf ihren Urheber als einem zwecksetzenden und von eigenen Gründen gelei-

teten autonomen Subjekt zurückgeführt werden können.31

Wenn Natur selbst keine Legitimationsinstanz sein kann, stellt sich jedoch die Frage,

wie im ökoethischen Diskurs von einer Eigenwerthaftigkeit der äußeren Natur, aus der sich

eine moralische Berücksichtigungswürdigkeit ableiten lassen soll, begründeterweise gespro-

chen werden kann. Die Grundfrage in diesem zweiten Teil des Beitrages lautet daher, ob die

belebte und unbelebte nicht-menschliche Natur einen eigenen oder nur einen von menschli-

chen Interessen abgeleiteten Wert hat. Diese Frage erfordert die kritische Revision des Kri-

terien-Kataloges, der für die Begründung einer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit

der nicht-menschlichen Natur und somit für die Forderung der Ausdehnung der moral com-

munity über den zwischenmenschlichen Bereich hinaus von physiozentrischen ökoethischen

Ansätzen angeführt wird.

Überblick über die ökoethischen Ansätze: Anthropozentrismus und Physiozentrismus

Fragt man grundsätzlich nach einem Eigenwert der Natur, so bieten sich zwei mögliche, ei-

nander entgegengesetzte Zugänge zum Einstieg in den ökoethischen Diskurs an, die den

Verlauf der Argumentation entscheidend prägen: Erstens, der Anthropozentrismus (griech.

anthropos: Mensch), der den Menschen und seine Interessen in den Mittelpunkt des morali-

schen Universums stellt und die Zuerkennung eines moralischen Eigenwertes der Natur ab-

lehnt. Die Natur wird in erster Linie als Ressource für die grundlegende Bedürfnisbefriedi-

gung und Existenzsicherung des Menschen erachtet. Eine moralische Berücksichtigungs-

würdigkeit ergibt sich nur aus einem vom Menschen abgeleiteten Interesse an der Natur.

Zweitens, der Physiozentrismus (griech. physis: Natur), der die Natur um ihrer selbst willen

als moralisch berücksichtigungswürdig betrachtet und ihr einen inhärenten, vom Menschen

unabhängigen Eigenwert zuspricht.32

30

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 42f. 31

Man denke an den Zustand der Unzurechenbarkeit einer Person, der sich in einem Rechtsverfahren strafmildernd

auswirken kann. 32

Vgl. A. Krebs, Ökologische Ethik I: Grundlagen und Grundbegriffe, In: J. Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik.

Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, Alfred Kröner, Stuttgart 2004, 390ff.

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Diese beiden Standpunkte ergeben sich als logische Konsequenz aus den unterschiedli-

chen Sichtweisen auf die Natur, die eingangs als szientistische und ganzheitliche Sichtweise

definiert wurden. Die Natur erscheint unter Berücksichtigung der epistemisch unterschiedli-

chen Naturzugänge aus anthropozentrischer Perspektive, die ihre historische Rückversiche-

rung im szientistischen Naturverständnis findet, als Umwelt des Menschen (als Gegenüber

der Natur) und aus physiozentrischer Perspektive, die ihre historische Rückversicherung in

dem ganzheitlichen Naturverständnis findet, als Mitwelt des Menschen (in welcher der

Mensch einen besonders aktiven Part einnimmt).

Der Physiozentrismus gliedert sich wiederum in drei verschieden starke Varianten, die je-

weils ein anderes Kriterium für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit der äußeren

Natur anführen.

a) Der Pathozentrismus (griech. pathos: Leid), der alle empfindungsfähigen Wesen in

den Kreis der moralisch Berücksichtigungswürdigen mit einbezieht.

b) Der Biozentrismus (griech. bios: Leben), der allen lebendigen Organismen einen

moralischen Eigenwert beimisst und sich gegen den epistemischen Wertanthropozent-

rismus, der alleinigen Zuschreibung von Werten durch den Menschen als wertendes

Subjekt, positioniert.

c) Der radikale Physiozentrismus oder Holismus (griech. holos: das Ganze), welcher

sowohl einzelnen belebten und unbelebten Entitäten, sowie ganzen Systemen, Arten-

populationen, Spezies, etc. einen moralischen Eigenwert zuspricht. Ob eine radikal-

physiozentrische/ holistische Position egalitär oder hierarchisch strukturiert ist, ermisst

sich an der Bedeutung des oben erwähnten moralischen Eigenwertes jedes belebten

oder unbelebten Objektes. Er kann für die Gesamtheit aller Lebewesen gleich, oder im

Verhältnis zum Menschen abgestuft sein. 33

Je nachdem welcher Spielarten die unterschiedlichen ökoethischen Konzepte folgen, ha-

ben wir es mit einem weiten oder engeren Kreis der moralisch zu Berücksichtigungswürdi-

gen zu tun. Jeder Ansatz bezieht sich dabei stets auf andere formale Ethiken, die als Gerüst

für die eigene Argumentation dienen, etwa deontologische/ Pflicht-Ethiken, eudämonisti-

sche oder utilitaristische Ethikmodelle. Aufgrund der Unübersichtlichkeit der Argumente im

ökoethischen Diskurs empfiehlt es sich, einen systematischen Überblick über die häufigsten

Argumente des Anthropozentrismus und Physiozentrismus zu geben, wenngleich sich einige

Argumente partiell überschneiden.

Hauptargumentationsstränge des Anthropozentrismus

Im Anthropozentrismus, der die menschlichen Interessen in das Zentrum der moralischen

Berücksichtigungswürdigkeit stellt, werden nur von eben diesen menschlichen Interessen

abgeleitete Werte vorgestellt. Aus diesen wird dann ein moralischer Status der Natur abge-

leitet, der jedoch stets im Kontext der Bedeutung der Natur als einer Dimension des mensch-

lichen guten Lebens zu betrachten ist. Die Natur kann vor diesem Hintergrund nicht gegen

die Interessen des Menschen verteidigt werden. Mit Kant könnte man etwa argumentieren,

dass es keine direkten Pflichten gegenüber der Natur als einem moralischen Subjekt gibt,

33

Vgl. A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion. Suhrkamp

Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1997, 342f.

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sondern allenfalls indirekte Pflichten gegenüber der Natur in Ansehung menschlicher Inte-

ressen. Im Folgen werden die Hauptargumente für die Begründung einer moralischen Be-

rücksichtigungswürdigkeit der äußeren Natur in Ansehung menschlicher Interessen in den

Grundzügen vorgestellt.

1. Das basic-needs Argument

Dieses Argument stellt lediglich die existentielle Abhängigkeit des Menschen von der

Natur hinsichtlich der Erfüllung seiner Grundbedürfnisse zur Diskussion. Naturschutz sei

beispielsweise angesichts der voranschreitenden Industrialisierung, die mit dem Raubbau an

den begrenzten natürlichen Ressourcen einhergeht und die Existenz des Menschen langfris-

tig zu bedrohen scheint, von grundlegender Bedeutung für den Erhalt der Lebensgrundlage

des Menschen und daher zu befürworten. Die Stärke dieses Arguments liegt in dem Appell

an das fundamentale Eigeninteresse des Menschen.34

2. Das Aisthesis-Argument

Das Aisthesis-Argument (griech. aisthesis: sinnliche Wahrnehmung, Empfindung) ist ein

ästhetisches Argument, das die Natur als Quelle angenehmer, sinnlicher Erfahrungen und

Empfindungen des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Der Erhalt und die Kultivierung der

Natur können also aus Eigeninteresse oder aus Respekt des guten Lebens anderer Menschen

als erstrebenswert erachtet werden.35

Die Natur hat hier einen eudämonistischen Wert.

