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der spiegel 16/2005 Man kann Leute nicht entbehren, die den Mut haben, Neues zu denken, ehe sie es aufzeigen können. Sigmund Freud I n der Nacht von Sonntag auf Montag erlitt Melanie Jacobs* einen Schlaganfall. Sie lag im Hof ihres Hauses in einem der besseren Townships von Kapstadt und konnte nicht mehr aufstehen. Ihr linker Arm und ihr linkes Bein waren gelähmt. Das Son- derbare war: Mrs Jacobs glaubte nicht, dass sie gelähmt war. „Lass den Quatsch, mir geht es gut“, protestierte sie, als ihr Mann sie ins Groote Schuur Hospital brachte. Die neurologische Station besteht aus ein paar spartanischen Einzelzimmern, zwei kar- gen Sälen, drei Dutzend Betten mit Vorhän- gen dazwischen. Patienten kommen nach einem Schlaganfall oder mit der Alzheimer- schen Krankheit hierher, andere haben ein von Drogen und Alkohol verwüstetes Ge- hirn, dazu kommen Leute mit einer Kugel im Kopf, Opfer von Unfällen, Raubüberfällen oder Mordversuchen. Südafrika eben. Besucher drängeln sich mit mitgebrach- tem Mittagessen, Ventilatoren surren, ir- gendwo quäkt ein Fernseher. Das Haus könnte einen neuen Anstrich vertragen; aber lieber finanziert man Forschung, holt gute Wissenschaftler nach Kapstadt. Einer von ihnen ist der britische Neu- ropsychologe Mark Solms. Seit vielen Jah- ren arbeitet er mit Patienten, die unter bizarren Bewusstseinsstörungen leiden: ein Mann, der sein Gedächtnis verlor, nachdem er versucht hatte, sich aufzuhängen; eine Blinde, die überzeugt ist, sehen zu können; ein Krebspatient, der seit einer Hirntumor- operation nicht mehr weiß, wer er ist. Für die Wissenschaft sind solche Kata- strophen ungemein aufschlussreich: Ein Hirnareal ist verletzt, eine Funktion verlo- ren – daraus lässt sich ableiten, was dieses Gewebe im gesunden Hirn tut. Und nun also Melanie Jacobs: Sie will diesen Doktor an ihrer Bettkante loswer- den. Warum soll sie mit den Augen seinen Fingern folgen und kindische Bilder zeich- nen? Was soll das Gerede vom Schlagan- fall, sie ist gerade mal 40! „Ich arbeite hart. Ich muss nach Hause“, wehrt sie sich. „Mrs Jacobs“, sagt Solms, „ich verstehe, dass Sie sich wünschen, alles sei in Ord- * Die Namen aller Patienten sind geändert. 176 Titel Die Natur der Seele Hatte Sigmund Freud doch recht? Neue Untersuchungen der Hirnforschung scheinen seine umstrittenen Theorien über Verdrängung, Träume oder das Unbewusste zu bestätigen. Nun wollen Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker das Rätsel der Psyche gemeinsam entschlüsseln. Traumforschung am Sigmund-Freud-Institut (in Frankfurt am Main): Von der Couch ins Labor DIETER SCHWER

Die Natur der Seele - SPIEGEL

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Page 1: Die Natur der Seele - SPIEGEL

Titel

Die Natur der SeeleHatte Sigmund Freud doch recht? Neue Untersuchungen der Hirnforschung scheinen seine

umstrittenen Theorien über Verdrängung, Träume oder das Unbewusste zu bestätigen. Nun wollen Neurowissenschaftler und Psychoanalytiker das Rätsel der Psyche gemeinsam entschlüsseln.

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Traumforschung am Sigmund-Freud-Institut (in Frankfurt am Main): Von der Couch ins Labor

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Man kann Leute nicht entbehren, die denMut haben, Neues zu denken, ehe sie esaufzeigen können. Sigmund Freud

In der Nacht von Sonntag auf Montagerlitt Melanie Jacobs* einen Schlaganfall.Sie lag im Hof ihres Hauses in einem

der besseren Townships von Kapstadt undkonnte nicht mehr aufstehen. Ihr linker Armund ihr linkes Bein waren gelähmt. Das Son-derbare war: Mrs Jacobs glaubte nicht, dasssie gelähmt war. „Lass den Quatsch, mirgeht es gut“, protestierte sie, als ihr Mannsie ins Groote Schuur Hospital brachte.

Die neurologische Station besteht aus einpaar spartanischen Einzelzimmern, zwei kar-gen Sälen, drei Dutzend Betten mit Vorhän-gen dazwischen. Patienten kommen nach einem Schlaganfall oder mit der Alzheimer-schen Krankheit hierher, andere haben einvon Drogen und Alkohol verwüstetes Ge-hirn, dazu kommen Leute mit einer Kugel imKopf, Opfer von Unfällen, Raubüberfällenoder Mordversuchen. Südafrika eben.

Besucher drängeln sich mit mitgebrach-tem Mittagessen, Ventilatoren surren, ir-gendwo quäkt ein Fernseher. Das Hauskönnte einen neuen Anstrich vertragen;aber lieber finanziert man Forschung, holtgute Wissenschaftler nach Kapstadt.

Einer von ihnen ist der britische Neu-ropsychologe Mark Solms. Seit vielen Jah-ren arbeitet er mit Patienten, die unterbizarren Bewusstseinsstörungen leiden: einMann, der sein Gedächtnis verlor, nachdemer versucht hatte, sich aufzuhängen; eineBlinde, die überzeugt ist, sehen zu können;ein Krebspatient, der seit einer Hirntumor-operation nicht mehr weiß, wer er ist.

Für die Wissenschaft sind solche Kata-strophen ungemein aufschlussreich: EinHirnareal ist verletzt, eine Funktion verlo-ren – daraus lässt sich ableiten, was diesesGewebe im gesunden Hirn tut.

Und nun also Melanie Jacobs: Sie willdiesen Doktor an ihrer Bettkante loswer-den. Warum soll sie mit den Augen seinenFingern folgen und kindische Bilder zeich-nen? Was soll das Gerede vom Schlagan-fall, sie ist gerade mal 40! „Ich arbeite hart.Ich muss nach Hause“, wehrt sie sich.

„Mrs Jacobs“, sagt Solms, „ich verstehe,dass Sie sich wünschen, alles sei in Ord-

* Die Namen aller Patienten sind geändert.

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Psychoanalyse-Erfinder Freud (1926), Behandlungszimmer: Königsweg zum Unbewussten?

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nung. Aber ich bin leider überzeugt, dassIhre linke Seite gelähmt ist. Bitte: BewegenSie Ihren linken Arm.“

Der Arm rührt sich nicht.„Und, können Sie ihn bewegen?“, fragt

Solms.„Ja.“„Ich habe nichts gesehen.“„Weil Sie nicht in meinem Kopf drin

sind. Mit meinen inneren Augen habe ichgesehen, dass er sich bewegt.“

Ein Paradefall von Anosognosie: Unein-sichtigkeit. Für dieses sonderbare Krank-heitsbild, das nach Schäden in Arealen derrechten Hirnhälfte auftritt, hat die Neu-ropsychologie drei hirnorganisch begrün-dete Modelle: Stark vergröbert besagen sie,dass der Patient keine negativen Gefühlemehr erzeugen könne, dass seine Auf-merksamkeit für die linke Seite gestört sei,oder dass seine Fähigkeit, den eigenen Kör-

per räumlich wahrzunehmen, verloren ge-gangen sei. Keines der Modelle beschreibtMrs Jacobs’ Zustand vollständig.

Eine willkommene Gelegenheit fürSolms, Kollegen und Studenten bei derwöchentlichen Falldiskussion im Hörsaalmit seiner eigenen Hypothese über Anoso-gnosie zu provozieren. Er ist überzeugt, dassdie Störung gar nicht körperlich bedingt ist.

Solms zeigt ein Video der Patientin, argu-mentiert leidenschaftlich, kommt zum Fina-le: „Mrs Jacobs kann die traurige Wahrheitnicht ertragen. Sie will nicht realisieren, dasssie gelähmt ist.“ Und dann fällt jener Name,der unter Neurologen und Psychiatern ge-meinhin für aggressive Unruhe sorgt: „Sig-mund Freud hätte gesagt: Sie verdrängt es.“

Schweigen in den Rängen. ZweifelndesAugenbrauen-Hochziehen. Skeptisches In-teresse. Aber kein Sturm der Entrüstung.Es hat sich hier herumgesprochen, dass diewissenschaftliche Avantgarde wieder In-teresse an den Ideen des Stammvaters derPsychoanalyse zeigt. Kollege Solms, Mitt-vierziger mit dem gutmütigen Gesicht ei-nes Jungen vom Lande, nebenbei Wein-

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bauer, ist auch Psychoanalytiker. Er wirktals treibende Kraft dieser Strömung.

