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11 10 11 Die weissen Punkte auf diesem Hirnscan können auf eine Krankheit hinweisen, aber auch völlig harmlos sein. In der Fachsprache werden sie deshalb vage «Unidentified Bright Objects» oder «White Spots» genannt. MEINE WEISSEN FLECKEN Aus Angst, an Alzheimer erkrankt zu sein, liess unsere Autorin ihr Gehirn durchleuchten. Wichtiger als der ärztliche Befund war dann eine andere Erkenntnis. von AnuschkA RoshAni Essay

Die weissen Punkte auf diesem Hirnscan können auf eine

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Die weissen Punkte auf diesem Hirnscan können auf eine Krankheit hinweisen, aber auch völlig harmlos sein. In der Fachsprache werden sie deshalb vage «Unidentified Bright Objects» oder «White Spots» genannt.

MEINE W EISSEN FLECK EN

Aus Angst, an Alzheimer erkrankt zu sein, liess unsere Autorin ihr Gehirn durchleuchten. Wichtiger als der ärztliche Befund war dann eine andere Erkenntnis.

von A n uschk A Rosh A ni

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Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man. Wenn das stimmt, müsste

meine Angst, rein rechnerisch be­trachtet, unbedeutend klein, geradezu nichtig ausfallen – wie oft bin ich schon auf Menschen getroffen, die dieselbe Angst plagt. Sogar Ärzte waren dar­unter.

Und ja, insofern stimmt es: Meine Angst gehört nur zu jenen Ängsten, die man «latent» nennt, die wie ein Schwarm Krähen auf einem Ast mei­nes Hirnstammes sitzen, um ab und an plötzlich auseinanderzustieben, sich mit flatternden Flügeln in die Lüfte emporzuschwingen und für wenige Momente die Atmosphäre heftig auf­zuwirbeln. Aber klein? Nein, das ist sie nicht, bloss nicht andauernd merklich.

Trotzdem nutzte ich die Pausen von meiner Angst dazu, mich mit Wis­sen gegen sie zu wappnen. So war es mir zum Beispiel nicht zu blöd, einen befreundeten Neurochirurgen mit meiner Sorge zu belästigen, obwohl ich weiss, wie sehr es Mediziner has­sen, sich privat die Wehwehchen ihrer Bekannten anhören zu müssen.

Aber ich konnte nicht anders; der Gedanke, in meinem Kopf zerfalle et­was, hatte sich schon zu fest in eben­jenen Kopf gekrallt. Wie sehen die ers­ten Anzeichen von Alzheimer aus?, wollte ich herauskriegen, damit ich die Antwort blitzschnell mit meinen Symp­tomen abgleichen konnte – oder dem, was ich für Symptome halte.

Anfangs passierten mir bloss Buch­stabendreher; statt «Lampe» fiel mir etwa «Ampel» aus dem Mund. Inzwi­schen sind es nicht mehr ähnlich klin­gende Wörter, die mir in den Sinn schiessen und die in dem Satz, den ich sagen will, gar nichts zu suchen haben, sondern meist Wörter aus einem ver­wandten Kontext. Statt etwa den Na­men des Kollegen, den ich sagen möch­te, spreche ich den eines anderen aus. Kaum geschehen, wende ich beinahe reflexartig eine Selbstberuhigungs­massnahme an: Ich rede mir ein, dass es erstens ein gutes Zeichen ist, dass mir mein Fehler überhaupt auffällt, und dass zweitens das benannte Ding wohl schlicht in der Nachbarschublade meines Gehirns abgelegt ist. Als wäre mein Gedächtnis ein geräumiger, or­dentlicher Speicher. Aber das hält nicht

lange an, und schon flüstert der Zweifel mir wieder den immer selben Satz zu: Das ist nicht mehr normal.

Als er lauter wurde, vor Jahren schon, ging ich zum Neurologen. Seine erste Frage an mich war, ob ich ausrei­chend und gut schlafen würde. Ich be­jahte, wenngleich die Nächte, die von Stillen und Babygeschrei zerrissen wa­ren, noch der jüngeren Vergangenheit angehörten. Danach machte er einen Test mit mir: Er legte den Finger an sei­ne Armbanduhr und danach an seine Brille, und ich sollte benennen, worauf er zeigte. Fast hätte ich aufgelacht, so albern kam mir das vor; wieso sollte ich so etwas Einfaches nicht können? Insgeheim wunderte ich mich ohne­hin, dass er meine Sorge, ich könne erste Anzeichen von Demenz haben, ernst nahm.

Eine Spezial-HypochondrieLängst nämlich ist mir klar, dass ich eine Hypochonderin bin. Damals beim Arzt aber musste ich einsehen, dass ich zu einer Spezialform von Hypochon­drie neige: dass ich mir die schlimms­ten Krankheiten zwar ausmale, dies aber in der tiefen Überzeugung, kern­gesund zu sein. Und doch ist es weni­ger ein Flirt mit dem Kranksein, der mir irgendeinen sonderbaren Lustge­winn verschafft, sondern wohl eher Ausdruck einer gelegentlich ungesund überschiessenden Fantasie.

