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Stellungnahme zum Urteil des EGMR (Große Kammer) „Lautsi vs. Italien“ aus völkerrechtlicher Sicht unter besonderer Berücksichtigung des Urteils der Zweiten Sektion Jonas Dereje Seminararbeit zum Völkerrecht Sommersemester 2011

EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

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Stellungnahme zum Kruzifix-Verfahren des EGMR (Lautsi)

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Page 1: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

Stellungnahme zum Urteil des

EGMR (Große Kammer) „Lautsi vs. Italien“

aus völkerrechtlicher Sicht –

unter besonderer Berücksichtigung des

Urteils der Zweiten Sektion

Jonas Dereje

Seminararbeit zum Völkerrecht

Sommersemester 2011

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I

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................ I

Literaturverzeichnis ........................................................................................................... IV

A. Einleitung ..................................................................................................................... 1

B. Sachverhalt und Gang des Verfahrens ...................................................................... 3

I. Sachverhalt ................................................................................................................. 3

II. Verfahren bis zum ersten Urteil .................................................................................. 3

III. Verfahren bis zum zweiten Urteil ............................................................................... 5

C. Entscheidungsgründe des Urteils vom 3.11.2009 ..................................................... 6

I. Allgemeine Prinzipien .................................................................................................. 6

1. Systematik, Zweck und Umfang des Art. 2 EMRK-ZP1 ........................................... 6

2. Negative Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK ............................................................ 7

II. Beurteilung des konkreten Sachverhalts..................................................................... 7

1. Erweiterung der Prinzipien ...................................................................................... 7

2. Religiöser Gehalt des Kruzifix ................................................................................. 7

3. Wirkung des Kruzifix ............................................................................................... 8

4. Rechtfertigungserwägungen ................................................................................... 8

5. Schlussfolgerung .................................................................................................... 9

D. Darstellung der Kritik am Urteil vom 3.11.2009 ......................................................... 9

I. Religiöser Gehalt des Kruzifix ...................................................................................... 9

II. Wirkung des Kruzifix ................................................................................................... 9

III. Fehlende Berücksichtigung kollidierender Rechte ....................................................10

IV. Nichtanwendung der „margin-of-appreciation“ Doktrin .............................................11

V. Kritik an der Form und den Konsequenzen des Urteils ..............................................11

VI. Zusammenfassung...................................................................................................12

E. Entscheidungsgründe des Urteils vom 18.3.2011 ....................................................12

I. Rechtsvergleichende Betrachtung ..............................................................................12

II. Einleitende Erläuterung .............................................................................................13

III. Allgemeine Prinzipien ...............................................................................................13

1. Systematik, Zweck und Umfang des Art. 2 EMRK-ZP1 ..........................................13

2. Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten .............................................................14

IV. Beurteilung des konkreten Sachverhalts ..................................................................14

1. Anwendungsbereich des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 ....................................................14

2. Religiöser Gehalt und nachweisbare Wirkung des Kruzifix .....................................14

3. Beurteilungsspielraum („margin-of-appreciation“) ..................................................15

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II

4. Überwiegende Sichtbarkeit („preponderant visibility“) des Kruzifixes .....................15

5. Schlussfolgerung des Gerichts...............................................................................16

F. Analyse des Urteils vom 18.3.2011 unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes

.........................................................................................................................................16

I. Struktur des Urteils .....................................................................................................16

II. Anwendbarkeit des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 ................................................................17

1. Grundsätze und Anwendungsbereich des Art. 2 EMRK-ZP1 .................................17

2. Stellungnahme zur Lösung der Großen Kammer ...................................................19

III. Religiöser Gehalt des Kruzifix ...................................................................................20

