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DIE SYMBOLISCHE REFLEXION DER SPRACHE 1. Sprache als Thema und Medium der Philosophie Philosophie ist die Kunst, sinnvolle Unterscheidungen zu machen. Philoso- phische Differenzierungen sind begrifflicher Art; sie werden im diskursiven Medium der Sprache geäußert und bestimmen unser Verhältnis zur Welt, zu Anderen, zu uns selbst. Im Alltag vermeinen wir auch sprachlos wahrnehmen, uns einer Sache vorsprachlich bewusst sein oder nonverbal kommunizieren zu können; die Reflexion der Philosophie dagegen ist unhintergehbar begrifflich- symbolisch: sie kann ihre Erkenntnisse nicht malen, singen oder tanzen. 1 Philosophie denkt entlang einer Sprache, die somit Doppelfunktion gewinnt: sie ist ihr Thema und ihr Medium zugleich. 2 Indem Sprache nicht Welt abbildet, sondern ein Bild der Welt entwirft, reflektieren ihre Differenzierungen nicht notwendig reale Unterschiede. In einer vorkulturellen Welt gibt es, so Lockes Beispiele, keinen Ehebruch, keine Prozession, kein Sakrileg (»gemischte Modi«); 3 begriffliche Unterscheidungen solcher Art kommen allererst durch kulturelle Sprachpraktiken in die Welt. Es dürfte schwierig sein, vermutet Moses Mendelssohn, ohne Sprache Bestimmtes wahrnehmen zu können; wie sollte man, »durch die bloße Anstrengung der Aufmerksamkeit, Merkmale herausbringen, für die wir noch keine Worte wissen«. 4 Unser Wahrnehmen und Denken ist von vornherein symbolisch, »weil der Mensch, ohne Hülfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen kann«. 5 Nichts spricht dafür, dass Sprache wie in einem schlierenlosen Spiegel ein- fach die Unterschiede reflektiert, die wir in der Welt vorfinden und auch ohne Sprache für uns da wären. Demgegenüber ging das hochdifferenzierte mittelal- terliche Sprachdenken noch von einer weitgehenden »Isomorphie zwischen Sein, Denken und sprachlichem Ausdruck« 6 aus; es fand eine wohlgeordnete, 1 H. Schnädelbach, Analytische und postanalytische Philosophie, Frankfurt/M. 2004, 241. 2 Vgl. K. O. Apel, Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion, in: Trans- formation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973, 311–329; G. Patzig, Die Sprache, philosophisch befragt, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. IV, Göttingen 1996, 146–168; H. Schnädelbach, Sprache als Thema und Medium der Philosophie, in: Zeitschrift für Kulturphi- losophie 1 (2007), 27–44. 3 J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding (1689), III/5, hrsg. von P. H. Nidditch, Oxford 1975, 429. 4 M. Mendelssohn, Über die Sprache (ca. 1756), in: JubA 6/2, 17. 5 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), in: JubA 8, 172. 6 E. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Tübingen/Basel 2003, 158.

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DIE SYMBOLISCHE REFLEXION DER SPRACHE

1. Sprache als Thema und Medium der Philosophie

Philosophie ist die Kunst, sinnvolle Unterscheidungen zu machen. Philoso-phische Differenzierungen sind begrifflicher Art; sie werden im diskursivenMedium der Sprache geäußert und bestimmen unser Verhältnis zur Welt, zuAnderen, zu uns selbst. Im Alltag vermeinen wir auch sprachlos wahrnehmen,uns einer Sache vorsprachlich bewusst sein oder nonverbal kommunizieren zukönnen; die Reflexion der Philosophie dagegen ist unhintergehbar begrifflich-symbolisch: sie kann ihre Erkenntnisse nicht malen, singen oder tanzen.1

Philosophie denkt entlang einer Sprache, die somit Doppelfunktion gewinnt:sie ist ihr Thema und ihr Medium zugleich.2

Indem Sprache nicht Welt abbildet, sondern ein Bild der Welt entwirft,reflektieren ihre Differenzierungen nicht notwendig reale Unterschiede. Ineiner vorkulturellen Welt gibt es, so Lockes Beispiele, keinen Ehebruch, keineProzession, kein Sakrileg (»gemischte Modi«);3 begriffliche Unterscheidungensolcher Art kommen allererst durch kulturelle Sprachpraktiken in die Welt. Esdürfte schwierig sein, vermutet Moses Mendelssohn, ohne Sprache Bestimmteswahrnehmen zu können; wie sollte man, »durch die bloße Anstrengung derAufmerksamkeit, Merkmale herausbringen, für die wir noch keine Wortewissen«.4 Unser Wahrnehmen und Denken ist von vornherein symbolisch,»weil der Mensch, ohne Hülfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vomSinnlichen entfernen kann«.5

Nichts spricht dafür, dass Sprache wie in einem schlierenlosen Spiegel ein-fach die Unterschiede reflektiert, die wir in der Welt vorfinden und auch ohneSprache für uns da wären. Demgegenüber ging das hochdifferenzierte mittelal-terliche Sprachdenken noch von einer weitgehenden »Isomorphie zwischenSein, Denken und sprachlichem Ausdruck«6 aus; es fand eine wohlgeordnete,

1 H. Schnädelbach, Analytische und postanalytische Philosophie, Frankfurt/M. 2004, 241.2 Vgl. K. O. Apel, Sprache als Thema und Medium der transzendentalen Reflexion, in: Trans-

formation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973, 311–329; G. Patzig, Die Sprache,philosophisch befragt, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. IV, Göttingen 1996, 146–168; H.Schnädelbach, Sprache als Thema und Medium der Philosophie, in: Zeitschrift für Kulturphi-losophie 1 (2007), 27–44.

3 J. Locke, An Essay Concerning Human Understanding (1689), III/5, hrsg. von P. H. Nidditch,Oxford 1975, 429.

4 M. Mendelssohn, Über die Sprache (ca. 1756), in: JubA 6/2, 17.5 Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), in: JubA 8, 172.6 E. Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, Tübingen/Basel 2003, 158.

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2 Dirk Westerkamp

nach Ursachen, Gattungen und Arten unterteilte Welt in den begrifflichen Un-terscheidungen und sprachlichen Ordnungen der Dinge selbst wieder. Unzu-länglichkeiten ihrer Repräsentation wurden nicht auf eine weltfremde Naturder Sprache, sondern auf ihren unvollkommenen Gebrauch zurückgeführt.

Neuzeitlich bestimmend sind andere Auffassungen geworden: dass die Din-ge an sich selbst betrachtet dem menschlichen Geist entweder auch sprachun-abhängig zugänglich seien; oder dass sie überhaupt nicht, auch nicht sprachlich,erfasst werden können. Wilhelm von Humboldt und Karl Leonhard Reinholdhaben zu Beginn des 19. Jahrhunderts vehement sowohl der ersten als auchder zweiten Auffassung widersprochen, der noch ihr ›Lehrer‹ Kant anhing.Humboldt bekräftigt, dass es unmöglich sei, »aus der Sprache herauszutretenund die Dinge unabhängig von ihr zu betrachten«,7 Reinhold kritisiert dieSprachvergessenheit metaphysischen Denkens, welches dem »Wahn einer oh-ne [. . . ] Sprache möglichen, [. . . ] begriffslosen, innerlichen Wahrnehmung[. . . ] und der Einbildung unmittelbarer Vorstellungen«8 aufsitze. Mit Hum-boldts und Reinholds These von der Unmöglichkeit des Heraustretens ausder Sprache ist keineswegs gemeint, dass es nicht auch sprachunabhängigeErfahrungsgegenstände, Sachverhalte oder Tatsachen (facta bruta) gäbe, nureben nicht für uns. Mag Welt unabhängig von Sprache existieren, so ist dochunsere Erkenntnis von Wirklichkeit »unaufhebbar sprachbezogen«.9

Ihre Unumgänglichkeit im menschlichen Weltzugang hat zu der hermeneu-tischen Überzeugung geführt, die Sprache sei das »universale Medium, in demsich das Verstehen selber vollzieht«.10 Zwar ist Sprache nur eines unter vielenzur Verfügung stehenden Medien. Aber das Bild, die Brille, das Mikroskop,der Computer und diverse andere Medien sind Erkenntnismedien nur in Ver-bindung mit der »propositionalen Artikulation«11 der Sprache. Sie ist nichtdas Medium, das jeweils besser erkennen, sondern das überhaupt erst etwasals etwas verstehen lässt. Auch in der Laborsituation reicht der vielsagendeBlick auf ein Präparat nicht aus, um einen Geltungsanspruch – z.B. »DiesesEnzym X könnte für eine Therapie der Krankheit Y nützlich sein« – zu äu-ßern, sondern es bedarf der propositional-behauptenden Kraft der Sprache.Medien sind Erkenntnismedien stets nur im Verein mit der Artikulation vonSprache und Schrift.

7 W. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus, in: Werke III,157.

8 K. L. Reinhold, Das menschliche Erkenntnisvermögen aus dem Gesichtspuncte des durch dieWortsprache vermittelten Zusammenhangs zwischen der Sinnlichkeit und dem Denkvermögen,Kiel 1817, 9.

9 Patzig, Die Sprache, philosophisch befragt, 157.10 H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1975, 366.11 M. Seel, Sich bestimmen lassen, Frankfurt/M. 2002, 151.

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Die symbolische Reflexion der Sprache 3

Humboldt hat für den Umstand, dass sich reale und ideale Gegenständenicht einfach von selbst, sondern sprachlich vermittelt zeigen, den Begriff der»Weltansicht«12 geprägt, die alles umprägt und gestaltet, was wir als Gegen-stände sollen wahrnehmen können. Daher wäre aus dem Umkreis unsererSprache nur »insofern hinauszugehen möglich [. . . ], als man zugleich in denKreis einer andren hinübertritt«.13 Hermeneutischen Vollzug nennt Gadamerim Anschluss an Humboldt das sprachliche Verstehensgeschehen zwischenText und Interpreten. Einen ähnlichen, allerdings auf konkrete Situationensprachlicher Praxis bezogenen Gedanken hat Donald Davidson unter demNamen »Triangulation« formuliert und meint die triviale, aber grundlegende»Dreiecksbeziehung, die aus [den] zwei Akteuren und einem gemeinsam be-trachteten Gegenstand besteht«.14 Erkennen vollzieht sich in einem Dreieckvon subjektiver, intersubjektiver und objektiver Erkenntnis, welches ihnendurch das gemeinsame Primärmedium der Sprache zugänglich wird, was Da-vidson zu dem wenig überraschenden, aber weitreichenden Schluss führt, dassdie »Identifizierung der Gegenstände des Denkens [. . . ] auf einer sozialenGrundlage«15 beruhe.