Vielleicht ist es an der Zeit, den FallFreud neu zu verhandeln? Fast sieht es soaus, als würden ausgerechnet die Neuro-wissenschaften, die Sigmund Freud vonseinem Sockel stürzten, im 21. Jahrhun-dert seine Renaissance begründen.

Nicht psychisch Kranke, sondern neuro-logische Patienten wie Mrs Jacobs sind es,die heute als wichtigste Kronzeugen dienen,wenn es um die Rehabilitierung des ver-höhnten Giganten geht. In London hatSolms mit seiner Frau Karen, einer Psycho-analytikerin, am St. Bartholomew’s- und amRoyal Hospital Dutzende solcher Patientenanalytisch behandelt, ihre Träume durch-forstet, ihre Gehirne im Tomografen studiertund die Beobachtungen in Bücher gefasst*.

Freuds Ideen kreisten, genau wie dieje-nigen der modernen Hirnforscher, um das

* Karen Kaplan-Solms, Mark Solms: „Neuro-Psychoanaly-se. Eine Einführung mit Fallstudien“. Klett-Cotta, Stuttgart;312 Seiten; 34 Euro. / Mark Solms, Oliver Turnbull: „Das Ge-hirn und die innere Welt. Neurowissenschaft und Psycho-analyse“. Walter-Verlag, Düsseldorf; 360 Seiten; 34,90 Euro.

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Neuropsychologe Solms, Patientin Jacobs: „Lass den Quatsch, mir geht es gut“

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jahrtausendealte Leib-Seele-Problem: Wiehängen Gehirn und Psyche zusammen?Wie reagiert ein Gehirn auf traumatischeErlebnisse? Wie und wo entstehen Gedan-ken und Gefühle?

Auf der Couch mögen solche Prozesseschwer zu fassen sein. Auf einer Neurolo-giestation dagegen, sagt Solms, lasse sichunmittelbar beobachten, wie das Gehirnals Organ der Psyche subjektives Erlebenhervorbringt: „Diese Patienten sind keineAliens, sondern Menschen mit Gefühlen,Wünschen, Phantasien.“

Zum Beispiel Mrs Jacobs: Unstrittig ha-ben ihr abnormes Selbstbild und ihr über-mächtiges Wunschdenken mit der Existenzeines hellen Flecks zu tun, der auf demKernspintomogramm ihres Hirns zu sehenist. Das beschädigte Areal muss also aufirgendeine Weise zur Konstruktion dessenbeitragen, was ihr „Ich“ ist – etwa als Teileines neuronalen Netzwerks, das dabeihilft, mit Verletzungen des Selbstwerts fer-tig zu werden; auch solche Prozesse spie-len sich schließlich im Gehirn ab.

Wettlauf der HirndeuterChronik der Psychoanalyseund der Neurowissenschaften

1873 Camillo Golgi entwickelt ein Färbever-fahren, das die Nervenzellen sichtbar macht.Sigmund Freud beginnt in Wien das Medizinstu-dium. Sein Lehrer Ernst Wilhelm von Brückevertritt die Ansicht, im Organismus wirktenkeine anderen Kräfte als physikalisch-chemische.

1875 Erste Aufzeichnung elektrischer Strömevon der Hirnrinde.

1879 Gründung des weltweit ersten Institutsfür Psychologie in Leipzig.

1882 Freud arbeitet als Doktor der Medizinim Krankenhaus.

1885 Freud lehrt Neuropathologie an derUniversität Wien. Beschäftigung mit Kokain.Studienaufenthalt bei Charcot in Paris.

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Naturwissenschaftler wissen mit einemBegriff wie „Selbstwert“ wenig anzufan-gen. Psychoanalytiker reden darüber wieEskimos über Schnee: Sie kennen ver-schiedene Typen, haben Theorien über sei-ne Entstehung und einen entsprechendenWortschatz. „Ich glaube“, sagt Solms, „dasswir auf der soliden Basis der klinischen Be-obachtung die Psychoanalyse wieder mitder Neurowissenschaft vereinen können.“

Er hat allen Grund zum Optimismus. DerVersuch, die verfeindeten Disziplinen zu einer großen Synthese zusammenzufas-sen, hat bereits eine neue Fachrichtung her-vorgebracht. Das Herausgebergremium ihrer Zeitschrift „Neuro-Psychoanalysis“liest sich wie ein „Who’s who“ der Neuro-wissenschaft: Eric Kandel, Joseph LeDoux,Antonio Damasio, Benjamin Libet, Vilaya-nur Ramachandran, WolfSinger.

Freud ist wieder da –überall auf der Welt fahndenNeurobiologen, Psycholo-gen, Psychiater und Psycho-

1886 Freud leitet bis 1897 dieneurologische Abteilung einesKinderkrankenhauses. Eröffnungder Nervenarzt-Praxis.Konventionelle Behandlungenmit Ruhekuren und Hypnose.Parallel dazu entwickelt er diePsychoanalyse.

1889 Nervenzellen werden als eigenständigezelluläre Einheiten identifiziert.

1895 Freuds Versuch, im „Entwurf einer Psycho-logie“ psychische Phänomene in eine naturwis-senschaftliche Sprache zu übersetzen, scheitert.

1897 Mit der Isolierung des Adrenalins beginntdie Erforschung des Gehirnstoffwechsels.

1899 Freud veröffentlicht die auf „1900“ vorda-tierte „Traumdeutung“.

1910 Gründung der Internationalen Psychoana-lytischen Vereinigung.

Nervenzelle im Gehirn

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analytiker in Arbeitsgruppen nach Schnitt-stellen ihres Wissens. „Freuds Einblicke indie Natur des Bewusstseins“, postuliert Neu-robiologe Damasio, „stehen in Einklang mitder Sichtweise der fortgeschrittensten mo-dernen Neurowissenschaften.“

„Freud wollte damals genau das tun, waswir heute tun“, sagt Mark Solms. „Weil eraber weder Computertomograf noch EEGhatte, gab er sein Projekt auf. Indem wirsein Werk korrigieren, revidieren und er-gänzen, bringen wir es zu Ende.“

FREUD ALS HIRNFORSCHER

Der erste Forscher, der die Beziehung zwi-schen Psychoanalyse und Neurowissen-schaft untersuchte, war Sigmund Freudselbst. Doch als der Seelenkundler mit sei-nen spektakulären Theorien über Ödipus-komplex, Penisneid und TraumdeutungWeltruhm erlangte, geriet der Naturfor-scher Freud darüber in Vergessenheit.

Als Stipendiat in Triest hatte der ebensotalentierte wie ehrgeizige Sohn eines jüdi-schen Wollhändlers das Nervensystem derFische mikroskopiert und nach den Hodendes Aals gesucht. Damals gilt der jungeFreud als überaus begabter Neuroanatom. Ineiner Arbeit über Sprachstörungen (Apha-sie) beschreibt er die neurologischen Grund-lagen von Sprache. Sein Interesse gilt derNervenheilkunde, einer jungen Disziplin,die ihren Patienten wenig mehr als Beruhi-gungsmittel und Ruhekuren anzubieten hat.

Mit einem Reisestipendium in der Ta-sche reist Dr. med Sigmund Freud 1885 ausWien nach Paris. An der Salpêtrière sezierter im Labor von Jean-Martin Charcot Kin-dergehirne. Fasziniert sieht Freud zu, wieder große Neurologe bei Patienten unterHypnose hysterische Lähmungen erzeugtoder löst. „Charcot, der einer der größtenÄrzte, ein genial nüchterner Mensch ist,

reißt meine Ansichten undAbsichten einfach um“,schreibt Freud voller Ehr-furcht nach Hause.

Weil sich im Gehirn ver-storbener Hysterikerinnen

1914 Bruch mit C. G. Jung undAlfred Adler, Freuds einfluss-reichsten Mitstreitern in derPsychoanalytischen Vereinigung.

1921 Mit dem Acetylcholin wirdein erster Botenstoff im Hirnisoliert.

1924 Erstes Elektroenzephalogramm (EEG).

1926 Aufnahme der Psychoanalyse in die allge-meine Gebührenordnung für Ärzte.

1928 Begründung der modernen Neuro-endokrinologie.

1929 Der Schriftsteller Arnold Zweig feiert Freudin seinem Essay „Freud und der Mensch“ alsBefreier von religiösem und pathologischem Terror.