IV. Einräumung der „margin-of-appreciation“ .................................................................21

1. Grundsätze der Doktrin ..........................................................................................22

a) Allgemeines .......................................................................................................22

aa) Entwicklung und Herleitung ..........................................................................22

bb) Bedeutung im Rahmen der EMRK ...............................................................23

b) Anwendungsbereich und Bestimmung ...............................................................24

aa) Wortlaut .......................................................................................................24

bb) Legitimer Zweck ...........................................................................................25

cc) Bedeutung des betroffenen Rechts ..............................................................25

dd) Konsens .......................................................................................................26

ee) Besonderheiten bei positiven Verpflichtungen ..............................................26

c) Bezugspunkt des Beurteilungsspielraums ..........................................................26

d) Grenzen .............................................................................................................27

e) Zwischenergebnis ..............................................................................................27

2. Stellungnahme zur Lösung der Großen Kammer ...................................................27

a) Begründung des Beurteilungsspielraums ...........................................................27

aa) Traditionsfortführung ....................................................................................28

bb) „Respect“ und Rechtsprechung zum Erziehungswesen ...............................28

cc) Mangelnder Konsens ....................................................................................29

dd) Nicht berücksichtigte Faktoren .....................................................................31

b) Grenzen .............................................................................................................32

c) Zwischenergebnis ..............................................................................................32

V. Wirkung des Kruzifix .................................................................................................33

1. „No evidence“ eines Einflusses ..............................................................................33

2. Auswirkung der „preponderant visibility“ .................................................................35

a) Indoktrinierung ...................................................................................................35

aa) Vergleich mit den Fällen Folgerø und Zengin ...............................................35

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III

bb) Relativierungs- und Neutralisierungserwägungen ........................................37

(1) Lediglich ein „passive symbol“ ...................................................................37

(2) Kein „powerful external symbol“ .................................................................38

(3) Kein obligatorischer Religionsunterricht .....................................................40

(4) Öffnung des Schulalltags für andere Religionen ........................................40

(5) Aufrechterhaltung des allgemeinen Erziehungsrechts ................................41

b) Beeinträchtigung der Pflicht zur objektiven, kritischen und pluralistischen

Wissensvermittlung und Neutralität ........................................................................41

3. Unberücksichtigte Gesichtspunkte .........................................................................43

a) Kollidierende Rechte und wirkungsverstärkende Aspekte ..................................44

b) Minderheitenschutz ............................................................................................45

4. Zwischenergebnis ..................................................................................................46

G. Abschließende Stellungnahme .................................................................................47

H. Ausblick ......................................................................................................................49

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IV

Literaturverzeichnis

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V

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Page 7: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

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Heckel, Martin Das Kreuz im öffentlichen Raum - Zum „Kruzifix Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1996, S. 453 – 482 (zit.: Heckel, DVBl 1996)

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Hobe, Stephan Einführung in das Völkerrecht, 9. Auflage, Tübingen 2008 (zit.: Hobe, Völkerrecht)

Page 9: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

VIII

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Page 10: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

IX

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Michl, Fabian Cadit crux? – Das Kruzifix-Urteil des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: JURA 2010, S. 690 – 694 (zit.: Michl, JURA 2010)

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Pabel, Katharina Die Rolle der Großen Kammer des EGMR bei Überprüfung von Kammer-Urteilen im Lichte der bisherigen Praxis – Überlegungen ausgehend vom Fall Leyla Şahin zum Kopftuch-Verbot an türkischen Universitäten, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2006, S. 3 - 11 (zit.: Pabel, EuGRZ 2006)

Page 11: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

X

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Pellonpää, Matti Kontrolldichte des Grund- und Menschenrechts-schutzes in mehrpoligen Rechtsverhältnissen – Aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2006, S. 483 – 486 (zit.: Pellonpää, EuGRZ 2006)

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Puppinck, Grégor An alliance against secularism, in: L’Osservatore Romano, 28.07.2010 (zit.: Puppinck, Romano)

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Rohleder, Kristin Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebe-nen-System – Unter besonderer Berücksichti-gung des Verhältnisses zwischen Bundesverfas-sungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Baden-Baden 2009 (zit.: Rohleder, Grundrechtsschutz)