Dass sprachliches Verstehen – als Verständnis durch Sprache und Verstehenvon Sprache – triangularisch strukturiert und damit immer an ein uns vorgän-giges Du gerichtet ist, wie erstmals Humboldt erkannt hat,16 impliziert nichtnotwendig das Gelingen von Verstehen. Wenn Sprache das Primärmediumunseres Selbst-, Fremd- und Weltverständnisses sein sollte, dann markierenihre Grenzen auch die des Verstehens: »Die Grenzen meiner Sprache bedeutendie Grenzen meiner Welt«.17 Deshalb ist auch der Versuch des Begreifens vonallem, was anders als Sprache ist, selbst sprachlich vermittelt. Wenngleich diePhilosophie die Grenzen der Sprache und des Verstehens auslotet und sich mitMitteln des Begriffs auch des Nichtbegrifflichen annimmt,18 bleibt sie dochin erster Linie eine »Anstrengung des Begriffs«.19 Adorno hat kritisch daranangeknüpft und behauptet, der Weg der Philosophie führe zur »Anstrengungdes Begriffs, das nichtbegriffliche Moment zu vertreten und es durch denInbegriff selber zur Geltung kommen zu lassen«.20

12 Humboldt, Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus, hrsg. von Chr. Stetter, Berlin 2004, 57.13 Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf

die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Werke III, 434.14 D. Davidson, Der Mythos des Subjektiven, Stuttgart 1993, 45.15 Ebd., 81.16 Humboldt, Ueber das Entstehen der grammatischen Formen (1822), in: Werke III, 50.17 L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, in: WA 1, 5.6.18 Th. W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, 21.19 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. in: GW 9, 41.20 Adorno, Philosophische Terminologie, hg. von R. zur Lippe. Frankfurt/M. 1973, 87.

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Vollkommen verlassen könnte Philosophie die Sphäre des Begriffs aller-dings nur um den Preis der Selbstaufgabe: Ihre Sprache ist die Sprache desBegriffs, der Begründung und der Argumentation. Philosophie ist daher dieKunst, sinnvolle begriffliche Unterscheidungen, epistemische Aussagen undnormative Geltungsansprüche argumentativ zu begründen.21 Der begrifflich-argumentative und zugleich verallgemeinernde Charakter philosophischerSprache markiert die äußerste Konsequenz jener synthetischen Funktion, diein der symbolischen Reflexion der Sprache selbst angelegt ist. Ernst Cassi-rer bezeichnet sie deshalb als die »Synthesis des Verschiedenen«:22 Sie fasstHeterogenes, Getrenntes, Verschiedenes in eine begriffliche Einheit. Jeder Be-griff, erinnert Nietzsche, »entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen«;23

begriffliche Synthesis sieht von den Qualitäten des Synthetisierten ab, eslebt vom »Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten«.24 Daher hatdie Sprachphilosophie von Humboldt über Nietzsche bis zu Cassirer undGoodman stets die Erinnerung an den abstrahierend-fixierenden wie zugleichproduktiven und welterschließenden Charakter der Begriffsbildung wachgehalten, wenn anders der Mensch sich in ihr nicht »als Subjekt und zwar alskünstlerisch schaffendes Subjekt«25 vergessen soll. So hat er seiner anthropo-morphen Verbegrifflichung auch der nichtanthropomorphen Welt eingedenkzu bleiben, indem er ihr misstraut, um sich ihr dennoch anzuvertrauen.

Begriffliche Synthesis hat nicht nur objektiv-weltordnende Funktion, sieist auch immer schon auf Intersubjektivität gerichtet. Nur wenn der Begriff,den alle verwenden, von den Vorstellungen, die jeder einzelne konkret mitihm verbindet, absieht, kann sich Verständigung einstellen. Nur weil dasKonkrete in allgemeinen Termini bezeichnet wird, lässt es sich anderen ver-ständlich machen. Das Konkrete bedarf des begrifflich Allgemeinen, um füruns Konkretes sein zu können. Verstehen eröffnet sich in dem Raum vonMeta-Sprachen, die zuletzt aber in keine andere als die Umgangs- oder Ver-kehrssprache selbst (zurück-)übersetzt werden können. Das liegt bereits an derEigenart ihres Erwerbs. Denn als allgemeine Gestalt einer überindividuellenVolks- und Umgangssprache kann sie nur individuell erworben werden; Spra-che hat ihren »ontologischen« Sitz nirgendwo anders als in dem sprechendenIndividuum und doch sind die Äußerungen dieses Individuums fast allesamt»normierte, nach Regeln erlernte Sprachgewohnheiten«.26 Ferdinand de Saus-sures Unterscheidung von langue und parole trägt dieser Dialektik Rechnung:

21 Vgl. St. E. Toulmin, The Uses of Argument, Cambridge/New York 2003.22 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Phänomenologie der Erkenntnis, in: ECW

13, 136.23 F. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: KGA III/2, 374.24 Ebd.25 Ebd.26 Patzig, Die Sprache, philosophisch befragt, 162.

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Die symbolische Reflexion der Sprache 5

Langue meint die Sprache als System normierter Sprechgewohnheiten, paroledie Form, in der sich diese allgemeine Sprache als besonderes Sprechen konkre-tisiert.27 Im Anschluss an Saussure hat Maurice Merleau-Ponty daran erinnert,dass die Sprache nie nur aktualer Vollzug, sondern »Sedimentierung«28 ist,eine Ablagerung der Gedanken vergangener Generationen, die die Spracheerst »zu dem gemacht haben, was sie heute ist«.29

Eine zweite Dialektik liegt in der Selbsttransparenz der Sprache. Wie manoft einer Sache erst dann gewahr wird, wenn sie auffällt, Probleme bereitet,nicht mehr funktioniert, so zeigt sich die Sprache erst dann, wenn sie ihreeigene Durchsichtigkeit aufhebt: wenn Dinge ausgedrückt werden sollen, zuder die Sprache nicht in der Lage zu sein scheint; wenn eine andere oderunverständliche Sprache gebraucht wird. Die Frage nach der Sprache zu be-antworten, fällt der Philosophie also auch deshalb so schwer, weil sie ihr sonahe liegt: »wir benutzen sie schon, indem wir nach ihr fragen«.30 Diese Selbst-transparenz und »Fraglosigkeit«, nämlich dass sie schon im Vernehmen in derRegel auch verstanden wird, kennzeichnet die »Verbindlichkeit«31 normalerSprachen, während die Einschränkung ihrer Varianz allen formalen Sprachenallererst die Eindeutigkeit sichert. In beiden offenbart sich eine Stärke undRelevanz zur Beantwortung philosophischer Fragen, die in der Tat die Besin-nung auf Sprache zu dem übergreifenden philosophischen Motiv der Moderneund Nachmoderne haben werden lassen.32

2. Philosophische Paradigmen der Sprache

Zu den traditionellen Bestimmungen gehört die Auffassung, dass Sprache,Welt und Wirklichkeit getrennte Sphären bilden; dass Sprache vor allem dazudiene, Informationen über eine Wirklichkeit zu vermitteln, die auch ohnesie da wäre. Das instrumentalistische Sprachparadigma begreift Sprache alsWerkzeug der Übermittlung von Informationen; sie ist Darstellung einer vonihr unterschiedenen Welt: »Werkzeug der Belehrung und Unterscheidung desSeienden« (Krat. 388b13–c1). Bis in die Neuzeit galt in der Philosophie ein Pri-mat des darstellenden Wesens der Sprache, zu dessen Inbegriff seit Aristotelesder prädikative Satz (logos apophantikos) wurde, der mit Wahrheitsansprüchenauftretende Behauptungssatz, der einen singulären Terminus einem generellen

27 F. de Saussure, Cours de linguistique general, Paris 2005, 27–32.28 M. Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960, 145.29 Patzig, Die Sprache, philosophisch befragt, 151.30 Ebd., 152.31 H. Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache, in: ders., Werke, Bd. 4, Frankfurt/M. 1977, 109.32 Vgl. H. Boeder, Die Installation der Submoderne. Zur Tektonik der heutigen Philosophie,

Würzburg 2006.

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Terminus subsumiert und das Wesen der Sprache in der verbindenden Kraftder Kopula (»ist«) erblickt.

Doch schon bei Platon und Aristoteles meint Logos mehr, nämlich dieSeinsweise, in der wir sind (zoon logon echon: Polit. 1253a9) und in der wirWelt bestimmen, wie wir von ihr bestimmt werden. Weniger im Anschluss anAristoteles denn an Platon hat Karl Bühler sein dreistufiges Funktionsschemader Sprachzeichen »Organon-Modell« genannt.33 Bühler schreibt der Sprachedrei Grundfunktionen zu, in denen Sprecherinnen und Sprecher (Sender) sichanderen (Empfänger) mitteilen. Als Symptome sind Sprachzeichen Ausdruckder Innerlichkeit Sprechender (Ausdrucksfunktion), als Signale appellierensie an den Empfänger (Appellfunktion), als Symbole vergegenwärtigen sieSachverhalte (Darstellungsfunktion). Aber noch die semiotischen ModelleBühlers und Charles W. Morris’34 bleibt jenem instrumentellen Mitteilungs-paradigma der Sprache verhaftet, welches entweder die »instrumentale Rolleder Sprache beim Ausdruck des Gedankens” oder »ihre mediale Funktion beider Abbildung der außersprachlichen Realität«35 bestimmt.