1933 Freuds Schriften fallen der nationalsozialis-tischen Bücherverbrennung zum Opfer.

1935 Die Deutsche Psychoanalytische Gesell-schaft schließt ihre jüdischen Mitglieder aus.

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Neurologe Charcot bei Präsentation einer Hysterikerin (Gemälde von 1887): „Ein genial nüchterner Mensch“

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keine organische Ursache für ihr Leidenfand, glaubten die meisten Neurologen da-mals, dass die Patienten ihre Symptomeerfunden haben mussten. Charcot hin-gegen hatte die Hysterie als echte Krank-heit diagnostiziert. Und er wagte zu fra-gen, ob und wie körperliche Symptomeauf geistig-seelischen Ursachen beruhenkönnten.

Zurück in Wien, lässt Freud diese Fragenicht mehr los. Er vermutet den Schlüssel zuneurotischen Symptomen in frühen trau-matischen – meist sexuellen – Erlebnissen.Gleichzeitig ist er überzeugt davon, dass diePsyche irgendwie im Hirngewebe repräsen-tiert sein müsse. Als einer der Ersten trägter die Idee vor, das Gehirn bestehe aus un-

tereinander verknüpf-ten Neuronen, dieNervennetze bilden.

Zahlreiche Analytikeremigrieren, viele von ihnenin die USA.Freud wird Ehrenmitgliedder British Royal Societyof Medicine.

1937 Einführung derElektroschock-Behandlung.

1938 Die SA durchsuchtFreuds Wohnung. Freud emigriert nach London.

1939 Freud stirbt im Londoner Exil.

1945 Die Deutsche Psychoanalytische Gesell-schaft hat noch 37 Mitglieder.

1947 Gründung des Instituts für Psychotherapie.Vertreten sind Neoanalytiker, Freudianer undJungianer. Die Zersplitterung der psychoanalyti-schen Gemeinde hat begonnen.

50er Jahre Entwicklung und Einsatz der ersten

stellung eines EEG (1955)

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Dem Zeitgeist folgend, will Freud die Psy-chologie als Naturwissenschaft etablieren.Seine revolutionären Ideen von psychischenVorgängen wie Trieben, Verdrängung oderAbwehr versucht er im „Entwurf einer Psy-chologie“ aus dem Jahr 1895 sogleich in dieSprache der Neurophysiologie und Neuro-anatomie zu übertragen. Doch seine Ideensind der beschränkten Technik seiner Zeitvoraus: Mit Skalpell und Mikroskop lassensich die elektrischen und biochemischenKorrelate der Seele nicht nachweisen. Weilihm – wie er selbst eingesteht – nur „einPhantasieren, Übersetzen und Erraten“bleibt, bezeichnet er seinen „Entwurf“ als„eine Art Wahnwitz“ und wendet sich ent-täuscht von der Neurobiologie ab.

Zwar werde der Tag kommen, an dem„ein tieferes Eindringen die Fortsetzung desWeges bis zur organischen Begründung des

Psychopharmaka, Entdeckung und Erforschungder Botenstoffe des Gehirns.

1952 Der Psychologe Hans Eysenck legt eineStudie vor, nach der die Psychoanalyse die Ge-nesung der Patienten behindert.

1953 Entdeckung des REM-Schlafs.

1957 Entdeckung der Synapsen.

60er Jahre In den USA besetzen Psychoanalytikerdie einflussreichsten Posten in der Psychiatrie.Auch Schizophrenie-Patienten werden mit Psy-choanalyse behandelt. Freud hatte dies immerabgelehnt.

1967 Gründung des weltweit ersten Instituts fürNeurobiologie in Boston.

1971 Erster Computertomograf.

1974 Die Positronen-Emissions-Tomografie (PET)macht Stoffwechselvorgänge im Gehirn sichtbar.

1979 Der Philosoph Adolf Grünbaum stellt Freuds

Seelischen“ aufspürt, schreibt Freud. Aber:„Vorläufig steht uns nichts Besseres zu Ge-bote als die psychoanalytische Technik, unddarum sollte man sie trotz ihrer Beschrän-kungen nicht verachten.“

HUNDERT JAHRE GESCHWISTERSTREIT

Fortan verhielten sich Neurowissenschaf-ten und Psychoanalyse zueinander wietrotzige Geschwister im Dauerclinch. Andie hundert Jahre ringen sie nun schon umdie Deutungshoheit über das menschlicheBewusstsein. Lange schien es, als habe diePsychoanalyse, die sich wie eine Geheim-wissenschaft gegen Kritik und Überprü-fung ihrer Theorien abschottete, den An-schluss verloren.

Unbestritten ist indes der Einfluss desRevolutionärs der Seele auf sämtliche Be-

Behauptung in Frage, nach der seine Erkennt-nisse auf einem empirischen Fundamentstehen.

1984 Der Analytiker Jeffrey Masson bewirkteinen Skandal, als er Freud für sein Abrückenvon seiner ursprünglichen Verführungstheoriekritisiert. Indem er Schilderungen von sexuel-lem Missbrauch als Produkt innerer Phantasieund spontaner kindlicher Sexualität interpre-tiere, habe er die Missbrauchsopfer verraten.

seit circa 1990 Mit verfeinerten bildgebendenVerfahren werden immer mehr neuronaleEntsprechungen psychischer Vorgänge ent-deckt.

Ende der 90er Jahre

Begründung der Neuro-Psychoanalyse.

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Titel

US-Karikatur: Nahezu alles wird durch die Freudsche Moulinette gehäckselt

reiche unseres Alltagslebens: Gesellschaft,Kunst, Sprache, Familienbeziehungen – na-hezu alles wird heutzutage durch dieFreudsche Moulinette gehäckselt. Wohlkaum etwas hat den Blick auf das mensch-liche Dasein so stark verändert wie FreudsLehre vom Unbewussten – jener innerenRegion, in die der Mensch unangenehmeund angsterregende Ideen und Wünscheverdrängt.

Es waren ungeheuerliche Thesen, mitdenen der junge Neurologe seine Zeitge-nossen kränkte: Der Mensch, die Kroneder Schöpfung – laut Freud ist er in Wahr-heit nur ein Getriebener seiner unter-drückten sexuellen Wünsche. Während erglaubt, Herr im eigenen Haus zu sein, re-gieren im Keller seiner Seele animalischeTriebe. Als Sklave seiner verdrängten früh-kindlichen Erlebnisse hat er Angst undweiß nicht, wovor.

Er träumt vom Treppensteigen undmeint den Sexualakt. Er will etwas sagen,

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und heraus kommt das Gegenteil. JedemVersprecher, jedem Traum, jeder Phanta-sie, so sinnlos sie auch erscheinen mochten,musste ein seelisches Motiv zugrunde lie-gen – schließlich unterlag das Seelenlebenals Teil der Natur kausalen Gesetzen.

Freuds Patientinnen litten an der schil-lernden Fin-de-Siècle-Krankheit Hysterie.Emmy von N. etwa klagte über konvulsiveTics, spastische Sprachhemmungen undentsetzliche Halluzinationen von Mäusenund sich windenden Schlangen. Auf FreudsCouch berichtete sie von ihren Träumen, erforderte sie auf, ihren Einfällen dazu frei-en Lauf zu lassen.

Aus den Erzählungen seiner Neurotikerglaubte er herauszuhören, dass ihrem Lei-den stets frühe sexuelle Konflikte zugrun-de liegen. Die „Redekur“, wie Freud diePsychoanalyse auch nannte, könne dieseNeurosen heilen, indem sie die verdräng-ten, krankmachenden Erinnerungen insBewusstsein hole.

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Erstmals auch lenkt er den Blick auf dieweibliche Sexualität, die bis dahin nur dazudiente, Kinder zu zeugen. Rasch erwirbtdie Psychoanalyse deshalb den Ruf einerBefreiungsbewegung, die mit den Ver-klemmungen des untergegangenen Kaiser-reichs aufräumt. „Ein guter Psycholog istim Stande, dich ohne weiters in seine Lagezu versetzen“, spottete hingegen der öster-reichische Satiriker Karl Kraus.

Unterdessen war Freud – nicht gegenseinen Willen – zum Propheten einer qua-sireligiösen Strömung geworden. Der Sie-geszug seiner Erfindung, der Psychoana-lyse, schien unaufhaltsam. Freud starb,hochgeehrt, 1939 im Londoner Exil. In denVereinigten Staaten wurden seine im Nazi-Deutschland verfolgten Schüler empfan-gen wie Popstars. Rasch eroberten sieSchlüsselpositionen in den psychiatrischenKliniken. Freudsche Paradigmen wurdenals Universalheilmittel idealisiert. Kraken-haft dehnte sich die Psychoanalyse mitihrem Absolutheitsanspruch in alle Le-bensbereiche aus.