Rorive, Isabelle Religious Symbols in the Public Space: In Search Of a European Answer, in: Cardozo Law Review 30 (2009), S. 2669 - 2698 (zit.: Rorive, CLR 2009)

Page 12: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

XI

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Schöbener, Burkhard Die „Lehrerin mit dem Kopftuch“ – europäisch gewendet!, in: JURA 2003, S. 186 – 191 (zit.: Schöbener, JURA 2003)

Streinz, Rudolf Kruzifixe in Schulen - ein Verstoß gegen die Menschenwürde? Zum Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. November 2009, in: Zur Debatte 1 (2010), S. 1 - 7. (zit.: Streinz, Debatte 2010)

Tettinger, Peter/ Stern, Klaus (Hrsg.)

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Tulkens, Francoise The European Convention on Human Rights and Church-State Relations: Pluralism v. Pluralism, in: Cardozo Law Review 30 (2009), S. 2575 - 2591 (zit.: Tulkens, CLR 2009)

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Waldhoff, Christian Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates?, Gutachen D zum 68. Deutschen Juristentag in Berlin, 2010 (zit.: Waldhoff, DJT 2010)

Walter, Christian Die Hoheit über das Kreuz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.11.2009, Nr. 269, S. 8. (zit.: Walter, FAZ 2009)

Page 13: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

XII

Weber, Albrecht Kopftuchverbot an türkischer Universität – Anmerkung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 2006, S. 173 – 174 (zit.: Weber, DVBl 2006)

Weiler, Joseph EJIL Editorial Vol 21:1- Lautsi: Crucifix in the Classroom Redux, EJIL: Talk, 01.06.2010, abrufbar unter http://www.ejiltalk.org/lautsi-crucifix-in-the-classroom-redux/ (Stand: 01.05.2011) (zit.: Weiler, EJIL 2010)

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Wildhaber, Luzius The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, in: Internationale Gemeinschaft und Menschen-rechte - Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag, Köln, 2005, S. 1101 – 1108 (zit.: Wildhaber, FS Ress)

Yourow, Howard Charles The Margin of Appreciation Doctrine in the Dynamics of the Strasbourg Jurisprudence and the Construction of Europe, in: Zeitschrift für europarechtliche Studien, 1998, S. 233 - 248 (zit.: Yourow, ZEuS 1998)

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Page 14: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

1

A. Einleitung

Ausdrücke wie „katholische Taliban“1, „militante Atheistin“2 oder „laizis-

tischer Fundamentalismus“3 scheinen im ersten Moment einem radika-

len Kampf der Kulturen entnommen zu sein. Jedoch handelt es sich

hierbei um eine kleine Auswahl der öffentlichen Reaktionen im An-

schluss an die Verkündung des ersten Urteils des Europäischen Ge-

richtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Lautsi ge-

gen Italien.4 In diesem kam die Zweite Sektion des EGMR zu dem ein-

stimmigen Ergebnis, dass die obligatorische Zurschaustellung eines

Kruzifixes in einem italienischen Klassenzimmer eine Verletzung der in

der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbürgten

Rechte und Freiheiten darstellt. Diese Feststellung führte in der Folge

zu den angedeuteten, oftmals heftigen Reaktionen aus Gesellschaft

und Politik. Auch hochrangige Vertreter der italienischen Regierung

äußerten sich empört.5 Eine solche Resonanz im Anschluss an ein Ur-

teil des Straßburger Gerichts war bis dato unerreicht.6

Dem deutschen Juristen rufen derartige Vorkommnisse Erinnerungen

an die vor nationalen Gerichten schon mehrfach entschiedene, weitge-

hend parallele Problematik der Verfassungskonformität von Kruzifixen

in Klassenzimmern ins Gedächtnis.7 Diese Bearbeitung wird indes kei-

nen Vergleich des EGMR-Urteils zur der Entscheidung des Bundesver-

fassungsgerichts erbringen. Es soll an dieser Stelle lediglich darauf

aufmerksam gemacht werden, dass das Urteil des Bundesverfas-

sungsgerichts aus dem Jahre 1995 in gewisser Weise eine Akzeptanz-

krise des Gerichts herbeiführte.8 Diese spiegelte sich auch damals in

1 So die Klägerin Soile Lautsi laut Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.11.2009, Nr. 257, S. 5, „Kritik am Kruzifix-Urteil“.

