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Experimente am Innenohr Hans-Peter Zenner und Die Schallverarbeitung des Ohres Alfred H. Gitter - ein Bericht uber aufregende Experimente mit mikrochirurgisch isolierten Haarzellen Informationskasten I: Akustische Begriffe Effektiver Schalldruck: p, in N/m2; Ef- fektivwert der periodischen Luftdruck- schwankungen Bezugsschalldruck: p, - 2 . N/m2; willkiirlich festgelegter Referenzdruck in der Nahe der Horschwelle Schallpegel: L - 20 log,,(p,/p,) in dB Schallimpedanz: Verhaltnis von effekti- vem Schalldruck und Effektivgeschwin- digkeit (Schnelle) der schwingenden Mole- kiile Ton: Schallereignis, das nur eine Frequenz des Horbereichs enthalt Oberton: Ton, dessen Frequenz ein ganz- zahliges Vielfaches eines Grundtons ist Klang: Superposition endlich vieler Tone und deren Obertone Gesusch: Superposition unendlich vieler Tone Horschwelle: Minimaler Schalldruckpe- gel zilr Wahrnehmung eines Tons' LautstSrkepegek Schallpegel in Phon, der als gleich laut empfunden wird wie ein 1000 H z Ton in dB Isophone: Menge aller Tone, die als gleich laut empfunden werden. Detaillierte Angaben 2.B. in J. Fricke, L. M. Moser, H. Scheuer und G. Schubert, Schall und Schallschutz, Physik Verlag Weinheim 1983. Schallwellensind Molekiilschwingungen ela- stischer Stoffe. Sie breiten sich als Dichte- schwankungen wellenformig aus und iiberla- gern sich der Braunschen Molekularbewe- gung. Der Horbereich liegt beim Menschen etwa zwischen 20 H z und 16 kHz. Tiefere Frequenzen werden als Vibration iiber den Tastsinn wahrgenommen. Jedes natiirliche Schallereigniserweist sich als hochkomplex. Sinustone treten in der Natur nicht auf, sind jedoch ein wichtiges experi- mentelles Hilfsmittel. Klange und Gerausche konnen als ein Gemisch von Sinustonen auf- gefai3t werden. Ein Ton erscheint damit als die elementare Einheit natiirlicher Klange und Gerausche. Zur Wahrnehmung eines 3 kHz Tones geniigt ein Energieflug von 4 . lo-'' W/cm2. Der In- tensitatsumfang der Schallwellen, welcher zum Horeindruck fiihrt, also die dynamische Breite des Gehors, reicht von Watt/cmz bis 1 0-4 Watt/cm2. Wegen dieser augerordent- lich grogen Dynamik operiert der Akustiker mit einem logarithmischen Mag, dem Dezi- bel. Lautheitseindriicke werden in der Phon- sowie der Sone-Skala angegeben (siehe Infor- mationskasten I). Die zeitliche Auflosungs- grenze des menschlichen Ohres betragt 2 ms. Das aui3ere und das Mittelohr Das Ohr ist das empfindlichste Sinnesorgan des menschlichen Korpers. Der Umgebungs- schall gelangt durch das augere Ohr und den augeren Gehorgang an das Trommelfell. Die- ses schliegt als Membran den Gehorgang ab und bildet die Grenze zum luftgefiillten Mit- telohr (Abbildung 1). Das a d e r e Ohr bildet einen Trichter, der die Schallwellen zum Trommelfell leitet. Die Ohrmuschel besitzt eine Richtcharakteristik, welche jedoch nur untergeordnet zur Lokali- sation einer Schallquelle beitragt. Die Eigen- frequenz des Gehorgangs liegt zwischen Pbysik in unserer Zeit / 18. J&g. 1987 / Nr. 4 0 V C H Verlagsgesellscb~ji mbH, 0-6940 Weinheim, 1987 0031-921i2/87/0407-0097 $ 02.,0/0 2 000 und 3 000 Hz, wodurch die Horschwel- le in diesem wichtigen Frequenzbereich durch Resonanz erniedrigt wird. Durch das Mittelohr (Abbildung 1) wird der Schall iiber Hammer, Ambog und Steigbiigel (Stapes) auf das ovale Fenster und damit auf das fliissigkeitsgefiillteInnenohr iibertragen. Aufgabe des Mittelohres ist es dabei, die un- terschiedlichen Schallimpedanzen der Au- genluft und des membranosen, fliissigkeits- gefiillten Innenohres aufeinander abzustim- men. Das Mittelohr arbeitet also als Im- pedanzwandler, welcher die geringen Luft- schalldriicke auf die hoheren Fliissigkeits- schalldriicke umsetzt. Der durch den Luftschall auf das Trommelfell ausgeiibte Schalldruck pT wird durch die unterschiedlichen wirksamen Flachen des Trommelfells 4 und des Steigbiigels am ova- len Fenster AFsowie durch die Hebelwirkung g der Gehorknochelchen auf den Stapesdruck pF im ovalen Fenster herauftransformiert. Dieser Schalldruck pflanzt sich dann in der Innenohrflussigkeit fort. Es gilt PF - @dAF) ' g ' h - (55 mm2/3,2 mm2) . 1,3 pT - 22 . pT' Mit der Erhohung des Schalldruckes geht ei- ne entsprechende Reduktion der Schall- schwellen und der Auslenkung einher. So sind die Auslenkungen des Trommelfellsrela- tiv klein: fur die Horschwelle werden Schwingungsamplituden unterhalb lo-', m angegeben [I, 21. Bei der Ubertragung auf den Stapes werden die Schwingungsamplituden nochmals um den Faktor I/g - 0,7 verklei- nert. Dieses Transformationsverhalten wird in der Akustik durch die jeweiligen Impedanzen be- schrieben. Luft besitzt eine geringe Impe- danz 2, - poco = 400 kg/(m2 s), 97

Die Schallverarbeitung des Ohres – ein Bericht über aufregende Experimente mit mikrochirurgisch isolierten Haarzellen

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Experimente am Innenohr

Hans-Peter Zenner und Die Schallverarbeitung des Ohres Alfred H. Gitter

- ein Bericht uber aufregende Experimente mit mikrochirurgisch isolierten Haarzellen

Informationskasten I:

Akustische Begriffe

Effektiver Schalldruck: p, in N/m2; Ef- fektivwert der periodischen Luftdruck- schwankungen

Bezugsschalldruck: p, - 2 . N/m2; willkiirlich festgelegter Referenzdruck in der Nahe der Horschwelle

Schallpegel: L - 20 log,,(p,/p,) in dB

Schallimpedanz: Verhaltnis von effekti- vem Schalldruck und Effektivgeschwin- digkeit (Schnelle) der schwingenden Mole- kiile

Ton: Schallereignis, das nur eine Frequenz des Horbereichs enthalt

Oberton: Ton, dessen Frequenz ein ganz- zahliges Vielfaches eines Grundtons ist

Klang: Superposition endlich vieler Tone und deren Obertone

Gesusch: Superposition unendlich vieler Tone

Horschwelle: Minimaler Schalldruckpe- gel zilr Wahrnehmung eines Tons'

LautstSrkepegek Schallpegel in Phon, der als gleich laut empfunden wird wie ein 1000 Hz Ton in dB

Isophone: Menge aller Tone, die als gleich laut empfunden werden.