Umso überraschter war ich, als ich, frisch aus der Röhre geschoben, erfuhr, auf dem MRI-Bild meines Ge­hirns befänden sich «unspezifische weisse Flecken», die in so grosser Zahl für mein Alter untypisch seien. Sie könnten auf kleinere Hirnschläge hin­weisen, auf multiple Sklerose oder tat­sächlich auf eine frühe Form von De­menz – auf jeden Fall bedürften sie weiterer Abklärungen.

In den zwei Wochen, bis das Er­gebnis der Rückenmarkpunktion vor­liegen sollte – ob ich an MS leide –, lag ich nachts immer wieder wach und fragte mich, was wäre, wenn ich bald zum Pflegefall würde.

Schliesslich war der Befund bezie­hungsweise Nichtbefund da: und mein Aufatmen. Meine Gedächtnisproble­me, die damit allerdings nicht ausge­räumt waren, erklärte sich der Neuro­loge nun mit dem starken Vitamin­B­Mangel, den das Blutbild ergeben

hatte. Er entliess mich mit der Emp­fehlung zu überprüfen, ob es sich nach der Vitaminspritze bessern würde, und machte keinen Hehl daraus, dass mir ausser Selbstbeobachtung nicht viel bleibe, weil man nach wie vor über keine tauglichen Früherkennungs­methoden für Alzheimer verfüge. So oder so riet er mir, das MRI in einem halben Jahr wiederholen zu lassen – würden die weissen Flecken bis dahin nicht zunehmen, gebe es keinen Grund zur Sorge. Dann könne man davon aus­gehen, dass sie bereits pränatal ange­legt gewesen seien.

Was, schon vor meiner Geburt? Ich war – so unbeschwert ich in meinen All­tag hätte zurückkehren können – fas­sungslos: Trotz meiner ständigen «Sy­napsenfehler», wie ich es kokett be­zeichnete, war ich sicher, ein gut funktionierendes Gehirn zu besitzen, das allenfalls in einer ferneren Zukunft seinen Dienst nicht mehr anständig ver­richten würde. Mit einer kleinen Verzö­gerung fiel mir ja das richtige Wort, der richtige Name jedes Mal ein, nur dum­merweise auf Anhieb nicht mehr.

Leider musste ich in der Zeit da­nach feststellen, dass es nicht besser wurde, im Gegenteil. Ich hatte das Ge­fühl, dass mir meine Synapsenfehler an manchen Tagen einige Dutzend Male passierten. Inzwischen durch­querte ich ab und zu ein Zimmer und hatte, am Ende des Raumes angelangt, vergessen, was ich hatte holen wollen. Oder ich machte die Kühlschranktür auf, um etwas hineinzulegen, das in den Abfallkübel gehörte. Oder ich tippte einen Text und schrieb die Buch­staben im ersten Anlauf regelmässig in der falschen Reihenfolge. Einmal starrte ich sogar auf die Bahnhofsuhr und brauchte einen Augenblick, bis ich wusste, ob es Viertel nach oder Viertel vor drei war. Und hatte ich nicht ein halbes Jahr in unserer Wohnung fie­berhaft nach meinem Schmuck ge­fahndet, weil mir mein Versteck vor möglichen Einbrechern partout nicht mehr einfallen wollte? Das ist nicht mehr normal.

Oder war ich bloss fahrig, machte ich generell alles einen Zacken zu schnell, automatisch? Aber mir gingen auch sonst nicht mehr so leicht Dinge in den Kopf wie früher. Musste ich mich, wie der befreundete Neurochi­rurg gesagt hatte, einfach mit der un­

Ohne mich kann ich nicht lebenSie holte mich am Bahnhof ihres Dor­fes im Kanton Schwyz ab, eine hübsche Frau von 57 Jahren, der die Gesundheit ins Gesicht geschrieben schien. Sie be­grüsste mich mit Namen, was mich verblüffte; später erklärte sie mir, sie habe ihn auf dem Weg zum Bahnhof pausenlos vor sich hin gesagt, damit sie ihn auf keinen Fall vergessen würde.

Wie ich erfuhr, war das ihr Pro­gramm, mit ihrer Frühdemenz umzu­gehen: Sie hatte sich ein strenges, von enormer Disziplin zeugendes Alltags­pensum auferlegt, um gegen den Ver­fall anzukämpfen. Sie las Romane auf Französisch und Englisch und versah die Buchseiten mit etlichen Bleistift­anmerkungen zu den auftretenden Fi­guren und Handlungsfäden. Sie absol­vierte täglich zwei Stunden Powerwal­king, dazu Gedächtnistraining, suchte sich zu allem Bilder, um sich etwas bes­ser merken zu können – lauter «Über­lebensstrategien», welche die Zerrüt­tung ihres Gehirns verzögern sollten.