Eng verwandt mit dem instrumentalistischen Modell der Sprache ist dasmentalistische. Dessen Grundidee besagt seit John Locke, dem Begründerneuzeitlicher Sprachphilosophie, dass Sprache nicht nur dem Ausdruck unse-rer Eindrücke (impressions) und Vorstellungen (ideas) diene, sondern dass diesprachlichen Unterscheidungen auch der kategorialen Ordnung dieser Vor-stellungen (einfache Ideen, Relationsideen, Substanzideen, Verbindungsideen)folge.36 Seither versteht man unter »Mentalese« die Annahme einer innerenmentalen Sprache – eine Auffassung, die sich bis zu Noam Chomskys Thesevon der Angeborenheit basaler grammatischer Strukturen erstreckt.37 Leibnizhat dem entgegnet, dass sprachliche Repräsentation (als cognitio symbolica)gegenüber der gedanklichen nicht nur temporär, willkürlich oder sekundär,sondern prinzipiell und konstitutiv für das Denken sei. Zeichen stehen nichtfür das, was eigentlich gemeint ist, sondern sind selbst Eigentliches.38 Musterdieses Analogiekonzepts von Repräsentation (repraesentatio) sind für Leibnizdie schriftlichen Rechenoperationen: In ihnen haben wir es nicht mehr mitGegenständen, sondern überhaupt nur noch mit Zeichen zu tun.39

33 K. Bühler, Sprachtheorie, Stuttgart 1982, 28.34 Vgl. C. W. Morris, Signs, Language and Behavior, New York 1946.35 Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, 14.36 J. Locke, Essay Concerning Human Understanding III, 2, 4; ebd., 406.37 T. W. Deacon, The Symbolic Species. The Co-Evolution of Language and the Brain, New

York/London 1997, 27.38 G. W. Leibniz, Philosophische Schriften, Bd. 7, hrsg. von C. I. Gerhardt, Hildesheim 1961,

204.39 Vgl. S. Krämer, Symbolische Erkenntnis bei Leibniz, in: Zeitschrift für philosophische For-

schung 46 (1992), 224–237.

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Die symbolische Reflexion der Sprache 7

Noch die funktionale Auslegung der Sprache als Kommunikation40 hat esschwer, die Kreise des mentalistischen und instrumentalistischen Paradigmaszu überschreiten. Referenz- und Kommunikationstheorien werden der Eigen-art menschlicher Sprachen nicht gerecht, deren spezifische Differenz vielmehrin der Eigenart symbolischer Reflexionsformen liegt, welche auch die Schrifteinschließen.

Hartnäckig hält sich im Alltagsverständnis die Vorstellung des Primatsgesprochener Sprache. In der Tat ist historisch wahrscheinlich, dass Menschensprachen, bevor sie Schrift entwickelten; auch liegt es nahe, Schrift als visibleFixierung klangkörperlichen Sprechens aufzufassen. Jacques Derrida hat die-ses philosophisch-linguistische Vorurteil jedoch so nachhaltig erschüttert, dassseine dekonstruktivische Methode zur Hermeneutik der neuen, textbasierten,differentiellen und informationellen Medien dienen konnte. Damit gab dieDekonstruktion einen entscheidenden Schlüssel zum Verständnis der »media-len Moderne«.41 Zwar wird der Dekonstruktion die Welt deshalb nicht selbsteinfach zum Text, wie John R. Searle ihr unterstellt hat,42 aber die Verhältnissein ihr werden lesbar wie ein Text.43 Wiederholt sucht Derrida aufzuzeigen,dass das phonographische Dogma44 im traditionellen Sprachverständnis dieEigenart – genauer: die archi-écriture – der gesprochenen Sprache verdecke.45

Denn die phonetische Sprache folgt keinesfalls einem streng phonetischenPrinzip. Es gibt sensu stricto keine phonetische Schrift: Die Interpunkti-on klingt ebensowenig wie die Zwischenräume der Buchstaben, die für dieDistinktheit des Textes notwendig sind.

Unbeabsichtigterweise hat der dekonstruktivische Paradigmenwechsel zurErforschung der Schrift als Verräumlichung und Verkörperung den Fokus aufdie leibliche Dimension der Sprache – Stimme, Geste, Ausdruck – zurückge-lenkt. Dabei ging es keineswegs um eine Revision strukturalistischer Einsich-ten in die skripturale Matrix der Sprache, sondern um die von diesen selbstangestoßene Wiedergewinnung eines holistischen Begriffs von Sprache,46 umKorrektur eines einseitig »intellektualistischen Sprachbildes«47, welches Spra-che als universales, epistemisch-repräsentatives, realitäts- und regelbezogenes,kompetenz- und dialogzentriertes, verkörperungs- und medienindifferentesMedium überzeichnet. Zu erinnern ist an die Grenze innerhalb der Spra-

40 Vgl. P. Watzlawick, J. H. Beavin und D. D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Bern 1974.41 Vgl. C.-A. Scheier, Ästhetik der Simulation, Hamburg 2000.42 Vgl. J. R. Searle, Reiterating the Differences. A Reply to Derrida, in: Glyph 1 (1977), 172–208.43 Vgl. St. Winter, Die Geschichtlichkeit der symbolischen Ordnung, Würzburg 2009.44 Vgl. W. Kogge und G. Grube, Der Begriff der Schrift und die Frage nach der Forschung in

der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), 81–96.45 Vgl. J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, ###.46 Vgl. G. W. Bertram, Die Sprache und das Ganze, Weilerswist 2006.47 Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, Frankfurt/M. 2001, 98.

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8 Dirk Westerkamp

che selbst, die zugleich Unterscheidungs- und Beziehungsgrund skripuraler,verbaler, paraverbaler (stimmliche Qualitäten: männlich/weiblich etc.) undnonverbaler Zeichen oder zwischen Graphemen, Akustemen und Kinemenist; zu erinnern ist das Zusammenspiel von Sprechen und »Körperschema«48

im Wahrnehmungsvollzug. Für einen umfassenden Sprachbegriff heißt dies,auf die spezifische Materialität der Kommunikationsformen, auf die diffe-renzierte Verkörperung der Gedanken, auf die konkrete Leiblichkeit derSprechenden zu reflektieren: Es gibt keine Bedeutung (sens; vouloir-dire) jen-seits des Sprechens (und der Sprechakte); und doch wird sie nicht restlos durchSprache erzeugt und beherrscht.49

3. Symbolische Reflexion (1): Das Prinzip der Differenz

Was die symbolische Reflexivität der Sprache ausmacht, lässt sich weder for-melhaft noch allein mit positiven Attributen bestimmen. Einem Gravitations-zentrum vergleichbar, das nicht selbst als Repräsentierbares hervortritt, kanndie symbolische Reflexion der Sprache indirekt, an ihren Effekten bestimmtwerden. Im Ganzen ergibt sich eine Art Oktagon ihres Wirkungsfeldes, dessensich überlagernde Aspekte auf das ihnen gemeinsame Prinzip der Differenz,Distanz, Absenz zurückgeführt werden können und geeignet scheint, auchdie traditionellen Bestimmungen des Sprachbegriffs auf ihren übergreifenden,aber entzogenen Grund hin durchsichtig zu machen.

(1) Semiose: Ausgehen muss eine solche via negativa der symbolischenReflexion von der Feststellung, dass menschlicher Weltzugang von vornhereinmedien- und zeichenabhängig ist; dass wir nicht nicht Zeichen interpretierenkönnen. Überzeugend haben Leibniz, Peirce und Cassirer argumentiert, dassder menschliche Geist bereits auf der Ebene des Erwerbs und der Bildung vonVorstellungen, nicht erst auf der ihrer »Verarbeitung«, auf Zeichen angewiesenist – und zwar auf die konventionellen Zeichen symbolischer Normalspra-chen. Diese haben eine »heuristische« Funktion, »indem ihre Formen füruns die Weisen der Beobachtung und Interpretation vorherbestimmen«.50

Während das mentalistische Paradigma sprachliche Symbolsysteme auf ihreDarstellungs- und Kommunikationsfunktion reduziert, betont eine kultur-pragmatische Sprachanalyse die Symbolizität unseres Geistes als »Primärphä-

48 Vgl. J. M. Krois, Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischerFormen, hrsg. von H. Bredekamp und M. Lauschke, Berlin 2011, 252–271.

49 Merleau-Ponty, Signes, 134–135.50 E. Sapir, Language, in: Encyclopedia of Social Sciences 9 (1933), 159.

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Die symbolische Reflexion der Sprache 9

nomen«,51 sein Leib- und »Sprachapriori«52: Wahrnehmung und Erkennensind nicht im nachhinein, sondern konstitutiv symbolisch.

Unmittelbar vermittelte Sinnstiftung durch Zeichen hat Peirce als das»Urphänomen der Semiose« bezeichnet und versteht darunter »an action, orinfluence, which is, or involves, a coöperation of three subjects, such as a sign,its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any wayresolvable into actions between pairs.«53 In diesem Verhältnis der Triangulati-on treten Zeichen auf als etwas, das etwas anderes (hier: den Interpretanten)dazu bestimmt, in der gleichen Beziehung zum Objekt zu stehen wie esselbst. Peirce zufolge tritt in der unhintergehbar tertiären Zeichenfunktionder Semiose nicht nur die Bedeutung des Zeichens zutage, sondern auch dietatsächliche Wirkung, die eine Zeichenäußerung hervorbringt (wie etwa dasAbsetzen der Waffen beim Befehl »Gewehr bei Fuss«), welches wiederum alsInterpretant selbst zum Zeichen werden kann (etwa für den gelungenen Drillinnerhalb der Kompanie); schließlich bestimmt es auch diejenige Auffassung ei-nes Zeichens, die sich nach einem virtuell unendlichen Interpretationsprozessals die angemessene erweisen würde.

Die verschiedenen Arten von Zeichen bilden einen asymmetrischen Gat-tungszusammenhang, der zugleich ein hierarchischer ist. Denn in die Beherr-schung natürlicher Zeichen geht ein umfangreiches Weltwissen ein, das selbstschon auf symbolischer Repräsentation beruht: Das indexikalische Zeichendes Schwalbenflugs, der den Sommer ankündigen soll, deutet auf eine kompli-zierte symbolische Zuordnung, die selbst nicht indexikalisch gewonnen underkannt wird. Ihm liegt das Wissen um diesen natürlichen Zusammenhang vor-aus. Daher erweist sich die ebenso eindeutige wie konkrete Referenzbeziehungnatürlicher und mimetischer Zeichen als doppelt problematisch. Zum einensind beide Zeichenarten auf die Anwesenheit von Referenzobjekten angewie-sen, zum anderen reduzieren sie den Zeichengebrauch auf den Umgang mitsinnlich Konkretem. Abstrakta, Appellativa, Attributiva und »Collectivwör-ter«54 sind, wie bereits Moses Mendelssohn hervorhebt, mit natürlichen undmimetischen Zeichen kaum auszudrücken. Entsprechend besteht der über-wiegende Teil umgangs- und bildungssprachlicher Symbole aus willkürlichenZeichen, aus solchen also, »die mit dem Bezeichneten in keiner objektivenVerbindung stehen«55.