Detaillierte Angaben 2.B. in J. Fricke, L. M. Moser, H. Scheuer und G. Schubert, Schall und Schallschutz, Physik Verlag Weinheim 1983.

Schallwellen sind Molekiilschwingungen ela- stischer Stoffe. Sie breiten sich als Dichte- schwankungen wellenformig aus und iiberla- gern sich der Braunschen Molekularbewe- gung. Der Horbereich liegt beim Menschen etwa zwischen 20 Hz und 16 kHz. Tiefere Frequenzen werden als Vibration iiber den Tastsinn wahrgenommen.

Jedes natiirliche Schallereignis erweist sich als hochkomplex. Sinustone treten in der Natur nicht auf, sind jedoch ein wichtiges experi- mentelles Hilfsmittel. Klange und Gerausche konnen als ein Gemisch von Sinustonen auf- gefai3t werden. Ein Ton erscheint damit als die elementare Einheit natiirlicher Klange und Gerausche.

Zur Wahrnehmung eines 3 kHz Tones geniigt ein Energieflug von 4 . lo-'' W/cm2. Der In- tensitatsumfang der Schallwellen, welcher zum Horeindruck fiihrt, also die dynamische Breite des Gehors, reicht von Watt/cmz bis 1 0-4 Watt/cm2. Wegen dieser augerordent- lich grogen Dynamik operiert der Akustiker mit einem logarithmischen Mag, dem Dezi- bel. Lautheitseindriicke werden in der Phon- sowie der Sone-Skala angegeben (siehe Infor- mationskasten I). Die zeitliche Auflosungs- grenze des menschlichen Ohres betragt 2 ms.

Das aui3ere und das Mittelohr

Das Ohr ist das empfindlichste Sinnesorgan des menschlichen Korpers. Der Umgebungs- schall gelangt durch das augere Ohr und den augeren Gehorgang an das Trommelfell. Die- ses schliegt als Membran den Gehorgang ab und bildet die Grenze zum luftgefiillten Mit- telohr (Abbildung 1).

Das ade re Ohr bildet einen Trichter, der die Schallwellen zum Trommelfell leitet. Die Ohrmuschel besitzt eine Richtcharakteristik, welche jedoch nur untergeordnet zur Lokali- sation einer Schallquelle beitragt. Die Eigen- frequenz des Gehorgangs liegt zwischen

Pbysik in unserer Zeit / 18. J&g. 1987 / Nr. 4 0 VCH Verlagsgesellscb~ji mbH, 0-6940 Weinheim, 1987 0031-921i2/87/0407-0097 $ 02.,0/0

2 000 und 3 000 Hz, wodurch die Horschwel- le in diesem wichtigen Frequenzbereich durch Resonanz erniedrigt wird.

Durch das Mittelohr (Abbildung 1) wird der Schall iiber Hammer, Ambog und Steigbiigel (Stapes) auf das ovale Fenster und damit auf das fliissigkeitsgefiillte Innenohr iibertragen. Aufgabe des Mittelohres ist es dabei, die un- terschiedlichen Schallimpedanzen der Au- genluft und des membranosen, fliissigkeits- gefiillten Innenohres aufeinander abzustim- men. Das Mittelohr arbeitet also als Im- pedanzwandler, welcher die geringen Luft- schalldriicke auf die hoheren Fliissigkeits- schalldriicke umsetzt.

Der durch den Luftschall auf das Trommelfell ausgeiibte Schalldruck pT wird durch die unterschiedlichen wirksamen Flachen des Trommelfells 4 und des Steigbiigels am ova- len Fenster AF sowie durch die Hebelwirkung g der Gehorknochelchen auf den Stapesdruck pF im ovalen Fenster herauftransformiert. Dieser Schalldruck pflanzt sich dann in der Innenohrflussigkeit fort. Es gilt

PF - @dAF) ' g ' h - (55 mm2/3,2 mm2) . 1,3 pT - 22 . pT'

Mit der Erhohung des Schalldruckes geht ei- ne entsprechende Reduktion der Schall- schwellen und der Auslenkung einher. So sind die Auslenkungen des Trommelfells rela- tiv klein: fur die Horschwelle werden Schwingungsamplituden unterhalb lo-', m angegeben [I, 21. Bei der Ubertragung auf den Stapes werden die Schwingungsamplituden nochmals um den Faktor I/g - 0,7 verklei- nert.

Dieses Transformationsverhalten wird in der Akustik durch die jeweiligen Impedanzen be- schrieben. Luft besitzt eine geringe Impe- danz

2, - poco = 400 kg/(m2 s),

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wobei po - 1,Z kg/m3 die Dichte der Luft und co - 340 m / s die Schallgeschwindigkeit in Luft ist Fiir die Impedanz des Innenohres darf nicht der Wen fiir Wasser von 1,s. 106 kg/(m2 s) be- nutzt werden, da die FliissigkeitsGule von Scala vestibuli und Scala tympani klein ist ge- geniiber den Schallwellenliingen. Messungen ergaben die Impedanz des Innenohres [Z] zu

2, - 6 . 10' kg/(m2 s).

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Da der Reflexionsgrad

ist, wiirden ohne Impedanzanpassung nur rund 2 % der Schallenergie ins Innenohr ge- langen.

Die tats%4diche Eingangsimpedanz des Oh- res durch die b g u n g der Schallenergie auf das Trommelfell ist frequenzabhhgig. Sie

Phynk in rrnserrrzkt / 1 8 . k . 1987 / Nr. 4

Experimente am Innenohr

Abb. 1. Das menschliche Ohr. Es besteht aus auSerem, Mittel- und Innenohr. Vom Trommelfell wird die Schallenergie uber das Transformatorsystem Hammer, Am- boa und Steigbiigel auf das ovale Fenster ubertragen. Von dort aus Iauft der Reiz in der flussigkeitsgefullten Cochlea langs der Schneckentrennwand weiter. Bei Bewe- gung dieser Trennwand sprechen die Haar- zellen des Innenohres an. Diese geben das empfangene akustische Signal uber den Hornerv an das Gehirn weiter (nach Bil- som Internat. GmbH/Ltibeck ,Der Schutz des Gehors").