Erst in den fünfziger Jahren – in denUSA waren die Psychoanalytiker-Praxenmittlerweile so dicht gesät wie Optikerläden– geriet das überlebensgroße Denkmal ins Wanken. Die Erfolge der biologischen Psychiatrie und der Neurobiologie schlu-gen bald darauf neue, ungeahnte Pfade insDickicht des menschlichen Seelenlebens.

Eines Tages könne es gelingen, mit „che-mischen Stoffen die Energiemengen undderen Verteilungen im seelischen Apparatdirekt zu beeinflussen“, hatte Freud einstselbst, durchaus hoffnungsvoll, vorherge-sagt. Nun war es so weit: Psychiater grif-fen in die Stellwerke der Seele ein. DiePsyche war zu einem Gegenstand gewor-den; ihr physisches Korrelat, das Gehirn,war der Wissenschaft zugänglich wie Herzoder Leber.

Die Erkenntnisse, die der Verfasser der„Traumdeutung“ an der Couch gewonnenhaben wollte, erschienen dagegen so ne-bulös wie der Rauch seiner Zigarren. DieGegner hatten leichtes Spiel. Das weitver-zweigte Theoriegebäude der Psychoanaly-se ließ sich experimentell nicht stützen.Schon Freud selbst war überaus empfind-lich gegen Kritik gewesen und konnte eigene Fehler oft nur schwer eingestehen:So hatte er etwa Kokainspritzen als Mittelgegen Depressionen und Arbeitsunfähig-keit empfohlen, noch als das suchterzeu-gende Potential des Kokains längst bekanntwar. Eine Überprüfung der therapeuti-schen Erfolge der Psychoanalyse hatte erniemals für nötig gehalten.

Seine Nachfolger formierten sich teilssektenartig und wehrten sich erbittert ge-gen jegliche Form der wissenschaftlichenAnnäherung. Als dann der PsychologeHans Eysenck 1952 in London eine Studievorlegte, nach der die Psychoanalyse dieGenesung der Klienten sogar behindere,brach eine Welle von Hass und Ablehnung

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über Freuds Methode herein. Das „Freud-Bashing“ kam in Mode: Der Medizin-No-belpreisträger Peter Medawar gab die Psy-choanalyse in den siebziger Jahren als„horrendeste Bauernfängerei des Jahr-hunderts“ zum Abschuss frei. Eine ganzeGeneration von Kritikern verhöhnte nundie Freudschen Ideen als Konglomerat mo-derner Mythen von Vatermord, Inzest undPenisneid – posthumer Absturz eines Su-perstars.

Während 1945 in den USA ein Nicht-Psychoanalytiker kaum eine Chance hatte,

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Fürsprecher der Neuro-Psychoanalyse: „Wir führen Freuds Werk zu Ende“

Professor der Psychiatrie zu werden, er-hielt in den siebziger Jahren kaum noch einüberzeugter Analytiker einen Lehrstuhl.Viele Neurologen und Psychiater haltenheute die Psychoanalyse für Scharlatanerie– zumindest aber für ein langwieriges Lu-xusverfahren.

Auch als intellektuelle Mode hat die Redekur ausgedient. Nach einem Berichtdes Magazins „Time“ behandelten die Mit-glieder der American Psychoanalytic Asso-ciation im vorletzten Jahr weniger als 5000Patienten. Der einzige Ort, an dem nochPatienten auf der Couch liegen, so „Time“,seien Woody-Allen-Filme und „New Yor-ker“-Cartoons.

In ihren Labors förderten die Rivalenaus der Neurowissenschaft im gleichenZeitraum Kenntnisse zutage, von denenein halbes Jahrhundert zuvor kein Mensch

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zu träumen gewagt hätte: Als enträtselt gel-ten die Schaltkreise der Wahrnehmung. Bisin molekulare Abläufe hinein verfolgenForscher die Biologie des Erinnerns undder Emotionen. Längst lässt sich die Tätig-keit der Seele als elektrisches Aktivitäts-muster abbilden.

Francis Crick, der Entdecker der DNA-Struktur, hatte schon Ende der siebzigerJahre behauptet, man könne das Rätsel des menschlichen Bewusstseins mit natur-wissenschaftlichen Methoden knacken, alles nur eine Frage der Zeit. 1994 wähnte

er sich am Ziel: „All Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alldem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhal-ten einer riesigen Ansammlung von Ner-venzellen und dazugehörigen Molekü-len“, verkündete Crick in seinem Buch mitdem großspurigen Titel „Was die Seelewirklich ist“.

Doch die Euphorie reichte nicht weit:Als Crick 2003, ein Jahr vor seinem Tod,zusammen mit seinem Kollegen ChristofKoch eine Ergebnisbilanz der neuerenHirnforschung zog, gaben die beiden zu,dass auch die subtilste Analyse neuronalerVorgänge absolut nichts über die subjekti-ve Seite der menschlichen Erfahrung aus-sagt: „Niemand hat bis jetzt irgendeineplausible Erklärung vorgelegt, wie die Er-

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fahrung der Röte von Rot aus den Vorgän-gen im Gehirn entsteht.“

Das Bewusstsein mag sich darstellen alsunendliches Feuern der Neuronen, als Zu-sammenwirken der Gene, Proteine undBotenstoffe, als Summe von Biochemie,Sozialem, Ererbtem. Der Mensch jedocherlebt all das in einem anderen Aggregat-zustand: als vielschichtigen inneren Er-zählstrom aus Bildern, Worten und Ge-fühlen – vage, flüchtig, mit Sprache nurannähernd zu beschreiben.

Warum finde ich Erfüllung? Warum ge-fällt mir Blau besser als Rot? Warum füh-le ich mich schuldig? – Zu diesen Fragenhat die Hirnforschung, die sich als Leitdis-ziplin der Humanwissenschaften positio-nieren will, bislang keinen Zugang gefun-den. „Die Neuropsychologie ist etwasGroßartiges“, sagt der New Yorker Neuro-loge Oliver Sacks, „aber sie ignoriert diePsyche.“

HATTE FREUD DOCH RECHT?

Als Student der Geschichte in Harvard hatte Eric Kandel leidenschaftlich mit An-hängern Freuds diskutiert. Das war vor 50Jahren. Heute ist Kandel 75, Gedächtnis-forscher, Nobelpreisträger. „Freuds Ent-wurf ist das noch immer schlüssigste undintellektuell befriedigendste Bild des Geis-tes“, gibt er zu bedenken. „Ein Ansatz, umzu verstehen, warum der menschlicheGeist gleichzeitig Goethe aufnehmen undKonzentrationslager erschaffen kann.“

Ein Ansatz mit Schwächen, zugegeben.Immer mehr Analytiker fragen sich heute,ob ihre Grundkonzepte überhaupt nochstimmen, und machen sich auf die Suchenach den molekularen Grundlagen des the-rapeutischen Handwerks. Andere warnenvor der „Neurologisierung des Psychi-schen“. Und André Green, der betagteDoyen der französischen Psychoanalyse,mahnte jüngst, die Psychoanalyse sei kei-ne Wissenschaft und solle gar nicht erstversuchen, eine zu werden.

Doch aus der zersplitterten Gemein-schaft von Freuds Erben treten diejenigenhervor, die wie Marianne Leuzinger-Bohle-ber, Leiterin des Sigmund-Freud-Institutsin Frankfurt am Main, in der Versöhnungmit der Biologie die Zukunft sehen: „Psy-choanalyse und Neurowissenschaften be-schäftigen sich mit ähnlichen Fragen“, sagtdie Professorin aus der Schweiz. „UnsereModelle psychischer Funktionen, die ausder klinischen Beobachtung entstandensind, dürfen nicht im Widerspruch zum Erkenntnisstand von Neurobiologie oderKognitionspsychologie stehen.“

Dabei macht die Hirnforschung denAnalytikern durchaus Hoffnung. Der indi-sche Hirnforscher Vilayanur Ramachand-ran etwa stimulierte in einem Experimentdie geschädigte rechte Hirnhemisphäre einer Anosognosiepatientin mit einem ein-fachen sensorischen Reiz: Er träufelte ihr

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Zeichnung einer durch Missbrauch traumatisierten Patientin: Können Worte heilen?

eiskaltes Wasser ins Ohr. Augenblicke spä-ter realisierte die Frau plötzlich, dass siegelähmt war. Als die Reizwirkung des Eis-wassers nachließ und das Symptom wiedervon ihr Besitz ergriff, befragte Ramach-andran sie erneut.

Sie erinnerte sich an alle Details des Ex-periments, sogar welchen Schlips der Arztdabei getragen hatte. Nur daran, dass ihrihre Lähmung bewusst geworden war, er-innerte sie sich nicht.