2 So ein Vertreter der italienischen Regierung laut Süddeutsche Zeitung v. 1.7.2010, S. 7, „Anhörung im Kruzifix-Streit“.

3 So ein Vertreter des Vatikan laut Frankfurter Rundschau v. 30.06.2010, S. 3, „Das Kreuz mit dem Kreuz“.

4 EGMR, Urt. v. 3.11.2009 - Nr. 30814/06 (Lautsi/Italien), derzeit in den Re-ports of Judgments and Decisions des EGMR noch nicht veröffentlicht. Be-reits abrufbar unter http://www.echr.coe.int/echr/en/hudoc.

5 Bspw. Silvio Berlusconi („Diese Entscheidung ist nicht akzeptabel für uns Italiener.“) oder der damalige italienische Verteidigungsminister Ignazio La Russa („Die Kruzifixe werden in allen Schulzimmern und allen öffentlichen Räumen bleiben! Sie [die Kläger] können sterben! Sie und diese falschen, internationalen Organisationen, die nichts zählen!“), beide Aussagen aus In-terviews in der Fernsehsendung „La Vita in Diretta“ v. 04.11.2009 (Rai Uno).

6 Puppinck, Romano, S. 4; Weiler, I.CON 2010, S. 1.

7 BVerGE 93, 1; zur daraufhin in Bayern eingeführten „Widerspruchslösung“ siehe BVerwGE 109, 40.

8 Vgl. Kriele, FAZ 2010; Walter, FAZ 2009.

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2

der Rezeption der Entscheidung in der Öffentlichkeit wider.9

Vor diesem Hintergrund erscheinen Aussagen, die dem EGMR-Urteil

attestierten, dass es Europa „unausweichlich dem politischen Scheitern

[nähere]“10, „radikal antieuropäisch“11, oder zumindest „ein klassisches

Fehlurteil“12 eines „ideologischen, europäischen Gerichts“13 sei, umso

gravierender. Denn gerade der EGMR als völkerrechtlicher Gerichtshof

besitzt von vornherein keine mit einem nationalen Verfassungsgericht

vergleichbare Legitimität. Er muss diese daher auch der europäischen

Öffentlichkeit immer wieder aufs Neue beweisen, um die Akzeptanz zu

erhalten, die er für eine effektive Existenz benötigt.14 Verbieten die

Verbürgungen der EMRK also tatsächlich so zweifelsfrei die gerügte

Praxis, wie es die Einstimmigkeit der ersten Entscheidung vermuten

lässt? Und darf der EGMR als völkerrechtliches Gericht überhaupt den

Anspruch erheben, sensible innerstaatliche Fragen hinsichtlich des

Zusammenspiels von Schulwesen und Religion uneingeschränkt zu

beurteilen?

Von größtem Interesse ist hier nun das abschließende Urteil der Gro-

ßen Kammer des EGMR, welches kurz vor Beginn der hiesigen Bear-

beitung erging.15 Dieses widerruft im Ergebnis das vielgescholtene ers-

te Urteil. Es ist daher insbesondere der Frage nachzugehen, inwieweit

die Begründung für diesen Widerruf von der des ersten Urteils ab-

weicht. Hat sich das Gericht der sachlichen Kritik berechtigterweise

angenommen? Welche Bedeutung hat die Entscheidung für künftige

Rechtsstreitigkeiten religiöser Natur, gerade mit Hinblick auf die inner-

halb Europas vermehrt auftretenden Konflikte mit dem Islam? Und was

sagt der Widerruf über das Zusammenspiel des EGMR und den Mit-

gliedstaaten des Europarats aus?