Abb. 2. Die Schnecke (Cochlea) des Innen- ohres. Das Schallsignal wird am basalen Ende der Cochlea durch den Steigbiigel eingespeist. Es wandert als sogenannte Wanderwelle langs eines Flljssigkeits- Membran-Systems zum apikalen Ende (Schneckenspitze). Dabei wird die Basilar- membran erregt. Auf der Basilarmembran sitzen die Haanellen, die akustischen Sen- soren (nach Bilsom Internat. GmbH).

Abb. 3. Schnitt durch eine Windung der Schnecke.

Abb. 4. Signalverarbeitung des Ohres.

Abb. 5. Schema der Entstehung einer Wan- derwelle der Schneckentrennwand; (a) Ru- he; (b) erste Halbwelle eines Tones: Einlen- kung des ovalen Fensters, Auslenkung der Schneckentrennwand und Auslenkung des runden Fensters; (c) zweite Halbwelle: Aus- lenkung des ovalen Fensters, weitere Aus- lenkung der Schneckentrennwand, Einlen- kung des runden Fensters. Die Tonfre- quenz bestimmt den O r t der maximalen Trennwandauslenkung: Hohe Tone fuhren basal, also fensternah, tiefe Tone apikal, al- so an der Schneckenspitze zur maximalen Vibration.

betragt im optimalen Bereich zwischen 1 kHz und 3 kHz etwa 2 . lo3 kg/(m2 s), so dafi nur 40 Yo der Schallenergie reflektiert wer- den. Die Impedanzanpassung bewirkt also, dai3 30 ma1 soviel (60 YO statt 2 '70) an Schall- energie auf das Innenohr ubertragen wird.

Die Cochlea des Innenohres

Das Innenohr ist fur das Horen und die Gleichgewichtswahrnehmung verantwort- lich. Der fur das Horen zustandige Teil des Innenohres hat die Form einer Schnecke (Abb. 1 und 2) und wird auch Cochlea ge- nannt. Biologische Systeme, wie die Cochlea, besitzen oft eine funktionell begriindete An- isotropie. Die Pole einer funktionell ausge- zeichneten Raumachse konnen mit Apex (lat.: Spitze) und Basis bezeichnet werden. Die Cochlea besitzt also ein basales Ende (Schneckenbasis) und ein apikales Ende (Schneckenspitze). Sie besteht aus drei Kana- len, welche ubereinander liegen und den Windungen der Schnecke folgen (Abb. 3). Der obere als auch der untere Kanal (Scala ve- stibuli bzw. Scala tympani) sind mit der na- triumreichen, extrazellularen Perilymph- Flussigkeit gefullt, wahrend der mittlere Kanal (Scala media) extrazellulare Endolymphe ent- halt. Letztere ist reich an Kalium und arm an Natrium.

Vom Mittelohr ist die Scala vestibuli durch das ovale Fenster, die Scala tympani durch das runde Fenster abgetrennt. Beide sind durch bindegewebige Membranen verschlossen.

Durch das ovale Fenster wird die Schallener- gie in die Schnecke gekoppelt und lauft dort Iangs der Basilarmembran und Schnecken- trennwand (Abbildung 3) weiter, die hier- durch ausgelenkt werden. Schallereignisse im Bereich der Horschwelle fuhren an der Basi- larmembran zu Vibrationsauslenkungen von weniger als dem Durchmesser eines Atoms. Die Schneckentrennwand oder cochlear par- tition isr eine zellreiche Gewebsschicht, die

die mechanische Grenze zwischen Scala me- dia und Scala tympani in Langsrichtung der Cochlea bildet. Die Unterseite heifit Basilar- membran. In dieser Trennwand finden sich die Haarzellen, die Sinneszellen des Ohres. Diese erfullen die zentrale Aufgabe des In- nenohres, das mechanische Schallsignal in ein korpereigenes, bioelektrisches sowie bioche- misches Signal zu uberfuhren (Abbildung 4). Die prazise, molekulare Grundlage der Kopplung zwischen megbarer, bioelektri- scher Antwort und mechanischer Auslen- kung in der Cochlea ist gegenwartig unbe- kannt. Im Vergleich zu anderen Sinnesorga- nen stellt der gesuchte Transduktionsmecha- nismus hochste Anforderungen an seine Aufklarung, da er der empfindlichste aller Sinnesorgane sein mufi.

Nach dem Transduktionsprozefi gibt die Haarzelle das Signal mittels unbekannter, biochemischer Transmitter an den Hornerven weiter. Dieser leitet die Information bioelek- trisch als Aktionspotential, jedoch mehrfach durch biochemische Synapsen unterbrochen, uber die Horbahn bis zur Grofihirnrinde [2].

Die Wanderwelle im Innenohr

Die klassische Wanderwellentheorie der Cochlea geht wesentlich auf den Nobelpreis- trager Georg von BkkLsy [4] zuriick. Da die Perilymphe praktisch inkompressibel ist, wird die vibrationsbedingte Volumenver- schiebung der Scala vestibuli uber die co- chleare Trennwand auf die Scala tympani ubertragen. Dabei wird die Schneckentrenn- wand zunachst an ihrem basalen Ende, nahe dem Stapes, ausgelenkt. Da das Volumen der inkompressiblen Perilymphe konstant bleibt, entspricht einer Bewegung des Stapes eine entsprechende, entgegengesetzte Bewegung der Membran des runden Fensters. Die an- fangliche Auslenkung der cochlearen Trenn- wand setzt sich als Wanderwelle vom basalen Ende der Cochlea zum apikalen Ende fort (Abbildung 5). Die Wellengeschwindigkeit ist

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Experimente am Innenoh

frequenzabhangig. Sie ist auch ortsabhangig, da die Ruckstellkraft der cochlearen Trenn- wand vom basalen Ende zum apikalen Ende abnimmt. Der Durchmesser der beiden Kam- mern kann nicht als grog gegen die Wellen- lange der Wanderwellen angesehen werden. Es kommt daher zu Wechselwirkungen des ortsabhangigen, von basal nach apikal abneh- menden Durchmessers der Skalae mit der Wanderwelle. Die geschilderten Effekte be- wirken, dai3 die Amplitude der Wanderwelle ortsabhangig ist und sich je nach Frequenz zwischen basalem und apikalem Ende ein Maximum ausbildet. Hohe Frequenzen fuh- ren zu maximalen Auslenkungen am basalen Ende der cochlearen Trennwand; tiefe Fre- quenzen fuhren zu maximalen Auslenkungen am apikalen Ende der Horschnecke. Man be- zeichnet dies als Frequenzdispersion. Die Transformation der Schallinformation von der Frequenzdomane in die Ortsdomane wird Tonotopie genannt.