Ramachandran schließt daraus, dass Er-innerungen sehr wohl selektiv unterdrücktwerden können: „Diese Patienten über-zeugten mich zum ersten Mal davon, dassan dem Phänomen der Verdrängung etwasdran sein muss.“

Die Führungsrolle des Unbewussten hat-te Benjamin Libet schon in den siebzigerJahren in einem Experiment nachgewie-sen: Der Neurophysiologe bat Versuchs-personen, ihre Hand zu einem selbstge-wählten Zeitpunkt zu bewegen. Sie solltendabei auf die Uhr sehen und sich merken,wann sie den Befehl: „Finger krümmen“gegeben hatten. Das irritierende Ergebnis:Schon eine halbe Sekunde bevor die Test-personen diese Entscheidung trafen, regi-strierte das EEG Aktivität in dem Arealdes Gehirns, das die Hand steuert.

Der bewusste Willensakt konnte dem-nach nicht die Ursache der Handlung sein.„Wir tun also nicht, was wir wollen, son-dern wir wollen, was wir tun“, so beschreibtder Münchner Psychologe Wolfgang Prinzdie Vorherrschaft des Unbewussten.

Auch einige andere von Freuds Kon-zepten haben sich in wesentlichen Punktenbestätigt:• Die fundamentale Bedeutung der frühen

Kindheit wurde durch die Säuglingsfor-schung eindrucksvoll nachgewiesen. An-gefangen im Mutterleib, bahnen früheErfahrungen neuronale Verknüpfungenim limbischen System, dem Gefühlszen-trum unseres Gehirns. Diese Verbin-dungen, die unser Verhalten prägen, sindso stabil, dass spätere Erfahrungen siekaum verändern.

• Als „Infantile Amnesie“ bezeichneteFreud den Umstand, dass wir uns an Er-eignisse aus der frühesten Kindheit nichterinnern können. Die Hirnforschung er-klärt, warum: Da die „Verdrahtung“ zwi-schen Neuronen noch unvollkommen ist,fehlen die nötigen Netzwerke, um Erin-nerungen korrekt abzuspeichern. An-fangs werden Erinnerungen nur vom im-pliziten (unbewussten) Gedächtnis auf-genommen. Die Erinnerungen sind abervorhanden und beeinflussen uns – auchwenn wir keinen Zugriff auf sie haben.

• Triebe bestimmen tatsächlich unser Le-ben. Allerdings erschöpft sich dasTriebleben nicht im Freudschen Wech-selspiel von Sexualität und Aggression.Neben einer Reihe von Instinktsyste-men, die von Basisemotionen wie Wut,Panik, Furcht angetrieben werden, ha-

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ben Hirnforscher das sogenannte Be-lohnungs- oder Suchsystem entdeckt –einen Dopamin-Schaltkreis, der bemer-kenswerte Ähnlichkeit mit Freuds „Li-bido“ aufweist.

DER SCANNER AN DER COUCH

„Freuds größte Entdeckung aber war, dassWorte heilen können“, sagt Marianne Leu-zinger-Bohleber. „Er hat sie zu einer Zeitgemacht, in der traumatisierte Frontsolda-ten noch mit Zwangsexerzieren und Elek-troschocks behandelt wurden.“

Dass Psychotherapie das Gehirn ebensoverändern kann wie ein Psychopharma-kon, haben Tomografie-Studien bei De-pressionskranken gezeigt. In deren Gehirnist der Hippocampus geschrumpft und dercinguläre Cortex – der Konfliktmotor desGehirns, der anspringt, wenn der Menschin Schwierigkeiten gerät – lahm gelegt. Mitder Überwindung der Depression erholtsich das Gehirn wieder.

Aber ob die Psychoanalyse einen sol-chen Umbau der Neuronen in Gang setzenkann? Der Berner Psychologe Klaus Gra-

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we ist skeptisch: „Dafür muss das Gehirnungemein systematisch und zielgerichtetaktiviert werden. Eingespielte Erfahrun-gen müssen gehemmt, neue Erfahrungenmüssen immer wieder wiederholt werden“,meint der Analyse-Kritiker, der gerade einBuch über die neuronalen Grundlagen derPsychotherapie geschrieben hat*. „Mit derklassischen psychoanalytischen Haltung:‚Mal sehen, was heute vom Patientenkommt‘ ist das unvereinbar.“

Die Leiterin des Freud-Instituts verweistauf andere Erfahrungen. Einige wenige Pa-tienten, vielleicht fünf Prozent, hätten garkeinen inneren Spielraum, in dem solchezielgerichteten Methoden greifen könnten.Sie seien so schwer gestört, dass sie einergründlichen, lang andauernden Therapiebedürften.

Leuzinger-Bohleber analysierte bei-spielsweise eine junge Frau, die mit blutiggekratzten Händen zur ersten Sitzung kam.Sie lebte völlig isoliert in einer dunklenWohnung, litt unter einem Waschzwang,

* Klaus Grawe: „Neuropsychotherapie“. Hogrefe-Verlag,Göttingen; 512 Seiten; 39,95 Euro.

Page 8: Die Natur der Seele - SPIEGEL

Titel

schwersten Panikattacken und war wegenihrer Magersucht in mehreren Klinikenvergeblich mit Verhaltens- und Gesprächs-psychotherapie behandelt worden.

Nach zwei Jahren Analyse war sie bereit,ihre Mutter nach den Umständen ihrer ers-ten Lebensjahre zu fragen. Sie erfuhr, dassdie Mutter versucht hatte, sie abzutreiben.Ein Zwillingsbruder starb bei der Geburt,die Mutter versank in Depression. Der Va-ter hatte den Sohn gewollt und lehnte dieTochter ab.

„Wenn wir davon ausgehen“, sagt Leu-zinger-Bohleber, „dass sich die neuronalenNetze unseres emotionalen Gedächtnissesschon im Mutterleib ausbilden, dann ergibtes einen Sinn, dass die junge Frau Nähemit Gefühlen wie Panik, Fallen-gelassen-Werden, Todesangst zusammenbrachte.“

Die junge Frau aus Leuzinger-BohlebersPraxis zog am Ende aus ihrer schreckli-

SPIEGEL-Titel 51/1959, 52/1984, 25/1998: „Ein

… dich ohne weiters in seine Lage zu

chen Wohnung aus und fand sogar einenPartner. Die Analytikerin ist überzeugt:„Wenn wir ihr Gehirn vorher und nachhergescannt hätten, wäre die Veränderungsichtbar geworden.“

Freud hatte postuliert, Gedächtnis seieine „Haupteigenschaft des Nervenge-webes“. Dieses könne „durch einmaligeVorgänge dauerhaft verändert“ werden.Tatsächlich hat die Hirnforschung mate-rielle Korrelate der Erinnerung gefunden:Als Eric Kandel in den achtziger Jahrenuntersuchte, wie das Gedächtnis der Mee-resschnecke Aplysia auf Berührung ihrerKiemen reagiert, reichte schon eine Stun-de, um neue Synapsen sprießen zu lassen.

Doch während der Schöpfer der Psycho-analyse sich das Gedächtnis statisch wieein Lagerregal vorstellte, in das man gra-vierte Wachstafeln ablegt, ist das heutigeModell vom Gedächtnis ein dynamisches.

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guter Psycholog ist im Stande …

versetzen“: Freud beim Modellsitzen (1931)

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Bei jedem Abruf einer Erinnerung verse-hen wir diese mit einem neuen Kontextund verändern dadurch ihre Gestalt.

„Aus der Neurobiologie wissen wir, dassman Erfahrungen nie löschen kann“, sagtLeuzinger-Bohleber – schon gar nicht, in-dem man, wie Freud es versuchte, an dieVernunft des Patienten appelliert. „Esnützt dem Patienten nicht viel, wenn man‚nur‘ seine Lebensgeschichte rekonstruiertund erfährt, dass er im Alter von zwei Jah-ren ein Trauma erlebte. Nimmt man ernst,was die Neurowissenschaftler sagen, dannmuss er seine Konflikte wiedererleben undin der Beziehung mit dem Analytiker eineneue emotionale Erfahrung machen. Da-durch kann sich ein neues, korrektives neu-ronales Netz bilden.“

Am Freud-Institut haben erste Ver-suchsreihen mit Hirnscans ermutigendeErgebnisse gezeigt. Doch was ist auf denRöntgenaufnahmen der Seele wirklich zuerkennen? Gehirne seien anatomisch soindividuell wie Ohrmuscheln und daherschwer zu vergleichen, schränkt die Insti-tutschefin die Aussagekraft der Bilder ein.Und was im Scan am hellsten leuchte, müs-se noch lange nicht die bedeutendste Ak-tivität sein.