9 Bspw. die Äußerung des damaligen bayerischen Kultusministers Hans Maier: „Gegen den Unsinn und Übermut auch höchster Gerichte ist Widerstand ge-boten“, Interview im FOCUS Nr. 33 (1995), S. 44.

10 So der italienische Kulturminister Sandro Bondi laut ZEIT Online v. 3.11.2009, www.zeit.de/gesellschaft/2009-11/urteil-kreuze-eugh, „Kreuze in Klassenzimmern verletzen Menschenrechte“(Stand: 1.5.2011).

11 So Kurienkardinal Walter Vesper laut Die Welt v. 6.11.2009, S. 2, „Die deut-schen Bischöfe sind enttäuscht“.

12 So der familienpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Johannes Singhammer laut Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 5.11.2009, Nr. 257, S. 5, „Manifestation eines aggressiven Säkularismus“.

13 So das italienische Bildungsministerium laut spiegelonline v. 4.11.2009, www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,659297,00.html, „Europa lässt uns nur die Hollywood-Kürbisse“(Stand: 1.5.2011).

14 Vgl. Hailbronner, FS Mosler, S. 361; siehe dazu auch unten, F.IV.bb).

15 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 18.3.2011 - Nr. 30814/06 (Lautsi/Italien), derzeit in den Reports of Judgments and Decisions des EGMR noch nicht veröffentlicht. Bereits abrufbar unter http://www.echr.coe.int/echr/en/hudoc.

Page 16: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

3

Zur Erörterung der aufgeworfenen Fragen wird zunächst ein Überblick

über den Gesamtkontext verschafft (B.). Sodann werden die Entschei-

dungsgründe des ersten Urteils (C.) und die aufgekommene Kritik (D.)

an diesem dargestellt. Im Anschluss erfolgt die Skizzierung der Ent-

scheidungsgründe des Urteils der Großen Kammer (E.), welches bis

dato ebenso wie die Ausgangsentscheidung nur im Original vorliegt.

Dieses Vorgehen dient der darauffolgenden Analyse des aktuellen Ur-

teils (F.). Deren Ergebnisse werden in einer abschließenden Stellung-

nahme (G.) zusammengefasst und es folgt ein Ausblick (H.).

B. Sachverhalt und Gang des Verfahrens

I. Sachverhalt

Die Klägerin, Soile Tuulikki Lautsi, ist italienische Staatsbürgerin mit

finnischen Wurzeln. Ihre beiden Söhne Datacio und Sami Albertin be-

suchten in den Jahren 2001-2002 die staatliche Mittelschule Istituto

comprensivo statale Vittorino da Feltre in Abano Terme, Norditalien.

Die beiden Jungen waren zu diesem Zeitpunkt 11 und 13 Jahre alt.

Frau Lautsi und ihr Mann nahmen Anstoß an der Tatsache, dass in der

Schule ihrer Söhne ein Kruzifix an der Wand eines jeden Klassenzim-

mers hing.

II. Verfahren bis zum ersten Urteil

Den Unmut darüber äußerte ihr Mann sodann im Rahmen einer Ver-

sammlung des Schulbeirats im April 2002. Gleichzeitig bat er um die

Entfernung der Kruzifixe. Zur Begründung der Forderung berief er sich

auch auf eine Entscheidung des Corte Suprema di Cassazione (Kassa-

tionsgericht), dem höchsten Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit

Italiens, aus dem Jahr 2000.16 Der Schulbeirat entschied im Anschluss

daran jedoch mehrheitlich, die Kruzifixe an der Wand zu belassen.

Daraufhin erhob Frau Lautsi am 23.07.2002 Klage beim Tribunale

Amministrativo Regionale, dem zuständigen Verwaltungsgericht der

Region Venetien. Sie berief sich auf die Verletzung des in der italieni-

schen Verfassung verankerten Gebots der Säkularität sowie der Religi-

onsfreiheit aus Art. 9 EMRK.