51 J. M. Krois, Kultur als Zeichensystem, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, hrsg. von F.Jaeger und B. Liebsch, Bd. 1, Stuttgart 2004, 106–118; 106.

52 H. Gipper, Das Sprachapriori. Sprache als Voraussetzung menschlichen Denkens und Erkennens,Stuttgart/Bad Cannstatt 1987.

53 Ch. S. Peirce, ###, Collected Papers (CP) V, 484.54 Mendelssohn, Über die Sprache, in: JubA 6/2, 16.55 Ebd., JubA 6/2, 10.

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Mendelssohn vermutet willkürliche Zeichen auf einer sprachgeschichtlichspäten Stufe. Denn sie setzen einen Abstraktionsprozess voraus, der die starreVerbindung von Zeichen und Bezeichnetem schon durchtrennt hat. Erst mitsymbolischen Zeichen scheint ein reflexiver, kontrollierter Umgang auch mitjenen Informationen möglich, die uns natürliche und mimetische Zeichensys-teme übermitteln. Condillac hat dies zu der Überlegung geführt, »dass dieOperationen des Geistes sich stärker oder schwächer entwickeln, je nach demMaße der Zeichenverwendung (à proportion qu’on a l’usage des signes)«56. DerBesitz natürlicher Zeichen allein befähigt noch nicht zum Sprechen – wie sichan Interjektionen leicht sehen lässt. In der Regel sind Zeichen, symbolischezumal, auch nicht autosemantisch; sie bedeuten nicht sie selbst, sondern etwasanderes, das sie vorstellen. Entsprechend gehört es zum Wesen des Zeichens,keine Wesenheit zu sein; es ist nicht Substanz, sondern reine Relation, in deretwas für etwas anderes steht (bzw. supponiert).57 Mithin machen Zeichenetwas präsent, das selbst nicht anschaulich oder anwesend ist und gewinnen soBedeutung; sie lassen Abwesendes anwesend werden, ohne selbst dieses etwaszu sein.

(2) Symbol-Transformation: Sprechen lässt sich mit Susanne Langer zunächstals »symbolische Transformation von Erfahrung«58 verstehen. In einem dop-pelsinnigen Überführungsvorgang drücken wir in und mit Sprache Erfahrun-gen aus; freilich lassen sich auch solche Erfahrungen ersetzen, die unmittelbargar nicht erreichbar sind; schließlich kann Sprache auch Erfahrungen reprä-sentieren, die wir möglicherweise nie werden machen können. SymbolischeTransformation benennt daher den Umstand, dass Sprache nicht nur Supple-ment unmittelbarer Erfahrung ist, sondern auch Erzeugung, Begleitung undKlärung von Erfahrung. Durch Distanz zur Erfahrung werden bestimmteErfahrungen überhaupt erst möglich. Sprache und Erfahrung durchdringensich so innig, dass sich die vermeintliche Sekundarität der Sprache in einenPrimat gegenüber Erfahrung auflöst.

Mithin dienen symbolische Zeichen auch Ersatzhandlungen. So sind inrituellen Handlungen Sprechakte nicht unmittelbar praktisch, sondern expres-siv (und im engeren Sinn absichtslos). Auch der frühkindliche Instinkt desLallens, eines intentionslosen Einübens, Vokalisierens und Artikulierens wirddurch positiven Widerhall gefördert und verliert sich mit der Zeit. Bis dahinjedoch scheint für das Kind alles »Ausdruck« zu sein; nichts ist gleichgültigund daher zugleich gleich gültig. Insofern lässt sich von Symbolen erst dortsprechen, wo ein Laut oder Akt gegeben ist, der keinen praktischen Sinn hat,

56 E. B. de Condillac, Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) I, 4, 2, § 26, Paris1973, 172.

57 Wilhelm von Ockham, Summa logicae I, 4.58 S. K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt/M. 1965, 52.

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um dennoch eine Tendenz zu erzeugen, Antwort hervorzurufen. Wir dürfendas Wesen der Sprache also weniger in der Mitteilung natürlicher Wünsche(das kann auch Pantomime) als vielmehr im symbolischen Ausdruck von Vor-stellungen suchen: Merkmal symbolischer Reflexion ist der »ursprünglichunpraktische, oder besser, konzeptuelle Gebrauch der Sprache«.59

Sprachliche Symbole lenken nicht durch sich selbst von der Sache ab, fürdie sie stehen. Wenngleich sinnlich präsent, sind symbolische Zeichen not-wendig ungegenständlich und an sich selbst wertlos. Sie sind kein Gegenstand,der als solcher interessiert: »Je karger und gleichgültiger das Symbol, um sogrößer seine semantische Kraft. Pfirsiche sind zu gut, um als Wörter zu figu-rieren«.60 Symbole illustrieren nicht Gegenstände, sondern repräsentieren siein einem Anderen – Hegel spricht daher vom Zeichen als von einem »Grab«61,Humboldt als von einer »Mumie«62 der Bedeutung.

Solange sie nicht mit der Sache zusammenfallen, können sprachliche Sym-bole beanspruchen, Allgemeines darzustellen.63 Symbole dienen folglich nichtder unmittelbaren Erfassung von Wirklichkeit, sondern ihrer schon vermit-telten Objektivierung. Sprachliche Zeichen sind daher »nicht mehr passiveAbbilder eines gegebenen Seins, sondern selbstgeschaffene intellektuelle Sym-bole«64. Zu unterscheiden ist freilich zwischen der Differenz zu dem, was sierepräsentieren, und der Konkretion, in der sie es repräsentieren. Ihre ideieren-de Kraft als Erfahrungstransformation gewinnt symbolische Formierung nurauf der Grundlage eines stets sinnlichen Substrats. Nur als Sprachlaut, Schrift-zeichen, Mimik, Gestik oder zumindest spürbarer Hauch können Symbole»Träger einer rein geistigen Bedeutung«65 werden. Cassirer wird nicht müde zubetonen, dass diese Bedeutung jedoch nicht schon vor oder unabhängig vonihrer Setzung vorhanden ist; auch wird sie in dieser Setzung nicht erschaffen,sondern auf den Einzelfall angewendet. Dadurch ergibt sich die »eigentümli-che Doppelnatur« der Symbolgebilde: »ihre Gebundenheit ans Sinnliche, diedoch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen in sich schließt«66.

Cassirers Begriff der Sprache als symbolischen Form berücksichtigt deneigentümlichen Umstand, dass für uns keine »geistige Bedeutung«67 ohne sinn-lichen Träger erkennbar ist, Bedeutung aber nicht schon an und von sich her

59 Ebd., 122.60 Ebd., 83.61 Hegel, Enzyklopädie § 458; GW ###.62 Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf

die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts § 12, in: Werke III, 418.63 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Die Sprache, in: ECW 11, 19.64 Ebd., 3.65 Ebd., 19.66 Ebd., 40.67 Ebd., 39.

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in diesem Sinnlichen liegt, sondern ihm irgendwie vorausgeht. Cassirer hat be-merkt, dass das nicht heißen kann, dass Bedeutung schon da wäre – wie nochin Husserls früher Eidetik der Bedeutungen –, sondern, dass sie sich in dem»Zusammen« von Sinnlichkeit und Bedeutungsintention ereignet. Entspre-chend erschafft der Ausdruck überhaupt erst bestimmte Bedeutungskomplexeund schon die bloße Reproduktion des Sprachzeichens (als Repräsentationvon Sinn) im Sprechen ist ein Akt sprachlicher Produktivität. Damit die »ei-gentümliche Leistung« des Symbols zum Tragen kommen kann, muss derSchein der Identität zwischen Wirklichkeit und Symbol aufgehoben sein, sodass eine »Distanz vom unmittelbaren Dasein« eingenommen werden kann:»Auch die Sprache beginnt daher erst dort, wo das unmittelbare Verhältniszum sinnlichen Eindruck und zum sinnlichen Affekt aufhört«68.

(3) Repräsentation: Im Unterschied zu Anzeichen oder Signalen könnenSymbole »kein der Anwesenheit seines Gegenstandes angemessenes Verhal-ten«69 hervorrufen. Sie sind »nicht Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondernVehikel für die Vorstellung von Gegenständen«.70 Das Symbol ermöglichtein Festhalten am Objekt, ohne dieses Objekt zu haben. Das gilt vor allemauch für naturwissenschaftliche Sprachvermittlung: Nichts in der Natur siehtdem (in sich geschlossenen) physikalisch-mathematischen Symbolsystem derPhysik ähnlich und dennoch darf es beanspruchen, ein Bild – nicht Abbild –der Natur zu geben. Auch chemische Formeln wie H2O haben nichts mit derdirekten Beobachtung des so bezeichneten Stoffes gemein.71 Daher werdenwissenschaftliche Probleme in der Regel nicht dann gelöst oder beherrschbar,wenn neue Phänomene ermittelt, sondern neue symbolische Ausdrücke undverbesserte Beschreibungssprachen gefunden werden.

Diese Aufklärung hat allerdings ihre eigene Dialektik: »Je weiter wir aufdas Symbolische, auf das bloß Signifikative fortschreiten, um so mehr trennenwir uns vom Urgrund der reinen Intuition«.72 Anders gesagt: Die Sekundaritätder Symbole gegenüber den Erfahrungsgegenständen wird so sehr zu einemErsten, dass vorsymbolische Erfahrungen immer weiter zurücktreten. DasParadies reiner Unmittelbarkeit verschließt sich, Symbole übernehmen un-aufhaltsam die Ordnung des »Chaos der unmittelbaren Eindrücke«.73 DieserZusammenhang lässt den bis heute gebräuchlichen Begriff der Repräsentationzugleich prekär werden; er kann nur eine Vergegenwärtigung meinen, dieohne jede Vorstellung eines Eigentlichen, das da repräsentiert würde, auskom-

68 Ebd., 136.69 Langer, Philosophie auf neuem Wege, 68.70 Ebd., 59.71 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Die Sprache, in: ECW 11, 15.72 Ebd., 47.73 Ebd., 39.