DIE WISSENSCHAFT VOM TRAUM

Von der Couch ins Labor verlagert sichauch die Erforschung des Traums, fürFreud der Königsweg zur Kenntnis des Un-bewussten. Wenn der Psychologe StephanHau im Keller des Sigmund-Freud-Insti-tuts mit Hilfe des EEGs seziert, was dieGehirne seiner Testschläfer hervorbringen,geht es allerdings kaum um die Deutungder nächtlichen Hirngespinste. Hau willherausfinden, wozu Träume gut sind. Dar-über hat die Hirnforschung einige Theoriengebildet.

Aus evolutionstheoretischer Sicht etwadurchlebt der Schläfer die wirren Streifenals Trainingslager: Indem er die Prüfungverpasst, mit dem Fahrrad in den Abgrundrast oder gegen gefährliche Tiere kämpft,probt er den täglichen Überlebenskampf.Wer träumt, besagen andere Theorien,verarbeitet dabei Stress oder konsolidiertsein Gedächtnis. Um Erinnerungsforschunggeht es auch in einigen der Experimente,die Hau betreibt: Welche Reize gelangenüberhaupt ins Bewusstsein? Wie zerlegt sie der Traum und arbeitet sie in neue Zu-sammenhänge ein?

Hau hat gezeigt, wie Wahrnehmungs-splitter vom Tag ins Traumgeschehen ge-raten, ein Vorgang, den Neurowissenschaft-ler „vorbewusstes Processing“ nennen.Subliminal, also unterhalb der Wahrneh-mungsschwelle von einer 150stel Sekunde,präsentierte er Probanden vor dem Ein-schlafen eine Strandszene, auf der ein Hausmit einem dreieckigen roten Dach zu sehenwar. Wenn die Schläfer ihre Träume zeich-neten, tauchten auf den Bildern rote Drei-

185

Page 9: Die Natur der Seele - SPIEGEL

motorischesZentrum

Titel

er

ecke auf, für die sie keine Er-klärung hatten.

Zurzeit sucht Hau nachHinweisen auf den Mecha-nismus der Abwehr – nachFreud ein unbewusster Vor-gang, mit dem wir unange-nehme Inhalte von uns fernhalten. Probanden bekamen– wiederum subliminal – einbeunruhigendes fledermaus-artiges Gebilde zu sehen. Batder Psychologe sie, im Wach-zustand freie Einfälle zu schil-dern, hatte der Reiz daraufoffenbar keinen Einfluss. Inihren Träumen hingegen wurden die Test-personen anschließend von Angstszena-rios wie Raubvögeln oder unheimlichenLandschaften heimgesucht.

Gemeinsam mit Kollegen vom Zentrumfür Neurologie der Uni Frankfurt steckteHau schon Testschläfer in die Kernspin-röhre, um die Traumaktivität beim Ein-schlafen zu untersuchen. „Rückschlüsseauf den Trauminhalt oder dessen Bedeu-tung sind allerdings nicht möglich“, sagtHau. „Die Lücke zwischen Physiologieund Psychologie lässt sich auch mit denpräzisesten Bildgebungsverfahren nichtschließen.“

Auch Freuds Behauptung, beim Traumhandle es sich stets um eine – sexuelle –Wunscherfüllung, lässt sich auf dieseWeise nicht überprüfen. Die FreudschenTraumtheorien erleben gleichwohl eineneurowissenschaftliche Wiederauferste-hung. Kaum ein Forscher würde heutemehr behaupten, Träume seien nur zufäl-lige Entladungen unseres Gehirns. DiesesDogma hatte der US-amerikanische Psy-chiater J. Allan Hobson in den siebzigerJahren aufgestellt und damit FreudsTraumtheorie der Lächerlichkeit preisge-geben.

Hobson glaubte, im REM-Schlaf (RapidEye Movement) das physiologische Korre-lat des Traums gefunden zu haben. Erwies nach, dass der Schlafzyklus, dermit schnellen Augenbewegungen ein-

TraumforschTestschlaf im

Der Hirnstamm schüttet Acetylcholinaus und versetzt das Gehirn so inTraumbereitschaft.

Die Brückenkerne bringen die für dasTräumen wichtige neuronale Erregunghervor. Sie läuft über den Thalamusweiter zur Sehrinde, wo gespeicherteBilder aktiviert werden.

Das motorische Zentrum wird gehemmt, da-durch läuft Bewegung im Traum nur als Bild ab.

Das Belohnungs- oder Suchsystem gilt als Traumgenerator. Es erinnert stark an Freuds „Libido“. Bezung dieses Areals tritt völliger Traumverlust ein, Menschen Antriebslosigkeit.

Der Hippocampus erzeugt während der REM-SchlAugenbewegungen einhergeht, rhythmische ErregWährenddessen konsolidieren sich sehr wahrsche

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hergeht, durch Ausschüttungvon Acetylcholin im Hirn-stamm reguliert wird – einerRegion, die mit psychischerAktivität kaum zusammen-hängt. Träume seien folglichnichts als chaotische Reaktio-nen höherer Gehirnregionenauf die Flut von Acetylcholin.Der angebliche Schlüssel zurSeele – nur ein bedeutungslo-ses Rauschen im Hirn.

Vor wenigen Jahren jedochfand Mark Solms heraus, dassseine Patienten, die aufgrundeiner Hirnverletzung keinen

REM-Schlaf mehr hatten, sehr wohl träum-ten. Träumen und REM-Schlaf konntenalso nicht dasselbe sein. Traumlos schliefendagegen jene Patienten, bei denen Ner-venbahnen tief im Inneren des Mittelhirnszerstört waren – eine Region, die der US-amerikanische Verhaltensneurologe JaakPanksepp als Sitz des sogenannten Beloh-nungs- oder Suchsystems identifiziert hat.Dieser Dopamin-Schaltkreis, den Hirnfor-scher am ehesten mit Freuds „Libido“ ver-gleichen, fungiert nach der gegenwärtigeinflussreichsten Hypothese als Traumge-nerator. Es scheint also, als behalte Freudinsofern recht, als Wünsche zumindest einstarker Motor des Traums sind – allerdingsspielt die Sexualität dabei eine weitaus ge-ringere Rolle, als Freud glaubte.

Auch am zweiten Grundpfeiler seinerTraumtheorie, nach dem die sogenannteTraumzensur dazu führt, dass derSchläfer peinliche Motiveim Traum symbo-

HauKernspin

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-i Verlet-

beim wachen

afphase, die mit raschenung von Nervenzellen.inlich Gedächtnisinhalte.

Thalamu

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lisch „entschärft“ – er meint „Phallus“,träumt aber „Zigarre“ –, hatten sich frühZweifel geregt: Weshalb, fragte der Schrift-steller George Orwell, solle er wohl imSchlaf Seximpulse schamhaft kaschieren,„über die ich im Wachzustand ohne jedeScheu sprechen würde?“ Tatsächlich se-hen heutige Psychoanalytiker in Freuds Fi-xierung auf das Sexuelle auch den Nachhalleiner lustfeindlichen Epoche.

Ist eine geträumte Zigarre also docheinfach nur eine Zigarre, wie Hobson undandere Gegner der Traumdeutung pos-tulieren? „Manchmal schon“, vermutetMark Solms. Aber er hat eine neurolo-gische Entsprechung zu diesem Austausch-mechanismus der Traummotive entdeckt,den Freud „Verschiebung“ nannte: Einigeseiner Patienten, die unter extremenGedächtnislücken leiden, füllen ihre bio-grafischen Abgründe mit traumartig erfun-denen Erzählungen, sogenannten Konfa-bulationen. Biochemisch ist das Gehirn die-ser Patienten in einem ähnlichen Zustandwie das von Träumenden. Auch mancheDrogen können solche Zustände hervor-rufen. Die meisten Neurologen sagen: „DerPatient konfabuliert, er redet Unsinn.“ DerAnalytiker fragt: „Warum sagt er geradedas?“

Solms erinnert sich an einen Patienten,dem bei einer Tumoroperation Hirnge-webe entfernt worden war. Der Mann wusste danach nicht mehr, wer er war. Inzwölf aufeinander folgenden Sitzungenkonnte er sich nicht erinnern, Solms jemals

zuvor gesehen zu haben.Abwechselnd sprach

er ihn als seinen

SehrindeHippocampus

Sitz desBelohnungs-oder Suchsystems

s

Hirnstamm

Brücken-kerne

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Kneipenkumpel an, als Automechaniker,der einen seiner Sportwagen reparierensolle (die er gar nicht besaß), oder alsSportkameraden. Eines Tages begrüßte erSolms als seinen Zahnarzt und schüttelteihm überschwänglich die Hand.

Vieles klang schlicht verrückt, aber alsSolms mit der Frau des Patienten sprach,erzählte sie, dass ihr Mann während sei-ner College-Zeit begeisterter Ruderer gewesen sei. Jahre zuvor hatte ihn eineOperation, bei der er Zahnimplantate be-

Traumdarstellung in der Kunst*: Ist eine geträumte Zigarre manchmal doch nur eine Zigarre

kam, von fürchterlichen Schmerzen be-freit. Das Ganze ergab also doch einenSinn.