Die Auslenkungen der Schneckentrennwand fuhren zu Relativbewegungen innerhalb ihrer Bauelemente (Abbildung 6) . Insbesondere werden die Haarzellen gegenuber der Tekto- rialmembran (Abbildung 6 ) und der subtek- torialen Endolymphe verschoben, so daf3 eine Auslenkung oder Deflektion der Sinneshar- chen (Stereozilien) auf den Haarzellen resul- tiert. Dies wird als die mechanische Stimula- tion der Haarzelle betrachtet.

Aussehen und Nachbarschafts- beziehungen der Haarzellen Die augeren Haarzellen der Saugetiercochlea erscheinen langgestreckt zylindrisch, die in- neren Haarzellen besitzen eine flaschenahnli- che Form (Abbildung 7). Die anatomische Lokalisation beider ist in Abbildung 3 zu se- hen. Sie verdanken ihren Namen den Stereo- zilien, haarahnlichen, zellmembranbedeck- ten Zytoplasmaausstulpungen an ihrem obe- ren, apikalen Ende (Abbildung 7). Am entge- gengesetzten basalen Zellpol setzen die Fasern des Hornerven an (Abbildung 3).

Die Aufgaben innerer und augerer Haarzel- len sind Gegenstand einer aktuellen wissen- schaftlichen Diskussion. Eine moderne Vor- stellung besagt, dai3 innere Haarzellen fur die eigentliche Sinneswahrnehmung zustandig sind, wahrend die augeren Haarzellen durch motorische Eigenschaften die Mikromecha- nik des Innenohres aktiv steuern [3, 51.

Unter elektrochemischen Aspekten ist die

Lokalisation der Sinneszellen innerhalb der Schneckentrennwand sehr ungewohnlich. Die Zellmembran einer Haarzelle grenzt an drei verschiedene Flussigkeitsraume mit un- terschiedlicher Ionenzusammensetzung:

0 Der mit Scala tympani bezeichnete Flus- sigkeitsraum enthalt Perilymphe und umgibt den Zelleib und den basalen Pol der Haarzel- len. Die Perilymphe enthalt viel Na+ (150 mmol/l), Ca++ (0,7 mmol/l) und C1- (131 mmol/l), jedoch wenig K+ (3 mmol/l).

Am apikalen Zellpol hingegen ragen die apikale Zellmembran und die Stereozilien in die Scala media hinein, welche Endolymphe enthalt. Die Endolymphe (EL) ist reich an K+ (155 mmol/l) und C1- (131 mmol/l), die Konzentrationen von Na+ (1 mmol/l) und Ca++ (0,025 mmol/l) sind niedrig.

0 Das Zytoplasma fiillt das Innere der Haar- zelle aus und grenzt an die gesamte Innensei- te der Zellmembran. Das Cytoplasma enthalt viel K+ (130 mmol/l) und relativ wenig Na+ (5 mmol/l), Ca++ (lo-* mol/l) und C1- (40 mmol/l).

Alle drei Flussigkeitsraume besitzen eine groi3e Leitfahigkeit fur Ionen. Sie sind jedoch durch die fur Ionen praktisch impermeable Lipiddoppelschicht der Haarzellmembran voneinander getrennt.

Neben der Ionenzusammensetzung unter- scheiden sich die drei Fliissigkeitsraume auch durch ihre bioelektrischen Potentiale [2,3,4], welche mit Mikroelektroden gemessen wer- den konnen (siehe Abbildung 8a): Bezugspo- tential ist das der Perilymphe rnit 0 mV. Das Ruhepotential (ohne Schallexposition) des Cytoplasmas aui3erer Haarzellen konnten wir zu -70 mV messen. Das Ruhepotential des Endolymphraumes betragt +85 mV. Da- mit liegt am apikalen Pol der Haarzelle uber der Zellmembran und der Stereozilienmem- bran eine auffallig hohe elektrische Potential- differenz von 155 mV an.

Das elektrochemische Potential eines Fliissig- keitsraumes ist die Superposition des bioelek- trischen Potentials und des chemischen Po- tentials. Das chemische Potential eines Ions berechnet sich mit der Nernstschen Glei- chung aus den Ionenkonzentrationen. Der Ionenstrom von einem Flussigkeitsraum zu anderen beruht auf der elektrochemischen Potentialdifferenz zwischen ihnen. Bezugs- potential ist wieder das der Perilymphe mit O

Abb. 6. Ein schematischer Ausschnitt aus der Schneckentrennwand. Er zeigt die An- ordnung der Haarzellen zwischen Tekto- rial- und Basilarmembran und die Deflek- tion der Sinnesharchen einer Haarzelle als Folge der wanderwelleninduzierten Ver- schiebungen innerhalb der Schnecken- trennwand. (a) Ruhestellung, (b) Auslen- kung der Trennwand einschliefllich der Haarzelle nach oben: Eine Deflektion der Sinnesharchen ist die mechanische Folge. Sie leitet den Transduktionsprozefl ein.

Abb. 7. Interferenzkontrastaufnahme einer lebenden auneren Haarzelle. Links oben, am apikalen Pol der Zelle, sind die Sinnes- harchen oder Stereozilien zu erkennen. Von rechts wird eine Mikrosaugelektrode auf die laterale Zellmembran aufgesetzt. Diese Elektrode dient der Registrierung des Ionenstroms durch einzelne Ionenkanale in der Zellmembran.

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Experimente am Innenohr

mV. Abbildung 8b zeigt die elektrochemi- schen Potentiale fiir K+-Ionen.