Dabei blieb sie mitleidlos gegen sich selbst: Rita Schwager war ohne jede Illusion, sah ihrer Realität, die un­barmherzig gegen sie gerichtet war, nüchtern ins Auge – und gab doch nicht auf. «Wenn ich Glück habe, bleiben mir noch zwei Jahre, vielleicht drei», sagte sie. «Aber jetzt kommt mir meine viel­leicht grösste Gabe zugute: dass ich nach einer schlimmen Kindheit immer alles ganz extrem empfunden habe und auch aus etwas Unschönem etwas Schönes machen kann.» Sie habe sehr intensiv gelebt und könne mit jeder Fa­ser geniessen, erzählte sie – selbst ihre Sehnsucht nach Kuba habe sie noch auf einer betreuten Reise stillen können. Dankbar sei sie. Auch für die Energie, die sie nach wie vor besitze. Als allein­erziehende Mutter sei sie all ihre An­strengung aber auch ihrem Sohn und ihrer Tochter, beide Anfang zwanzig, schuldig. Und sie wolle anderen Betrof­fenen helfen: Nachdem sie sich mit der Krankheit von den Ärzten sehr allein gelassen fühlte, gründete sie die erste Selbsthilfegruppe in der Deutsch­schweiz für Früherkrankte – der Jüngs­te unter ihnen ist Mitte vierzig.

Froh machte sie dabei der Um­stand, dass sie «noch locker mithalten kann mit dem Kollegen der Gruppe,

Bis zum Jahr 2024, las ich, werde die Zahl der Demenzkranken in der Schweiz auf 300 000 ansteigen. Vielleicht wäre irgend­wann das halbe Volk geistig verwirrt?

ausweichlichen Tatsache anfreunden, dass mein Hirn altert und dadurch langsamer und schwerfälliger wird? Dass es den Verschleiss von Jahrzehn­ten auf dem Buckel hat, wie der Rest meines Körpers?

To­do­Listen schrieb ich längst nicht mehr, wie in meinen Dreissigern, zum Vergnügen, um einen Punkt nach dem anderen genüsslich abhaken zu können, sondern aus purer Notwen­digkeit – weil mir ohne all die Post­its

hätte ich einen zu hohen Anspruch an mich und mein Gehirn, verwöhnt von seiner grundlegend tüchtigen Arbeit. Dabei ging es mir wirklich nicht dar­um, ein Blitzmerker zu sein; ich wollte nur, dass alles in meinem Schädel eini­germassen seine Ordnung hatte.

Wohin ich schaute, entdeckte ich neue – objektive – Indizien. Weltweit sind 46 Millionen Menschen von einer der vier Demenzformen betroffen. 144 000 Schweizer leben, Schätzungen

entfallen wäre, was ich zu erledigen hatte. Dass mein Schreibtisch manch­mal mit gelben Zettelchen übersät war, daran meinte ich mich eigentlich ge­wöhnt zu haben. Und stutzte ich doch wieder mal, weil ich etwas durchein­andergebracht hatte, von dem ich dachte, ich hätte es mir fehlerfrei ein­geprägt – dann fanden sich zum Glück zuhauf gleichaltrige Freundinnen und Freunde, die mir versicherten, ohne Erinnerungsstützen seien auch sie ver­loren. Ausserdem gab es ja immer noch das kollektive Gedächtnis, das Internet, das einem Wissenslücken je­derzeit kaschieren half.

Wann immer ich mich traute, mei­ne Bedenken zu äussern, erfuhr ich die gleiche Reaktion: Ich würde mich ein­fach zu aufmerksam selbst beobachten und sei gedanklich vermutlich immer schon einen Schritt weiter. Bestimmt

zufolge, mit einer Demenzerkrankung, darunter Alzheimer. 27 000 Schweizer erkranken jährlich neu daran. Bis zum Jahr 2040 werde diese Zahl auf 300 000 Kranke ansteigen, las ich. Schon jetzt seien mehr als 3000 Schweizer vor dem Pensionsalter an Alzheimer erkrankt. Vielleicht wäre irgendwann das halbe Volk geistig verwirrt?

Auf einmal schien mein Blick mag­netisch angezogen zu werden von Bro­schüren und Anzeigen zum Thema, wie von denen der Schweizerischen Alzheimervereinigung – sollte mir das nicht etwas bedeuten? Kurz darauf bot man mir auch noch an, ein journalisti­sches Gespräch mit einer jungen Alz­heimer­Patientin zu führen; auch das kein Zufall, sondern ein Zeichen?

Ich brauchte fast ein Jahr, um ge­nug Mut zu sammeln und Rita Schwa­ger zu treffen.

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der die Diagnose als Letzter von uns erhielt». Dennoch hatte sie schweren Herzens aufgehört, Auto zu fahren und zu kochen – mittags ging sie jetzt ins Seniorenheim zum Essen. Sie mochte für ihre Mitmenschen kein Si­cherheitsrisiko werden. Deshalb hatte sie ihren Sohn ein halbes Jahr zuvor mehr oder weniger aus dem Haus ge­schmissen; ihre Kinder sollten in ihren eigenen Leben angekommen sein, wenn ihr Leben seinem Ende zuging.