3. Das Heimat-Argument

Natur kann als Heimat des Menschen einen Teil seiner persönlichen Identität ausma-

chen, denn viele Menschen identifizieren sich mit einer Landschaft oder besonderen geogra-

phischen und klimatischen Gegebenheiten ihrer Heimat. Der Eigenwert, den die Individuali-

tät eines Menschen hat, kann so auf die Natur übertragen werden. Naturschutz wird dann als

Heimatschutz interpretierbar, durch den die Identität einer Gemeinschaft respektiert und ge-

wahrt wird.36

4. Das pädagogische Argument

Dieses Argument lehnt sich an die kantische Tradition an, der zufolge ein rücksichtsloser

Umgang mit der Natur den Mensch brutalisiere und die Verrohung menschlicher Sitten zur

Folge haben könne. Dies wirke schließlich negativ auf den moralischen Umgang der Men-

schen untereinander zurück. Die Festigung und Verfeinerung des menschlichen Charakters

könne gezielt durch den verantwortungsbewussten Umgang mit Tieren oder ästhetischer Na-

turkontemplation gesteigert werden. 37

34

Ebd., 364 f. 35

Ebd., 368f. 36

Ebd., 374f. 37

Ebd., 375f.

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Hauptargumentationsstrang des Physiozentrismus

Physiozentrische Positionen verlangen einen Paradigmenwechsel im Mensch-Natur-

Verhältnis und die Anerkennung eines inhärenten Eigenwertes der Natur. Die verschiedenen

Ansätze plädieren jeweils für eine verschieden große Reichweite der moral community unter

Berufung auf unterschiedliche Kriterien für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit.

Im Physiozentrismus können zwei Argumentationsstrukturen ausgemacht werden. Die

eine steht in einer anthropozentrischen Tradition, indem sie Bezug auf die zwischenmensch-

liche Moral und somit die traditionelle anthropozentrische Moraltheorie nimmt. Diese epi-

stemisch-anthropozentrischen Ausdehnungsargumente versuchen aufzuzeigen, dass sich im

Zuge des richtigen Verständnisses einer Kultur die Plausibilität der Schutzwürdigkeit der

Natur, oder gewisser Teile von ihr, automatisch ergeben würde. Die richtig verstandene Kul-

tur plädiere immer schon für eine Ausdehnung der Grenzen der moralischen Berücksichti-

gungswürdigkeit. Der zweite Argumentationsstrang verfährt in entgegengesetzter Richtung:

Eine absolute Wertordnung der Natur sollte als verbindliche Instanz für den menschlichen

Umgang mit der Natur anerkannt werden. Es handelt sich dabei um absolute Argumente. In

der folgenden Darstellung einiger der wichtigsten Argumente wird dieser Unterscheidung

Rechnung getragen. Bei dem ersten handelt es sich um ein epistemisch-anthropozentrisches

Ausdehnungsargument. Das darauf folgenden wird zu den absoluten Argumenten gezählt

und schließlich folgt ein letztes, holistisches Argument, das trotz einiger Ungereimtheiten

der physiozentrischen Position zugeordnet werden kann.38

Folgende Argumente bilden den

Hauptargumentationsstrang und führen die wichtigsten Kriterien an:

1. Das teleologische Argument

Das teleologische Argument (griech. telos: Zweck) steht für eine Ausweitung der moral

community auf vor allen Dingen nicht-menschliche Lebewesen und wird daher in erster Li-

nie von biozentrischen ökoethischen Ansätzen aufgegriffen In diesem Fall wird der Zweck

zum moralisch berücksichtigungswürdigen Kriterium einer Entität erklärt. Alle Lebewesen,

so das Argument, streben als teleologische Zentren des Lebens39

bewusst oder unbewusst,

das bedeutet, gleichgültig, ob sie ein bewusstes Interesse daran haben, oder nicht, auf die

Entfaltung ihrer artenspezifischen Eigenschaften und somit auf ihr eigenes Wohl hin. Hier

klingt der aristotelische Begriff der Entelechie erneut an, ein den Dingen innewohnendes

Prinzip der Bewegung, das auf Selbstverwirklichung zustrebt. Durch dieses Streben, ihre ei-

gene Ziel- und Zweckgerichtetheit, sind etwa lebendige Entitäten Zwecke an sich selbst, wo-

raus ihr inhärenter, unabhängig vom Menschen existierender Eigenwert begründet werden

soll, um derentwillen sie schützenswert sind. Je nach Reichweite des Ansatzes wird entwe-

der nur der belebten oder auch, wie im Holismus, der unbelebten Natur ein Telos zugespro-

chen.40

2. Das naturam-sequi-Argument

Das naturam-sequi-Argument wirft den oben angeführten epistemisch-anthropozentrisch

orientierten Argumenten vor, sie begingen menschliche Hybris, indem sich in ihren Begrün-

dungen der Wert der Natur durch das Erscheinen und die Wertung des Menschen allein er-

38

Ebd., 346f. 39

Vgl. P.W. Taylor, Die Ethik der Achtung gegenüber der Natur, In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 130. 40

Vgl. A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 352-355.

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kläre. Der Natur werde so ein vom Menschen unabhängiger Wert von Vornherein abgespro-

chen. Eine Überwindung des Anthropozentrismus sei somit trotz aller Bestrebungen nicht

möglich. Eine wirkliche Überwindung fordere, dass die beschränkte anthropozentrische

Wertperspektive transzendiert werde, um die absolute, in der Natur liegende Werteordnung

erkennen und befolgen zu können. In der natürlichen Ordnung habe alles, was komplex, bio-

divers, stabil, wohlgeordnet, harmonisch, systematisch, integer, gesund, alt, einzigartig, sel-

ten, wild, schön, bewusst, empfindend, teleologisch oder autonom ist, absoluten Wert.41

3. Das Holismus-Argument

Das holistische Argument wirft letztlich sowohl dem Anthropozentrismus, als auch dem

Physiozentrismus die prinzipielle Unterscheidung zwischen Mensch und Natur vor, der eine

falsche dualistische Ontologie zugrunde liege, in der sich eine westliche, cartesianische

Geisteshaltung widerspiegele, die den Menschen der Natur gegenüberstelle. Eine wirkliche

Ökoethik sei jedoch nur mit einer Überwindung dieses Dualismus möglich. Das mystische

Einheitserlebnis des Menschen mit der Natur, das Gefühl des Menschen, Teil der Natur zu

sein, stellt in diesem Argument eine Voraussetzung für menschliche Selbstverwirklichung

dar, die nicht unabhängig von der Natur stattfinden kann. Der Mensch sorgt für sein eigenes

gutes Leben, indem er gleichermaßen für das Ganze sorgt, der menschliche Eigenwert wird

auf die gesamte Natur übertragen. Besonders in der Deep ecology und der New Age -

Bewegung spielt das Holismus-Argument eine wichtige Rolle.42

Kritik am Anthropozentrismus

Vertreter des Anthropozentrismus sehen in ihren Ansätzen ein ausreichendes Potenzial, um

aus ihnen ein Begründungsprogramm für ein rücksichtsvolles Verhalten der Natur gegen-

über ableiten zu können. Seitens Vertreter des Physiozentrismus wird an dieser Stelle kriti-

siert, dass eine Norm zur Berücksichtigung der Natur dabei immer vom Ergebnis der be-

wussten Wahl des Menschen abhängt und die Natur, der nur abgeleitete Werte zugesprochen

werden, daher zwangsläufig in ihrer Bedeutung auf die notwendige Lebensbedingung des

Menschen reduziert wird.43

Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich an den mit der moralischen Sonderstellung des Men-

schen verbundenen Überlegenheitstopos. Vertreter physiozentrischer Positionen sehen in der

Annahme, der Mensch sei aufgrund seiner typisch menschlichen Eigenschaften der nicht-

menschlichen Natur überlegen, eine unbegründete Behauptung. Es handele sich dabei um

ein irrationales, willkürlich gesetztes und den Menschen selbst begünstigendes Vorurteil.44

Als entscheidendes Kriterium für die Höherwertigkeit des Menschen werden etwa sein freier

Wille und sein selbstreflektiertes Handeln angeführt, die ihn als ein moralisches Wesen aus-

zeichnen. Die moralische Berücksichtigungswürdigkeit lässt sich jedoch nicht allein auf die

Fähigkeiten zurückführen, ein eigenständiges moralisches Handeln ausbilden zu können.