Eines Tages fasste sich der Mann an denKopf und sagte: „Ein Stück im Computerfehlt: Modul C 49.“

„Was macht C 49?“, fragte Solms.„Es ist ein Gedächtnismodul. Ich habe es

neulich checken lassen, es hatte immer einpaar Takte zu wenig. Jetzt haben sie Im-plantate eingesetzt, und alles läuft wiedertadellos. Aber ehrlich gesagt, ich habe dasDing sowieso nie gebraucht.“

Was der Mann mit der Geschichte vomdefekten Computermodul meinte, war fürSolms leicht zu deuten: „Es dämmerte ihm,dass etwas mit seinem Gedächtnis nichtstimmt. Diese schockierende Einsicht

* „Der Nachtmahr“, Gemälde von Johann Heinrich Füssli (1782).

wischte er beiseite und kreierte sich eineRealität, die er ertragen konnte.“

Die traumähnlichen Konfabulationen,das hat Solms auch in Experimenten mitPatienten gezeigt, sind keineswegs zu-fällig, sondern wunscherfüllt. Das Ge-hirn neigt in bestimmten funktiona-len Zuständen offensichtlich dazu, die eigentliche Geschichte metaphorisch zuverpacken – und sei es nur, weil der Erinnerungssuchmechanismus fehlerhaftarbeitet.

„Das beweist nicht Freuds Idee von derTraumverschiebung als motiviertem Akt.Aber es macht vielleicht ein bisschen er-träglicher, was die Psychoanalyse überTräume sagt.“

J. Allan Hobson, Professor für Psychia-trie an der Harvard Medical School, hältsolche Argumente freilich für den nutzlo-sen Versuch, moderne Daten nachträglichan einen veralteten theoretischen Rahmenanzupassen. Noch so viel „neurobiolo-gische Flickschusterei“ ändere nichts dar-an, dass sich die Psychoanalyse in großenSchwierigkeiten befinde. Freuds Rückkehrdurch die Hintertür der Hirnforschung istfür viele seiner Kollegen ein Alptraum:„Erforderlich wäre eine derart radikale Ge-neralüberholung, dass viele Neurowissen-schaftler lieber ein von Grund auf neuesneurokognitives Modell der Psyche ent-wickeln möchten.“

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FREUD ENTRÜMPELN

Schon jetzt haben Psychoanalytiker undNaturwissenschaftler – gemeinsam – vielevon Freuds Thesen über Bord geworfen.Nicht zuletzt hat sich die Vorstellung vomUnbewussten gewandelt.

Wenn Hirnforscher heute von unbe-wusst ablaufenden Prozessen reden, mei-nen sie häufig gar nicht verdrängte Erin-nerungen, die unser Verhalten bestimmen,sondern sehr viel banalere Dinge: Kein

Mensch etwa denkt beimSprechen bewusst daran, wieer einzelne Wörter zu Sätzenformt. Auto fahren, Schleifebinden, Butterbrot essen,dies alles funktioniert auto-matisch, ohne dass unserHippocampus aktiv werdenmuss, der für das Abspei-chern bewusster Erinne-rungen zuständig ist. Diesesimplizite, unbewusste Wis-sen entspricht am ehestendem, was Freud als „Vorbe-wusstes“ bezeichnete.

Mit anderen Augenbetrachten Wissenschaftlerheute aber auch das „dy-namische Unbewusste“, je-nen dunklen Kontinent derSeele, den Freud einmal das „innere Afrika“ nannte,bevölkert von einer „psy-chischen Urbevölkerung“,gegen die das vernünftige Ich ein Leben lang ankämp-fen müsse. „Aus Es muss Ich werden“, lautet einerseiner berühmtesten Lehr-sätze.

„Man muss das Unbe-wusste positiver sehen“, hältder Bremer HirnforscherGerhard Roth dagegen.„Das Es bedroht nicht dasIch, sondern das Es leitet

das Ich.“ Das Unbewusste sei eine über-wiegend nützliche Instanz. In jederSekunde melde es sich zu Wort bei derFrage: Soll ich das tun, oder soll ich dasnicht tun?

„Das Unbewusste trifft seine Entschei-dungen vor dem Hintergrund aller Vor-erfahrungen, die unser Gehirn seit demMutterleib gemacht hat. So gesehen ist es der Ort einer größeren, weil die ge-samte Lebenserfahrung umfassenden Ver-nunft.“

Gegenwind spüren die Verfechter derFreudschen Entwicklungstheorie: Der re-nommierte Säuglingsforscher Daniel Sterngab vor einigen Jahren zu Protokoll, erhalte Freuds Stufenmodell von der oralen,analen und ödipalen Phase des Kleinkindsfür „schlicht falsch“. Als überholt geltenauch die Triebtheorie des Altmeisters undetliche seiner Annahmen über das Ge-

?

AKG

187

Page 11: Die Natur der Seele - SPIEGEL

Titel

dächtnis oder die Psyche der Frau. Starkbezweifelt wird die Existenz eines Todes-triebs, dessen Wirken Freud in jedem Men-schen vermutete.

„Kein bildgebendes Verfahren wird je-mals den Beweis für den Penisneid findenoder ein Ich, Es und Über-Ich, verstrickt in einen unendlichen Machtkampf“, sagtSolms. Ihm geht es nicht darum, zu be-weisen, dass Freud recht hatte – noch nichtmal darum, die Psychoanalyse als Thera-piemethode zu retten.

Der ganze ideologische Ballast, fordertSolms, die ganzen Regeln: weg damit! DiePsychoanalyse selbst sei nicht wichtig, siebeschäftige sich nur mit etwas Wichtigem:mit der menschlichen Seele als Teil der Na-tur. „Freud hat versucht, eine Sprache undeine Methode für die Wissenschaft vomInnenleben zu finden. Er hat eine Art Ba-sis-Topografie der Seele und ihrer grund-legenden Bestandteile geschaffen.“ Einebessere gebe es bisher nicht.

Ein Jahr später: Der Stoffwechsel hat sich erholt,das Gedächtnis funktioniert wieder.

POSITRONEN-EMISSIONS-TOMOGRAFIE:Verminderter Hirnstoffwechsel bedingt Gedächtnisverlust.

MAGNET-RESONANZ-TOMOGRAFIE: Die Hirnstruktur zeigt keine Auffälligkeit.

GelöschteJahreGehirn eines 23-jährigen Bankers,der, ausgelöst durcheinen Kellerbrand,die Erinnerung andie letzten sechsJahre verlor.

Gedächtnisforscher Markowitsch: Neurochemische Zündschnur in die Gegenwart

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CHEMIE DER ERINNERUNG

Hans Markowitsch sucht auf den farbigenAufnahmen von den Gehirnen seiner Pa-tienten nach neurobiologischen Erklärun-gen für Phänomene, die sich mit psycho-analytischen Konzepten wie „Abwehr“oder „Verdrängung“ zumindest sehr gutbeschreiben lassen. Markowitsch unter-sucht als Hirnforscher an der Uni Biele-feld Menschen, denen ihr Gedächtnis ab-handen gekommen ist – einfach so, ohneeine Verletzung.

So hat er einen Mann kennen gelernt,der bis nach Sibirien reiste, ohne zu wissen,warum. Ein anderer wollte Brötchen holenund fuhr mit dem Fahrrad vom Ruhrgebietbis nach Frankfurt am Main: „Er konntesich an nichts mehr erinnern, nicht mal anden Namen seiner Frau. Sah er in Schau-

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fensterscheiben sein Spiegelbild, blickte ihmein fremdes Gesicht entgegen. Verflogenwaren sein Asthma und seine Allergie.“

Was war geschehen? Markowitsch fandheraus, dass die Mutter dieses Mannes ihnals Kind in Mädchenkleider gesteckt undals Versager hingestellt hatte. Später hatteer eine Frau geheiratet, die das Ebenbildseiner Mutter war. Sie hatte prophezeit, erwerde seine Firma ruinieren, und genaudas war eingetreten. Für den teuren Fami-lienurlaub, den ihm seine Frau aufgenötigthatte, fehlte nun das Geld. Drei Tage vorUrlaubsantritt setzte er sich aufs Rad.