Ich war sehr beeindruckt von Rita Schwagers Grösse und Tapferkeit. Sie beklagte ihr Schicksal nicht, hoffte le­diglich, dass die Forschung Heilmittel finden würde, bevor ihre Kinder eines Tages womöglich ebenfalls daran er­krankten. Sie überliess ihrer Alzhei­mer­Erkrankung zwar souverän den fi­nalen Sieg, nicht jedoch die Deutungs­hoheit. Und sie sagte einen Satz, der wie ein Fallbeil auf mich niedersauste: «Ich möchte nicht bei vollem Verstand den Verstand verlieren. Ohne mich kann ich nicht leben.»

Lieber wolle sie zu früh gehen als zu spät. Auf jeden Fall, bevor sich Wirklichkeit und Unwirklichkeit end­gültig vermischten.

Schon als junge Krankenschwes­ter war sie Mitglied bei «Exit» gewor­den; die Endlichkeit des Lebens habe sie nie erschreckt. Später, als sie die Pa­nik überfiel, an einer frühen Demenz zu leiden, wandte sie sich mit ihrer Be­fürchtung an Spezialisten. Sagte ih­nen, zwei ihrer Tanten seien daran ge­storben, deswegen trage sie wohl ein erhebliches erbliches Risiko dafür. Kein Arzt nahm sie für voll: Ihr Haus­arzt lachte sie aus, schrieb sie wegen eines Burn­outs krank und überwies sie an eine Psychotherapeutin.

Seitdem sie eine Vertrauensper­son bei «Exit» gefunden habe, bei der sie sich darauf verlassen könne, dass sie ihr rechtzeitig zum Ausstieg verhel­fen werde – seitdem, sagte Rita Schwa­ger, habe sie ihren inneren Frieden wiedererlangt: gar keine Angst mehr. Wie wichtig so jemand ist, das legt schon der übliche Krankheitsverlauf nahe; freiwillig aus dem Leben schei­den darf nur, wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist.

Der Anblick einer alten dementen Patientin hatte Rita Schwager als Pfle­

gefachfrau einst sehr aufgewühlt, lan­ge vor ihrer eigenen verheerenden Dia­gnose, die sie mit 53 bekam: Sie hatte an dieser Frau nichts Menschliches mehr erkannt – «ich sah einen lebendi­gen Körper vor mir, aber innen war al­les tot». Keine Gemütsregung, nir­gends. Und weil für sie Erinnerung vor allem ein Gefühl ist – und obwohl sie «auf der gefühlten Ebene noch sehr viel weiss» –, empfindet sie den Tod ihrer Erinnerung als Absterben ihrer Gefühlswelt. Mit ihr stirbt für sie der Kern ihrer Persönlichkeit.

Während Rita Schwager erzählte, registrierte ich in peinlicher Egozent­

In unserem Gespräch drückte sie sich höchst artikuliert aus. Sie beschrieb mir detailliert die Wege durch ihr altes Spital, wiederholte kein einziges Mal die gleiche Formulierung – auch wenn sie behauptete, dass ich nach spätes­tens zwei Stunden bemerken würde, wie ihr Zustand in die totale Erschöp­fung kippte. Ich hatte angenommen, dass ihr Verhalten jenem von Greisen ähneln würde, die man früher salopp «verkalkt» genannt hatte – einfach weit vor ihrer Zeit. Dass sie zum Bei­spiel vergessen würde, mir die Tasse Tee bereits angeboten zu haben. Ist nicht das Kurzzeitgedächtnis jenes,

net war, geschweige denn ihren Na­men. Dabei hatte ich mir auf mein Na­mens­ und Gesichtsgedächtnis mal viel eingebildet, zu einer Zeit, als ich beides noch für selbstverständlich hielt.

Und weshalb überhaupt gerade diese Angst – kopflos zu werden? Seine Sinne nicht mehr beisammenzuha­ben? Weshalb nicht die Angst vor ähn­lich Wahrscheinlichem, etwa Magen­krebs zu bekommen?

Erst wenn der Hirntod eintritt, wird jemand für tot erklärt. Hat das Herz aufgehört zu schlagen, gilt ein Mensch noch nicht als tot. Wird der Sitz des Geistes über den Sitz der Emo­tion gestellt? Was macht den Men­schen mehr aus: seine Gefühle oder seine Gedanken? Liegt es daran, dass die Seele – wo immer sie sitzen mag, im Herz, im Schädel – aus Erinnerungen zusammengefügt ist? Daran, dass der, der sich nicht mehr erinnern kann, nicht mehr imstande ist, den Nachweis zu erbringen, echt gelebt zu haben? Aber sehnen wir uns ein Leben lang nicht viel mehr nach innigem Fühlen als nach Denken?

Senile erinnern manchmal an klei­ne Kinder, sie haben wieder deren Selbstvergessenheit, und sie sind – weil sie keine Zukunft mehr besitzen und durch ihr Vergessen offenbar auch kei­ne Vergangenheit mehr – ganz im Mo­ment. Sie freuen sich, sie leiden, sie werden ihr Zustand, ohne sich zu fra­gen, wie lange ihre Freude oder ihr Lei­den andauern werden. Sie sind im Erle­ben, beurteilen nicht mehr. Sie nehmen es jetzt, wie es kommt. Und können, was kommt, im besten Fall geniessen, ob es währt oder nicht. Wer vergisst, verliert also nicht nur – eigentlich kriegt er auch eine Chance: den Augenblick voll auszukosten.