Die Fähigkeit zum moralischen Handeln bedeutet lediglich, dass eine Handlung bewusst

zum Vorteil oder zum Nachteil eines moralisch berücksichtigungswürdigen Objektes ausge-

41

Es sei darauf hingewiesen, dass empfindungs- und handlungsfähigen Wesen die Fähigkeit zur Bewertung gewisser

Situationen oder Gegenstände nicht von allen Seiten ausdrücklich abgesprochen wird (insbesondere von Wissenschaft-

lern aus der Verhaltensforschung), ein Für und Wider kann an dieser Stelle jedoch nicht abgewogen werden. 42

Vgl. ebd.: 361-364. 43

Vgl. A. Pieper/ U. Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik. Eine Einführung. Beck´sche Reihe, München 1998, 41-43. 44

Vgl. P.W. Taylor, Respect for nature – A theorie of environmental ethics, Princeton University Press, 1986, 99 f.

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führt werden kann.45

Dass Menschen sich von anderen lebendigen Organismen durch be-

stimmte Fähigkeiten unterscheiden, könne nicht als Indiz für die objektive Überlegenheit

des Menschen angeführt werden, denn im Gegenzug hätten nicht-menschliche Lebewesen

Fähigkeiten, mit denen der Mensch nicht aufwarten könne. Fähigkeiten wie rationales Den-

ken, Kreativität, Autonomie, Selbstbestimmung und moralische Reflexion,46

die der Mensch

als wertvoll bezeichnet, würden aus rein subjektiven Gesichtspunkten als höherwertig er-

achtet. Menschen beriefen sich daher von einem rein anthropozentrischen Standpunkt aus

auf ihre Überlegenheit. Nicht-menschliche Lebewesen sollten hingegen nicht an den Werten

und Maßstäben menschlicher Zivilisation, sondern allein an ihrem artenspezifischen Maß-

stab gemessen werden.

In der Annahme der objektiven Überlegenheit des Menschen gründet auch die Vorstel-

lung von einem ihm innewohnenden, im Gegensatz zur nicht-menschlichen Natur bedeu-

tungsvolleren inhärenten Wert. Paul W. Taylor ist der Meinung, diese Hierarchisierung in-

härenter Werthaftigkeit könne auf die mittelalterliche Ständegesellschaft zurückgeführt wer-

den, in der adelig Geborene aus besser situierten sozialen Schichten höher wertgeschätzt

wurden, als Niedriggeborene. Ein Vorurteil, mit dem in den letzten Jahrhunderten aufge-

räumt wurde, denn heute widerspricht dieses Bild der Einstellung der westlichen Welt von

der Gleichheit aller Menschen. In Bezug auf nicht-menschliche Lebewesen ist diese Unter-

scheidung jedoch nach wie vor Gang und Gäbe, denn durch das Absprechen oder die Zu-

schreibung eines niedrigeren inhärenten Wertes kann in jeder Konfliktsituation, in der

menschliche Interessen mit den Bedürfnissen nicht-menschlicher Lebewesen kollidieren,

zum Vorteil des Menschen entschieden werden.47

Die Erstellung einer hierarchischen Konzeption der Natur basiert laut Paul W. Taylor auf

einer Reihe historischer, irrationaler Vorurteile, die zu Gunsten des Menschen ausfallen.

Taylor führt drei wesentliche Traditionsstränge an, von denen die Überlegenheit des Men-

schen gegenüber nicht-menschlicher Lebewesen hauptsächlich herrührt: Der klassisch grie-

chische Humanismus, der die Rationalität als subjektive Qualität zum entscheidenden Krite-

rium für die Höherwertigkeit des Menschen erklärte; Die jüdisch-christliche Konzeption der

Great Chain of Being (die Stufenleiter des Seins), aus der sich die Höherwertigkeit des

Menschen gegenüber Pflanzen und Tieren daraus ableiten lässt, dass der Schöpfer ihn hie-

rarchisch über die nicht-menschlichen Lebewesen erhoben habe; Und schließlich der carte-

sianische Dualismus, der nur im Menschen ein beseeltes Wesen zu erkennen glaubt, Tiere

hingegen zu seelenlosen Automaten erklärt;48

Der griechische Humanismus betrachtete die Fähigkeit zum verstandesgemäßen Denken

als eine Notwendigkeit zur Erreichung eines guten menschlichen Lebens. Den anthropozent-

rischen Standpunkt verlassend, kommt der Mensch Taylor zufolge zu der Einsicht, dass der

Verstand keine notwendige Bedingung zur Erfüllung des Wohlergehens nicht-menschlicher

Lebewesen sein muss und sogar entbehrlich ist. Taylor liegt es fern, den griechischen Hu-

manismus und seine Bedeutung für den Menschen infrage zu stellen, es geht ihm lediglich

um die Kritik an einer Höherwertigkeit des Menschen, die sich ihm zufolge nicht notwendi-

gerweise aus dem griechische Humanismus ableiten lässt, da aus ihm nicht explizit hervor-

geht, dass Tieren kein eigenes Wohlergehen haben.

45

Ebd., 132f. 46

Ebd. 130f. 47

Vgl. P.W. Taylor, Die Ethik der Achtung gegenüber der Natur, In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28),

135f. 48

Vgl. P.W. Taylor, Respect for nature – A theorie of environmental ethics, Princeton University Press, 1986, 135.

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Auch die aus dem Mittelalter stammende metaphysische Ordnung der Great chain of

being, an deren Spitze Gott gefolgt von den Engeln steht, in deren Mitte der Mensch verortet

ist und auf deren unterster Stufe schließlich Tieren und Pflanzen ein Platz eingeräumt wird,

eignet sich Taylor zufolge nicht zu einem rationalen Argument hinsichtlich der Befürwor-

tung einer Höherwertigkeit des Menschen. Der auf den Monotheismus zurückzuführende

Schöpfergedanke, dass alle Dinge der Erde von Gott geschaffen und geordnet worden seien

und die Nähe zu Gott auf der Great Chain of Being ausschlaggebend für die Qualität ihres

inhärenten Wert sein könnte, stelle eine ebensolche subjektive Auffassung unserer Realität

dar, die eine objektive Sichtweise auf die Natur nicht zuließe.

Mit Descartes´ Unterscheidung zwischen beseelten Menschen und seelenlosen Tierauto-

maten wird das letzte historische Vorurteil angeführt, durch welches der inhärente Wert

nicht-menschlicher Lebewesen ins Hintertreffen gerät. Empfindung von Freude, Schmerz

und auch die Erinnerung knüpfen Descartes zufolge ausschließlich an den menschlichen

Geist und die menschliche Seele an. Die Behauptung der Existenz einer immateriellen Seele,

die allein dem Menschen zugesprochen wird, ist jedoch weitreichenden epistemisch-

ontologischen Begründungsschwierigkeiten ausgesetzt und funktioniert vor dem Hinter-

grund einer säkularisierten Ethik, in welcher der autonome, selbstbestimmte Mensch an die

Stelle Gottes als Legitimierungsinstanz des moralischen Gesetzes getreten ist, nur noch als

gruppenmoralische und daher nicht verallgemeinerbare Überzeugung. Seine Behauptungen,

Tiere seinen schmerzunempfindlich, wie jedes unbelebte Objekt auf Erden, kann heute zu-

dem aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Evolution des Lebens und durch

Verhaltensstudien von rationalen Beweisgründen ausgeschlossen werden.49

Kritik am Physiozentrismus

Anthropozentrische Ansätze nehmen für sich in Anspruch, angemessen auf die ökologische

