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DIE WENDUNG ZUM FÜHRERSTAAT

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DIE WENDUNG ZUM FÜHRERSTAAT

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SCHRIFTEN DES INSTITUTS FÜR POLITISCHE WISSENSCHAFT

HERAUSGEGEBEN VOM WISSENSCHAFTLICHEN LEITER PROF. DR. OTTO STAMMER, BERLIN

BAND 12

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JÜRGEN FIJALKOWSKI

Die Wendung zum Führerstaat Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie earl Schmitts

Mit einem Vorwort von Hans-J oachim Lieber

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1958

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D 188

© 1958 Springer Fachmedien Wiesbaden

Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag. Köln und Opladen 1958.

Bindearbeiten: Kornelius Kaspers· Düsseldorf

ISBN 978-3-663-19623-5 ISBN 978-3-663-19675-4 (eBook)

Softcover reprint of the hardcover 1 st edition 1958 DOI 10.1007/978-3-663-19675-4

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INHALT

Erläuterungen ...................................................... VIII

Vorwort. Von Hans-Joachim Lieber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. ... IX

Einleitung

Carl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung . ................... XIII

1. Teil: Carl Schmitts rechtsstaatliche Postulate

Erstes Kapitel

Das Rechtsstaatsideal 3

Die Idee der Freiheit, der Gesetzesherrschaft und der Gewaltenteilung. . . . . . . . 6 Methodische Zwischenbemerkung ...................................... 12

Zweites Kapitel

Funktions- und Legitimitätsbedingungen des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Die Notwendigkeit des generellen Charakters von Gesetzen ................ 15 Das Parlament soll öffentlich diskutierende Repräsentation sein ............ 16 Die Wahl soll aristokratischen Charakter haben .......................... 18 Die Parteien sollen lose Meinungsparteien sein .......................... 19 Beschränkung auf Grundrechte und organisatorische Regelungen ............ 20 Die Verfassung soll Grundentscheidung sein ............................ 22 Das unmittelbar handelnde Volk soll keine Konkurrenz für das Parlament

darstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 24 Die Notgewalt soll auf Maßnahmengewalt beschränkt sein ................ 25 Die Gesellschaftsordnung soll die der liberal-individualistischen

Konkurrenz sein .................................................. 27 Die Postulate der gleichen Chance und der Homogenität .................. 28 Zusammenfassung .................................................. 30

H. Teil: Carl Schmitts polemische Gegenwartsdiagnose

Erstes Kapitel

Der Entartungszustand der parlamentarischen Demokratie ................ 35

Der Verfall des Gesetzesbegriffs ...................................... 35 Die Entartung des Parlaments ........................................ 36

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Der Sinnwandel der Wahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39 Die Wesensänderung der Parteien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 42 Die Instrumentalisierung der Verfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 43 Die Relativierung der Verfassungsvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 51 Die Bedrohung des parlamentarischen Gesetzgebers durch den plebiszitären. . .. 53 Das Gesetzgebungsrecht der Notgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 54 Der Mißbrauch der Fl"eiheitssphäre .durch die Verbände. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 56 Die Zerstörung der gleichen Chance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 59 Die Auflösung des Staats in den Pluralismus ............................ 60 Schlußbemerkung ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 63

Zweites Kapitel

Beurteilung verschiedener Gegenbewegungen ............................ 66

Die Verfassungs- und Staatsgerichtsbarkeit .............................. 66 Der Gedanke der Wirtschaftsverfassung ................................ 75 Die Vorstellung wirtschaftlicher Inkompatibilitäten ...................... 76 Der Halt an den Resten des Beamtenstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 77 Die Vorstellung des Expertenstaats .................................... 80 Die Untauglichkeit der NeutJ:1alisierungen und Entpolitisierungen . . . . . . . . . . .. 80

Drittes Kapitel

Der plebiszitär-autoritäre Ausweg .................................... 83

Der Zustand kalten Bürgerkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83 Die Totalität der Schwäche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 86 Der Ausweg bei den plebiszitären und autoritären Kräften ................ 87 Der Reichspräsident als Hüter der Verfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 90

IU. Teil: Die Grenzen des Rationalen in Carl Schmitts Kritik

Erstes Kapitel

Die Entwicklung zur organisierten Massengesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 95

Methodische VOl'bemerkung .......................................... 97 Die gesdlschaftlichen Grundprozesse .................................. 99 Der Zustand der liberalen Konkurrenzgesellschaft ........................ 101 Der Zustand ,der organisierten Massengesellschaft ........................ 102

Zweites Kapitel

Funktionelle Notwendigkeiten und politische Gefahren . ................... 107

Verlorene und neue Funktionen des Parlaments .......................... 107 Der Wandel des Gesetzesbegriffs; die neue Form der Gewaltenteilung ........ 110 Sinn der Wahl und Gefahr ,des Plebiszits ................................ 112 Der Strukturwandel der Parteien und seine funktionelle Notwendigkeit ...... 114 Funktion der Verfassung und Bedeutung der Verfassungstreue .............. 120 Gefahr der plebiszitären Kräfte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 123 Bedeutung und Gefahr der Notgewalt .................................. 123 Gebrauch und Mißbrauch der Freiheitssphäre ............................ 125 Grenzen der Kritik am pluralisüschen System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 127

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Inhalt VII

Die Homogenitätsbedingullig und das zurückgebliebene gesellschaftliche Bewußtsein ...................................................... 128

Die Verfassungsgerichtsbarkeit ........................................ 130 Der Hüter der Verfassung ............................................ 133 Der heimliche Souverän. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136

IV. Teil: Carl Schmitts politische Option und Ideologie

Erstes Kapitel

Die Option für den totalen Führerstaat ................................ 141

Die dreigliedrige politische Einheit .................................... 142 Der Staat als Apparat der Paneiführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 143 Der Selbstverwaltungsspielraum des Volkes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 144 Die staat- und volktragende Bewegung ................................ 145 Die Prinzipien von Führertum und Artgleichheit ........................ 147 Die Beseitigung der Wählerei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152 Die Degradierung der Abstimmungskörperschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 154 Die Beseitigung der Gewaltenteilung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 155 Die Instrumentalisierung der Legalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 158 Die Beseitigung des Föderalismus ...................................... 159 Das arngle,iche Richtertum ............................................ 161 Der Rechtsstaat Adolf Hitlers ........................................ 166

Zweites Kapitel

Die Ideologie in der Kategorienbildung 168

Rechtlsstaatlichkeit und konsequente politische Form ...................... 168 Identität und Repräsentation .......................................... 174 Souveränitätsvorstellungen .......................................... 178 Das Wesen der Diktatlur ............................................ 181

Drittes Kapitel

Die Ideologie in der Geschichtsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187

Historisch-soziologische Relativierung des parlamentarischen Systems. . . . . . .. 187 Der Parlamentarismus als Mittel der Neutralisierung des Politischen .......... 198 Die geschichtliche Deutung des zweiten Reiches .......................... 201 Der Weg vom absoluten über den neutralen zum totalen Staat .............. 208

Schlußwort . ........................................................ 213

Literaturverzeichnis ................................................. 216

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ERLÄUTERUNGEN

Zitierweise der Anmerkungen

Im Interesse einer schnellen Orientierung wird einer mehrfach zitierten Schrift in Klammern die Nummer der Anmerkung mit dem ersten, vollständigen Zitat bei­gefügt. Die Abkürzung a. a. o. wird nur verwendet, wenn sich die Angaben auf die gleiche Quelle wie in der unmittelbar vorhergehenden Anmerkung beziehen; ebda. bedeutet nicht nur die gleiche Quelle, sondern auch ,dieselbe Seitenzahl.

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VORWORT

Wenn es die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist, ideologische Komponenten in der politischen Philosophie des Staatsrechtlers earl Schmitt systematisch herauszuarbeiten, so läßt diese ThemensteIlung zunächst den Verzicht darauf erkennen, das gesamte Lebenswerk earl Schmitts als Einheit darzustellen. Die Studie kann und will nicht den Anspruch erheben, als erschöpfende Biographie zu gelten. In dieser thematischen Selbstbegrenzung liegen jedoch zugleich ihre Möglichkeiten: die vornehmlich juristisch orientierten Analysen des Schmittschen Werkes, wie sie etwa auch das jüngst erschie­nene Buch Peter Schneiders Ausnahmezustand und Norm kennzeichnen, durch philosophisch-ideologien kritische belangvoll zu ergänzen. Sachnotwendig muß sich die Arbeit in Erfüllung dieser Aufgabe stärker auf die innenpolitisch-verfassungs­rechtlichen als auf die außenpolitisch-völkerrechtlichen Aspekte des SchmittSchen Werkes konzentrieren. Hierin gründen sicher gewisse Einseitigkeiten der Arbeit, die z. B. die Bedeutung machtpolitischer Faktoren, wie sie vor allem in der Außenpolitik in Erscheinung treten, für die innenpolitisch-verfassungsrechtlichen Konzeptionen SchmittS nur ungenügend berücksichtigt. Der systematische, immanent-ideologien­kritische Denkansatz der Arbeit wird dadurch jedoch kaum beeinträchtigt.