Warum haben dann so viele wie ich die Angst, sich zu verlieren, indem sie ihr Gedächtnis verlieren? Weil wir ge­lernt haben, ständig zurückzublicken und alles zu bewerten und erst zurück­blickend dem Vergangenen einen Sinn verleihen? Kann, wer sein Leben nicht mehr erzählen kann, aus ihm keine Er­zählung mehr machen: um die Mög­lichkeit beraubt, ihm eine klare, logi­sche Form zu geben?

Nur alte Stars schreiben ihre Me­moiren – sonst muss es schon jemand wie der 41­jährige Benjamin von Stuck­rad­Barre sein oder die 16­jährige Pa­

kistanerin Malala, denen man ange­sichts ihrer vielen Tiefpunkte abkauft, in ihrem jungen Alter bereits viele Le­ben gelebt zu haben. Schliesslich macht erst die Interpretation aus dem Ereig­nis eine Erfahrung. Und noch immer wiegt – wenn es darum geht, die Inten­sität einer Existenz abzumessen – das Leiden stärker als das Glück. Allein der Künstlermythos nährt sich daraus, dass ein ernsthafter Künstler bloss der ist, dessen Dasein über seine Ränder hinaus vom Leiden versengt ist.

Glück hat nach allgemeiner An­sicht eher etwas Dummes an sich, schon durch seine Flüchtigkeit – dumm im Sinne von tumb, dumpf, taub, ja, fast von unfühlbar. Denn das Glück of­fenbart sich bekanntlich nicht selten erst in der Retrospektive – wie die Schriftstellerin Colette einmal sagte, wohl als sie ihre Erinnerungen nach deren Bedeutung sortierte: «Ich hatte ein wunderbares Leben. Schade, dass ich es so spät gemerkt habe.»

Gleichzeitig dürfte man sich doch eigentlich halsstarrig darauf verlas­sen, dass die Rückschau das Erlebte schönt – die meisten Menschen, sagen Wissenschaftler, können sich besser an das Schöne als an das Schlechte er­innern. Oder deuten gleich das Schlechte zum Guten um, zumindest zum Erträglichen. Jedes Gehirn ein eigener Trickbetrüger – einer, den man gern gewähren lässt.

Vier­, Fünfjährige entwickeln oft plötzlich ein brennendes Interesse an ihrer Vergangenheit: wollen stunden­lang Babyfotos von sich betrachten. In Erfahrung bringen, wer sie waren. Be­rauschen sich an der Vorstellung, dass sie, die grossen Kinder, einst dieses kleine Dicke mit dem kahlen Köpfchen waren – es belustigt sie, vor allem aber lässt es sie staunen.

Vielleicht gründet die Angst vor Demenz – davor, im Vergessen zu ver­sinken – auch darin, dass die Krankheit einen an die Wahrheit heranführt, nä­her, als es die Gesundheit vermochte. Der demente Mensch erscheint nackt, aller Funktionen entkleidet. Er spielt keine Rolle mehr – im doppelten Sinne: Er spielt keine gesellschaftliche Rolle mehr, und er spielt für die Gesellschaft keine Rolle mehr. Vielleicht wird man also erst dann, wer man ist. Weil man nicht länger die Bankerin gibt, den Lehrer, nicht länger Mutter oder Sohn

ist. Vielleicht ängstigt einen genau das: dass es dann keine Lügen mehr gibt so wie auch keine Heilung.

Gegen Alzheimer ist noch kein Heilmittel gefunden worden, obwohl die Forschung auf Hochtouren läuft. Die Mediziner Roger Nitsch und Chris­toph Hock entwickeln an der Universi­tät Zürich eine Alzheimer­Impfung – im Abstand von Jahren heisst es, sie stünden kurz vor dem Durchbruch. Aids war eine Krankheit, die bis vor Kurzem noch einem Todesurteil gleichkam; inzwischen können HIV­Infizierte behandelt werden – und da­mit alt.

Mit Demenz aber könnte ich nicht leben, fürchte ich. Während ich mit vie­len anderen Krankheiten wahrschein­lich leben lernen könnte. Ein Mensch mit Krebs ist ein Krebskranker, er ist nicht sein Krebs – die Krankheit De­menz dagegen wird zur Identität. In­dem sie zerstört, legt sie aber auch et­was frei, das Existenzielle einer Exis­tenz. Ein Paradoxon: Man scheint als Mensch auseinanderzubröseln, mit je­der Hirnzelle, die sich aus dem Staub macht – und wird in diesem Prozess, zu­mindest von aussen betrachtet, zutiefst kreatürlich, irgendwie menschlicher.

Ewige GegenwartIch fuhr von Rita Schwager in einem komisch changierenden Bewusst­seinszustand weg. Ich registrierte je­des kleinste Detail meiner Umgebung, als sei mein Filter mit einem Mal unge­heuer kleinmaschig geworden – die Angaben auf der Anzeigetafel am Bahnsteig, die Aushänge am Zeitungs­kiosk, alles nahm ich mit einer ge­spannten Aufmerksamkeit wahr, als dürfe mir nichts, auch das für mich Un­erhebliche nicht, entgehen. Es war an­strengend, alles wie mit einer Kamera abzufilmen. Es waren zu viele Reize, die ich bis dahin gar nicht als Reiz, nicht als Veränderung meiner Umwelt, empfunden hatte.