Bioelektrische Funktionen von Haanellen Fur die im Endolymphraum in auffallig ho- her Konzentration anzutreffenden K+-Ionen resultiert uber der apikalen Haarzell- und Stereozilienmembran der aui3eren Haarzel- len eine ungewohnlich hohe elektrochemi- sche Potentialdifferenz von 161 mV (siehe Abbildung 8b), welche K+-Ionen in die Zelle treibt. Zwischen Zytoplasma und Perilymphe liegt nur eine kleine elektrochemische Poten- tialdifferenz von 10 mV an (siehe Abbildung 8b), welche K+-Ionen aus dem Zytoplasma in die Perilymphe treibt. Eine derartige elektro- chemische Konfiguration ist ungewohnlich im menschlichen Korper und legt die Vermu- tung nahe, dai3 K+-Ionen eine Rolle im Trans- duktionsprozei3 spielen konnten.

Geht man allerdings von einer geschlossenen Zellmembran der Sinneszellen aus, so kon- nen Ionen den geschilderten elektrochemi- schen Gradienten nicht folgen, da die Lipid- doppelschicht der Membran hochgradig im- permeabel fur Elektrolyte ist. Um einen transmembranosen Transport zuzulassen, konnen daher Ionenkanale in der Zellmem- bran der Haarzellen postuliert werden. Diese sollten eine Schlusselfunktion bei dem me- chanoelektrischen Transduktionsprozei3 ha- ben.

Experimentelle Untersuchungen an den Haarzellen

Die zu einer Entdeckung und Charakterisie- rung von Ionenkanalen notwendigen biophy- sikalischen und biochemischen Untersuchun- gen an Saugern konnten bis vor kurzem je- doch nur beschrankt durchgefuhrt werden. Sie scheiterten zum einen an der Winzigkeit der Cochlea, deren 30 000 Haarzellen zusam- mengefagt die GroBe eines Stecknadelkopfes ergeben. Zum anderen besitzt die Cochlea keine homogene Zellpopulation. Dies hatte zur Folge, dai3 es in der Regel schwierig war, einen im Innenohr gemessenen Vorgang ex- akt und kontrolliert einer definierten Zelle zuzuordnen. Um dieses Problem anzugehen, haben wir einen mikrochirurgischen Weg entwickelt, welcher die Isolierung einzelner, vorwiegend aui3erer Haarzellen der Cochlea des Meerschweinchens ermoglicht.

An einer derartig mikrochirurgisch isolierten Haarzelle konnen Ionenkanale in der Zell- membran mit Mikrosaugelektroden unter- sucht werden. Letztere bestehen aus einer mit Elektrolytlosung gefullten Glaskapillare. Der Offnungsdurchmesser der Spitze solcher Glaskapillaren betragt nur etwa 1 pm. Die Kapillarspitze wird auf die Zellmembran auf- gesetzt, und durch Anlegen eines Unter- drucks in der Kapillare wird eine Abdichtung des Kapillarrandes auf der Zellmembran er- reicht. Die Abbildung 7 zeigt eine aui3ere Haarzelle rnit aufgesetzter Elektrode. Die

Abb. 8. Elektrisches Modell (a) und elektro- chemisches Modell fur K+-Ionen LuSerer Haarzellen (b), deren auSere Zellmembran an drei verschiedene RLume mit unter- schiedlichem elektrischem Potential sowie ionaler Zusammensetzung grenzt.

Abb. 9. Registrierung des Stroms I durch ei- nen K+-Ionenkanal in der lateralen Zell- membran einer augeren Haarzelle mit ei- ner Mikrosaugelektrode (siehe Abbildung 7). Aufgetragen ist der Strom I als Funktion der Zeit bei einer Potentialdifferenz von -50 mV iiber der Zellmembran (unten: Ka- naloffnung, oben: KanalschlieSung). Fiir diese Messung war das untersuchte Mem- branstiick (patch) von der Zelle abgelbst (excised) worden. Dadurch sind Innen- und AuSenseite der Haarzellmembran experi- mentell zugiinglich (Vexcised pakh = -50 mV, Offenwahrscheinlichkeit = 62 %).

Elektrode mii3t den Strom, der durch das an- gesaugte Membranstiick fliei3t. Die Offnung und SchlieSung von Ionenkanalen im ange- saugten Membranstiick erzeugt Fluktuatio- nen des gemessenen Stroms. Die Amplitude dieser Fluktuationen hangt von der Elektro- lytlosung in der Kapillare, der Ionenselektivi- tat der Kanale und der Spannung U uber dem angesaugten Membranstuck ab. Mit solchen Messungen konnten wir gemeinsam mit dem Frankfurter Physiologen Eberhard Fromter K+-Ionenkanale in der lateralen Zellmem- bran der Haarzellen direkt nachweisen (Ab- bildung 9). Die Offenwahrscheinlichkeit po dieser Ionenkanale ist von der Spannung U uber der Membran abhangig. Eine Depolari- sierung der Haarzellmembran durch eine Er- regung fuhrt zu einem erhohten po.

Auch in dem dem Endolymphraum zuge- wandten Membrananteil des apikalen Pols auaerer Haarzellen konnten wir Ionenkanale sehen. Der direkte Nachweis einer K+-selek- tiven Leitfahigkeit in der Zellmembran von Zellspitze oder Stereozilien steht jedoch noch aus.

Modell des mechano-elektrischen Transduktionsprozesses von Haarzellen Wir wollen folgendes Modell diskutieren (Abbildung 10): Die Verschiebung der Haar- zellen gegen die Tektorialmembran (Abbil- dung 6) fuhrt zur Auslenkung der Stereo-

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Experimente am Innenohr

zilien. Dadurch werden K+-leitende Ionen- kanale in der Zellmembran von Stereozilien oder der Zellspitze geoffnet und K+-Ionen flie13en in das Zytoplasma der Haarzelle. Der Einstrom positiver Ladungen depolarisiert das zytoplasmatische Potential schnell. Die Depolarisation des zytoplasmatischen Poten- tials sol1 zur Freisetzung eines Neurotrans- mitters, Erregung des Hornerven und damit zur Weiterleitung des Reizes zum Gehirn fuh- ren. Der Ausstrom von K+-Ionen vom Zyto- plasma in die Perilymphe durch die seitliche Zellmembran repolarisiert die Rezeptorzelle, macht diese also wieder empfindlich. Die Haarzelle mu13 das zytoplasmatische Poten- tial sehr schnell repolarisieren, denn die hohe Zeitauflosung beim Horen von 2 ms erfordert eine kurze Totzeit des Rezeptors. Die Offen- wahrscheinlichkeit der K+-Kanale in der lateralen Zellmembran und die elektroche- mische Potentialdifferenz zwischen Zyto- plasma und Perilymphe ist bei einer depolari- sierten lateralen Zellmembran besonders groi3 und erlaubt damit eine schnelle Repo- larisation.