Krise zu reagieren und sehen in physiozentrisch motivierten Ethiken die Gefahr, den Men-

schen als kritisches und autonomes Subjekt durch die Mystifizierung und Heiligsprechung

der Natur herabzusetzen und somit die Chancen für die Entwicklung eines Lösungsansatzes

hinsichtlich der ökologischen Krise zu schmälern.50

Zudem hat der Physiozentrismus mit einigen epistemisch-ontologischen Begründungs-

schwierigkeiten zu kämpfen, die sich im Wesentlichen auf die angeführten Kriterien für die

Begründung einer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit der nicht-menschlichen Natur

beziehen. Etwa die epistemisch-ontologischen Probleme bei der Begründung von inhären-

ten, objektiven Werten in der Natur. Die Behauptung von unabhängig vom Menschen exis-

tierenden inhärenten Werte in der Natur seitens Vertreter der materialen Wertethik wird von

den Gegnern mit dem Hinweis angefochten, dass Werte immer nur für wertende Wesen gel-

ten und der Mensch, im Sinne des epistemischen Anthropozentrismus, das einzige wertende

Wesen auf der Erde sei. Selbst wenn es objektive Werte unabhängig vom Menschen in der

Natur geben würde, so müssten diese letztlich stets auch vom Menschen anerkannt werden.

Der epistemische (Wert-)Anthropozentrismus, oder auch Wertsubjektivismus, ist unhinter-

gehbar, insofern der Mensch auf die Bedingungen seiner Erkenntnisfähigkeit zurückverwie-

sen ist. Vertreter der objektiven oder materialen Wertethik jedoch sind der Meinung, die al-

49

Vgl. P.W. Taylor, Die Ethik der Achtung gegenüber der Natur, In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 138-

140. 50

Vgl. A. Pieper/ U. Thurnherr (Hrsg.), Angewandte Ethik. Eine Einführung, a.a.O. (Fn. 39), 41-43.

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leinige Tatsache, dass der Mensch aufgrund seiner begrenzten Erkenntnisfähigkeit diese

Werte unter Umständen nicht erkennen kann, sei nicht gleichbedeutend mit der Nichtexis-

tenz derseben. So können etwa bestimmte Körperfunktionen, von denen der Mensch noch

kein Wissen hat, wertvoll für ihn sein, wenngleich er sich ihrer noch nicht bewusst ist.51

Auch die Behauptung einer ziel- und zweckgerichteten und somit handelnden Natur, wie

es das teleologische Argument anklingen lässt, wird einer kritischen Revision unterzogen.

Die Kritik richtet sich an die häufig nicht getroffene Unterscheidung von praktischen und

funktionalen Zwecken. Sich praktische Zwecke zu setzen bedeutet, seine autonomen Hand-

lungen von zielgerichteten, selbst gesetzten Beweggründen leiten zu lassen, wohingegen ein

funktionaler Zweck lediglich als Funktion, als passiver Zustand eines Ereignisses, betrachtet

wird. Funktionale Zwecke ereignen sich etwa bei Pflanzen in Form einer zielgerichteten

Entwicklung und Entfaltung ihrer artenspezifischen Eigenschaften, nicht jedoch als prakti-

sche Zwecksetzung im Sinne begründeter Handlungen.52

Diesen funktionalen Zwecken ha-

ben aus anthropozentrischer Perspektive keinen moralischen Wert und können daher nicht

als Kriterium für die Begründung einer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit der nicht-

menschlichen Natur angeführt werden.

Ähnliche Kritik richtet sich gegen die Behauptung von Interessen in der Natur, die gegen

menschliche Interessen aufgewogen werden sollen, denn es stellt sich die Frage, ob bei

nicht-bewussten Lebewesen überhaupt eine Form von Interesse vorliegen kann. Entschei-

dend ist auch hier in der Verwendung des Interesse-Begriffs eine Unterscheidung zu treffen.

Die Formel x hat Interesse an y etwa bedeutet, dass x ein bewusstes Interesse an etwas, an y,

hat, unabhängig davon, ob y gut oder schlecht für x ist. Ein Mensch kann etwa Interesse an

einer gefährlichen Sportart, Zigaretten, ungesundem Essen oder aber an Sport und einer ge-

sunden Ernährungsweise haben. Wichtig ist hier, dass das Interesse ein bewusst gesetztes

und Resultat eigener Handlungsentscheidungen ist (insofern kein Suchtverhalten vorliegt);

Es handelt sich dann um ein enges Interesse. In der Formel y ist im Interesse von x funktio-

niert der Interessebegriff auf eine andere Weise: Y kann hier als etwas dem Wohl von x Zu-

oder Abträgliches verstanden werden, das unabhängig von einem bewussten Interesse sei-

tens der Entität x besteht. So kann es im Interesse (des Wohlergehens) einer Person sein, an

seiner Gesundheit keinen Raubbau zu treiben, trotzdem sie ein (bewusstes) Interesse an vie-

len Dingen nimmt, die ihrem Wohlergehen abträglich sein können. In diesem Fall sprechen

wir von einem weiten Interesse, für welches keine bewusste Entscheidung vorliegen muss.53

Aus anthropozentrischer Perspektive wird daher argumentiert, dass ein weites Interesse nicht

in gleicher Weise wie ein enges Interesse als Kriterium für die moralische Berücksichtigung

der nicht-menschlichen Natur herangezogen werden kann, da es nicht mit konkreten Wün-

schen, Absichten oder Zielsetzungen in Verbindung steht.

Der stärkste Einwand nun richtet sich gegen den Holismus, der seine argumentativen

Schwächen durch einen starken Motivationsfaktor ausgleichen kann, indem er den Men-

schen auf einer affektiven und intuitiven Ebene anspricht. In Arne Naess´ Deep Ecology et-

wa wird beschrieben, wie der Mensch im Sich-Einlassen auf die Natur, im Naturerleben und

Naturfühlen, sein kleines Selbst auf die äußere Natur ausweiten und im Einheitserlebnis in

51

Vgl. A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 359.

Zur Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens siehe auch Thomas Nagel, Wie es ist, eine Fledermaus zu

sein, In: Analytische Philosophie des Geistes, P. Bieri (Hrsg.), Königstein 1981. 52

Vgl. A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 353f. 53

Vgl. R. G. Frey, Rechte, Interessen, Wünsche und Überzeugungen, In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28),

76ff.

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und mit der Natur als großes Selbst aufgehen kann.54

Bei vielen professionellen Philosophen

findet der Holismus im Diskurs daher wenig Anklang. Hauptsächlich wird an der Aussage,

der Mensch sei Teil der Natur, kritisiert, dass sie zu vieldeutig und daher wenig aussagekräf-

tig sei. Eine ontologische Identität des Menschen mit der Natur entspräche nicht den Gege-

benheiten in der Realität, es könnten lediglich graduelle Übergänge, Gemeinsamkeiten oder

Abhängigkeiten zwischen ihnen festgestellt werden. Der Verweis auf eine tiefer liegende

Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Natur auf metaphysischer Ebene trage nicht zwangs-

läufig zur Stärkung des Arguments bei. Dem vollkommen harmonischen Nebeneinander,

dem so genannten falschen Harmonismus, wird zu Lasten gelegt, er schenke der Tatsache zu

wenig Beachtung, dass der Mensch einer Notwendigkeit ausgesetzt sei, die Natur zu kulti-

vieren, um leben zu können. 55

Zwischenfazit

Schon nach diesem kurzen Überblick über die Hauptargumente der beiden Argumentations-

lager und ihrer Hauptkritikpunkte wird ersichtlich, worin die Schwierigkeit liegt, einen eige-

nen moralischen Status der Natur zu begründen. Die Argumente verfangen sich in einer

scheinbar unauflösbaren ökoethischen Standpunktkontroverse, aus der kein zustimmungsfä-

hig begründbarer Konsens über einen moralischen Status der nicht-menschlichen Natur ge-

wonnen werden kann. Die Standpunktkontroverse gründet nicht zuletzt in der Tatsache, dass

anthropozentrische und physiozentrische Ansätze auf unterschiedlichen formalen Ethikmo-

dellen aufbauen (anthropozentrische häufig auf deontologischen/Pflichtethiken, physiozent-

rische Ansätze häufig auf tugendethischen, utilitaristischen oder mitleidethischen Ansät-

zen), die ebenfalls daraufhin untersucht werden können, inwiefern sie sich als formales Ge-

rüst für eine Ökoethik anbieten.