Mir fiel Jill Price ein, die Amerika­nerin, über die ich mal gelesen hatte: An ihr war erstmals ein Phänomen na­mens hyperthymestisches Syndrom beobachtet worden. Ihr episodisches Gedächtnis ist absolut – seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr, exakt seit Dienstag, dem 5. Februar 1980, kann

Vielleicht gründet die Angst vor Demenz darin, dass die Krankheit näher an die Wahrheit heranführt, als es die Gesundheit vermochte: weil es keine Lügen mehr gibt.

rik, dass die Anzeichen ihrer Frühde­menz nicht diejenigen waren, die ich an mir beobachtete: Sie hatte ihrem Beruf Ende 2015 nicht mehr nachge­hen können, als sie Kollegen, Patien­ten und Zimmernummern verwech­selte und orientierungslos durch das Spital lief. Andauernd hatte sie den fürchterlichen Druck gespürt, keine Fehler zu machen. Von ihrer Intuition geleitet, ging sie in die Memory­Klinik, um sich testen zu lassen – von zehn Wörtern hatte sie sich gerade mal zwei gemerkt. Auch den simpelsten Alzhei­mertest bestand sie nicht: Sie konnte die Uhr nicht mehr lesen. Die Gewiss­heit war ein Schock für sie. Und eine Erleichterung.

das über achtzig oder neunzig selbst im Normalfall den Geist aufgibt und dadurch die Nahestehenden alar­miert? Und was ist mit dem Langzeit­gedächtnis, das im Alter auffällig gut sein kann?

Die Angst, kopflos zu werdenIn letzter Zeit ploppten bei mir Namen wie Korken an die Oberfläche, von Klas­senkameraden, an deren Gesichter ich mich nicht im Entferntesten erinnerte. Und auch wenn ich nach wie vor Leute wiedererkannte, mit denen ich vor Jah­ren zufällig mal am selben Restaurant­buffet gestanden hatte: Mittlerweile wusste ich nicht mehr sofort, in wel­chem Zusammenhang ich ihnen begeg­

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sie die Erinnerung an jeden einzelnen Tag bis auf die Minute abrufen. Sie weiss, wie das Wetter und welcher Wo­chentag es war, welchen Pullover sie trug und welche Katastrophen in den Nachrichten vermeldet wurden. Alles, woran sie sich erinnert, muss aber von ihr direkt wahrgenommen worden sein. Dagegen hat sie wie wir anderen vergessen, wovon sie ohne jegliche Emotion – und sei es auch mit einem gewissen Interesse an einer Informa­tion – erfahren hat. Historische Daten kann sie sich genauso wenig merken wie die meisten.

Als Fluch wie Segen beschrieb sie die Besonderheit ihres Gedächtnisses in einem Interview: weil die Erinne­rungen mit derselben Wucht auf sie einstürzten wie in jenem ersten Mo­ment des Erlebens. Ihre Vergangen­heit wird ihr dadurch immer aufs Neue lebendig. Es gibt keinen Abstand zwi­schen ihrer Empfindung und ihrer Ra­tio; jede Kränkung bleibt eine offene Wunde, die nie verheilt. Sie ist nicht in der Lage, «Negativerlebnisse zu ver­arbeiten», weil die Zeit nicht für sie spielt. Denn für sie gibt es nur eine Zeit: die ewige Gegenwart.

Als segensreich empfand sie es, ihre Erinnerungen wieder und wieder abrufen zu können, sie sich bewusst auf ihren inneren Bildschirm zu holen: Wenn sie zum Beispiel beim Friseur unter der Trockenhaube sitze, erzähl­te sie, dann vertreibe sie sich das War­ten mit gezieltem Nachempfinden. Demnach muss ihr Leben ihr wirklich gelebt vorkommen, bis ins Letzte fühl­bar. Schliesslich kann sie Situationen Sekunde für Sekunde durchleben, nicht bloss doppelt, sondern wie in einer Endlosschleife.

Ist ihre Kraft dadurch aufgebraucht, oder bringt sie noch welche dafür auf, sich ihre Zukunft vorzustellen, obwohl doch schon Vergangenheit und Gegen­wart eins für sie sind? Und hat sie in sich Platz für Geschichten ausserhalb ihrer selbst?

Das Grossartige an guter Literatur, an allen Nacherzählungen fremder Le­ben, ist es ja, zu erfahren, wie das eige­ne Leben auch hätte verlaufen können. Wie es sich anfühlt, sich in einem an­dersartigen Leben wiederzufinden, dessen Pfade abzulaufen, mit allen Ge­

mütswandlungen, die das mit sich bringt. Aber kann jemand wie Jill Price dafür Kapazitäten haben: sich in die Wirklichkeit eines anderen Menschen begeben, wo doch ihre eigene Wirklich­keit niemals unwirklich wird, nicht das kleinste bisschen verblasst? Das heute so überstrapazierte Mantra, im Hier und Jetzt leben zu sollen, anstatt an das Morgen oder Gestern zu denken – das ist für die Amerikanerin zu einer bösen Ironie des Schicksals verkommen, weil sie sich nie, keinen Augenblick lang, vom Augenblick zu entfernen vermag.