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men muss. Repräsentation meint nicht die Vergegenwärtigung von Objektenund Gegenständen, sondern von Bedeutungen. Auch hier herrscht zwischenRepräsentans und Repräsentandum ein absoluter Unterschied; ihr Verhältnisberuht auf dem sprachlichen Grundprinzip der Differenz.

Nun impliziert die Symbolizität des Erkennens und Wissens, dass symboli-sche Zeichen immer auch anders interpretiert werden, dass wir den Gebrauchunserer Symbolsysteme, mithin auch zwischen ihnen, wählen können. Nurals animal symbolicum ist der Mensch das »nicht-festgestellte Tier«.74 DieMöglichkeit der Interpretationsvarianz erweist sich allerdings als abhängignicht schon von Referenz und Repräsentation, sondern von einer bestimm-ten Art ihrer Referenz. Zu unterscheiden ist zwischen situationsgebundenenund situationsunabhängigen Repräsentationen: Situationsgebundene Zeichen(cued representations) repräsentieren etwas, das in einer Situation tatsächlichanwesend ist oder das durch etwas anderes in dieser unmittelbaren Situationausgelöst (triggered) wird.75 Allein die Situation legt die Art der Reaktionfest, die stets eine andere wäre, würde das wahrgenommene Objekt als Fress-oder aber als Paarungsobjekt kategorisiert. Demgegenüber stehen situations-unabhängige Repräsentationen (detached representations) für Gegenständeoder Ereignisse, die weder anwesend noch durch eine unmittelbare Situationausgelöst sind.

Keineswegs kann damit eine einfache Demarkationslinie zwischen mensch-licher und animalischer Kommunikation gezogen werden. Denn so wie auchmenschliche Kommunikation eine Vielzahl von non-, prä- oder parasymboli-schen Anzeichen einschließt, verfügen Primaten (etwa im Suchverhalten) überausgeklügelte Formen situationsunabhängiger Repräsentationen, kognitiv-sensomotorischer Schemata und »spatial maps«.76 Es empfiehlt sich, Stufender Situationsunabhängigkeit zu unterscheiden, deren zunehmender Gradauf stets reichere, instinktunabhängige Innenwelten schließen lässt – Welten,die sich ab einem bestimmten Punkt nur noch in symbolischen Sprachenbewältigen und ausdrücken lassen. Sobald Reaktionen nicht mehr von derUnmittelbarkeit einer Außenwelt regiert werden, sondern von Rückblicken,reflektierten Erfahrungen und Antizipationen, nimmt nicht einfach die Mengean Zeichen zu (Quantität), sondern ihre Komplexität (Qualität). SymbolischeSprachen vereinen nicht ein Maximum, sondern ein Optimum von Ausdrucks-möglichkeiten. Symbole ermöglichen mit ihrer Situationsunabhängigkeit al-lererst Reflexivität. Wenngleich der Hund zeigen kann, dass er ärgerlich ist,

74 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: KGA VI/2,79.

75 P. Gärdenfors, The Dynamics of Thought, Dordrecht et al. 2005, 227–228.76 Vgl. A. M. Leslie, Pretense and Representation: The origins of ‚theory of mind‘, in: Psycholo-

gical Review 94 (1987), 412–426.

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kann er nicht zeigen, dass er es gestern war.77 Signalsprachen eignet deshalbdie Form des Imperativs.78 Die sich davon radikal unterscheidenden Formenund Funktionen symbolischer Reflexivität gründen in der Koevolution vonzunehmend symbolisch werdender Repräsentation und zunehmender Weiteder geistigen Innenwelt des Menschen.79

(4) Referentialität: Normale Sprachen kennzeichnet, dass ihre Symbolein keiner Kausal- oder Ähnlichkeitsbeziehung zum Repräsentierten stehen.Symbolische Zeichen sind unmittelbare (sinnlich gegenwärtige) Vermittlung(als Bedeutungen bzw. Begriffe) von Vermitteltem und Unmittelbarem (d.h.von Irrealem, Antizipierten oder Situationen, Ereignissen, Sachen). Dabeimacht der Koordinationsbedarf an Bedeutungen eine frugale Ökonomie gram-matischer Verknüpfungen notwendig. Syntax entsteht durch die Koordinationgroßer Mengen von Semantik, die sie zugleich komprimiert.80 SyntaktischeStrukturen wirken deshalb wiederum auf die Situationsunabhängigkeit sym-bolischer Sprache(n) zurück.

Symbole beziehen sich folglich nicht direkt auf Gegenstände der äußerenWelt, sondern auf erlernte Bedeutungen. Die differentia specifica zwischensprachvermögenden Spezies ist also nicht schon der Unterschied zwischenreferentiellen und nichtreferentiellen Arten der Kommunikation, sondern fälltin den Bereich referentieller Zeichen selbst.81 Es ist der Unterschied zwischendirekten, transparenten semantischen Beziehungen und indirekten, opakenReferenzen, wie sie nur Symbolsysteme auszeichnen. Nur die symbolischeSprache lässt einen hinreichend großen Spielraum zwischen dem – in FregesTerminologie – Sinn und der Bedeutung, zwischen der Intension und derExtension von Begriffen.

Symbolische Referenz impliziert eine nicht einfach nur zufällige, sondernstrukturelle Abwesenheit des Referenten: Es ist notwendig, dass das Reprä-sentierte immer auch abwesend sein kann. Derrida82 hat daher (im Anschlussan Edmund Husserls Logische Untersuchungen) das Moment der Abwesenheitals die eigentliche Struktur des Zeichens bestimmt, so dass es durchaus sym-bolische Referenz ohne Referenten, sogar ohne bestimmte Signifikate gebenkann.

77 Vgl. S. Sjörlander, Some Cognitive Breakthroughs in the Evolution of Cognition andConsciousness, in: Evolution and Cognition 3 (1993), 1–10.

78 Vgl. E. v. Glasersfeld, Linguistic Communication: Theory and Definition, in: LanguageLearning by Chimpanzee: The LANA project, hrsg. von D. M. Rumbaugh, New York 1977,55–71.

79 Gärdenfors, How Homo Became Sapiens. On the Evolution of Thinking, Oxford 2003, 177.80 Vgl. P. T. Schoenemann, Syntax as an Emergent Charateristic of the Evolution of Semantic

Complexity, in: Minds and Machines 9 (1999), 309–346.81 Deacon, The Symbolic Species, 59.82 Derrida, Marges de la philosophie, 379–380.

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4. Symbolische Reflexion (2): Die Multiperspektivität der Sprache

(5) Multiperspektivität: Für den ontogenetischen Spracherwerb spielt die Be-herrschung der Varianz und Perspektivität symbolischer Zeichen die ver-mutlich entscheidende Rolle. Empraktisch üben Kinder in Situationen ge-meinsamer Aufmerksamkeit mit Erwachsenen das Verständnis nichtlinearerBedeutungsreferenz ein: Das zu erlernende Symbol hat keine eindimensionaleFunktion, sondern zumeist mehrere Aspekte. 15 bis 18 Monate alte Kinderlernen folglich mit der Schwierigkeit umzugehen, dass ein »Gegenstand [. . . ]zugleich eine Rose, eine Blume und ein Geschenk«83 sein kann. Die Vorausset-zungen des Symbolgebrauchs liegen (a) in der Intersubjektivität von Zeichen,d.h. dass sie Ausdruck einer gemeinsamen (Wir-)Intentionalität (shared inten-tionality) sind sowie (b) in ihrer Perspektivität, d.h. insofern jedes Symbol einebesondere Sichtweise eines bestimmten Phänomens darstellt.

Wir-Intentionalität wird erzeugt durch gemeinsame Aufmerksamkeit aufkollaborative Tätigkeiten.84 Diese Aufmerksamkeit impliziert, wie schondas Intentionalitätsschema von Grice,85 zugleich ein Metabewusstsein vondem gemeinsamen Wissen um diese geteilte Aufmerksamkeit: »Ich weiß, dassdu weißt, dass ich weiß, dass wir gemeinsam einen Turm bauen wollen«.86

Empirische und experimentelle Studien, die Situationen gemeinsamer Auf-merksamkeit (joint attentional scenes) auswerten, untermauern die These,dass symbolische Repräsentation, dass spezifisch linguistischer Referenzbezugin soziale Handlungen eingebettet ist, aus denen er erlernt wird. Dabei istdie Umkehrung von Handlungsrollen ein entscheidender Faktor. Offenbarerfordert der Ausdruck der eigenen Intentionalität bei Kleinkindern einepotenzielle Rollenvertauschung auf Seiten des Kindes. Das Kind wird in dieLage gebracht, eine Du-Perspektive einzunehmen, um an dem Ensemble derHandlungen, Gesichtszüge, Gesten und sprachlichen Aufforderungen desErwachsenen abzu»lesen«, worin die gemeinsame Tätigkeit bestehen soll oderkönnte.87 So ergibt sich als Grundmodell des Verständnisses kommunikativerIntentionalität: You intend for [me to share attention to X].88

83 M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt/M. 2006,140.

84 M. Tomasello und M. Carpenter, Shared Intentionality, in: Developmental Science 10 (2007),121.

85 Vgl. H. P. Grice, Utterer’s Meaning and Intentions, in: The Philosophical Review 78 (1969),147–177.

86 M. Greffrath, Das Tier, das »Wir« sagt. Michael Tomasello sucht nach der Einzigartigkeitdes Menschen und findet sie in dessen Kooperationsbereitschaft, in: Die Zeit 16 (2009), 33.

87 Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 127.88 Ebd., 135.