Bemerkenswert ist es, dai3 bei einer Erregung der Haarzelle durch den geschilderten Kreis- lauf von K+-Ionen keine Energielieferung der Haarzellen (uber Adenosintriphosphat, kurz ATP) erforderlich ist. Die notwendige Ener- gie wird durch das elektrochemische Poten- tial der Endolymphe bereitgestellt. Dieses wird von einem Gewebe in der seitlichen Wand der Cochlea, der Stria vascularis, er-

zeugt. Die Stria vascularis ist im Gegensatz zu den Haarzellen ein reichlich durchblutetes Gewebe. Eine direkte Energieversorgung der Haarzellen aus dem Blut ware wegen des Rauschens der Blutstromung nachteilig.

Aktive mikromechanische Prozesse der Cochlea Horen ist auch ein aktiver, mechanischer Vor- gang. In Erganzung zum klassischen Modell der passiven Stimulation der Basilarmembran (Abbildung 1 la) nach von BCkCsy [4] wird aus zahlreichen Hinweisen auf die Existenz akti- ver mechanischer Prozesse geschlossen, wel- che zur Mikromechanik der Cochlea beitra- gen [3, 51.

Man kann die Schneckentrennwand in ma- thematischen Modellen durch eine Kette von mechanischen Systemen beschreiben, die aus gedampften Federn und Massen bestehen oder ein vereinfachtes Kontinuumsmodelf (Kabeltheorie) annehmen. Diese Modelle be- statigen das von BCkCsysche Wanderwellen- prinzip. Sie konnen aber die experimentell beobachtete scharfe Frequenzabstimmung und die hohe Empfindlichkeit der Cochlea (Abbildung 1 Ib) nicht erklaren, falls die Cochlea lediglich als passive mechanische Struktur behandelt wird. Im Vergleich zu Be- rechnungen zeigt sich die Auslenkung der Basilarmembran experimentell um zwei Gro- fienordnungen ausgepragter. Auch ist die Frequenzabstimmung tatsachlich erheblich

Abb. 10. Schema der mechanoelektrischen Transduktion einer Saugetierhaarzelle mit Depolarisation und anschliei3ender Repo- larisation (ausfiihrlich im Text erlautert).

Abb. 11. Die Auslenkung der Schnecken- trennwand durch die Wanderwelle. (a) Das klassische Modell: passive Auslenkung in ei- ner postmortalen Cochlea, (b) tatsachliche Auslenkung in einer lebenden Harschnek- ke: der Unterschied zu a wird auf aktive me- chanische Prozesse zuriickgefuhrt.

Abb. 12. Motilitat aui3erer Haarzellen; (a, c) Haarzelle zu Beginn der Stimulation, (b, d) Haarzelle wahrend der Stimulation: eine Verkiirzung entlang der Langsachse sowie eine Kippbewegung des apikalen Endes, welche die Sinnesharchen mitnimmt, sind sichtbar. Diese Motoreigenschaften sollen die Bui3eren Haarzellen befhhigen, die Mi- kromechanik der Cochlea aktiv zu- steuern.

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scharfer, als es der Auslenkung der klassi- schen Wanderwelle entspricht (Abb. 11).

Die experimentellen Daten konnen gedeutet werden, wenn man fiir die mechanische Dimpfung des schwingenden Systems nega- tive Werte zuldt, oder wenn eine Energie- zufuhr durch aktive mechanische Prozesse innerhalb der Schneckenuennwand ange- nommen wird. Einen direkten Hinweis auf aktive, mechanische Prozesse in der Cochlea geben die otoakustischen Emissionen. Das Innenohr kann namlich nicht nur Schall emp- fangen, sondern auch Schall aussenden [3,5]. Bei derartigen Experimenten wird das Ohr mit einem Miniaturlautsprecher im Gehor- gang bei kleinen Schallpegeln erregt. Ein ebenfalls in den Gehorgang eingebrachtes Sondenmikrophon nimmt dann die otoaku- stischen Emissionen wahr.

Als Komponenten der Cochlea, welche Tra- ger des aktiven mechanischen Prozesses sind, werden die augeren Haarzellen diskutiert. Diese bilden das auffallige Hauptziel einer Nervenversorgung vom Him zur Cochlea. Man spricht auch von efferenten Nerven- strangen. Es ist daher ein aktueller Gegen- stand der Horforschung, inwieweit die aui3e- ren Haanellen nicht nur Sinneszellen sind, sondern auch Endorgane, welche die Aufgabe haben, eine Steuerungsfunktion innerhalb der cochlearen Mikromechanik zu vollzie- hen. Diese Steuerungsfunktionen konnen sie moglicherweise durch aktive Motoreigen- schaften ausuben [3, 51.

Xui3ere Haarzellen besitzen aktive Mot oreigensc haf ten Die Konzeption, dai3 aui3ere Haarzellen der Cochlea aktive Motoreigenschaften besitzen, eroffnet den Modellen von Physiologie und Pathophysiologie des Horens neue Dimen- sionen. Drei verschiedene Wege experimen- teller und theoretischer Horforschung fuhren zu dieser Konzeption [3, 51:

Aktin und aktinassoziierte Molekule wie Myosin, Alpha-Aktin, Fimbrin und Tropo- myosin wurden in Haarzellen entdeckt. In Muskelzellen sind diese Proteine fur kontrak- tile Bewegungen verantwortlich.

0 Es wird ein aktiver mechanischer ProzeS postuliert, welcher in den augeren Haarzellen lokalisiert sein SOL

0 Unsere Arbeitsgruppe an der Wurzburger

Universitiits-HNO-Klinik als auch Physio- logen der otolaryngologischen Abteilung der John-Hopkins-Universitat in Baltimore konnten kurzlich an durch unterschiedliche Praparationsverfahren gewonnenen isolier- ten, auhren Haanellen des Meerscbwein- chens unabhangig voneinander zeigen, dai3 der Zelleib der auhren Haanelle zu einer mechanischen Verkurzung und Elongation entlang der Langsachse der Haarzelle befa- higt ist (Abbildung 11). Elektrisch IieSen sich schnelle, biochemisch langsame Bewegungen auslosen [3].

Zur weiteren Aufklarung der langsamen Be- wegung gelang es uns, mit biochemischen Methoden zu zeigen, daf3 das aus Aktin und aktinassoziierten Molekulen bestehende Ske- lett einer Haarzelle der Sinneszelle die Whig- keit verleiht, Langsbewegungen bis zu Ge- schwindigkeiten von 23 nm/ms zu vollzie- hen.