Zudem ergeben sich Schwierigkeiten hinsichtlich der eingangs bereits angesprochenen

Praktikabilität einzelner Ansätze. Wenn etwa alle organischen oder selbst anorganischen En-

titäten in den Kreis der moral community einbezogen werden, droht eine moralische Über-

forderung des Menschen, der notwendig in seine Umwelt eingreifen muss, um selbst überle-

ben zu können. Der Umgang des Menschen mit der nicht-menschlichen Natur orientiert sich

in Ermangelung einer konsensfähigen Begründung des moralischen Status der äußeren Na-

tur daher gegenwärtig an einer Abwägung der Tragfähigkeit von durch menschliche Eingrif-

fe in die Natur hervorgerufene negative Folgeerscheinungen vermittels Technikfolgenab-

schätzung und -forschung, wobei stets das Interessen des (zukünftigen) Menschen an der

Absicherung seiner Existenzgrundlage im Vordergrund steht.

Personale Ethik

Doch welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Feststellung für die Frage nach einer

moralischen Berücksichtigungswürdigkeit der äußeren Natur, die den Anspruch stellt, auch

unabhängig von menschlichen Interessen begründet werden zu können. Sind nur Ethiken zu-

stimmungsfähig begründbar, die den Menschen ins Zentrum der moralischen Berücksichti-

gungswürdigkeit setzen? Haben letztlich nur Menschen einen inhärenten Wert, der sich aus

54

Vgl. A. Naess, Die tiefenökologische Bewegung. Einige philosophische Aspekte, In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik.

a.a.O. (Fn. 28), 207ff. 55

Vgl. A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 361ff.

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ihren typisch menschliche Eigenschaften wie Bewusstsein, Sprache, Vernunft, Reflexions-

vermögen usf. ableiten lässt? Und besitzen nicht-menschliche Dinge nur einen allenfalls von

menschlichen Interessen abgeleiteten funktionalen oder eudämonistischen extrinsischen

Wert?

Auch interpersonale Ethiken haben in Bezug auf das Kriterium für die moralische Be-

rücksichtigungswürdigkeit von Menschen mit Begründungsschwierigkeiten zu kämpfen. In

der klassischen interpersonalen Ethik ist das Personensein das Kriterium für die Zugehörig-

keit zur moral community. Der Mensch, das animal rationabile56

, das Tier, das vernünftig

werden kann, verfügt über das Vermögen, sich selbst praktische Zwecke zu setzen und seine

zielgerichteten Handlungen von autonomen Gründen leiten zu lassen. In dieser Fähigkeit

drückt sich die Selbstzweckhaftigkeit einer jeden Person aus, die es uns abverlangt, jeden

Menschen nie nur als ein Mittel, sondern immer zugleich auch als einen Zweck zu betrach-

ten; Bekannt als die Selbstzweckformel von Kant als eine Ausformulierung des Kategori-

schen Imperativs.

In der Begründung der moralischen Berücksichtigungswürdigkeit des Menschen auf-

grund seiner typisch menschlichen Fähigkeiten nun, sehen Vertreter physiozentrischer Posi-

tionen, die für eine Ausweitung der moral community auf die nicht-menschliche Natur plä-

dieren, eine Steilvorlage für ihre Kritik. Denn nicht alle Menschen, so ihr Einwand, seien in

der Lage vernünftig, autonom, bewusst und selbstreflexiv zu sein; Menschen mit geistiger

Behinderung, Alten, Kranken (Demenzkranke, Anenzephale, dauerhaft Komatöse, etc.) oder

gar Menschen im Säuglingsentwicklungsstadium sei es nicht in eben gleichem Maße mög-

lich, ihr autonomes Personensein auszuleben. Und dennoch, obwohl sie dieser Kriterien ent-

behren, zählen wir sie zweifelsohne zum Kreis der moral community. Doch wie, so ihre Fra-

ge, lässt sich ihre Zugehörigkeit zur moral community dann begründen? Als mögliches Ar-

gument wird häufig angeführt, dass alle Menschen potentiell in der Lage sind, vernünftig

und selbstreflexiv zu sein, also ihre typisch menschlichen Eigenschaften unter geeigneten

Bedingungen prinzipiell ausleben zu können. Doch potentiell, so das Gegenargument, kann

Vieles sein: Eine Eizelle ist potentiell ein werdender Mensch - ein Mensch ist sie nicht; Und

Prinz Charles ist potentiell König - König ist er nicht! Das Potentialitätsargument ist, beson-

ders in der Debatte um die embryonale Stammzellenforschung, ein sehr kontrovers disku-

tiertes und wird häufig als unbegründet zurückgewiesen.

Die Begründung für den sich allein auf den Menschen erstreckenden Kreis der moralisch

Berücksichtigungswürdigkeit lautet dann: Menschen sollen nicht gleich behandelt werden,

weil sie in irgendeiner Hinsicht gleich sind, sondern weil sie Menschen sind. Denn Men-

schen sind von Natur aus nicht gleich - die natürliche Lotterie bedenkt sie im Gegenteil mit

sehr verschiedenen Fähigkeiten und Eigenschaften. Vor diesem Hintergrund erst ergibt sich

sie Notwendigkeit einer Ethik, einer Begründung der moralischen Berücksichtigung all je-

ner, die von Natur aus benachteiligt sind. Die Gleichheit der moralischen Be-

rücksichtigungswürdigkeit der Menschen leitet sich somit nicht aus einer faktischen natürli-

chen Gleichheit ab, wie es Rousseaus Ausspruch Tous sont nés égaux et libre 57

auf den ers-

ten Blick suggerieren mag. Die Berufung auf die Natur bzw. auf die gleiche natürliche Her-

kunft geschieht hier in einem genuin normativen, also konstruierten und nicht deskriptiven

56

Vgl. V. Gerhard, Selbstbestimmung, in: J. Nida-Rümlin (Hrsg. u.a.), Was ist der Mensch? Walter de Gruyter, Berlin/

New York, 2008, 1-10. 57

Vgl. D. Birnbacher, Natürlichkeit, a.a.O. (Fn. 4), 43.

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(beschreibenden) Sinne und in der dezidierten Absehung von natürlichen Ungleichheiten

oder unterschiedlichen Fähigkeiten.