Mehr als ein Dutzend solcher Patientenhat Markowitsch untersucht. „Bei allenfinden wir extrem schlechte Kindheits-erfahrungen“, sagt der Neurobiologe. „Dashat ja schon Freud vermutet.“

Markowitsch hat eine biologische Er-klärung dafür, warum solche Erfahrungendas ganze Leben überschatten können:„Traumatische Erlebnisse verstellen im

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kindlichen Gehirn biochemische Schrau-ben. Ständig herrscht ein erhöhter Levelvon Stresshormonen, der eine dauerhafterhöhte Empfindlichkeit hervorruft.“ ImErwachsenenalter werden dann bereits beikleineren Stressereignissen ganze Hormon-kaskaden freigesetzt, die den normalenInformationsfluss – und auch das Gedächt-nis – blockieren können.

Wenn uns unser erster Kuss oder dieZeugnisausgabe einfällt, setzt das Gehirndiese autobiografische Erinnerung aus zweiunterschiedlichen Teilen zusammen: DieSachinformation holt es aus dem Hippo-campus, die dazugehörigen Gefühle vonder Amygdala. Genau in diesen Regionendes limbischen Systems sitzen auch diemeisten Rezeptoren für Stresshormone.Überfluten die Hormone das Gehirn unddocken in Hippocampus und Amygdala an,verhindert dies das Zusammenfügen derErinnerung.

Markowitsch hat Patienten erlebt, beidenen eine Depression ein solches „mnes-tisches Blockadesyndrom“ hervorrief. Einschwermütiger Werbemanager rutschtenach und nach in einen so umfassendenGedächtnisverlust, dass er seinen Berufnicht mehr ausüben konnte.

Bei traumatischen Erlebnissen hingegenverschwinden oft nur die Erinnerungen an deren Details. Es bleibt das Gefühl: „Daist irgendetwas Schreckliches.“ So erging eseinem anderen Patienten aus seiner Praxis:Ein 23-jähriger Banker entdeckte einenharmlosen Kellerbrand. Sein Freund riefdie Feuerwehr, die den Brand löschte. Alsder Mann am nächsten Morgen aufwachte,waren die letzten sechs Jahre seines Lebensaus seinem Gedächtnis ausradiert.

Im Laufe seiner Therapie berichtete er,dass offenes Feuer für ihn eine lebens-bedrohliche Situation darstelle: Er hatte als Vierjähriger mit angesehen, wie jemandin einem Auto bei lebendigem Leib ver-brannte. Das Feuer im Keller musste dieErinnerung an dieses Trauma und damit ei-nen Schwall von Stresshormonen aktiviert

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Psychoanalyse im Film*: Kein bildgebendes Verfahren wird je einen Beweis für den Penisneid finden

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ETEXT

haben, die durch Andocken an Rezeptorenlimbischer Nervenzellen den Informations-fluss zum Kollaps brachten.

Für Psychoanalytiker ist das ein alterHut: Gedächtnisverlust als Notfallmecha-nismus sozusagen, ausgelöst durch eineErinnerungsspur, die ins Zentrum der ver-drängten traumatischen Erfahrung reicht.Für die Hirnforschung hingegen ist derNachweis einer neurochemischen Zünd-schnur, die vom Kleinkindgehirn direkt in die Gegenwart des Erwachsenen führt,eine vergleichsweise neue Erkenntnis.

Psychisch bedingter Gedächtnisverlustgilt unter Neurologen als besonders thera-pieresistent. Aber vielleicht liegt das auchan der Therapie? Die Neuropsychologieversucht gewöhnlich, das Symptom mitsystematischem Gedächtnistraining zu be-seitigen. Der Analytiker dagegen verstehtdas Symptom als Botschaft aus dem Un-bewussten. Es verweist nur auf etwas Tie-ferliegendes. Selbst wenn der Fahrradfah-rer sein Gedächtnis zurückbekäme, wäresein Problem nicht gelöst.

Seine Patienten haben HirnforscherMarkowitsch nachdenklich gemacht. Drin-gend brauche man in der Psychiatrie undNeurologie alternative Behandlungswege,welche die Persönlichkeitskonstellation desPatienten berücksichtigen, sagt er. Viel-leicht die Psychoanalyse?

Markowitsch ist skeptisch. Er kennt Pa-tienten, denen die Redekur geholfen hat.Aber gerade dort, wo besonders monströ-se Erinnerungen lauern, hat er das Gefühl,es sei manchmal hilfreicher, die Behand-lung auf die zukünftige Lebenssituationeines Patienten auszurichten, anstatt dieschrecklichen Dinge aus der Vergangen-

* Szene aus „Der Stadtneurotiker“ (1977) mit Diane Kea-ton, Woody Allen als Patienten und Humphrey Davis alsPsychiater.

heit hervorzugraben wie Knochen aus ei-nem Massengrab.

Mark Solms ist anderer Meinung: Einerseiner Patienten hatte beispielsweise ver-sucht, sich aufzuhängen. In den letztenJahren war der Mann ein schwerer Trinkergewesen. Er hatte seinen Job verloren, sei-ne Mutter war gestorben, dann starb seinVater in seinen Armen. All dies geschahkurz vor dem Selbstmordversuch. Danachhatte er all diese Ereignisse vergessen. DerMann war aber keineswegs guter Dinge ge-wesen. Wie ein Schiff ohne Anker trieb erdurch den Ozean seiner traurigen Ahnun-gen. Er begriff nicht, warum er sich so hilf-los, verloren und allein fühlte.

„Wir brauchen unsere Erinnerung, auchwenn sie kaum zu ertragen ist“, sagt Solms.„Wenn wir nicht wissen, woher unsere Ge-fühle kommen, können wir keine Lösungfinden.“

Solms ist nicht nur Theoretiker. Er ver-brachte selbst elf Jahre auf der Couch. SeinBruder war als Fünfjähriger vom Dach ei-nes Hauses gefallen und hatte sich schweram Kopf verletzt. Als er nach Monaten ausdem Hospital zurückkehrte, war er ein an-derer Mensch.

„All diese Patienten leiden an ihrer Un-fähigkeit nicht weniger als jemand, mit des-sen Bewusstsein alles in Ordnung ist“, sagtSolms. „Neurologische Patienten bekom-men äußerst selten Psychotherapie. Dabeibrauchen sie besonders dringend jeman-den, der ihnen hilft, den Horror auszuhal-ten, den für sie die Berührung mit der Rea-lität bedeutet.“

Seine Patientin Kate beispielsweise hatauf diese Weise allmählich eine gewisse Ori-entierung in ihrem oszillierenden Bewusst-sein erlangt. Kate ist Ende 50. Seit ein Jun-kie ihr mit dem Golfschläger einen Schlagauf den Kopf versetzte, um sie zu berauben,ist sie blind und gelähmt. Doch als Kate aus

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dem Koma erwachte, war sie überzeugt, ge-hen und sehen zu können. Sie sah zum Bei-spiel einen fremden, dunkelhäutigen Jungen,der oft an ihrem Bett stand. Kate schätzteihn auf 12, höchstens. Sie nannte ihn Pickie.

„Erzählen Sie von Pickie“, sagt Solms.Kate strahlt: „Oh, er war so ein fröhlicherkleiner Kerl. Eines Tages sagte ich zu ihm:,Ich nenne dich Sonnenschein, genau sosieht dein Lächeln aus.‘“ Dann wiegt siesich im Rollstuhl vor und zurück: „Dabeikonnte ich ihn doch gar nicht sehen. Er warauch zu jung, um im Krankenhaus zu ar-beiten. Und Sie sagen, er sei wahrschein-lich eine Figur aus meiner Phantasie!“

Kate hatte Hilfe gesucht, weil sie über-haupt nicht mehr wusste, was los war. In ih-rer Familie glaubte niemand, dass sie gehenund sehen konnte. Alle widersprachen ihrständig. Es war ein einsamer Kampf ohneEnde. Bei Solms hat sie sich alles von derSeele geredet. Irgendwann begann sie zuakzeptieren, dass sie blind ist, auch wennes ihr manchmal anders vorkommt. Neu-lich sah sie zum Beispiel ein Fahrrad vomHimmel hängen. „Dann mache ich die Au-gen auf, und alles ist wie Kohle da draußen.Es ist schrecklich. Wenn ich nur sehenkönnte, wären all meine Probleme gelöst.“

Verglichen damit war es eine rosige Zeitdamals mit dem kleinen Pickie in derKlinik. Andererseits hat sich zu Hause dieLage in mancher Hinsicht hoffnungsvollentwickelt, seit Kate wieder Bodenkontakthat. Zum ersten Mal seit dem ganzen Dra-ma hat sie bei ihrer Tochter angerufen.

Kate will versuchen, ihrer Enkelin eineGroßmutter zu sein: eine blinde undgelähmte Großmutter, die nicht ganz rich-tig im Kopf ist. Es hat sie enorme Über-windung gekostet, das zu akzeptieren.„Aber vielleicht habe ich ja eine Zukunftmit diesem Kind“, sagt sie. Immerhin exis-tiert es wirklich. Beate Lakotta

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