Diesen ideologienkritischen Denkansatz gegenüber dem Werk earl Schmitts zu be­währen und konsequent durchzuhalten, ist jedoch vor allem deshalb geboten, weil Schmitt selbst in jenen Gedankengängen, die der Kritik des Rechtsstaatideals an­gesichts der politischen Realitäten der Weimarer Republik gewidmet sind, den An­spruch erhebt, in einem bestimmten Sinne Ideologienkritik zu leisten. Schmitt mißt nämlich die politischen Realitäten der Weimarer Republik an der Idee des Rechts­staates, kritisiert sie als Abfall von dieser Idee und versucht, auf Grund dieser Kritik die Idee des Rechtsstaates und des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates selbst als historisch überholte Ideologie, als gesellschaftlich-politisch falsche geistige Orientie­rung zu entlarven. Der Weg zu einer neuen totalitären Staatsform, in der die Willens­einheit des "politisch mündigen Volkes" sich unmittelbar im Wollen des Führers manifestiert, erscheint dann als einzige heute noch mögliche politische Realität von Demokratie überhaupt, die freilich alle historisch überholten Institute des parlamen­tarischen Gesetzgebungsstaates hinter sich läßt und damit zugleich wahres politisch­soziales Selbstbewußtsein der modernen Gesellschaft wird.

Schmitt zieht also aus seiner kritischen Konfrontation von Idee und Realität der parlamentarischen Demokratie politisch-philosophische und verfassungsrechtliche Kon­sequenzen, die eindeutig in einer Apologie des totalen Führerstaates gipfeln. Daß diese Apologie für den totalen Führerstaat selbst realpolitische Wirkungen zeitigte, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Schmitt hat nicht nur als wohl wichtigster staatsrechtlicher Inspirator hinter dem Papen-Experiment von 1932 gestanden und ja dann auch diese Regierung bei dem Prozeß gegen Preußen in Leipzig vertreten. Seine Schriften und Thesen fanden darüber hinaus in der vidgelesenen Monatszeit­schrift Die Tat seit 1930 eine solche Verbreitung, daß sie maßgebend propagan-

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x Vorwort

distisch als Stütze der Forderung nach einer autoritären Umwandlung des Weimarer Staates zu wirken vermochten. Schließlich haben nicht nur in der rechtsgerichteten, republikfeindlichen Publizistik, sondern auch in der Neigung der zeitgenössischen Staatsrechtslehre, der parlamentarisch-rechts staatlichen Parteien demokratie ein ent­weder restaurativ-bürokratisches oder autoritär-national diktatorisches Staatsbild ent­gegenzustellen, die Berufung auf geschickt und zeitgerecht aufgemachte Entwürfe earl Schmitts oder doch die Anknüpfung an sie eine einflußreiche Rolle gespielt. Sie vermochte, wie bei der Bildung der Regierungen Brüning und Papen und im Verlauf der Notverordnungsregime faktisch geschehen, unmittelbar und direkt auf die Politik einzuwirken.

Diese Bedeutung earl Schmitts für die politischen Ereignisse im Niedergang der Weimarer Republik ist von Karl Dietrich Bracher sowohl im Band 2 der Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Faktoren der Machtbildung, und zwar in dem Aufsatz "Auflösung einer Demokratie", als auch im Band 4 dieser Schriften­reihe, Die Auflösung der Weimarer Republik (insbesondere S. 50 ff.), behandelt worden. Insofern knüpft die Studie, die das Institut für politische Wissenschaft hier­mit vorlegt, an diese früheren Publikationen an. So gehört sie in den Zusammenhang der Arbeiten des Instituts, in denen das politische Leben nicht nur der Gegenwart, sondern auch der jüngsten Vergangenheit erforscht und dargestellt werden soll.

Angesichts der unmittelbaren und direkten politischen Bedeutung earl Schmitts für das Werden des nationalsozialistischen Führerstaates steht jeder Versuch einer Interpretation seines Werkes, der an der Idee der parlamentarischen Demokratie als verbindlichem, politisch-philosophischem Theorem zur realen Gestaltung von Freiheit und Ordnung in der Gesellschaft festzuhalten gewillt ist, vor einer eigentümlichen Problemsituation: Die Option Schmitts für den totalen Führerstaat erhebt den An­spruch, einzig mögliche Konsequenz einer radikalen, zeitnahen Demokratiekritik zu sein. Der inneren Logik dieser Demokratiekritik Schmitts jedoch, seiner rationalen Argumentation, vermag man sich nur schwer zu entziehen, weil in weitem Ausmaß zugestanden werden muß, daß von ihr tatsächlich Krisenphänomene der modernen Massendemokratie und ihres politisch-rechtlichen Funktionssystems getroffen werden.

Solange ein Interpretationsversuch des Schmittschen Werkes vordergründig an der in ihm vorgetragenen Demokratiekritik fixiert bleibt und die sie begründende ratio­nale Argumentation als solche akzeptiert, dürfte es kaum gelingen, sie selbst ideo­logienkritisch anzugehen, d. h. daraufhin zu befragen, was an ihr - bei aller Treff­sicherheit im einzelnen - falsches gesellschaftlich-politisches Bewußtsein ist. Ein sol­cher ideologienkritischer Interpretationsversuch scheint jedoch geboten, weil er die Fixierung an die rationale Argumentation der Schmittschen Demokratiekritik zu durchbrechen in der Lage ist und zugleich aufzuweisen vermag, welche politisch­geseBschaftlichen Motivationen voluntativer Art sich selbst hinter ihr verbergen und sie zum bloßen Vorwand deklassieren. Was als Konsequenz rationaler Kritik der Demokratie sich anbietet, erweist sich dann als vorlaufende Motivation eben dieser Kritik.

Die Analysen .der vorliegenden Arbeit sind ausschließlich einem solchen j,deologien­kritischen Interpretationsversuch gewidmet. Geleitet sind sie dabei von der Über­zeugung, daß jede Sozialkritik aus der Konfrontation einer je konkreten Gesellschaft mit ihrer eigenen Idee ihre entscheidenden Impulse erhält. Die hinter ihr stehende und sie leitende politisch-philosophische Motivation freilich ist immer daraufhin zu befragen, ob sie auf Grund einer vorlaufenden ideologischen Option die Norm der Gesellschaft, die sie in ihrer Realität kritisiert, bewußt so zurichtet, daß mit der Realität der kritisierten Gesellschaft auch die Norm selbst dem Verdammungsurteil an heimfallen muß. Angesichts des Schmittschen Werkes konkretisiert sich die Frage

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Vorwort XI

dahin: Gilt die Demokratiekritik Schmitts der Apologie der Demokratie, ist sie also um deretwillen unternommen und wird sie demzufolge Element rationaler Selbst­aufklärung und Selbstbewährung der Demokratie, oder dient sie der Realisierung totalitärer Sozialideen und ist sie nichts anderes als ideologisches Fundament und Instrument zur Inthronisation antidemokratischer Totalitarismen?

Ist das letztere der Fall, dann muß sich schon in der Kritik an der Weimarer Demokratie, wie Schmitt sie übt, im einzelnen nachweisen lassen, daß sie sich von vorn­herein an antidemokratischen verfassungspolitischen Zielsetzungen orientiert und sich ihre Maßstäbe entsprechend dieser vorlaufenden ideologischen Option für den totalen Staat zurechtlegt. Ziel der vorliegenden Analysen ist es, diese dem ideologienkri­tischen Denkansatz entsprechenden programmatischen Thesen durch Einzelanalysen des Schmittschen Werkes als sachgültig zu bewähren und somit den Nachweis zu führen, daß Schmitts Kritik an der parlamentarischen Demokratie wegen seiner vor­laufenden ideologischen Option diese selbst in ihrer inneren Problematik verfehlt.

So wird im ersten Teil der Arbeit zunächst der Nachweis geführt, daß Schmitt die Idee des Rechtsstaates und die Bedingungen von Legitimität und Funktionalität des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates im Zuge eines verabsolutierten idealtypischen Verfahrens in einer so abstrakten Reinheit konzipiert und darstellt, daß sie als Maß­stab realsoziologischer Kritik konkreter politisch-gesellschaftlicher Strukturen eigent­lich untauglich erscheinen müssen. Indem Schmitt jedoch sein im Grunde ahistorisches, idealtypisches Verfahren historisch abzusichern sucht, erhebt er gerade diese abstrakte Idee zur verbindlichen Norm realsoziologischer Kritik an der Demokratie der Wei­marer Republik. Die im zweiten Teil der Arbeit dargestellte Demokratiekritik Schmitts kann demzufolge auch als eine solche begriffen werden, die nicht demokra­tie-immanent, sondern demokratie-transzendent verfährt, insofern nämlich, als für Schmitt die konstatierte Diskrepanz zwischen Idee und Realität der parlamentari­schen Demokratie nicht nur Anlaß wird, die Realität als Entartungszustand zu ver­stehen, sondern zugleich als Argument gegen die Idee der Demokratie parlamen­tarischer Form überhaupt zu postulieren. Die hinter diesem Urteil versteckte ideo­logische Option für den totalen Staat, die sich an gewissen totalitären Elementen des Rousseauschen Denkens orientiert, offenbart sich vor allem in jenen Partien des Schmittschen Werkes, die zum autoritären Staat hinführende politisch-verfassungs­rechtliche Möglichkeiten in der Weimarer Republik betont positiv bewerten, sie je­doch zugleich als Manifestationen eines totalen Staates "aus Schwäche" deuten, der sich zum selbstbewußten totalen Führerstaat "aus Stärke" umzuwandeln hätte.