Wie froh könnte ich daher sein, dass ich mich, anders als Price, an je­den Schmerz bloss abstrakt erinnern kann, sobald er einmal vergangen ist. Dass ich zwar weiss, dass mir zum Bei­spiel meine Kopfschmerzen vor ein paar Tagen unerträglich vorkamen, aber ich sie heute nur noch als vagen Sachverhalt formulieren kann, weil die Emotion dahin ist. Physischer Schmerz hinterlässt im Gedächtnis keine sicht­bare Kerbe, selbst wenn er Narben an anderen Teilen des Körpers hinterlässt – während seelische Pein durchaus le­bendig bleiben kann: Man wird zum zweiten Mal rot vor Scham, denkt man an eine frühere Blamage. Evolutions­bedingt erklärt man das unter ande­rem damit, dass keine Mutter ein zwei­tes Kind bekommen wollte, könnte sie sich an den Geburtsschmerz erinnern.

Halbe WahrheitenAber was hat es dann mit Phantom­schmerz auf sich? Was bedeutet es, wenn man nicht aufhört, etwas Verlo­renes zu spüren, wie lange der Verlust auch zurückliegt? Wenn einen der Schmerz täglich aufs Neue daran erin­nert, was man verloren hat?

Ich traf mich mit dem renommier­ten Gedächtnisforscher Douwe Draais­ma, Professor für Psychologiege­schichte an der Universität Groningen. Vielleicht würde er mir ein paar tröstli­che Antworten auf meine vielen Fra­gen geben.

Es sei nichts falsch am Vergessen, sagte er mir sogleich, dadurch würden den Dingen die scharfen Kanten ge­nommen. Ebenso wichtig sei es, sich vor Augen zu führen, dass es sich beim Erinnern sowieso immer nur um halbe Wahrheiten handle: bloss um Versio­nen unserer Vergangenheit. Erinne­rungen würden nämlich ständig um­

und der Mensch mehr als sein Gehirn. Sogar wenn er von allen guten Geis­tern verlassen werden sollte.

Absichtliches VergessenZwar ertappe ich mich nach wie vor da­bei, dass ich langsamer als früher oder gleich komplett falsch schalte. Dass ich nach Wörtern kramen muss und es im­mer länger dauert, bis sie mir in den Sinn kommen. Trotzdem habe ich be­schlossen, nun lange genug darüber gehirnt zu haben. Ich nehme mir darin Rita Schwagers Kinder zum Vorbild, die bisher auf medizinische Abklärun­gen verzichten, ob sie die Alzheimer­Erkrankung ihrer Mutter geerbt ha­ben. Weil man – noch – nichts gegen die Krankheit unternehmen kann, vor­beugend genauso wenig wie im Fall ihres Ausbruchs. Aber auch, weil sie, wie Rita Schwager mir sagte, «in einem Alter sind, wo sie es gut ver­drängen können».

Nun versuche auch ich, meine Angst vor Alzheimer zu verdrängen. Verdrängen, Vergessen nach Vorsatz – weil man dagegen ohnehin nicht an­gehen kann. Gegen dieses Schicksal nicht, gegen kein Schicksal, falls es das denn gibt: Schicksal. Und weil man we­der sich noch anderen die Erinnerung diktieren kann.

Vielleicht folgt aber aus dieser Er­kenntnis, sich mit dem Unausweichli­chen abzufinden, trotzdem nicht unbe­dingt Ohnmacht? Vielleicht hat man es ja wenigstens in der Hand, bewusst sei­ne Blickrichtung zu lenken? So als säs­se man im Zug. Statt sich in Fahrtrich­tung zu setzen, könnte man sich doch ebenso gut mit dem Rücken in Fahrt­richtung positionieren. Dann würde man sich an der Gegenwart entlangbe­wegen und das Vorbeihuschende gleichzeitig im Blick behalten – wäh­rend man auf das Neue zusteuert: qua­si rückwärts vorwärts. Der Versuch scheint mir jedenfalls lohnenswerter zu sein, als die nächsten Jahre in Angst­starre zu verharren.

und überschrieben von späteren Ereig­nissen, erklärte Draaisma – und warum auch nicht? «Das Gedächtnis soll dein Zuhause sein, in dem du dich wohl­fühlst, es ist kein Gerichtssaal, wo es um die Wahrheit geht.»