Neben Bewegungen des Zelleibes kann eine a d e r e Haarzelle jedoch offenbar auch das Stereozilienbundel bewegen. Modulationen der Mikromechanik in diesem Bereich mus- sen von zentraler Bedeutung fur den Horvor- gang sein. In Versuchen, bei denen Stereozi- lien von Haarzellen des Frosches in situ mit einer Quarzprobe ausgelenkt wurden, beob- achteten der Stockholmer Physiologe Ake Flock und seine Mitarbeiter Anderungen der Ruckstellkraft, wenn Kalziumionen und ATP hinzugegeben wurden. Wir sahen an Sauge- tierhaarzellen wahrend einer Kaliumdepola- risation als auch bei Aktivierung des Aktin- skelettes neben einer Verkurzung der Haar- zelle eine langsame Bewegung des Stereozi- lienbundels, welche der Deflektion durch den Schallreiz entgegengesetzt war (Abbildung 12). Dabei zeigte sich, dai3 das Stereozilien- bundel durch einen Kippmechanismus des apikalen Pols der Haarzelle (der sogenannten Kutikularplatte) bewegt wurde, ohne dai3 der Winkel zwischen Sinnesharchen und Kutiku- larplatte sich anderte. Der zugrundeliegende aktive Mechanismus ist damit nicht in den Sinnesharchen selbst, sondern in der darun- terliegenden Kutikularplatte zu erwarten.

Wenn wir die Haarzelle gemeinsam mit dem Mediziner Rainer Zimmermann dem elektri- schen Feld eines Wechselstroms exponierten, dessen Feldlinienrichtung der Langsachse der Haarzelle entsprach, so war bei der Mehrzahl der Zellen ein schneller Kippmechanismus der Kutikularplatte zu beobachten, welcher das Bundel der Stereozilien bewegte.

Im sichtbaren Bereich entsprach die Frequem der Bewegung exakt der Frequenz der Rich. tungsiinderung des elektrischen Feldes.

AuBere Haarzellen der Horschnecke sind d a mit offenbar zu zwei Grundformen einer ak- tiven Bewegung befahigt. Auf einen geeigne- ten Stimulus reagieren sie mit Kontraktionen und Elongationen entlang ihrer Lhgsachse. Dariiber hinaus konnen sie selbstandig ihi Stereozilienbundel durch einen Kippmecha- nismus der Kutikularplatte bewegen. Beide Bewegungsmechanismen lassen sich in Ab- hangigkeit vom experimentellen Reiz in eine schnelle (elektrische Reizung) und eine lang- same Form (Kaliumdepolarisation, Aktinsy- stem) unterteilen [3].

Model1 der bidirektionalen, mechanoelektrischen sowie elek- tromechanischen Transduktion aui3erer Haarzellen

Augeren Haarzellen kommen damit offenbar zwei Transduktionsmechanismen zu:

Zum einen sind sie im Rahmen ihrer Re- zeptorfunktion in der Lage, das mechanische Schallsignal in ein korpereigenes bioelektri- sches und biochemisches Signal zu trans- duzieren (Abbildung 13a). Diesen Vorgang wird man als mechanoelektrische an- terograde (engl.: forward) Transduktion be- zeichnen.

Zum zweiten sind sie in der Lage, eine plotzliche Anderung ihrer elektrischen oder biochemischen Eigenschaften in eine mecha- nische Bewegung von Zelleib, Kutikularplat- te und Stereozilien umzusetzen. Man wird diesen Vorgang als eine retrograde (engl: re- verse), elektromechanische Transduktion be- zeichnen (Abbildung 13b).

Die in zwei Richtungen verlaufende, also bi- direktionale Transduktionsfahigkeit der au- i3eren Haarzellen scheint in einen Regelkreis eingebunden zu sein, welcher pamell inner- halb der Zelle ablauft, die efferenten Fasern des Hornerven miturnfaat und moglicher- weise dam dient, das Schallereignis im In- nenohr aktiv zu steuern.

Folgende Arbeitshypothese (Abbildung 13) ist somit vorstellbar: Ein Schallereignis fuhrt zur Deflektion der Stereozilien aui3erer Haar- zellen (Abbildung 13a). Durch einen noch unbekannten Mechanismus offnen sich am apikalen Zellpol gelegene Ionenkanale und

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Experimente am Innenohr

erlauben endolymphatischen Kaliumionen entlang der Potentialdifferenz in das Zellin- nere der Haarzelle einzustromen. Die Folge ist eine Depolarisation. An dieser Stelle teilt sich der Signaltransfer: Die Depolarisation fuhrt zur Freisetzung von Transmittern und damit zur Reizung des Hornerven (Abbil- dung 13a). Sie induziert aber auch eine me- chanische Antwort (Abbildung 13b) der Sin- neszelle: Langsame Bewegungen des kon- traktilen Zelleibes sowie der Kutikularplatte mit den Sinnesharchen kontrollieren den Operationspunkt der Stereozilien und steuern die mechanische Charakteristik der Schneckentrennwand. Schnelle Bewegungen, deren zugrundeliegender Mechanismus un- bekannt ist, greifen dariiber hinaus frequenz- konform in die Wanderwelle ein. Beide Me- chanismen fuhren zu einer Anderung der schallinduzierten Deflektion der Stereozilien und beeinflussen damit durch SchluB des Re- gelkreises direkt den Horvorgang (Abbil- dung 13b). Die Depolarisation ist verbunden

mit einer Offnung von Kaliumionenkanal- chen in der lateralen Zellmembran (Abbil- dung 13). Diese erlaubt den Austritt des Ka- lium entlang des elektromechanischen Poten- tials nach extrazellular in den Perilymph- raum, wodurch die Repolarisation der Zelle eingeleitet wird. Die Zelle ist auf das nachste Schallereignis vorbereitet (Abb. 13). In diesen Regelkreis konnen efferente Fasern des Hornerven eingreifen, welche zahlreich an den augeren Haarzellen enden (Abbildung 13b).