Speziesismus

Somit ist nicht das Personenseins und die mit ihm verbundenen typisch menschlichen Ei-

genschaften, sondern die bloße Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens das eigentliche Kri-

terium für die moralische Sonderstellung des Menschen. Hierbei handelt es sich Kritikern

zufolge um einen Speziesismus: Das Zusammenfallen der Grenzen des Rechts und der Moral

mit einer Speziesgrenze. Dieser Rückschluss ist es, der vielen physiozentrischen Vertretern

zufolge einer kritischen Revision unterzogen werden muss, da er sich mit der Berufung auf

die Speziesgrenze als Grenze der moral community einer willkürlichen Grenzziehung ver-

dächtig macht. Um die Willkür des Speziesismus zu erläutern, ziehen Autoren wie Peter

Singer eine Parallele zum Rassismus und Sexismus: Dem Ausschluss von Zugehörigen einer

Rasse oder eines Geschlechts aus der moral community, aufgrund der willkürlichen Festle-

gung etwas des Kriteriums weiß und/oder männlich, über die sich eine moral community de-

finieren kann.58

Kriterien, die vor dem Hintergrund der Menschenrechtserklärung heute

nicht mehr tragbar sind. So schreibt Singer:

Die Tatsache, dass manche Menschen nicht unserer Rasse angehören, berechtigt uns

nicht dazu, sie auszubeuten, und ebenso bedeutet die Tatsache, dass manche Menschen we-

niger intelligent sind als andere, nicht, dass ihre Interessen missachtet werden dürfen. Aber

das Prinzip impliziert auch folgendes: Die Tatsache, dass bestimmte Wesen nicht zu unserer

Gattung gehören, berechtigt uns nicht, sie auszubeuten, und ebenso bedeutet die Tatsache,

dass andere Lebewesen weniger intelligent sind als wir, nicht, dass ihre Interessen missach-

tet werden dürfen.“59

Für Pathozentriker liegt der Schluss nahe: Wenn nicht alle Menschen in Besitz der glei-

chen Fähigkeiten (Vernunftvermögen, Selbstbewusstsein, etc.) sind und dennoch in die mo-

ral community einbezogen werden und darüber hinaus die Berufung auf die Speziesgrenzen

als Kriterium für die moralische Sonderstellung eine willkürliche ist, muss es ein anderes

Kriterium geben, das für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit aller Menschen bürgt.

Für den Pathozentrismus ist dieses legitime Kriterium für die Zugehörigkeit zur moral com-

munity das Vermögen, Schmerzen empfinden zu können.

Mit diesem neuen pathozentrischen Kriterium wird nicht nur Menschen, sondern auch

höheren Wirbeltieren eine verbindliche moralische Berücksichtigungswürdigkeit zugespro-

chen. Dieser sich hier ankündigende Paradigmenwechsel im moralischen Universum ver-

steht sich als Angriff auf die in unserem Alltagsdenken tief verwurzelte moralische Sonder-

stellung des Menschen. Wenngleich die Annahme einer alleinigen Sonderstellung des Men-

schen eingangs als fragwürdig dargestellt wurde, bedeutet ein Angriff auf dieselbe, unsere

moralischen Intuitionen massiv in Frage zu stellen.60

Genau dies tun Pathozentriker, allen

voran Peter Singer, der unter Verdacht steht, die moralische Gleichheit der Menschen aufzu-

58

Vgl. A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 349. 59

P. Singer, Praktische Ethik, Reclam, Stuttgart 1979, 83. 60

Vgl. Borchers, Menschen, Tiere, Emotionen. Peter Singers Kritik am Speziesismus. Vortrag im Rahmen eines Semi-

nars der Stiftung der Deutschen Wirtschaft am 27.03.2010, Stephansstift, Hannover.

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lösen, indem er die Anerkennung der moralischen Berücksichtigungswürdigkeit schmerz-

empfindlicher Tiere denen von Menschen gleichstellt.

Wir bewegen uns an diesem Punkt also fort von der Frage nach dem moralischen Staus

der unbelebten Natur hin zur Tierethik und der Frage, ob der moralischen Sonderstellung

des Menschen eine Absage erteilt werden muss, wenn das Kriterium der Spezieszugehörig-

keit einer kritischen Revision unterzogen wird.

Das pathozentrische Argument

In der Tierethik wird die Frage nach dem moralischen Status von Tieren und somit nach

der Angemessenheit der Tierhaltung, der moralische Zulässigkeit von Tierversuchen und der

Tötung von Tieren im Allgemeinen verhandelt. Eines der stärksten Argumente im tierethi-

schen Diskurs ist das eben bereits angesprochene pathozentrische Argument in Kombination

mit der Speziesismus-Kritik, in der nicht etwa Vernunft, Sprache, Reflexionsvermögen oder

die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, sondern die Leidensfähigkeit zum Kriterium für die

moralische Berücksichtigungswürdigkeit erhoben wird. Aus der Kombination dieser beiden

Argumente ergibt sich etwa Peter Singers Kritik an der gegenwärtigen Form des Fleischkon-

sums, die er als die stärkste Form und Äußerung des Speziesismus betrachtet. Der Mensch

setze seine Interessen nach Genuss über die Bedürfnisse der Tiere und definiere sie als Mit-

tel zu seiner Zweckerfüllung. Denn Fleischverzehr könne heute nicht mehr mit dem Bedarf

nach Nahrung gerechtfertigt werden, seitdem bewiesen sei, dass die Nahrung auch durch Al-

ternativen zu Fleisch ersetzt werden kann. Wir opferten die basalen Interessen anderer Le-

bewesen unseren trivialen Genussbedürfnissen.61

Seine Wurzeln findet der Pathozentrismus im Utilitarismus, der als erstes Ethikmodell schon

immer Tiere in den Kreis der moral community miteinbezogen hat. Hier exemplarisch dar-

gestellt an einem Auszug aus Jeremy Benthams bereits im 18. Jahrhundert verfassten Werk

An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (1789).

„Es mag der Tag kommen, an dem man begreift, dass die Anzahl der Beine, die Behaa-

rung der Haut oder das Ende des Kreuzbeins gleichermaßen ungenügende Argumente sind,

um ein empfindungsfähigen Wesens dem gleichen Schicksal zu überlassen.

Warum soll sonst die unüberwindbare Grenze gerade hier liegen? Ist es die Fähigkeit zu

denken oder vielleicht die Fähigkeit zu reden? Aber ein ausgewachsenes Pferd oder ein

Hund sind unvergleichlich vernünftigere sowie mitteilsamere Tiere als ein einen Tag, eine

Woche, oder gar einen Monat alter Säugling. Aber angenommen dies wäre nicht so, was

würde das ausmachen? Die Frage ist nicht 'Können sie denken?' oder 'Können sie reden?',

sondern ‚Können sie leiden?'. Warum soll das Gesetz es ablehnen, empfindungsfähige We-

sen zu schützen? Die Zeit wird kommen, in der die Menschheit ihren schützenden Mantel

über alles, was atmet, erweitert …“

Das Schmerzempfinden gilt Pathozentrikern als Basis für die Zuschreibung oder das

Vorhandensein von weiten Interessen, also der Tatsache, dass das Wohl eines schmerzemp-

findenden Lebewesens zum Guten oder zum Schlechten hin beeinflusst werden kann. Für

die moralische Berücksichtigungswürdigkeit eines schmerzempfindenden Wesens ist es da-

bei irrelevant, ob es in der Lage ist, sein Interesse im Sinne eines engen Interessenbegriffs

61

Vgl. P. Singer, Alle Tiere sind gleich, In: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 21.

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angemessen zu bekunden. Es ist dieses weite Interesse, das gemäß einer gleichen In-

teressenabwägung, die nicht an einer Speziesgrenze halt macht, berücksichtigt werden muss.

In Verbindung mit der Berufung auf die Speziesismuskritik resümiert Peter Singer wie folgt:

"Ist ein Wesen nicht leidensfähig oder nicht fähig, Freude oder Glück zu erfahren, dann

gibt es nichts zu berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit (wir

verwenden diesen Terminus als bequeme, wenngleich nicht ganz genaue Abkürzung für die

Fähigkeit, Leid oder Freude bzw. Glück zu empfinden) die einzig vertretbare Grenze für die

Rücksichtnahme auf die Interessen anderer. Diese Grenze durch irgendwelche anderen

Merkmale wie Intelligenz oder Rationalität festsetzen hieße sie willkürlich festsetzen. Wes-

halb dann nicht irgendeine andere Eigenschaft wie zum Beispiel die Hautfarbe herausgrei-

fen? Rassisten verletzen das Prinzip der Gleichheit, indem sie bei einer Kollision ihrer eige-

nen Interessen mit denen einer anderen Rasse den Interessen von Mitgliedern ihrer eigenen

Rasse größeres Gewicht beimessen. Rassisten europäischer Abstammung akzeptieren nicht,

dass der Schmerz, den Afrikaner verspüren, ebenso schlimm ist wie der, den Europäer ver-

spüren. Ähnlich messen jene, die ich ´Speziesisten´ nennen möchte, da, wo es zu einer Kolli-

sion ihrer Interessen mit denen von Angehörigen einer anderen Spezies kommt, den Interes-

sen der eigenen Spezies größeres Gewicht bei. Menschliche Speziesisten erkennen nicht an,

dass der Schmerz, den Schweine oder Mäuse verspüren, ebenso schlimm ist wie der von

Menschen verspürte. 62

Ich schlage mit anderen Worten vor, dass wir, wenn wir das Prinzip der Gleichheit als eine

vernünftige moralische Basis für unsere Beziehungen zu den Mitgliedern unserer Gattung

akzeptiert haben, auch verpflichtet sind, es als eine vernünftige moralische Basis für unsere

Beziehungen zu denen außerhalb unserer Gattung anzuerkennen –den nicht-menschlichen

Lebewesen.“63

Die Stärke dieses Argumentes liegt darin, dass sich intersubjektive Kriterien für die Zu-

schreibung von Empfindungsfähigkeit vom Menschen auf einige Tiere übertragen lassen.