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Entscheidend scheint, dass sich die erwachende Selbstrepräsentation desKindes nicht nur über die Wahrnehmung der Reaktion des Erwachsenen aufes, sondern vor allem durch die Repräsentation einer immer schon gemein-samen Wir-Einstellung herstellt – und damit eine ältere Einsicht modernerSozialphänomenologie empirisch verfeinert, die gezeigt hat, dass es der durchden Spiegel einer Intersubjektivität gebrochene Blick des Anderen ist, derunser Selbstsein bestimmt.89 Rückschlüsse erlauben solche Erkenntnisse auchauf die Konstitution des Selbstbewusstseins, in welcher »you-awareness«90

und »we-awareness« unserer »self-awareness« immer schon vorgängig sind.Denn in der Multiperspektivität dieser Einstellungen spiegelt sich die Mul-tiperspektivität symbolischer Sprache. Hier wie dort haben die Intentionenbzw. Bedeutungen keinen eindeutigen, sondern schwankenden Referenzbezug,kraft dessen dieselbe Person ein Du, Wir oder Ich bzw. derselbe Gegenstandzugleich Blume, Rose und Geschenk sein kann.

(6) Äquipotentialität: Die negativen Bestimmungen der Situationsunab-hängigkeit, Abwesenheit und Distanz lassen sich indes auch in positivenAttributen reformulieren: als Möglichkeit zur freien Anpassung an virtuelljede Situation. Die Abwesenheit eindeutiger Referenz ermöglicht stets neueAdaptionen an veränderte Situationen: »The extraordinary evolutionary ad-vantage of language lies in its amazing ability to be put to use in any situation.We will call this crucial proberty of language ›equipotentiality‹. For any si-tuation, real or imaginary, there is always a way to use language to expressthoughts about that situation.«91 Damit ist nicht gemeint, dass wir uns nichtsprachlos ein Brot schmieren oder unsere Tasche packen könnten, sonderndass jede geistige Einstellung und Reflexion dieser Tätigkeiten sprachlicherNatur oder am besten sprachlich möglich ist.

Äquipotentialität entspringt der symbolischen Reflexivität natürlicherSprachen nicht einfach von selbst, sondern erst der allerdings nur in ihnenangelegten Möglichkeit, die eigenen propositionalen Einstellungen durch diegrundsätzlich imaginierbaren propositionalen Einstellungen anderer »zur Dis-position stellen zu können«.92 Die Äquipotentialität der Sprache beruht aufeiner tertiären Intentionalität von Selbstkorrekturen: Wir erkennen Absichten»hinter [. . . ] Äußerung[en]«,93 indem wir uns so verhalten, wie ein Andererintendiert, weil wir interpretierend zu verstehen meinen, was der andere alsetwas Bestimmtes intendiert. Hierzu werden auch die grammatischen Möglich-

89 Vgl. M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965.90 Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, 177; 233.91 G. Fauconnier und M. Turner, The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s

Hidden Complexities, New York 2002, 179.92 Seel, Sich bestimmen lassen, 152.93 Grice, Intendieren, Meinen, Bedeuten, in: Handlung, Kommunikation, Bedeutung, hrsg. von

G. Meggle, Frankfurt/M. 1979, 7.

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keiten der Bedeutungskompression genutzt,94 die in symbolischen Sprachenallerdings einer Wechselwirkung unterstehen: Äquipotentialität setzt Syntax,diese wiederum symbolische Multiperspektivität und Äquipotentialität vor-aus, über die wir nicht schon als individuelle, sondern erst als kulturelle, aufgemeinsame Überlieferungen zurückgreifende Wesen verfügen. Weil Multiper-spektivität und Äquipotentialität conditiones sine quibus non der symbolischenReflexion der Sprache sind, ist keine der existierenden Normalsprache »vonvornherein ungeeignet, die komplexesten Ideen auszudrücken«.95

Äquipotentialität beruht auf der eigentümlichen Synthesisleistung symbo-lischer Reflexion. Vermöge der Kopplung von Sprache und Vorstellungskraftbeziehen wir im Geist problemlos und natürlich verschiedene semantischeFelder oder kognitive Schemata aufeinander, um daraus neue zu bilden (con-ceptual blending).96 Begriffliche Synthesis ist Produkt einer Wechselwirkungzwischen Sprache und Imagination, deren eigentümliche »feedback-Schleife«97

darin besteht, dass das animal symbolicum mit vorgefundenen symbolischenOrdnungen neue Dimensionen von Vorstellung und Wirklichkeit erschließt,welche auf die symbolische Ordnung selbst verändernd zurückwirken, waswiederum zu neuen Erkenntnisdimensionen führen kann, die nur in einerveränderten symbolischen Ordnung zu begreifen wären usw.

(7) Symbolprägnanz: Gegen naive Auffassungen des in der Sprache zumAusdruck kommenden Verhältnisses von Repräsentierendem und Repräsen-tiertem haben Cassirer und Goodman argumentiert, dass die Beziehung ingewisser Weise immer schon vor den Bezogenen da ist: in Form unterschied-licher Symbolsysteme. Dabei versteht Cassirer unter symbolischer Prägnanzjenen Zusammenhang von Sinn und Sinnlichkeit, der aus der Konkretion sinn-licher Erlebnisse Bedeutung entspringen lässt, ohne dass dessen Sinnerzeugungdurch einen nachträglichen, »aufgepfropften« apperzeptiven Akt entstünde.In einer solchen »symbolischen Ideation«98 wird Gegebenes prägnant, »sofernin ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher Form sichäußert«.99 Alles Sinnerfassen hat einen »Richtungscharakter«,100 der subjektivvon der Zeitform des Bewusstseins und objektiv durch die Symbolsystemebestimmt ist, in denen das Erlebnis aufgenommen wird. Die symbolische Ord-nung ermöglicht, das Gegebene als Etwas, als Ausdruck und Bedeutung, zu

94 Fauconnier/Turner, The Way We Think, 183; 189.95 G. Deutscher, Im Spiegel der Sprache. München 2010, 10.96 Vgl. Fauconnier/Turner, The Way We Think, 39–57.97 V. Flusser, Standpunkte, Göttingen 1998, 77.98 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, in: ECW 13, 155.99 Ebd., 450.100 Ebd., 235.

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erfassen.101 Cassirer gibt das bekannte Beispiel verschiedener Linienzüge, dieals Wahrnehmungserlebnis zunächst bloße Gestalt sind, sichtbar und konkret.Während man aber das Auf und Ab einer solchen Kontur verfolgt, »beginntplötzlich der Linienzug sich als Ganzes von innen her zu beleben. Das räum-liche Gebilde wird zum ästhetischen Gebilde«.102 Mit ihm verknüpft sich»Bedeutsamkeit«, die gleichwohl perspektivisch bleibt. Während der eine denStil einer bestimmten Epoche erkennt, fasst ein anderer den Linienzug als Re-präsentanten eines Sinuskurvenverlaufs oder als »Gesetz für eine periodischeSchwingung«103 auf. Erscheint dasselbe sinnliche Grunderlebnis durch dreiverschiedene symbolische Grundordnungen (ästhetischer, mathematischerund physikalischer Natur) gefiltert, so zeigt sich, dass keine Perspektive an sichselbst schon die richtige und damit zu privilegierende ist, sondern Bedeutungnur als Bedeutungszusammenhang entsteht.

Angesichts der geschilderten Zusammenhänge zwingt die Art der philoso-phischen Probleme ebenso sehr dazu, die Analyse symbolischer Ordnungenals Kulturphilosophie wie auch umgekehrt: die Kulturphilosophie als Sprach-philosophie fortzusetzen; und zwar als eine Philosophie erfahrungskonstituti-ver Ausdruckssysteme.104 So lassen sich symbolische Ordnungen bestimmenals geschichtlich gewordene, offene Systeme variabler Zeichen, die nicht aufeindeutiger, sondern auf multiperspektivischer und äquipotentialer symbo-lischer Repräsentation beruhen und sich durch eigene Techniken in ihremBestand erweitern und verändern können. Durch sie gewinnt das Abstrak-tum ‚Sprache’ konkrete Gestalt in den Sprachen, welche nicht bloß in ihrerDarstellungs- und Kommunikations-, sondern vor allem in ihrer Ausdrucks-und Imaginationsfunktion bedeutsam sind. Daher scheinen diejenigen sym-bolischen Ordnungen dem menschlichen Geist und seiner Vorstellungskraftgemäß, die mit einer übersichtlichen Menge an Zeichen ein Maximum anFlexibilität und Variabilität sowie ein Optimum an Ausdrucksmöglichkeitenerreichen, mit denen sich andere oder neue symbolische Ordnungen schaffenlassen. Diese Formen manifestieren sich im kulturellen Gedächtnis allerdingsnicht rein sprachlich, sondern bedürfen der materiellen105 bzw. technischen106

Speicher- und Trägermedien.(8) Sedimentation: Symbolsysteme prägen die kulturellen und kognitiven

Schemata, die individuell bereits im frühkindlichen Spracherwerb verankert

101 Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie (1927), in:ECW 17, 254.

102 Ebd., 257.103 Ebd., 258.104 Vgl. N. Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978.105 Vgl. H. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München

2002.106 Vgl. B. Stiegler, Technik und Zeit. Der Fehler des Epimetheus, Zürich/Berlin 2009.

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werden. In dieser Weise ist Sprache kulturelle Tatsache, Kultur »sedimen-tierte Sprache«;107 und auch in dieser Weise zitieren linguistisch-symbolischeZeichen, als Wörter bzw. Begriffe, stets ganze Kultur- und Bildungswelten un-seres kollektiven semantischen Gedächtnisses: »Consequently, when the childlearns the conventional use of these well-traveled symbols, what she is learningis the ways that her forebears in the culture have found it useful to manipulatethe attention of others in the past«108 Als Formen, die Hegel wohl Gestaltendes objektiven Geistes genannt hätte, gehen die natürlichen Sprachen immerschon jenen Individuen voraus, die in ihnen und dank ihrer sprechen, aberSprachen dadurch auch erst lebendig machen.109 Symbolische Ordnungenrepräsentieren »Weltansichten«, die einer nicht immer klar zu bestimmendenoder intentional-bewusst gesteuerten Wir-Intentionalität entstammen.