Es gibt das russische Sprichwort «Er lügt wie ein Augenzeuge», und in der Tat wissen wir alle, wie trügerisch die Erinnerung sein kann. Draaisma belegt die Eigenart unseres Gedächt­nisses, unzuverlässig zu sein, an Krimi­nalfällen: Befragt man einen Nachbarn oder Freund zu einem Täter – und weiss dieser um dessen Verbrechen –, dann flackern bei ihm Erinnerungen auf, die ihm sonst nie eingefallen wären. Weil er einen Vorfall mit dem heutigen Wis­sen anders einordnet. Das nachträgli­che Umdeuten kann aber auch banaler ablaufen: Eine ziemlich glückliche Ehe, die mit einem Rosenkrieg endet, wird in den Hirnen der Geschiedenen als schrecklich abgelegt.

Deswegen, sagte Draaisma, verän­dern sich unsere Vergangenheit und unsere Perspektive auf sie auch damit, wer wir geworden sind. Unsere Identi­tät selektiere die Erinnerung. Dabei tritt der «Reminiszenz­Effekt» ein: Im Alter erinnern wir uns besser an unsere ersten zwanzig Lebensjahre, obschon sie weiter zurückliegen, als an das, was im Vorjahr passiert ist. Unser Gedächt­nis habe um zwanzig seinen neurologi­schen Höhepunkt, in dem Alter, in wel­chem unsere Biologie das Kinderkrie­gen vorsieht. Auch dass die früheste Erinnerung der meisten ungefähr aus dem vierten Lebensjahr stamme, hän­ge mit unserer biologischen Entwick­lung zusammen: Mit vier besitzt man ein Ich­Bewusstsein – und eine Spra­che, um sich auszudrücken.

Das Gehirn fühlt keinen SchmerzNeulich wurde mir beides – Ich­Be­wusstsein und Sprache – in unvorstell­barer Weise präsent, als ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllen konn­te. Ich durfte am Berner Inselspital bei einer Wach­OP am offenen Gehirn zu­schauen. Einem Mann wurde ein Ge­hirntumor entfernt. Weil dieser ans Sprachzentrum grenzte, musste der Patient während der Operation unauf­hörlich mit einer Logopädin im Ge­spräch bleiben – geriete er ins Stocken, wäre dies das Signal an den Chirurgen, dass er sich heiklen Arealen näherte.

A N U S C H K A RO SH A N I ist Redaktorin bei «Das Magazin»;

[email protected]

«Das Gedächtnis soll dein Zuhause sein, in dem du dich wohlfühlst – es ist kein Gerichtssaal, wo es um die Wahrheit geht.» Douwe Draaisma

Ich besah mir mit Ehrfurcht diesen ge­waltigen Klumpen mit den Furchen eines Wattenmeers, der keinen Schmerz empfindet und deshalb nicht narkotisiert zu werden braucht. Und erfuhr, dass sich Tumorgewebe vom gesunden Gehirngewebe mit blossem Auge nicht unterscheiden lässt: Wo der Chirurg entlangzuschneiden hat, um den Tumor vollständig zu entfernen, muss ihm der Patient im buchstäbli­chen Sinne sagen.

Nach einer Weile wurde das Spre­chen von heftigem Schluchzen unter­brochen, sodass der Chirurg innehal­ten musste, weil auch das Gehirn zu

nen OP-Saal durchzog, eine feinnervi­ge Eleganz: wie anmutig die einzelnen Handlungen ineinandergriffen! Und dann stand ein Vertrauen im Raum, das mir derart gross und grossartig vor­kam, dass es fast an Liebe heranzurei­chen schien. Wie viel Vertrauen muss­te dieser Mann dem Arzt schenken, der in diesem Moment in sein Gehirn schnitt? Kann die Lage je essenzieller, je radikaler sein?

Seltsam war auch der Kontrast zwischen der Emsigkeit des medizini­schen Personals und der kaum steiger­baren stillen Konzentriertheit, die je­der Einzelne von ihnen ausstrahlte.

beben anfing. Eine Assistenzärztin er­klärte mir, dass Patienten während einer Wach­OP häufig zu weinen be­ginnen – sie sagte, das Erlebnis über­wältige sie, deswegen solle eine länge­re Vorbereitung verhüten, dass ein Trauma daraus werde.

Mich wunderte das kein bisschen; selbst mir als Zuschauerin ging es durch Mark und Bein. Nie zuvor war ich in einer Situation gewesen, in der so viele Gegensätze aufeinanderstiessen und sich – wenn, dann war das für mich ein Wunder! – ineinander aufzulösen schienen. Es kam mir so archaisch vor: in den aufgesägten Schädel eines Wild­fremden zu schauen. Zugleich hatte die Grundmelodie, die den hochmoder­

Wie der Widerspruch, dass der Patient als Mensch unter einer wuchtigen Wärmedecke und grünen Tüchern verschwand, aber ein halbes Dutzend Leute in das hineinblickte, was ihn als Menschen vermutlich ausmacht: in seine Schaltzentrale. Und genau die überantwortete er seinem Arzt und dessen Team. Es ging um Leben und Tod – und doch wurde diese Tatsache, wie sonst auch, von der handfesten, praktischen Realität verdrängt.

Seitdem ist, ohne dass ich es rich­tig erklären könnte, meine Angst, an Alzheimer zu erkranken, kleiner ge­worden. Vielleicht weil mir erstmals ganz konkret vor Augen getreten ist, dass das Leben unkontrollierbar ist –