Eine 2009 in Frankreich veröffentlichte Studie64

hat drei Kriterien für die objektive Zu-

schreibung von Schmerzempfindungen bei Nutztieren aufgestellt: So muss feststellbar sein,

dass (1) ein äußerer Reiz an das Rückenmark weitergeleitet wird, (2) in Folge des Stressrei-

zes eine kardiologische und hormonelle Veränderung gemessen werden kann und (3) sich

der empfundene Schmerzreiz in einer Fluchttendenz, in Zittern oder Stöhnen äußert.

Kritik am Pathozentrismus

Doch auch das pathozentrische Argument ist nicht vor Kritik gefeit. Die Haltbarkeit des Pa-

thozentrismus wird von Kantianern und Kontraktualisten (Vertragsethiker) zunächst formal

in Frage gestellt. Dabei argumentieren sie, dass nur Vernunftwesen bzw. Vertragspartner

Teil des moralischen Universums sein können und Tiere somit nicht eingeschlossen sind.65

Das pathozentrische Argument ist zudem, wie jeder ökoethische Ansatz, nicht moraltheorie-

unabhängig, sondern rekurriert maßgeblich auf aristotelisches Gedankengut und utilitaristi-

62

P. Singer, Praktische Ethik, a.a.O. (Fn. 54), 85f. 63

Ebd.: 82. 64

Auswertung von 1300 Forschungsartikeln und internationalen Berichten durch die interdisziplinäre Kommission

beim nationalen Agrarforschungsinstitut Inra, Frankreich; http://www.dradio.de/dlf/sendungen/forschak/1108709/ (letz-

ter Zugriff : 09.07.2011). 65

Es stellt sich jedoch wiederum die Frage, ob sowohl die Vertragstheorie oder die sich auf die Vernunftnatur des Men-

schen berufenden ethischen Ansätze ihrerseits die uneingeschränkte moralische Berücksichtigungswürdigkeit auch all

jener Menschen begründen können, die nicht in der Lage sind, ihr autonomes Personensein im Sinne eins Vertragspart-

ners auszuüben.

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sche Begründungsmuster, die es gegen deontologische und vertragstheoretische Ansätze zu

verteidigen gilt. Insbesondere der Utilitarismus, der die allgemeine Glücks- oder Nutzenma-

ximierung anstrebt, steht unter Verdacht, individuelle Interessen hinter dieser zurückzustel-

len und ist daher als ethische Theorie nicht unumstritten.66

Kritik richtet sich auch an Peter Singer selbst, die sich vor allen Dingen an der öffentli-

chen Debatte um seine Person und im Kreis zahlreicher Verbände von und für Menschen

mit (geistiger) Behinderung entlud. Seine Vorträge wurden u.a. in Deutschland öffentlich

boykottiert, Singer Redeverbot erteilt. Er veröffentlichte darauf hin sein Buch Wie man in

Deutschland mundtot gemacht wird, in dem er beabsichtigte, seine Position unmissverständ-

lich darzustellen und betonte, dass er nicht beabsichtige, die Rechte der Menschen abzuwer-

ten, sondern die Rechte der Tiere aufzuwerten. In Diskussion geraten ist Singer vor allen

Dingen mit Gedankenspielen wie dem Folgenden:

"Auf die hypothetische Frage, ob Tausende von Menschen durch einen einzigen Tierver-

such zu retten seien, können Gegner des Speziesismus ihrerseits mit einer hypothetischen

Frage antworten: Wären dieselben Forscher bereit, ihre Experimente an verwaisten Men-

schen mit schwerwiegenden, unheilbaren Hirnschäden durchzuführen, wenn das der einzige

Weg wäre, um Tausende zu retten? (Ich sage ´verwaist´, um eine Komplikation durch die

Gefühle der menschlichen Eltern auszuschließen.) Wenn die Forscher nicht bereit sind, ver-

waiste Menschen mit schwerwiegenden und unheilbaren Gehirnschäden zu verwenden, dann

scheint die Bereitschaft, nicht menschliche Lebewesen zu verwenden, eine Diskriminierung

allein auf der Grundlage der Spezies zu bedeuten; denn Menschenaffen, kleinere Affen,

Hunde, Katzen und selbst Mäuse und Ratten sind intelligenter, haben ein stärkeres Bewusst-

sein von dem, was mit ihnen geschieht, und sind schmerzempfindlicher usw. als viele schwer

hirngeschädigte Menschen, die in Krankenhäusern und anderen Institutionen nur gerade

noch überleben.“67

Besonders mit Blick auf Singer wird unter Berufung auf derartige Darstellungen die Be-

fürchtung laut, der Pathozentrismus und somit die Speziesismus-Kritik führten zu einer

Aushöhlung der Idee der moralischen Gleichheit der Menschen und damit zur Klassenbil-

dung im moralischen Universum: Alte, Kranke und Menschen mit einer geistigen Behinde-

rung würden dann weniger moralische Berücksichtigung genießen, als vergleichsweise be-

wusste Tiere.

An dieser Stelle jedoch ist eine Unterscheidung zwischen zwei Positionen des Pathozent-

rismus zu treffen, die einer unvermeidbaren Aushöhlung der Idee der moralischen Gleich-

heit entgegenwirkt. Während eine egalitäre pathozentrische Position den Interessen aller

empfindungsfähigen Wesen eine gleich große Berücksichtigungswürdigkeit einräumt und

die Gleichbehandlung und Zusicherung von Grundrechten für alle Lebewesen anstrebt,

spricht die nicht-egalitäre pathozentrische Position dem Menschen aufgrund seines kom-

plexeren Reflexionsvermögens eine höhere Schmerzempfindlichkeit als dem Tier zu. Zudem

sehen nicht-egalitäre Positionen im menschlichen Leben Dimensionen des guten Lebens

verwirklicht, die in der Lebenswelt eines Tieres nicht vorkommen und daher auch keine Be-

rücksichtigung verlangen.68

So wäre es etwa sinnlos, einem Schwein das Wahlrecht zu ertei-

len. Es geht spezifisch Singer lediglich um die Berücksichtigung der im artenspezifischen

Verhalten der Tiere veranlagten Interessen, etwa die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer arten-

66

Vgl.: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 349. 67

P. Singer, Praktische Ethik, a.a.O. (Fn. 54), 97. 68

Vgl.: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O. (Fn. 28), 350f.

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spezifischen Merkmale, der ein ebenso großer Wert zukommt, wie der Entwicklung der ar-

tenspezifischen Merkmale des Menschen:

"Es ist auch wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass ich die Absicht verfolge, den Sta-

tus der Tiere zu heben, nicht aber, den der Menschen zu senken. Ich möchte nicht vorschla-

gen, geistig behinderte Menschen mit Lebensmittelfarben zwangszuernähren, bis die Hälfte

von ihnen stirbt –obwohl uns dies sicherlich exaktere Hinweise dafür gäbe, ob eine Substanz

für Menschen ungefährlich ist, als es die Versuche mit Kaninchen und Hunden vermögen.