Das Ergebnis der Analysen dieser ersten bei den Teile der Arbeit begründet, daß die Schmittsche Idee der parlamentarischen Demokratie das pluralistische Prinzip nicht als konstruktives Element in sich aufzunehmen weiß. Werden dadurch die Schmittschen Bestimmungen von Gesetz, Verfassung, Parlament, Wahl usw. in ihrem idealtypisch übersteigerten, implizit schon totalen Aspekt begreiflich, so erweist sich dadurch zugleich, daß der eigentliche Gegenstand der realsoziologischen Demokratie­kritik Schmitts eben der Pluralismus der Gruppen in der modernen Gesellschaft sein muß.

Um die zur Legitimierung des totalen Führerstaates hinführende Kritik Schmitts an der pluralistischen Demokratie der Moderne in ihrem Anspruch, einzig mögliche und wahre Kritik zu sein, zu relativieren, steht am Beginn des dritten Teiles der Arbeit eine kurze Skizze des Wandels der liberalen Konkurrenzgesellschaft zur organisierten Massengesellschaft. Diese Skizze stützt sich im wesentlichen auf Arbeiten Karl Mannheims zur politischen Soziologie. Das hat den Vorzug, daß die in der Arbeit angezielten gesellschaftlichen Entwicklungstrends auf einer relativ hohen Ab­straktionsstufe eindeutig herausgearbeitet werden können. Der Nachteil, die spezi-

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XII Vorwort

fische gesellschaftliche Situation der Weimarer Zeit nicht völlig in den Griff zu be­kommen, wird dabei in Kauf genommen. Von der Zielsetzung der gesamten Arbeit aus erscheint dies als gerechtfertigt, denn die nicht explizit historisch-soziologische, sondern systematisch-ideologienkritische Absicht bedarf zu ihrer Entfaltung in erster Linie der Einsicht in die Notwendigkeit eines Zustandes der Pluralität von Interes­sen, Organisationen und Konzeptionen und in die Unausweichlichkeit eines Vermitt­lungs- und Filtersystems in der politischen Ordnung der Massendemokratie. Diese Einsicht resultiert hinreichend aus der erwähnten Skizze des Funktionswandels der demokratischen Institutionen. Ohne die innere Problematik ihrer Funktionsfähigkeit in einer veränderten gesellschaftlich-politischen Situation zu verkennen und ohne damit eine für die Demokratie selbst fruchtbare Sozialkritik zu verneinen, steht im Vordergrund der dieser Skizze folgenden Analysen das Bemühen, Zug um Zug und These für These darzulegen, daß und warum die Kritik Schmitts die innere Proble­matik der modernen Massendemokratie doch verfehlen und damit vordergründig bleiben mußte, wodurch sich ihre Verwandlung in unkritisdle Gegenaufklärung, in Ideologie, von selbst ergibt.

Der vierte Teil der Arbeit belegt dann in Einzelanalysen der offen zum totalen Führerstaat sich bekennenden Schriften Schmitts, in einem wie starken Maße die Option für diesen Staat nicht nur Konsequenz der Kritik an der Demokratie ist, sondern selbst als Kriterium und ideologische Motivation die Kritik an der Demo­kratie geleitet und bestimmt hat. Gerade in diesem Kapitel und seinen Darlegungen bestätigt sich die ideologienkritische Konzeption der ganzen Arbeit. Nicht zuletzt die Ausführungen des Schlußkapitels beweisen, daß es in der Arbeit gelingt, in einer beachtenswerten systematischen Geschlossenheit das disparate Werk Schmitts unter einheitlichen Gesichtspunkten kritisch so zu durchforschen, daß Schmitt sich als ein in seinem Werk durchgehend dem Totalitarismus verbundener Denker erweist.

Will also die vorliegende Arbeit weder umfassende Biographie sein noch in histo­risch-soziologischen Einzelanalysen die faktischen Einflüsse des Schmittschen Denkens auf das Werden des Nationalsozialismus ausreichend verfolgen, sondern versucht sie lediglich, eine bestimmte Methode der Ideologienkritik am Werk earl Schmitts zu üben, so haben ihre Resultate doch zumindest systematische und darüber hinaus wohl auch historische Bedeutung für jene Probleme, die sich angesichts moderner Totali­tarismen einem philosophisch-soziologisch begründeten, politischen Selbstverständnis der Demokratie stellen.

Berlin-Dahlem, im August 1958 Prof. Dr. Hans-Joachim Lieber

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Einleitung

CARL SCHMITTS WERK

UND DIE VORLIEGENDE UNTERSUCHUNG

Das Problem jeder Gesellschaft ist ihre Integration zu einem Zustand geordneter Freiheit. Das ist ein Problem der gestaltenden Politik und des gesellschaftlichen Be­wußtseins der Menschen. Es kann geschehen, daß die Fähigkeiten zu politischer Ge­staltung und das Bewußtsein von gesellschaftlichen Verhältnissen hinter dem Wandel dieser Verhältnisse zurückbleiben. Dann gerät Freiheit in Gefahr, zum umkämpften Privileg der Herrschaft, und Ordnung, zum Zwangsgebot für den unterlegenen Untertan zu werden. Das sind auch die Gefahren und Probleme der modernen Ge­sellschaft. Es sind die Risiken und Chancen der Politik und des politischen Denkens auch unter den Bedingungen unseres Jahrhunderts.

Der Abwege und Verfehlungen des Zustandes geordneter Freiheit sind viele. Die Gefahren der modernen industriellen Massengesellschaft scheinen in der Anarchie bzw. in der Diktatur zu liegen, zu der die Anarchie führt; Diktatur als Konsti­tuierung einer autoritären Ordnungsgewalt erscheint nur allzuleicht als Ausweg aus der Anarchie. Die Erfahrungen, die die totalitären Staaten den Menschen aufnötigten und aufnötigen, haben aber gelehrt, daß der Triumph über die Anarchie nicht Ord­nung ist. Es hat sich erwiesen, daß die Alternative zwischen autoritärer Ordnung und anarchischer Freiheit nicht zur Gewinnung der Ordnung, sondern zum Verlust der Freiheit führt. Von dieser Einsicht kann alles gedankliche Bemühen um eine funk­tionsfähige politische Organisation der modernen Massengesellschaft ausgehen. Eben­so ergibt sich aus dieser Einsicht, daß eine Kritik an anarchischer Entartung der Frei­heit ihre Maßstäbe nicht aus der Option für eine autoritäre Ordnung gewinnen kann. Umgekehrt kann Kritik an der Entartung zur autoritären und totalitären Diktatur ihre Maßstäbe nicht aus einer gedankenlosen und unkritischen Option für die ab­strakte Freiheit entnehmen. Konstruktives kritisches Denken über Politik, Gesell­schaft und Recht kann heute seine Maßstäbe nur in Richtung auf das Ziel einer geordneten Freiheit und nur in konkreter Diagnose gewinnen.

Das um die Erfahrungen der totalitären Diktatur bereicherte Bewußtsein vermag nun aber rückblickend auch zu erkennen, was an früher geübter Kritik wie an früher erdachten Konstruktionen falsches Bewußtsein war. Es vermag zu erkennen, welche ideologischen Elemente die Ergebnisse früher geübten Philosophierens über die Gegen­stände von Gesellschaft, Politik und Recht enthielten. Es vermag auszumachen, wo sich rationale Kritik in ideologische Apologie und kritische politisch-philosophische Spekulation in unkritische ideologische Option verwandelte. Es vermag also Ideo­logienkritik politischen Philosophierens zu üben. Einen solchen Versuch unternimmt die vorliegende Arbeit.

Ihr Gegenstand ist das publizistische Werk earl Schmitts, der als politisch-gesell­schaftskritischer Denker und als Rechtslehrer in Deutschland die Zeit der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Dritten Reiches mit mannigfachen Reflexio­nen begleitete. überblickt man Carl Schmitts Oeuvre, so findet man Schriften verschie­denartigsten Charakters zu den verschiedenartigsten Gegenständen. Carl Schmitt hat

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XIV Einleitung

sich mit vielen und recht unterschiedlichen Gegenständen beschäftigt. In der Mitte sei­ner überlegungen stehen Probleme des öffentlichen, des Verfassungs rechts und des Völ­kerrechts, denn sein Beruf war die Jurisprudenz. Aber die Art, in der er diese recht­lichen Erwägungen vornahm, sowie die Reflexionen, die er ihnen vorangehen und die er ihnen folgen ließ, heben sein Werk über den Bereich bloßer Jurisprudenz hinaus. Sie geben die Möglichkeit, es in den Problemzusammenhängen politischer Philosophie und soziologisch-politischer Ideologienkritik zu behandeln.