Merleau-Ponty hat seine Theorie sedimentierter Bedeutungen auf der leib-gebundenen Gebärdenhandlung des Zeigens zu gründen gesucht. Die Paralle-lität im Verhältnis von parole und geste lässt sich zunächst an dem Umstandaufzeigen, dass das Sprechen im selben Maße von dem differiert, was es aus-drücken soll, wie die Geste von dem Objekt, auf das sie zeigt. Ein solcheskörperliches Zielen (visée corporelle), ein solches Streben auf die Umgebungverlangt nach keiner Thematisierung – wir tun es einfach. Denn in der Re-gel werden Gesten nicht erst mental repräsentiert, bevor wir sie ausführen;es gibt, wird zeitgleich Ryle sagen,110 keine Sekundarität von Überlegung(considering) und Ausführung (executing). So belebt auch die Bedeutung dasSprechen nicht anders als »par une sourde (stimmlose, taube, unbestimmte)présence qui éveille mes intentions sans se déployer devant elles«111 – durcheine stumme Anwesenheit, die meine Intentionen weckt, ohne sich ganz vorihnen auszustellen.

Merleau-Ponty führt dies zu der These, dass die Bedeutung selbst im Spre-chen stumm bleibe: Es ist der Signifikant als Akustem, Graphem oder Kinem,der tönt oder sich zeigt, nicht das Signifikat und die Signifikation. Erst diese ingewisser Weise abwesende Anwesenheit der Bedeutung weckt die Bedeutungs-intentionen der Sprechenden – nicht umgekehrt. Die Intentionalität geht derBedeutung oder Bedeutungsäußerung nicht voraus, vielmehr setzen sich beidewechselseitig voraus: Intention ist nur, wenn Bedeutung da ist; umgekehrtbedarf die Bedeutung der Intention, um über etwas zu sein – weshalb Intentio-nalität hier sowohl aboutness als auch Absicht meinen kann. Wenn aber nicht

107 Merleau-Ponty, Signes, 145.108 Tomasello, The Cultural Origins of Human Cognition, Cambridge/Mass. 1999, 126.109 Vgl. D. Westerkamp, Sprache, objektiver Geist und kulturelles Gedächtnis, in: Zeitschrift für

Kulturphilosophie 2 (2008), 279–304.110 G. Ryle, The Concept of Mind (1949), London 2000, 29.111 Merleau-Ponty, Signes, 145.

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die Absicht das erste ist, sondern eine unbestimmte Anwesenheit (Signifikatesind notwendig immer auch unbestimmt, um überhaupt eine symbolische Be-ziehung zu Gegenständen und Sachverhalten unterhalten zu können), dann istSprechen auch nicht reine Ausführung einer geplanten, mental vorbereitetenÄußerung, sondern: Ereignis. Daher ist die Bedeutungsintention (intentionsignifikative) stets instantan: sur le moment; ebenso wie deren Entschlüsselungbeim Hörenden.

Mit dieser Überlegung erreicht Merleau-Ponty den entscheidenden syste-matischen Punkt, der Derridas Idee der différance zugleich antizipiert, umsich von ihr dennoch toto coelo zu unterscheiden: Zwar gemahnt die »determi-nierte Leere« (vide déterminé) im Bedeutungsprozess, die später gedanklichrekonstruiert werden können soll und doch eine bestimmte Unbestimmtheitbleibt, an Derridas Charakterisierung eines ursprungslosen Ursprungs derDifferenzen. Und auch bei Merleau-Ponty ist das, was Bedeutung verleiht,in ihr selbst nicht anwesend, sichtbar oder hörbar; ihnen korrespondiertkein Gegenstand in der Erfahrung, vielmehr sind sie als Polen einer »certainnombre d’actes d’expression convergents« zu verstehen, die den Discours »ma-gnetisieren«, ohne selbst anwesend zu sein.112 Doch verharrt Merleau-PontysÜberlegung noch ganz im Horizont einer leibphänomenologischen Analyseder Realpräsenz des Sprechens und der Sprechenden; sie bleibt im Kreis dessen,was Derrida wenige Jahre später als Phonologismus kritisieren wird.

Für Merleau-Ponty ist dieser Zusammenhang deshalb so wichtig, weil ihmdie Abwesenheit und Nichtverausgabung der Bedeutung im konkreten Sprech-akt zum Grund dafür wird, daß Bedeutung stets über das, was gesagt werdenwollte, hinausgeht und das Gesagte hinter ihr zurückzubleiben scheint. JederAusdruck erscheint stets unvollständig, sein Sinn nicht restlos auszuschöpfen.Seltsamerweise widerspricht dies, wie Merleau-Ponty eindrücklich zeigt, zu-gleich einer anderen Erfahrung, die wir alltäglich mit der Sprache machen:die Erfahrung, dass sprachliche Ausdrücke niemals vollkommen unverständ-lich sind. Anders könnten wir keine isolierten oder verkürzten Äußerungenverstehen, deren Sinn sich auch scheinbar kontextlos erschließt, indem dieSprache wie von selbst den Kontext blind ergänzt.

»Unterverständnis«, sous-entendue, nennt Merleau-Ponty ein subkutanesVor- oder Immer-schon-Verstehen, wodurch in jeder parole das Ganze der Spra-che unthematisch und stillschweigend schon enthalten scheint. Äußerungenhaben einen Sinn, der sich durch eine subkutane Realisierung und Aktua-lisierung des Ganzen einer Sprache herstellt. Das spitzt den Gedanken aufeinen äußersten Gegensatz zu: Die Parole ist nur im lebendigen, präreflexivenVollzug; aber sie kann nur bedeuten kraft eines unthematischen sous-entendue,

112 Ebd, 145.

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das ihr – als Sprache – stets vorausgeht. Dies zwingt uns, eine »Grundtatsachedes Ausdrucks« anzuerkennen: Wir müssen ein Überschreiten des signifiantdurch das signifié unterstellen, welches schon im Vermögen des signifiant selbstliegt. Zuweilen wissen wir erst dann, was wir sagen oder nicht sagen wollten,wenn es ausgesprochen wurde. Die Bedeutungsintention sucht zunächst ineinem »System verfügbarer Bedeutungen«, nach einem angemessenen Leibund sprachlichem Äquivalent: Es gibt keine Bedeutung (sens; vouloir-dire)außerhalb des Sprechens (und der Sprechakte) und doch wird Bedeutung nichtrestlos durch Sprache erzeugt und beherrscht.113

Inkarniert wird in der Bedeutungsäußerung zuletzt nichts anderes als ei-ne Bedeutungsintentionsleerstelle, die im Vollzug des Sprechakts erfolgreichüberdeckt wird. Während zuvor der semantische Überschuss der Äußerunggegenüber der Bedeutungsintention (als ein Verfehlen der Intention oder Über-bestimmtheit der Äußerung) betont war, so kann man jetzt zeigen, dass sichin jedem Sprechakt umgekehrt auch das Übertreffen der Intention durch dieÄußerung ereignen kann (Unterbestimmtheit der Intention). Wir bedienen unsunserer Sprachkultur in all ihren bedeutungstragenden Formen und findenaus ihnen für die jeweilige Bedeutungsintention ein stets neues »Arrangement«.Dadurch haben wir an den sedimentierten Bedeutungen unserer Sprachge-meinschaft teil und bringen diese Sprache dennoch dazu, noch Ungesagtes zusagen, Unerzähltes aufzuspüren. Merleau-Pontys Kollektivismus verbindetsich in dieser Bedeutungstheorie zugleich mit einem Individualitätspathos:Jedem Individuum ist es möglich, mit Condillac gesagt, ein genie du langage zusein.114 An dieser Sprachtheorie lassen sich für unseren Kontext zwei entschei-dende sprachpragmatische Einsichten ableiten: im sous-entendue kommt diesymbolische Reflexivität der Sprache zum Vorschein; in der Sedimentationdie Form der Sprache als kulturelles semantisches Gedächtnis.

4. Sprache und kulturelle Tatsachen

Kulturphilosophie findet ihre Aufgabe in der theoretischen Reflexion kulturel-ler Tatsachen.115 Doch ihr wird Sprache nicht nur als kulturelles Gedächtniszum Thema und Medium. Vielmehr bedient sich Kulturphilosophie derSprachanalyse (sowohl der Historischen Semantik als auch der systematischenBegriffsklärung), um einer angemessenen Bestimmung ihres Gegenstandeswillen: dem ständig neu sich anordnenden Ensemble kultureller Tatsachen.Mit Georg Simmel werden »materielle Kulturgüter« wie Möbel und Kultur-

113 Merleau-Ponty, Signes, 134–135.114 Condillac, Essai sur les connaissances humaines II, 1, 15, § 143.115 Vgl. R. Konersmann, Kulturelle Tatsachen, Frankfurt/M. 2006.

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pflanzen, Kunstwerke und Maschinen, Geräte und Bücher ebenso »kulturelleTatsachen« genannt wie jene objektiven Kulturformen, in denen das Selbstver-hältnis des Menschen Gestalt gewinnt: Sprache, Sitte, Religion, Recht.116

Diese Nomenklatur wirft allerdings zwei gravierende Probleme auf: Zumeinen die Frage, mit welchem Recht bei kulturellen Sachverhalten überhauptvon Faktizität gesprochen werden kann, weil beide Formen Wirklichkeitsbe-reiche konstituieren, die es offenbar nur gibt, weil wir kollektiv annehmen,dass es sie gibt;117 deren Gegenstände nur existieren, weil sie als bestehendeSachverhalte rezipiert werden, und von denen man sich fragen kann, ob sievor ihrer Rezeption überhaupt bestanden haben. Zum anderen die Frage, obdas Verständnis kultureller Tatsachen vereinbar ist mit der überwiegend pro-positionalistischen Lesart des Tatsachenbegriffs. Die Analyse zeigt, dass dieBeantwortung der zweiten Frage auf die der ersten zurückwirkt und eineTheorie der Sprachlichkeit kultureller Tatsachen fordert.