Storungen des Regelkreises, etwa durch Ver- lust der Haarzellbeweglichkeit, miissen zu ei- nem Nachlassen der Frequenzselektivitat, zu einer Verschlechterung der Horschwelle so- wie zur Anderung der otoakustischen Emis- sionen fuhren. Tatsachlich ist bei einem gro- Ben Teil der Kranken mit einer Innenohr- schwerhorigkeit diese nicht allein durch eine Verschlechterung der Horschwelle, sondern vorwiegend durch einen Verlust der Sprach-

verstandlichkeit gekennzeichnet, welche auch durch Steigerung des Schalldruckes nicht kompensiert werden kann. Dieser Verlust der Sprachdiskrimination, an welchem in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Mil- lionen Menschen leiden, ist Spiegelbild des Verlustes der Frequenzselektivitat. Dem ent- spricht auch die Erfahrung, dai3 Horgerate diesen oft dominierenden Teil einer Innen- ohrschwerhorigkeit nicht ausgleichen kon- nen. Es ist daher vorstellbar, klinisch jedoch noch nicht diagnostizierbar, dai3 ein Sprach- verstandlichkeitsverlust Ausdruck eines ge- storten Regelkreises des bidirektionalen Transduktionsmechanismus mit gestijrter mechanischer Steuerung der Wanderwelle ist.

Signaltransfer zum Gehirn

Die von der Haarzelle als Folge des Transduk- tionsprozesses ausgelosten bioelektrischen und biochemischen Signale werden in Form einer neuronalen Erregung uber die verschie-

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Experimente am Innenoh

Abb. 13. Die bidirektionale Transduktion auflerer Haarzellen: (a) Diese kiinnen das mechanische Schallsignal in ein elektri- sches Signal (die Depolarisation) transdu- zieren. Der Signaltransfer ist damit mecha- noelektrisch und setzt die Richtung des In- formationsflusses nach vorwarts fort. (b) Ein elektrisches Signal (z. B. eine Depolari- sation) kann eine aktive Bewegung der au- f3eren Haarzelle ausliisen. Diese beeinflufit Wanderwelle und Deflektion der Stereozi- lien. Der InformationsfluS verliuft hier riickw5rts. Der retrograde Transduktions- prozefl ist in diesem Beispiel elektromecha- nisch, er kann auch biochernisch ausgeliist werden.

denen Stationen von Hornerv und Horbahn zu bestimmten Arealen des Groi3hirns (audi- torischer Cortex im Temporallappen) weiter- geleitet. Entgegen alteren Auffassungen be- wirken die Neurone der Horbahn nicht eine scharfere Frequenzkontrastierung. Vielmehr scheinen unterschiedliche Neurone hochspe- zifisch auf die Weiterleitung hochkomplexer Schallmuster spezialisiert zu sein [2, 51. Nach dem gegenwartigen Stand der Diskussion werden die afferenten (also in Richtung Him) verlaufenden Horsignale weitgehend von den inneren Haarzellen in den Hornerv einge- speist. An diesen beginnen namlich zahlrei- che afferente Nervenfasern [5].

Signaltransfer vom Gehirn zum Ohr

renter, sondern efferenter Natur. Letztere transportieren Nervensignale vom Gehirn zum Ohr. Der Hornerv ist damit zu bidirek- tionalem Signaltransfer befahigt. Daher wird diskutiert, dai3 die Signalweitergabe zum Hornerven und damit zum Gehirn nur eine untergeordnete Aufgabe aul3erer Haarzellen sei. Vielmehr ist es naheliegender, dai3 sie stattdessen vornehmlich Nervenimpulse empfangen [5]. Dies entspricht im oben dar- gestellten Regelkreis der externen Steuerung der augeren Haarzellen durch efferente Hor- fasern.

Wir postulieren, dai3 der oben beschriebene Regelkreis, basierend auf einem bidirektiona- len Transduktionsmechanismus der augeren Haarzellen, die zusatzliche Energie zur Wan- derwelle beisteuert und so im Bereich der Horschwelle die Wanderwelle verstarkt, bei hohen Schalldriicken zum Schutz des Innen- ohres abschwacht, die Abstimmkurve und da- mit die Frequenzselektivitat scharft, sowie otoakustische Emissionen produziert. Die von den auaeren Haarzellen aktiv geformte Wanderwelle wird von den inneren Haarzel- len wahrgenommen, welche ihrerseits dann den Horeindruck im GroBhirn auslosen.

Die in dieser Arbeit geschilderten eigenen Untersuchungen sind durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (Ze 149/4- 1) ge- fordert worden.

Literatur

[I] W. D. Keidel, S. Kallert, M. Korth: The Physiological Basis of Hearing. Thieme, Stuttgart 1983.

[2] R. Klinke: Physiologie des Gleichge- wichtssinnes, des Horens und des Sprechens. In: Physiologie des Menschen (Hrsg. R. F. Schmidt, G. Thews). 28. Auflage, Springer, Heidelberg 1985, Kap. 12.

[3] H. P. Zenner: Molecular structure of hair cells. In: Neurophysiology of hearing - the cochlea (Hrsg. D. W. Hoffmann, R. A. Ah- schuler, R. P. Bobbin). Raven, New York 1986, 1-21.

[4] G. von BCkCsy: Experiments in hearing. McGraw-Hill, New York 1960.

Hans-Peter Zenner, geb. 1947 in Essen, medi- zinisches Staatsexamen 1972 und medizini- sche Promotion 1974 an der Universitat Mainz, 1974 - 1976 wissenschaftlicher Mitar- beiter am Physiologisch-Chemischen Institut der Universitat Wurzburg, seit 1976 Arzt an der Klinik und Poliklinik fur Hals-Nasen- Ohrenkranke der Universitat Wurzburg, 1981 Habilitation, 1985 Universitat von Mi- chigan, Ann Arbor, 1986 Professor der Hals- Nasen-Ohrenheilkunde an der Universitat Wiirzburg, mehrere wissenschaftliche Preise, zuletzt Leibniz-Preis 1986.

Alfred Heinrich Gitter, geb. 1959 in Bremen, Physikdiplom 1982 in Gottingen, bis 1986 Doktorand in Biophysik am Max-Planck- Institut fur Biophysik sowie am Zentrum fur Physiologie der Universitat Frankfurt, seit 1986 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bio- physikalischen Laboratorium der Universi- tats-HNO-Klinik Wurzburg.

Anschriften:

Vollig anders hingegen ist die anatomische Situation an den auiui3eren Haarzellen. Mehr als 90 % der mit den augeren Haarzellen ver- bundenen Hornervenfasern sind nicht affe- Druck. 8700 Wurzburg.

[5] R. Klinke: Die Verarbeitung von Schall- reizen irn Innenohr - eine Ubersicht uber neue Forschungsergebnisse. HNO (1 987), im

Prof. Dr. H.-P. Zenner und Dipl. Phys. A. H. Gitter, Universitatsklinik und Poliklinik fur Hals-Nasen-Ohrenkranke/Kopfklinikum,

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