Am Anfang der Reihe seiner Veröffentlichungen steht, nach der rechtsdogmatischen Dissertation über den Schuldbegriff,l eine Untersuchung zum Beweise der metho­dologischen Autochthonität der Rechtspraxis im Unterschied zur Rechtstheorie.2 Es folgt eine philosophische Untersuchung über den Wert des Staates und die Be­deutung des einzelnen,3 die wesentlich aus einer dualistischen Konzeption von reiner Normativität und bloßer Faktizität entwickelt ist. Nach einem literaturkriti­schen Essay über Theodor Däubler 4 folgt die Veröffentlichung von Studien, in denen earl Schmitt versucht, die geistige Struktur der von ihm sogenannten politischen Romantik, insbesondere der Ideen Adam Müllers, nach der Formel: Okkasionalis­mus geschichtlich und systematisch herauszuarbeiten. earl Schmitt sucht sich von der moralischen, politischen und ontologischen Unentschiedenheit dieses romantischen Denkens abzugrenzen. 5

Anschließend erfolgt die Veröffentlichung einer großen Arbeit über die Diktatur, deren Begriff und Praxis historisch und systematisch untersucht wird. 6 Die Unter­suchung gelangt zu der Unterscheidung von Reformationsdiktatur und Revolutions­diktatur nach dem Vorbild der Unterscheidung von Fürsten- und Volkssouveränität. Sie geht aus von dem schon in Gesetz und Urteil gefaßten Gedanken, daß der Rechtswert der bloßen Entscheidung unabhängig von ihrem Gerechtigkeitsinhalt ist, und behandelt die Diktatur als einen Souveränitätsfall, an dem offenbar wird, daß die Substanz der Staatsgewalt jede rechtliche Regelung transzendiert. Die historischen und systematischen Auseinandersetzungen mit der politischen Romantik und dem Wesen der Diktatur führen zur Veröffentlichung von Vier Kapiteln zur Lehre von der Souveränität, zusammengefaßt unter dem Namen Politische Theologie. 7 earl Schmitt bestimmt darin zuerst den Souveränitätsbegriff. Er entwickelt so dann die Hypothese, daß das metaphysisch-theologische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, dieselbe Struktur hat wie das, was ihm "als Form seiner poli­tischen Organisation ohne weiteres einleuchtet". 8 earl Schmitt nennt die Aufweisung dieses Zusammenhanges Soziologie der für politische Gestaltungen maßgebenden rechtlichen Begriffe und politische Theologie. Die Methode einer solchen Soziologie findet er darin, daß politisch-rechtliche Begriffe, die auf konkrete Gesellschaftslagen in konkreten historischen Situationen Bezug haben, bis zu ihrer radikalen begriff­lichen Konsequenz und damit bis in die Metaphysik und Theologie hinein ausgedacht

1 earl Schmitt, Ober Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung, Diss. Breslau 1910. 2 earl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, Berlin 1912. 3 earl Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, Tübingen 1914. 4 earl Schmitt, Theodor Däublers ,Nordlicht". Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität

des Werkes, München 1916. 5 earl Schmitt, Politische Romantik, München - Leipzig 1919, 2. Auf!. 1925. 6 earl Smmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Sou'tieränitätsgedankens bis zum proletarischen

Klassenkampj, München 1921, 2. Auf!. 1928. ; earl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 2. Auf!., München 1934

(1. Auf!. 1922). 8 A. a. 0., S. 59.

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Carl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung xv

werden. Er versucht diese Methode sodann essayistisch an den Staats- und Rechts­theorien des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei gewinnt er die Möglichkeit, gegen die norm positivistischen Theorien eines Kelsen und Krabbe zu polemisieren, die das Wesen der Souveränität und seine Analogie zu Gottes Allmacht nicht zu erkennen vermögen bzw. nicht anerkennen wollen. Und er erörtert die Staatsphilosophie der Gegenrevolution, insbesondere de Maistre, Donoso Cortes u. a., die ihn im Unter­schied zu Positivismus einerseits, Fortschrittsliberalismus und politischer Romantik anderseits durch die moralische und metaphysische Entschiedenheit ihres Denkens beeindrucken.

In der Reihe der Veröffentlichungen folgt sodann die Arbeit über die geistesge­schichtliche Lage des modernen Parlamentarismus, der geistesgeschichtlich für tot erklärt wird. 9 Dem Parlamentarismus, der auf den relativen Rationalismus eines liberalen Denkens in Balancierungen und auf einen spezifischen Agnostizismus rela­tiviert wird, werden zwei Apodiktizitäten, die Apodiktizität des Rationalismus in Gestalt des Marxismus und die Apodiktizität des Irrationalismus in Gestalt des Anarchosyndikalismus bzw. Sorelismus, entgegengesetzt. Carl Schmitt findet, sich an der moralisch-theologischen Entschiedenheit der Gegenrevolutionäre, insbesondere Donoso Cortes' orientierend, daß sich der liberale Rationalismus im konsequenteren Rationalismus des marxistischen Diktaturgedankens aufgelöst habe, und er findet im sorelistischen Irrationalismus, im Mythos der Gewalt, die Vorbereitung der "Grund­lage einer neuen Autorität, eines neuen Gefühls für Ordnung, Disziplin und Hier­archie",10 In den Zusammenhang dieser Schriften Carls Schmitts zur geistesgeschicht­lichen Ortsbestimmung der Gegenwart gehört auch der Essay Römischer Katholizis­mus und politische Form, 11 darin Carl Schmitts Orientierung am gegenrevolutionären Denken sich näher zu qualifizieren sucht.

In den folgenden Jahren finden sich Schriften und Ausarbeitungen über "Die Dikta­tur des Reichspräsidenten",12 "Einmaligkeit und gleicher Anlaß bei der Reichstags­auflösung" ,13 "Die Kernfrage des Völkerbunds", 14 "Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik",15 "Der Status quo und der Friede",16 ein Rechtsgutachten bezüglich der Fürstenenteignung,17 Volksentscheid und Volksbegehren,18 "Völkerbund und Europa", 19 spezielle rechtswissenschaftliche Arbeiten und allgemeinere Schriften zu politischen, verfassungstheoretischen und völkerrechtlichen Problemen der Zeit

9 earl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., München - Leipzig 1926

(1. Aufl. 1923). 10 A. a. 0., S. 89. 11 earl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form (Schriftenreihe Der katholische Gedanke, Bd. 13),

München - Rom 1925. t2 earl Schmitt, ,.,Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung. Referat auf der Tagung

der deutschen Staatsrechtslehrer in Jena 1924", in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechts­

lehrer, 1924, Nr. 1. t3 earl Schmitt, .. !Einmaligkeit' und ,gleicher Anlaß' bei der Reichstagsauflösung nach Artikel 25 der Reichs­

verfassung", in; Archiv des öffentlichen Rechts, N. F., Bd. 8 (l925), Heft 1/2. u earl Schmitt, "Die Kernfrage des Völkerbunds·, in; Völkerrechts/ragen, Heft 18, Berlin 1926.

15 earl Schmitt, "Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik" [Rede, gehalten zur Jahrtausendfeier

der Rheinlande in Köln a111 14. April 1925], in; Flugschri/ten zum Rheinproblem, Folge 2, Heft 4, Köln 1925,

zum Teil abgedr. in: Positionen und Bf!grif;e im Kampf mit lFein1:1r, Rnnn, Ver5ai!les. 1929-1939, Hamburg 1940. '" earl Schmitt, "Ocr Status quo und der Friede", in; Hochland, 23. Jg. (1925), Heft 1. ti earl Schmitt, Unabh:ingigkeit der Richter, Gleichheit vor dem Gesetz und Gewährleistung des Privateigen­

tums nach der Weim.1rer VerfaS5tmg. Ein Rechtsgutachten zu den Gesetzentwürfen über die Vermägensaufeinander­

setzung mit den früheren regierenden Fürstenhäusern, Berlin - Leipzig 1926. 18 earl Schmitt, Volksentscheid tmd Volksbegehren. Ein Beitrag zur Auslegung der Weimarer Verfassung und

zur Lehre ",,'on der unmittelbaren Demoleratie (Beitr:ige zum ausUndischen öf/entlichen Recht und Völkerrecht,

Nr.2), !lerlin 1927. " earl Schmitt, .Der Völkerbund und Europa", in; Hochland, 25. Jg. (1928), Januarheft.