Zwar geht die analytische-propositionalistische Lesart davon aus, dass de-skriptive Sätze Sachverhalte darstellen und wahre Sätze als Repräsentantenbestehender Sachverhalte, also Tatsachen, zu betrachten sind: »Wer überhauptvon einer Tatsache spricht oder auf sie hinweisen will, der muß selbst einenSatz schon formulieren, der diese Tatsache ausspricht«.118 Aber auch die pro-positionalistische Lesart unterscheidet sehr wohl zwischen der Formulierungdes Faktums selbst und den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eindie Tatsachen repräsentierender Satz wahr ist. Dass jeder Mensch sterblich ist,darf als eine Grundtatsache menschlicher Existenz gelten. Zugleich ist es einFaktum, das auch ohne seine Artikulation bestanden hätte, deren Formulie-rung auch hätte aufgeschoben werden können.119 Anders gesagt: Das, woraufsich die Tatsache bezieht, kann auch unabhängig von seiner sprachlichenFormulierung bestehen. Daher ist zwischen grundsätzlich sprachabhängigenTatsachen und den mithin sprachunabhängigen Umständen zu differenzieren,auf die sich Tatsachen beziehen, um Tatsachen zu sein. Faktizität hat folglicheinen Doppelcharakter, der Dinge umfasst, die vorfallen (= Ereignisse, Erleb-nisse, Situationen) und Dinge, die wahr sind (= zutreffende Sachverhalte).120

Dieses verwirrende Doppelgesicht unseres Tatsachenverständnisses ist nunnicht etwa ein terminologisches Ärgernis, sondern als Explikationsgewinn zuverstehen, der die »Logik« kultureller Tatsachen erschließt.

Denn anders als in der Metaphysik und Scholastik die data, sind in derwissenschaftlichen Moderne Fakten nicht mehr geber-, sondern beobachter-

116 G. Simmel, Philosophie des Geldes, in: GA 6, 618.117 Vgl. Searle, The Construction of Social Reality, New York 1995.118 Patzig, Satz und Tatsache, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Göttingen 1996, 12.119 Ebd., 15.120 Ebd., 19.

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abhängig. Daten bedürfen der Interpretation, um Tatsachen zu sein, weiles für den Sinn empirischer Daten so gut wie unerheblich ist, auf welchenGeber sie zurückweisen; unabdingbar hingegen der Beobachter, der sie deutet.Daher ist zwischen dem, worüber bzw. wovon etwas ausgesagt wird, und demWas der Aussage selbst zu unterscheiden.121 Wovon oder worüber man etwasaussagt, sind Erfahrungsgegenstände; was behauptet wird, ist dagegen einSachverhalt, der besteht oder nicht besteht. Bestehende Sachverhalte werdenTatsachen genannt. Deshalb lassen sich Tatsachen nicht erfahren und Erfah-rungen nicht behaupten.122 Und so, wie die sprachabhängigen Tatsachen vonden Erfahrungsgegenständen (die immer Gegenstände möglicher Erfahrungsind) zu trennen sind, ist der Anspruch auf Objektivität von diskursivenGeltungsansprüchen zu unterscheiden.

Obwohl Tatsachen Objektivität beanspruchen, haben sie nicht den Cha-rakter sinnlichen oder gegenständlichen »Gegebenseins«; sonst wären sie Er-fahrungsgegenstände. Solche Unterscheidung berücksichtigt die Differenzvon beobachterunabhängigen und beobachterabhängigen sozialen Tatsachen(brute facts vs. social oder institutional facts).123 Während erstere grundsätzlichnicht von menschlichen Einstellungen abzuhängen scheinen (Kraft, Masse,Atome) und vermeintlich vorsprachliche Gegenstände der Naturwissenschaftsind,124 hängen letztere (Geld, Cocktailpartys, Regierungen) von sozialen Be-wertungen ab und sind Gegenstand der Kultur- und Sozialwissenschaften.125

Auch hier gilt, dass reine Tatsachen (brute facts) unabhängig von Sprache zuexistieren scheinen, es allerdings der Sprache bedarf, um sie als Sachverhaltefür uns zu Tatsachen zu machen. Es ist begrifflich unmöglich, einen Gedan-ken wie »Heute ist Dienstag, der 30. November 2020« sprachunabhängigzu denken, weil es auf ein verbal-sprachliches Ordnungsystem der Identifi-zierung von Tagen verweist, das es außersprachlich nicht gibt.126 Gedankenwie »Deine Gewinnchance verhält sich zu deinen Verlustchancen wie eins zutausend«127 oder »Der Mittelstürmer erzielte seinen dritten Treffer« lassensich nicht sprachunabhängig denken, weil sie sich linguistischer Ausdrückebedienen, die keine direkte Referenz haben – es gibt nichts zu sehen, was einendritten Treffer bildlich indizieren könnte. Es gibt keine »Treffer« oder so etwaswie ein »drittes Tor« als Referenzobjekte; und die symbolische Reflexion der

121 P. F. Strawson, Truth, in: Truth, hrsg. von G. Pitcher, New Jersey 1964, 33.122 Vgl. J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns,

Frankfurt/M. 1984, 135.123 Vgl. Searle, The Construction of Social Reality. New York 1995, 31–57.124 Dies bestreiten B. Latour und S. Wooglar, Laboratory Life. The (Social) Construction of

Scientific Facts, Beverly Hills 1986.125 Searle, Geist. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2006, 14.126 Searle, The Construction of Social Reality, 61.127 Langer, Philosophie auf neuem Wege, 81.

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Sprache ist Repräsentation begrifflicher Sachverhalte und Tatsachen, nichtaber von Erfahrungsgegenständen.

Ähnlich Simmel exemplifiziert Searle diesen Zusammenhang anhand derStatusfunktionen, die ein materielles Stück Papier zum materiell-virtuellenFaktum »Geld« werden lassen. Soziale und kulturelle Faktizität hängt an einerÜbertragung von Funktionen, deren generelle Formel so bestimmt werdenkann: »X gilt für Y in einem Kontext C«.128 Der Schritt von dem Papier-stück X zu der Konvention des Geldes (»gilt für Y«) ist folglich der Schrittüber das Stadium bloßer Faktizität hinaus in eine Sphäre, in der Bedeutungendurch symbolisch-linguistische Systeme festgelegt werden. Diese Bedeutungs-fixierung nennt Searle Übertragung von Statusfunktionen, welche ihrerseitsdurch den jeweiligen sozial kodierten Kontext C festgelegt wird. Indem solcheStatusfunktionen nur mit den konventionell geregelten Symbolisierungender Sprache erfolgen kann, ist der Schritt von den reinen zu den sozialenTatsachen allerdings »eo ipso ein sprachlicher« weil der X-Term nunmehr etwassymbolisiert, was jenseits seiner selbst liegt.129

Das macht soziale Tatsachen zu Formen geteilter und kollektiver Sub-jektivität, die der von Grice beschriebenen Struktur tertiärer Intentionalitätfolgt: »Ich weiß, dass Du glaubst, dass ich glaube, dass dieses Stück Papierein Geldschein ist«. Auch hier spielen Formen kollektiver Intentionalitätfür die Wahrnehmung von Artefakten, Ausdrucksphänomenen oder Bedeu-tungszusammenhängen als kulturelle Tatsachen eine zentrale Rolle. Dabeibedarf es eigentümlicherweise kaum expliziter Vereinbarungen, wohl aberkoordinierter Handlungen, um Formen pluraler Subjektivität zu festigen.130

Dieser Zusammenhang ist wichtig, weil kulturelle Tatsachen stets Produkteeiner pluralen Subjektivität sind. Freilich konstituieren sich plurale Subjektenicht bloß kraft der gemeinsamen Überzeugungen, sie stellen solche Überzeu-gungen auch aktiv her; sie akzeptieren nicht nur geteilte Pläne, sondern regenandere zur Teilung dieser Überzeugungen an. Solche Rückkopplungseffektenennt Margaret Gilbert »derived joint commitment«.131 Dabei müssen nichtalle Mitglieder zu jedem Zeitpunkt genau wissen, als was und wie das pluraleSubjekt handelt: Entscheidend ist allein ein kollektiv geteilter Zweck, der denausgesprochenen oder unausgesprochenen Sprechakt »Wir taten es« stiftet.

Vor diesem Hintergrund wird die alte Bedeutung von Faktizität als En-semble der Tat-Sachen durchsichtig, die komplementär zur propositionalenAuffassung von Faktizität als Gesamtheit der Tat-Sätze steht;132 es ist zugleich

128 Searle, The Construction of Social Reality, 61.129 Ebd., 73.130 Vgl. M. Gilbert, On Social Facts, London et al. 1989.131 Ebd., Kap. IV, ### - ###.132 Wittengenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: WA 1, 11.

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der Hintergrund, der die sprachliche Symbolisierung kultureller Tatsachendeutlich werden lässt. Denn mit Simmel kann man argumentieren, dass kul-turelle Tatsachen zwar generell Artefakte sein können – wie Möbel undKulturpflanzen –, dass sie zu kulturellen Tatsachen aber nur werden kraftder sprachlichen Rezeptionsleistungen einer kulturellen Praxis. KulturelleTatsachen heißen also solche (sozialen) Tatsachen, die den jeweiligen KontextC allererst hervorbringen (und/oder ihm Dauer verleihen), in welchem dannX für Y gelten kann. Diese Metaebene der Poiesis von Tatsachen ist jenerkulturelle Raum, in dem die sprachliche Zuschreibung von Kategorien erfolgt.Entsprechend ist die soziale Tatsache des Treffer-Erzielens beim Ballspiel ein-gebettet in einen kulturellen Erlebnishorizont, in dem ein objektiv sinn- odernutzloses Ballhinterherjagen zu einem selbst signifikanten Referenzobjektwerden kann, das für uns Sinn ergibt, um auch darüber wiederum Aussagenmachen zu können.

Kulturelle Tatsachen entstehen folglich durch sprachliche Rezeptionsleistun-gen bestimmter Phänomene, Artefakte und Ereignisse als kulturelle Tatsachenin Form der Übertragung von Statusfunktionen, die – im Sinn von res facti,des Erschaffens von Tatsachen – dieses Etwas als kulturelle Tatsache setzen.Dies schließt eine mögliche Dinglichkeit dieser Tatsachen ebenso ein wie diesprachliche Artikulation ihrer Geltung. So ist die Sprache selbst eine kultu-relle Tatsache und zugleich Bedingung der Möglichkeit kultureller Faktizitätüberhaupt. Diese Doppelstruktur wohnt der symbolischen Reflexion derSprache auch noch auf ihrer Metaebene inne: Nur dank ihrer Verfassungals symbolische Reflexion können wir über die symbolische Reflexion derSprache selbst sprechen.