Ich möchte allerdings unsere Überzeugung, dass es unrecht wäre, geistig behinderte Men-

schen so zu behandeln, gern auf nicht-menschliche Lebewesen übertragen wissen, die auf

einer ähnlichen Stufe des Selbstbewusstseins stehen und ähnliche Leidensfähigkeit besitzen.

Es wäre übertrieben pessimistisch, auf die Veränderung unserer Verhaltensweisen zu ver-

zichten –nur weil dies etwa dazu führen könnte, dass wir die geistig behinderten Menschen

mit derselben Rücksichtslosigkeit wie heute die Tiere behandeln -, anstatt den Tieren größe-

re Rücksichtnahme angedeihen zu lassen, wie sie heute gegenüber den geistig behinderten

Menschen üblich ist.“69

Als letzter Kritikpunkt kann die Disanalogie zwischen Rassismus, Sexismus und Spezie-

sismus genannt werden. Antirassismus und Antisexismus fordern vor dem Hintergrund der

Menschenrechte als allgemein akzeptierte moralische Normen die Gleichheit aller Men-

schen, wohingegen das Antispeziesismusargument zeigen will, dass die Spezieszugehörig-

keit moralisch irrelevant ist. Somit greift der Antispeziesismus jene Pfeiler an, die die Idee

der Gleichheit aller Menschen stützen – die Konzeption von Menschenrechten und Men-

schenwürde.70

Fazit und Ausblick

Wenn der Mensch ein anderes als das Spezieskriterium für die moralische Berücksichti-

gungswürdigkeit, etwa Bewusstsein oder Schmerzempfinden anführt, fällt seine moralische

Sonderstellung. Aus einer sich daran anschließenden Neuordnung des moralischen Univer-

sums, in dem es nicht nur menschliche Interessen unbedingt zu berücksichtigen gelte, würde

eine Reihe von Konsequenzen erwachsen, die mit Einschränkungen unserer bisherigen Le-

bensgewohnheiten einhergingen. Tierrechtler wie Tom Regan fordern etwa ohne Umschwei-

fe die sofortige Abschaffung von Mastbetrieben und Legebatterien, überhaupt einen Ver-

zicht auf Fleischkonsum insgesamt.71

Zudem stellt sich in der tierethischen Debatte die Frage, ob Tieren neben den morali-

schen letztlich auch juridische Rechte zugesprochen werden sollten, die über den bis dato

gesetzlich verankerten Schutz (als vage Aussage) hinausreichen, der das Zufügen von

Schmerzen ohne vernünftigen Grund verbietet. Zur Diskussion stehen hierbei nicht nur ob-

jektive juridische Rechte, wie Recht auf Leben, Recht auf Freiheit, Recht auf körperliche

Unversehrtheit etc., sondern auch subjektive juridische Rechte - also die Möglichkeit, sein

69

P. Singer, Praktische Ethik, a.a.O. (Fn. )109f. 70

Vgl. Borchers, Menschen, Tiere, Emotionen. Peter Singers Kritik am Speziesismus. Vortrag im Rahmen eines Semi-

nars der Stiftung der Deutschen Wirtschaft am 27.03.2010, Stephansstift, Hannover. 71

Vgl. T. Regan, Tiere gehören nicht zwischen zwei Scheiben Brot, Interview, erschienen am 26/27.08.2000 in der

Zeitung „Neues Deutschland“;

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Recht mittels eines Stellvertreters einzuklagen.72

Als gegenwärtig ehrgeizigstes Projekt in

der Tierrechtsbewegung kann das Great Ape Project (GAP) gelten, einer 1993 von zahlrei-

chen Wissenschaftlern, u.a. Jane Goodall und Peter Singer, gegründeten Organisation, die

Menschenrechte für die großen Menschenaffen fordern.

Ob mit Berufung auf die menschlichen Fähigkeiten die alleinige moralische Sonderstel-

lung des Menschen begründet werden kann, sollte fraglich bleiben. Dennoch sind wir nur

unter Zuhilfenahme eben dieser typisch menschlichen Fähigkeiten in der Lage, über einen

angemessenen Umgang mit der Natur und somit über die Gründe unserer eigenen Handlun-

gen zu reflektieren. Hier treffen wir auf das häufig angeführte Paradoxon, dass das traditio-

nelle Bild der Transzendenz des Menschen abgelehnt und im selben Moment mit Berufung

auf seine typisch menschlichen Fähigkeiten seine moralische Verpflichtung gegenüber der

Natur legitimiert wird. Bernhard Williams resümiert, Naturschutz sei eine menschliche, eine

kulturelle Angelegenheit; Die Antworten, die wir uns auf unsere Fragen geben, werden stets

menschliche Antworten sein.73

Wir sind in dieser Aufgabe auf unsere anthropologischen

Bedingungen zurückverwiesen - der epistemische Anthropozentrismus ist und bleibt un-

hintergehbar. Wir neigen jedoch dazu, diesen menschlichen Standpunkt reduktionistisch auf

unser rationales Erkenntnisvermögen zurückzuführen. Die Fähigkeit, uns von rationalen

Beweggründen leiten zu lassen, beschreibt jedoch nur eine Dimension des menschlichen Le-

bens unter vielen weiteren anthropologischen Bedingtheiten, die dem Menschen den Mög-

lichkeitsraum einer sinnlich-phänomenalen Erschließung seiner Selbst74

und seiner Um-

oder Mitwelt bieten. Die Ratio bietet ein formales Gerüst für intersubjektiv kommunizierbar

Erkenntnisse, die handungsleitenden Impulse liegen jedoch in unseren Emotionen, Affekten

und unserer Empathie, die nicht zuletzt auch aus evolutionsbiologischer Perspektive betrach-

tet eine überlebenswichtige Motivationsquelle darstellen und in ihrer Funktion nicht not-

wendigerweise im Widerspruch zur rationaler Zwecksetzung stehen müssen.75

Es stellt sich daher die Frage, ob dem geforderten Paradigmenwechsel im Umgang mit

der Natur nicht ein Paradigmenwechsel in der Hierarchisierung unserer Erkenntnisvermögen

erfolgen müsste. Wenn Albert Schweitzer mit seinem Ausspruch „Ich bin Leben, das leben

will, inmitten von Leben, das leben will“ (Ehrfurcht vor dem Leben, 1947) notwendig ein-

gesteht, dass der Mensch Leben schädigen muss, um selbst leben zu können und einmal

mehr die aporetische Forderung an uns ergeht, Grenzen des moralischen Universums zu de-

finieren, dann kann aus der Perspektive eines geforderten Paradigmenwechsels in der Hie-

rarchisierung unserer Erkenntnisvermögen die Frage nach dem wo der Grenzen des morali-

schen Universums in ein wie überführt werden. An die Seite einer zweckrationalen Begrün-

dung mag dann eines Tages auch eine Ethik des Sinnlichen, des Spürens treten, die in einer

sinnlich-phänomenalen, leiblichen Seins- und Erfahrungsweise des Menschen gründet.

72

Hierzu: D. Birnbacher, Juridische Rechte für Naturwesen. Eine philosophische Kritik, in: J. Nida-Rümelin/ D. v.

Pfordten (Hrsg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, Nomos, Baden Baden 1995, 63-73. 73

Vgl. B. Williams, Muß die Sorge um die Umwelt vom Menschen ausgehen?, in: A. Krebs (Hrsg.), Naturethik. a.a.O.

(Fn. 28), 297ff. 74

Etwa in der Phänomenologie des Leibes; 75

Vgl. Sabine Müller, Programm für eine neue Wissenschaftstheorie, a.a.O. (Fn. 1), 51; 191ff.

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