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XVI Einleitung

also. Eine Arbeit wiederum mehr grundsätzlichen Charakters, in der Carl Schmitt eine bestimmte politisch-philosophische Position expliziert, ist seine Schrift Der Begriff des Politischen.20

Bald darauf erscheint Carl Schmitts Verfassungslehre,21 in der er den Begriff der Verfassung zu bestimmen, die politischen und rechts staatlichen Elemente der moder­nen Verfassungen und das Wesen des parlamentarischen Systems wie das Wesen bundesstaatlicher Organisation in historischen und systematischen Erörterungen zu analysieren sucht. Er versteht das Ergebnis der Arbeit als eine Lehre vom bürger­lichen Rechtsstaat. Im Anschluß daran erfolgen Veröffentlichungen über "Völker­rechtliche Probleme im Rheingebiet",22 "Das Reichsgericht als Hüter der Verfas­sung".23 Carl Schmitt stellt verfassungs theoretische und verfassungs politische Er­wägungen darüber an, wer unter den gegebenen Umständen in der Weimarer Republik als "Hüterder Verfassung" angesehen werden sollte. Er verfolgt völker­rechtliche Entwicklungen, konstatiert verfassungstheoretisch die "Auflösung des Ent­eignungsbegriffs"24 und beobachtet "Wesen und Werden des faschistischen Staates" .25

In einem Aufsatz über die "Europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutrali­sierung"26 deutet er sich den Weg der europäischen Geschichte in den letzten vier Jahrhunderten als einen Weg stufenweiser Neutralisierung. Sowohl geistig als auch politisch werde seit dem Zerfall des mittelalterlichen Glaubens in einer Stufenfolge wechselnder Zentral gebiete kulturell-politischen Lebens versucht, neutralen Grund zu gewinnen, auf dem man sich einigen kann, um dem immer wieder aufbrechenden metaphysischen Streit und seinen Entscheidungen zu entgehen. Der Weg führt von der Theologie des 16. Jahrhunderts über die Metaphysik des 17. Jahrhunderts, die humanitäre Moralität der Aufklärung im 18. Jahrhundert über die Romantik zum Okonomismus des 19. Jahrhunderts und endet schließlich in der absoluten Neutra­lität der Technik, deren Instrumentarium sich eine neue Kultur im 20. Jahrhundert nicht mehr um der Neutralisierung willen, sondern um der positiven Sinngebung willen bemächtigen wird.

In den folgenden Veröffentlichungen setzt Carl Schmitt sich wieder mit Problemen wie "Der Völkerbund und das politische Problem der Friedenssicherung" ,27 "Ein­berufung und Vertagung des Reichstags" ,28 "Das Problem der innerpolitischen Neu-

.. earl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 3. Aufl., Hamburg 1933 (erste Veröffentlichung unter dem gleichen Titel in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd.56, 1927; Abdruck in der Schriftenreihe Politische Wissenschaft, Probleme der Demokratie, Heft 5, Berlin-Grunewald 1932; 1. Auflage al, selbständige Schrift unter dem Titel: Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, neu herausgegeben als Nr. 10 der Schriftenreihe Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik

und Geistesgeschichte, München - Leipzig 1932).

'1 Carl Sc.1mitt, Verfassungslehre, München - Leipzig 1928 (Neudruck 1952). " Carl Schmitt, • Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet·, Vortrag auf dem deutschen Geschichtslehrertag

vom 5. Oktober 1928, in: Rheinische Schicksalsfragen, Nr.27/28, Berlin 1928; abgedr. in: Positionen und Be­

griffe. '. (Anm. 15), S.97-108. 23 earl Schmitt, "Das Reimsgericht als Hüter der Verfassung'" in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen

Rechtsleben, Bd. 1, Berlin 1929. " Carl Schmitt, .Auflösung des Enteignungsbegriffs·, in: Juristische Wochenschrift, Bd. 58 (1924), Heft 8. 25 Carl Schmitt, • Wesen und Werden des faschistischen Staates·, in: Positionen und Begriffe . .. (Anm. 15),

S. 109 ff. (Besprechung des gleichnamigen Buches von Erwin v. Beckerath; zuerst veröffentlicht in: Schmollers

Jahrbuch, 53. Bd., 1929). 26 Carl Schmitt, "Europäische Kultur im Zwischenstadium der Neutralisierung'" in: Europäische Revue) 5. Jg.

(1929), Heft 8 (auch in: Positionen und Begriffe . .. , a. a. 0.).

" Cari Schmitt, Der Völkerbund und das politische Problem der Friedenssicherung (Teubners Quellensammlung für den Geschichtsunterricht, IV, 13), Leipzig 1930.

!S earl Schmitt, .Einberufung und Vertagung des Reichstags nach Art. 24 Reichsverf.·, in: Deutsche Juristen­

Zeitung, 35. Jg. (1930), Heft 20.

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Carl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XVII

tralität des Staates" ,29 "Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichs­verfassung"30 auseinander. Er philosophiert über die Tendenzen des innerpolitischen Pluralismus und die Tendenzen zum totalen Staat. So setzt er sich in "Staatsethik und pluralistischer Staat" 31 kritisch-polemisch mit der pluralistischen Theorie Laskis auseinander und in einer Schrift über H ugo Preuß, sein StaatsbegrifJ und seine Stel­lung in der deutschen Staatslehre 32 mit dem "Agnostizismus", in dem die Staats­theorie bisher geendet sei. In Der Hüter der Verfassung 33 gibt er dann eine Analyse der konkreten Verfassungslage, die in der Diagnose eines staatsauflösenden Zusam­menwirkens von Plurali~mus, Föderalismus und Polykratie gipfelt, der Justiz die Möglichkeit und Berechtigung einer verfassungshütenden Funktion abspricht und sich verfassungspolitisch in Orientit:rung an der "Wendung zum totalen Staat" an die plebiszitären und autoritärt:n Kräfte zu halten sucht, mit Hilfe deren der übergang zu einem plebiszitär-autoritären Regierungsstaat zu gewinnen ~ei.

earl Schmitt erörtert sodann das Verhältnis von Legalität und Legitimität 34 in der Gegenwartslage der Weimarer Republik und kommt zu dem Ergebnis, daß diese durch den Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats charakterisiert sei, durch die innere Entleerung des Legalitätssystems. Er tritt nach dem Preußen­schlag 1932 als Anwalt der Reichsregierung gegen das klageführende Preußen auf und interpretiert die Notverordnungspraxis dieser gespannten Jahre der Weimarer Republik in antiparlamentarischer verfassungspolitischer Absicht.

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 engagiert sich der Staatsrat earl Schmitt mit Energie für den Aufbau des neuen ~eidles. Er entwirft national­sozialistische Leitsätze für die Rechtspraxis,35 wirkt mit bei der neuen verfassungs­politischen und strafrechtlichen Gesetzgebung, kommentiert das Reichsstatthalterge­setz 36 und das "Ermächtigungsgesetz". 37 Er konstruiert das verfassungspolitische Konzept des totalen Führerstaats 38 und interpretiert die "Stellvertretung des Reichs­präsidenten"39 im nationalsozialistischen Sinne. Er rechtfertigt Adolf Hitler nach der Röhm-Affäre als höchsten Richter,40 stellt das Dritte Reich als neuen "Rechtsstaat"41 dar und formuliert das Programm für den "Neubau des Staats- und Verwaltungs­rechts" .42 Zugleich gibt er eine geschichtsphilosophische Neuverständigung über

29 earl Schmitt, "Das Problem der innerpolitischen Neutralität des Staates", in: Mitteilungen der Industrie­

und Handelskammer zu Berlin, 28. Jg. (1930), Heft 9. 30 earl Schmitt, "Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung"', in: Rechtswissenscha/t­

liehe Beitriige zum 25jährigen Bestehen der Handelshochschule Berlin, Berlin 1931. 81 Carl Schmitt, .Staatsethik und pluralistischer Staat", in: Kantstudien, 35. Jg. (1930), Heft 1 (Vortrag auf

der 25. Tagung der Deutschen Kant-Gesellschaft in Halle am 22. Mai 1929). 32 Carl Schmitt, Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre (Recht und

Staat in Geschichte und Gegenwart, Nr. 72), Tübingen 1930. 33 earl Schmitt, Der Hüter der Verfassung (Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Nr. 1), Tübingen

1931. " Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München - Leipzig 1932. 35 earl Schmitt, Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis, hrsgg. vom Presse- und 2eitschriftenamt des Bundes

nationalsozialistismer deutscher Juristen e.V., 1933.

36 Carl Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz (Das Recht der nationalen Revolution, Nr.3), Berlin 1933. 37 earl Schmitt, "Das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich", in: Deutsche Juristenzeitung,

38. Jg., 1933. 38 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit (Schriftenreihe Der

deutsche Staat der Gegenwart, hrsgg. von Carl Schmitt, Nr. 1), Hamburg 1933. 39 earl Schmitt, "Die Stellvertretung des Reimspräsidenten", in: Deutsche Juristenzeitung, 38. Jg., 1933 . .. Carl Schmitt, "Der Führer schützt das Recht. Lur Reichstagsrede Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934", in:

Positionen und Begriffe . .• (Anm. 15), S. 199-203; zuerst veröffentlicht in: Deutsche Juristenzeitung, 39. Jg., 1934. 41 Carl Schmitt, .Der Rechtsstaat", in: Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, hrsgg.

von Dr. Hans Frank, München 1935, 5.3-10. 42 earl Schmitt, "Der Neubau des Staats- und Verwaltungsredtts", in: Deutscher Juristentag. 4. Reichstagung

des Bundes nationalsozialistischer deutscher Juristen, Berlin 1933.

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XVIII Einleitung

»Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches",43 polemisiert gegen den »jüdischen Geist" und sucht die politische Haltung, die er jetzt, nachdem die Weima­rer Anarchie durch eine große Entscheidung beendet worden ist,44 einnimmt, philoso­phisch im sogenannten konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken zu fundieren, welches er gegen Normativismus, Dezisionismus und Positivismus abgrenzt. 45

Nachdem das Dritte Reich endgültig konstituiert ist, wendet Carl Schmitt seine Aufmerksamkeit in verstärktem Maße außenpolitischen und völkerrechtlichen Pro­blemen zu. Nach dem Jahre 1936 erfolgen keine wesentlichen Veröffentlichungen mehr, die sich mit konkreten innen- und verfassungspolitischen Problemen befassen. Hatte er bis dahin schon in verschiedenen Aufsätzen und Arbeiten völkerrechtliche Probleme erörtert, sich insbesondere mit der Lage der Rheinlande und der Fragwürdig­keit des Völkerbundes beschäftigt, so rechtfertigt er nun die völkerrechtlichen An­sprüche des Dritten Reiches. Er erwägt das Verhältnis vom totalen Staat, totaler Feindschaft und totalem Krieg.46 Er unterscheidet den nicht-diskriminierenden von einem den Feind zum Verbrecher diskriminierenden Kriegsbegriff und polemisiert gegen »die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff" ,47 für die er vor allem die universalistischen Ansprüche des angeblich für imperialistische Zwecke der West­mächte instrumentalisierten Völkerbundes verantwortlich macht. So rechtfertigt er die außenpolitischen Ansprüche des nationalsozialistischen Dritten Reiches, implizite auch die Möglichkeit, diese mit Hilfe des nicht-diskriminierenden, aber immerhin Krieges durchzusetzen, in einer neuen völkerrechtlichen Theorie, die vom Grund­satz der im Reichsbegriff faßbaren Großraumordnung ausgeht und sich von dort her gegen den nur zum diskriminierenden Krieg führenden völkerrechtlichen Universalis­mus wendet. Er verdächtigt den planetarischen Interventionismus universalistischer Völkerrechtskonzeptionen der ideologischen Verhüllung des Imperialismus und recht­fertigt umgekehrt den europäischen Imperialismus des Dritten Reiches aus der völker­rechtlichen Konzeption eines Pluralismus von Großraumordnungen.48

Inzwischen veröffentlicht Carl Schmitt eine Interpretation des Leviathan von Tho­mas Hobbes,49 darin er »den politischen Mythos als eine eigenmächtige, geschichtliche Kraft"50 zu begreifen sucht und im Leviathan das heiden-christliche Symbol eines

.. earl Schmitt, Staatsgejüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldate» (Der deutsche Staat der Gegenwart, Nr. 6), Hamburg 1934.

" Hugo Fiala, .Politischer Dezisionismus', in: Internationale Zeitschrijt für Theorie des Rechts, Jg.1935, S. 123, formuliert sehr deutlich: .,Die souveräne Entscheidung von einst fügt sich - nachdem sie gefallen ist - ein in die neu entstehende konkrete Ordnung."

.. earl Schmitt, Ober die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens (Schriften der Akademie für deut­sches Recht), Hamburg 1934 .

.. earl Schmitt, • Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat" (1937), in: Positionen und Begriffe . .• (Anm.15), S.235-239; zuerst veröffentlicht in: Völkerbund und Völkerrecht, 4. Jg., S. 139-145; ders., .Das neue Vae Neutris!" (1938), in: Positionen . .. , a. a. 0., S. 251-255; zuerst veröffentlicht in: Völkerbund und Völkerrecht,

4. Jg., S. 633-638; ders., • Völkerrechtliche Neutralität und völkische Totalität" (1938), in: Positionen . .. , a. a. 0., S.255-260; zuerst veröffentlicht in: Monatshefte für Auswärtige Politik, 5. Jg., Juli 1938, S. 613-618; ders., "Inter pacem et bellum nihil medium" (1939), in: Positionen . .. , a. a. 0., S. 244 ff.; zuerst veröffentlicht in:

Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht, 6. Jg. (1939), Heft 18. " earl Schmitt, Die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (Schriften der Akademie für Deutsches

Recht, Gruppe Völkerrecht, Nr.5), München 1938. "earl Schnütt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein

Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (Schriften des Instituts für Politik und Internationales Recht an der Universität Kiel, N. F., ßd.7), ßerlin - Wien - Leipzig 1939 (3. Aufl. 1941); dees., .Großraum gegen Universalis­mus. Der völkerrechtliche Kampf gegen die Monroedoktrin", in: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht, 6. Jg., Heft 7; abgedr. in: Positionen . .. (Anm. 15), S. 295-302; der,., .Der Reichsbegriff im Völkerrecht", in: Deutsches Recht, Heft 11, 1939; abgedr. in: Positionen . .. , a. a. 0., S. 303-312 •

.. earl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen

Symbols, Hamburg 1938. 5' A. a. 0., S.55.

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earl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XIX

Versuches sieht, gegenüber der juden-christlichen Aufspaltung der politischen Einheit in eine privat-sittlich-innere und eine öffentlich-rechtlich-äußere Sphäre die Einheit der politischen Form zu wahren. Der Versuch sei zwar fehlgeschlagen, der Staat habe sich zum leeren Legalismus des bloßen Funktionsmodus "Rechtsstaat" entsub­stantialisiert und formalisiert, er sei im Vordringen des politischen Agnostizismus zum bloßen Apparat geworden, dessen sich die indirekten verantwortungslos indi­vidualistischen Gewalten bemächtigten, die mit dem Messer der liberalen Freiheiten den Leviathan schlachteten und sein Fleisch unter sich verteilten. Aber von Hobbes sei gleichwohl diese Warnung vor den indirekten Gewalten zu lernen und festzuhalten.

1940 gibt Carl Schmitt dann eine ausgewählte Sammlung seiner verschiedenen klei­neren Aufsätze unter dem Titel Positionen und BegriffeS1 heraus, 1942 eine als Welt­geschichte dichterisch-philosophisch erzählte Darstellung seiner in der Völkerrechts­philosophie zur Anwendung gebrachten Konzeption von der geschichtswirksamen Bedeutung des Verhältnisses von "Land und Meer". Die Erfahrungen des europä­ischen Krieges und wohl auch der Entwicklung, die der Nationalsozialismus genom­men hat, veranlassen Carl Schmitt 1944, in einem Vortrag über "Die Lage der euro­päischen Rechtswissenschaft" einen entfesselten Technizismus des Rechtsdenkens fest-7ustellen, demgegenüber das Rechtsbewußtsein sich nur auf die Theorie zurückziehen könne.

Der Zusammenbruch des Dritten Reiches bringt Carl Schmitt dann in die Internie­rung. Nach dieser Erfahrung veröffentlicht er eine Reihe von kleineren Reflexionen unter dem Titel Ex Captivitate Salus 52 und eine Schrift über Donoso Cortes in ge­samteuropäiscber Interpretation.53 Darin philosophiert er darüber, daß der Gegen­satz von Anarchie und Autorität, der 1922 bis 1933 aktuell gewesen sei, inzwischen von dem Gegensatz von Anarchie und Nihilismus verdrängt worden sei. Er meint, die in der Welt herrschenden Meinungen haben sich mit großer Folgerichtigkeit in der Richtung weiterentwickelt, die von den Staatsphilosophen der Gegenrevolution spätestens 1848 erkannt worden war, und er versucht, über A. de Tocqueville, B. G. Niebuhr, Bruno Bauer, Donoso Cortes, S. Kierkegaard, J. Burckhardt, E. Troelrsch, Max Weber, W. Rathenau und O. Spengler eine geistesgeschic.1.ttliche Kontinuität des gegenrevolution ären Denkens zu konstruieren, um den Marxisten, die diese Konti­nuität seit dem Kommunistischen Manifest besitzen, das Monopol der Sinn deutung der Ereignisse streitig zu machen. Das Wesentliche der gegenrevolutionären Ein­sichten scheint ihm in Donoso Cortes' Erkenntnis zu liegen, "daß gerade die Pseudo­religion der absoluten Humanität den Weg zu einem unmenschlichen Terror öff­net" .54 Carl Schmitt ordnet sich selber dieser Tradition ein und interpretiert sich als der "schlechte, unwürdige und doch authentische Fall eines christlichen Epimetheus",53 d. h. als eines, der Christ sei, aber, wie der Epimetheus der griechischen Sage, die schöne Pandora mit der Büchse des Unheils eingelassen habe, als Christ jedoch den heilsgeschichtlichen Halt auch dadurch nicht verlieren konnte. Er versteht sein Ge­schichtsbild nach dem Vorbild Donoso Cortes' als "eschatologisch, ohne den Begriff der Geschichte zu leugnen" .56 Von der deutschen Intelligenz im Dritten Reich schreibt er, sie sei aus Angst vor dem Bürgerkrieg zur Beute des Nationalsozialismus gewor­den und wegen des unlösbaren, zum al auch außenpolitisch wichtigen Zusammenhangs

61 Smmitt, Positionen und Begriffe . •. (Anm. 15). 52 Carl Smmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945-47, Köln 1950. 63 Carl Smmitt, Donoso Cortes in gesamteuropäischer Interpretation. 4 Aufsätze, Köln 1950. 54 A. a. 0., S. 108. 6. Smmitt, Ex Captivitate . •. (Anm. 52), S. 12; das Bild stammt von Konrad Weiss, Der christliche Epi­

metheus, Berlin 1933. " Smmitt, Donoso Cortes . •. (Anm. 53), S. 105.

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xx Einleitung

von Schutz und Gehorsam loyal gegen die unbestrittene Regierung gewesen, habe sich dann aber in die kalte Höflichkeit des Schweigens zurückgezogen. Er versteht sich 1946 angesichts der "Siegerjustiz" als "der letzte, bewußte Vertreter des jus publicum Europaeum",57 der dessen Ende erfährt wie Benito Cereno in der Erzählung von Herman Melville die Fahrt des Piratenschiffs.

Das ist im groben überblick" die gedankliche Entwicklung Carl Schmitts, soweit sie sich aus seinen Publikationen ablesen läßt. Carl Schmitt war schon während der Weimarer Zeit eine faszinierende Gestalt, die vielerlei und in weite Kreise dringende Auseinandersetzungen hervorrief. Sein Werk gibt auch heute noch Anstoß zu kriti­scher Diskussion. Aber so glänzend sein Stil, so scharfsinnig seine Argumentation, so breit das Feld seiner Interessen und seines Wissens sind, so schwierig ist es auch, die Einheit seiner geistigen Gestalt zu erkennen. Die meisten Schriften der Sekundär­literatur58 beziehen sich nur auf einzelne Publikationen Carl Schmitts, insbesondere auf den Begriff des Politismen, oder versumen Gesamtdeutungen nur auf früheren Stufen und nur bis zu früheren Daten.59

Der Versuch, Carl Schmitts geistige Gesamtgestalt aus der Entwicklung der von ihm selbst unterschiedenen drei Arten des Remtsdenkens zu begreifen, smeint nom der fruchtbarste Weg zu sein. So versteht Carl Schmitt die Entwicklung seiner philoso­phischen Einsimt selbst als die fortschreitende überwindung des positivistischen Den­kens auf dialektischem Wege. Zuerst wird der Normativismus mit Hilfe des Dezisio­nismus überwunden. Es stellt sich heraus, daß der Normativismus alle konkrete und substantielle Ordnung im wirklichen menschlimen Zusammenleben zerstört, weil er sie nur aus einer abstrakten, vielleicht metaphysisch im Natur- und Vernunftrecht objektivierten Normativität zu begreifen vermag, von deren reinem Sollen man nicht weiß, woher es und wie es zur Wirklichkeit kommt. Diese Absetzung vom Normativismus gelingt mit Hilfe des Dezisionismus, der erkennt, daß alle Ordnung als wirkliche Ordnung nur durm das Wirken wirklichen Willens zu begreifen ist und der daher an den Anfang jeder Ordnung den begründenden Akt einer souveränen, auch Normen erst setzenden, reinen Entsmeidung stellt, durch die entschieden wird, was in der Sache als Recht und Unrecht fortan zu gelten habe. Dieser Dezisionismus aber steht in Gefahr, von der verabsolutierten reinen Entscheidung her das Sein zu punktualisieren und also ebenfalls die Fülle der Wirklimkeit zu verfehlen.

Carl Schmitt grenzt sim deshalb auch gegen die Verabsolutierung des Dezisionismus ab. Die rechtsphilosophische Schule des Positivismus begreift er als eine Entartung,

57 Sd!mitt, Ex Captivitate . .. (Anm. 52), S. 75. Sein absd!ließendes völkerred!tlid!es Werk hat Sd!mitt in: Ver Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, vorgelegt. Er führt darin seine bereits während des Dritten Reid!es entwickelten Gedanken über völkerred!tlid!e Großraumordnung und Anti­

Universalismus zu Ende. * Die jetzt vorliegende Aufsatzsammlung: earl Sd!mitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924

bis 1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1958, ersd!ien nad! Absd!luß der vorliegenden Untersud!ung und konnte daher leider nid!t mehr berücksid!tigt werden. Die Aufsatzsammlung ist zumal durd! die Art der Aus­wahl und durd! die von earl Sd!mitt beigegebenen Kommentare aufsd!lußreid!.

58 Vgl. die Zusammenstellung bei Piet Tommissen, Versuch einer Carl-Schmitt-Bibliographie, Düsseldorf 1953. 59 Eine interessante Deutung versucht z. B. die offenbar an der Staatslehre Hermann Hellers orientierte Arbeit

von Heinrich Wohlgemuth, Das Wesen des Politischen in der heutigen deutschen neoromantischen Staatslehre. Ein

methodenkritischer Beitrag zu seiner Begriffsbildung, Diss. Erlangen 1932. Wohlgemuth setzt sid! zugleid! mit Leibholz und Smend auseinander, faßt aber den Begriff des Neoromantischen nicht scharf genug. -Eine aufsd!lußreid!e Deutung earl Sd!mitts gibt Hans Krupa, Carl Schmitts Theorie des Politischen (Studien

und Bibliographien zur Gegenwartsphilosophie, hrsgg. von W. Smingnitz, Heft 22), Tübingen 1937. Krupa sieht Schmitts Entwicklung nach dem Vorbild dessen eigener Unterscheidung dreier Arten des Rechtsdenkens von einem Normativismus, der schon dezisionistische Züge trage, über den Dezisionismus, der vor allem als Anti­liberalismus begreiflich wäre, zum "konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenken" verlaufen, das sich im National­sozialismus erfülle. Philosophisd!e Deutungen des Begriffs des Politisd!en haben versud!t: Helmuth Plessner, Macht

und menschliche Natur, Berlin 1931; Hermann Hefele, .Zum Problem des Politisd!en", in: Abendland, April 1928.

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earl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XXI

die von den Verfallsformen des Normativismus und Dezisionismus zugleich zehrt. Kraft seines dezisionistischen Bestandteils vermag der rechtsphilosophische Positivis­mus die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts, weil sie ins Metajuristische führen würde, abzubrechen und die bestehende staatliche Macht anzuerkennen, ohne nach ihrem guten Recht zu fragen oder sie als eine konkrete Ordnung vorzustellen. Kraft seines normativistischen Bestandteils aber kann der Rechtspositivismus das Bedürfnis nach der in der Berechenharkeit des Rechts liegenden Sekurität befriedigen, indem er von der staatlichen Macht erwartet, daß ihre Entscheidung als Norm weiter gelten und sie sich dem so gesetzten Gesetz selbst unterwerfen soll. Das Ordnungs- und Ge­staltungsdenken dagegen, das earl Schmitt von Anbeginn auch im Dezisionismus als Antipositivismus gesucht und gemeint hat, vermag sowohl die Bedeutung des Eigen­wertes der Dezision als auch die Vermittlungsfunktion positiv gesetzter Normen zu erfassen und vereint damit zugleich die Möglichkeit, das gute Recht, das sich in der Wirklichkeit eines geschichtlichen Volkes herausbildet, zu fassen und in politische Gestaltungen umzusetzen.

Aber auch diese Deutung der inneren Stimmigkeit der geistigen Gesamtgestalt Carl Schmitts ist ungenügend. Denn das sogenannte "konkrete Ordnungs- und Ge­staltungsdenken" ist selbst zunächst nur eine formalontologisch begriffene Anwei­sung für das Denken über Politik, Recht, Geschichte und Sittlichkeit. Was es inhaltlich bedeutet, kann erst gefaßt werden, wenn man Carl Schmitts konkrete politische und ideologische Stellungnahme innerhalb der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit der zwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland betrachtet. Außerdem aber wäre selbst damit noch immer nicht die Ganzheit der geistigen Person Carl Schmitts und ihre innere Stimmigkeit begriffen, denn es bliehe dabei noch seine Selbstdeutung als christlicher Epimetheus und seine nie ganz versinkende Orientierung an der geschichts­bejahenden Eschatologie Donoso Cortes' außer Betracht.

Die Gesamtdeutung der geistigen Gestalt Carl Schmitts ist also einigermaßen schwierig. Biographisch wird dieser Versuch von anderen vielleicht später einmal besser unternommen werden können. Systematisch liegt jetzt die Gesamtdarstellung von Peter Schneider 60 vor, die sich dicht und in voller Breite an das publizistische Werk hält, auch eine gründliche juristische Kritik unternimmt und eine geistige Deu­tung der Gesamtgestalt versucht, begreiflicherweise aber vor der Fülle historischen und geistesgeschichtlichen Wissens und der Vielfalt der literarischen Beziehungen im Werk Carl Schmitts sich den Versuch einer ausgebreiteten geistesgeschichtlichen Ein­ordnung versagte.

In der vorliegenden Untersuchung kommt es jedoch gar nicht auf eine Gesamt­darstellung des Werkes Carl Schmitts und ebensowenig auf den Versuch einer Ge­samtdeutung seiner geistigen Gestalt an. Dafür kann vor allem auf die Arbeit von Peter Schneider verwiesen werden. Da diese Gesamtdarstellung vorliegt, kann die hier angestellte Untersuchung es sich um so eher gestatten, viele Seiten im Werk Carl Schmitts zu vernachlässigen und nur die für ihren speziellen Zweck interessierenden herauszunehmen. Die konkrete Person Carl Schmitts, die Einheit seiner geistigen Gestalt und ebenso die Einheit und Ausbreitung seines Werkes gehören nicht zur Fragestellung. So ergibt es sich, daß für die vorliegende Untersuchung häufiger Ge­danken in den Mittelpunkt gerückt werden, die für den geisteswissenschaftlichen Blick auf das Gesamtwerk nur am Rande zu liegen scheinen. Auch das Resultat der Untersuchung will von Gewicht weniger für die Deutung der geistigen Gestalt Carl Schmitts sein als für den Nachweis der Möglichkeit einer bestimmten Art ideologien-

60 Peter Schneider, Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtslehre Carl Schmitts, Frankfurt a. M.

1957. Die Deutung aus der Lehre C. G. Jung' vermag nicht ganz zu befriedigen.

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XXII Einleitung

kritischer Analyse politischen Philosophierens. Wenn im Folgenden stets einfach von Carl Schmitt die Rede ist, so geschieht das also vor allem aus Gründen einfacherer Darstellung.

Die Aufgabenstellung der vorliegenden Untersuchung will vor allem als die Aufgabenstellung der Ideologienkritik verstanden werden und der Vorführung einer bestimmten Möglichkeit ideologienkritischer Analyse politischen Philosophierens dienen. Daher sind alle Gegenstände im Werke Carl Schmitts ausgeklammert worden, die sich in keine unmittelbar faßbare Beziehung zu seinen Diagnosen des Zustands der parlamentarischen Demokratie in der Weimarer Republik und seine Stellung­nahme für das Dritte Reich bringen lassen. Herausgelassen sind auch alle speziellen rechts dogmatischen Analysen Carl Schmitts, für deren Beurteilung der Verfasser nicht zuständig ist. Von Interesse für den Zweck der vorliegenden Untersuchung waren dagegen alle Gedankengänge grundsätzlicher Natur, insbesondere die Erörterungen politischer Prinzipien, alle konkreten Diagnosen der gesellschaftlich-politischen Wirk­lichkeit der Zeit sowie die Deutungen historischer Zusammenhänge.

Auch die Gliederung der vorliegenden Untersuchung hält sich nicht an die zeitliche Reihenfolge der Publikationen und ebensowenig an die verschiedenen, von Carl Schmitt gewählten Darstellungszusammenhänge. Sie ergibt sich vielmehr ausschließ­lich aus dem Zweck der Untersuchung. Es soll gezeigt werden, welche ideologischen Momente die politisch-philosophierenden Diagnosen zur gesellschaftlich-politischen Situation der Gegenwart im Werk Carl Schmitts enthalten, welche Verzeichnungen des Gegebenen und welche Verkennungen des zu Erwartenden zu erkennen geben, wo rationale Kritik ihre Grenzen überschreitet und sich in ideologische Apologie verwandelt.

Zunächst ist daher in einer Analyse der in Betracht kommenden Schriften Carl Schmitts herauszuarbeiten versucht worden, welche Postulate und Bedingungen Carl Schmitt für die Funktionalität und höhere Legitimität des als parlamentarischer Ge­setzgebungsstaat konstruierten Rechtsstaats in seiner Kritik verwandt hat. Es werden daher in einem ersten Teil die allgemeine Idee des Rechts- und Verfassungsstaats und die speziellen Bedingungen der Funktionalität und Legitimität des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats dargestellt, so, wie sie sich aus Carl Schmitts Argumentationen herausanalysieren lassen.

Alsdann ist in der weiterdringenden Analyse der in Frage kommenden Schriften Carl Schmitts versucht worden, das Bild zu rekonstruieren, das er sich von der poli­tisch-gesellschaftlichen und der Verfassungswirklichkeit des parlamentarisch-demo­kratischen Gesetzgebungsstaats der Gegenwart, insbesondere der Weimarer Republik, machte. Im Verlauf dieser Analyse zeigte sich, daß Carl Schmitts Diagnose positive und negative Momente feststellt. Außerdem zeigte sich, daß seine Reflexionen, so distanziert sie gegenüber ihren Gegenständen sein mögen, stets durchdrungen sind von einem konkreten politischen und politisch rechtsetzenden Gestaltungswillen. Diese aus der Einheit von Theorie und Praxis denkende Art der Diagnose macht die Lektüre der Schriften Carl Schmitts ebenso interessant wie ihre genauere Analyse schwierig. Reflexion auf das Bestehende, Erwägung dessen, was politisch getan wer­den könnte, rationale Abschätzung und ideologische Option durchdringen sich in recht verwickelter Weise gegenseitig. Für den Zweck der vorliegenden Untersuchung mußte also eine Absonderung der verschiedenen Momente versucht werden. In sol­cher Absonderung wird deutlich, wie sich die verschiedenen Momente gegenseitig bedingen, wie bestimmte Diagnosen nur für bestimmte andere, und zwar ideologische Optionen evident sein können, wie bestimmte Momente in sonst rationaler Kritik sich nur durch ihre ideologisch-apologetische Funktion im Denken erklären. Für das Ergebnis solcher Analysen wurde dann folgende Darstellung gewählt.

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earl Schmitts Werk und die vorliegende Untersuchung XXIII

In einem zweiten Teil wird versucht, die von earl Schmitt aburteilend geübte Kritik an der gesellschaftlich-politischen und Verfassungs wirklichkeit der parlamen­tarischen Demokratie, insbesondere der Weimarer Republik, zu einem geschlossenen Bild zusammenzusetzen. Die Wirklichkeit erscheint als ein Entartungszustand des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats. Der zweite Teil erhält einen Anhang, in dem zusammengetragen wird, welche der angebotenen Lösungs- und Abhilfemöglichkeiten für die zweifellos konstatierbaren Krisenerscheinungen der parlamentarischen Demo­kratie unter den Bedingungen der modernen Massengesellschaft und insbesondere in der Weimarer Republik earl Schmitt für untauglich oder bloß halbtauglich hielt. Es bleibt also als Gesamteindruck von der gegebenen Wirklichkeit das Bild eines hoffnungslosen Entartungszustands bestehen, das Bild einer Anarchie und eines Zu­stands kalten oder schwelenden Bürgerkrieges.

Der dritte Teil der vorliegenden Arbeit wird versuchen, andeutungsweise eine unpolemische Darstellung des Zustands, der Struktur und Gestalt der modernen Massengesellschaft zu geben; hervorzuheben, welche politischen Einrichtungen und Organisationsformen sie mit funktioneller Unumgänglichkeit benötigt; und zurecht­zurücken, was als der rationale Kern in den Diagnosen earl Schmitts anzusehen ist. Die Hoffnung richtet sich darauf, daß auf diese Weise deutlicher wird, wo die Ver­zeichnungen liegen, die earl Schmitts Diagnosen enthalten, jene Verzeichnungen, die sich aus einer rationalen Kritik - einer für die parlamentarische Demokratie optie­renden und aus dem Bewußtsein der strukturell-funktionellen Unausweichlichkeiten sowohl als auch der Doppelgcfahr von Anarchie und totalitärer Diktatur lebenden Kritik - nicht rechtfertigen lassen und daher ihren Ursprung in einer bestimmten un­kritischen ideologischen Option haben müssen.

Der vierte Teil der vorliegenden Arbeit soll dann deutlich hervortreten lassen, wodurch sich alle Verzeichnungen in earl Schmitts Diagnosen ergeben. Es wird das Bild des totalen Führerstaats dargestellt, den earl Schmitt für die Lösung aus den bestehenden Schwierigkeiten und als die der modernen Gesellschaftswirklichkeit an­gemessene politische Organisationsform betrachtete. Dazu werden alle Gedanken und Begriffsbildungen earl Schmitts herangezogen, in deren Konsequenz dieses Bild eines totalen Führerstaats liegen mußte. Außerdem wird gezeigt, wie sich die Deutung der geschichtlichen Zusammenhänge, seine Geschichtsphilosophie, nach den Maßstäben dieser ideologisch-politischen Option gliedert. Im ganzen wird sich also herausstellen, daß das hier in Betracht genommene Gedankengut earl Schmitts durchformt ist von jener falschen Alternative zwischen anarchischer Freiheit und autoritärer Ordnung, wodurch seine rationale Kritik eben jene auffallenden Züge apologetisch unkritischer Ideologie erhält.

Der Verfasser möchte an dieser Stelle für das Verständnis, die Anregungen und die hilfreiche Kritik danken, die ihm und dieser Arbeit zuteil wurden. Der Dank gilt vor allem dem inzwischen verstorbenen Direktor des Philosophischen Seminars der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Eduard May, und den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin, ins­besondere dem Professor der Philosophie und Soziologie Dr. Hans-Joachim Lieber, dem Wissenschaftlichen Leiter dieses Instituts, Professor der Soziologie Dr. Otto Stam­mer, und dem Professor der Wissenschaft von der Politik, Dr. Ernst Fraenkel. Für das Lesen der Korrekturen danke ich Herrn Albrecht Schultz.

Berlin-Dahlem, im August 1958 Dr. jürgen Fijalkowski