16

Urteil der vierten Strafsektion des Kassationsgerichtshofs v. 1.3.2000, Nr. 4273; in diesem Fall war ein Kruzifix in einem Wahllokal (ein umfunktionier-tes Klassenzimmer) angebracht. Das Gericht sah darin eine Verletzung des Gebots der staatlichen Säkularität sowie der Gewissensfreiheit des gegen seine Bestrafung klagenden Wahlprüfers.

Page 17: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

4

Im Zuge dieser Geschehnisse erließ der Minister für Unterricht, Univer-

sitäten und Forschung im Oktober 2002 eine Weisung, nach der alle

Schulverwaltungen ausdrücklich dafür Sorge zu tragen hatten, dass

Kruzifixe in den Klassenzimmern angebracht sind. Auch trat der Minis-

ter dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren als Partei bei. Dort be-

gründete er die Notwendigkeit der Zurschaustellung der Kruzifixe mit

einer Verpflichtung, die aus zwei königlichen Dekreten aus den Jahren

192417 und 192818 herrühre. Diese Dekrete seien auf Grund verschie-

dener, sie bestätigender Akte der italienischen Verwaltung noch immer

in Kraft.

Frau Lautsi beantragte daraufhin beim Verwaltungsgericht erfolgreich

die Vorlage der Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Dekrete an den

Corte costituzionale della Repubblica Italiana, das italienische Verfas-

sungsgericht. Das Verfassungsgericht sah sich jedoch außerstande,

über die Verfassungsmäßigkeit der Weisung und der beanstandeten

Vorschriften zu urteilen. Auf Grund der lediglich verwaltungsinternen

Wirkung stellten beide kein Gesetzesrecht und somit auch keinen taug-

lichen Beschwerdegegenstand dar.

Mit Entscheidung vom 17.03.2005 wies sodann das Verwaltungsgericht

die Klage ab. Diese Abweisung gründete im Wesentlichen auf der Er-

wägung, dass die erwähnten Dekrete als taugliche Ermächtigungs-

grundlagen noch immer in Kraft seien und außerdem das Kruzifix als

Symbol der italienischen Geschichte und Kultur als ein integraler Be-

standteil der italienischen Identität anzusehen sei. Ferner sei ein Kruzi-

fix nicht nur als religiöses, sondern vielmehr auch als universelles Zei-

chen eines allgemeinen Bekenntnisses zu Werten wie Solidarität, Frei-

heit, Toleranz und Gleichheit anzuerkennen. Daher sah das Gericht

keine Verletzung des Säkularitätsgebots.

Gegen dieses Urteil legte Frau Lautsi Berufung beim Consiglio di Stato

(Staatsrat), dem obersten italienischen Verwaltungsgericht ein. Durch

Urteil vom 13.02.200619 wurde die Berufung verworfen, wobei auch der

Staatsrat die Ansicht vertrat, dass das Kruzifix heutzutage als Symbol

nicht nur religiöser, sondern auch jener säkularen Werte angesehen

werden könne, welche die universellen italienischen Tugenden alltägli-

chen Lebens verkörpern. Mit diesem Urteil war der nationale Rechts-

weg für Frau Lautsi erschöpft, vgl. Art. 35 Abs. 1 EMRK.

17

Art. 118 Königliches Dekret Nr. 965 v. 30.04.1924. 18

Art. 119 Königliches Dekret Nr. 1297 v. 26.04.1928. 19

Urteil der sechsten Sektion des Staatsrats v. 13.2.2006, Nr. 556.

Page 18: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

5

Sie wandte sich daher mit einem Antrag gemäß Art. 34 EMRK vom

27.07.200620 an den EGMR. Dort machte sie, in eigenem Namen und

in dem ihrer Kinder, geltend, dass die Anbringung der Kruzifixe in den

Klassenzimmern eine Verletzung des in der Konvention garantierten

Rechts auf Bildung (Art. 2 EMRK-ZP1), der Religionsfreiheit (Art. 9

EMRK) und des Diskriminierungsverbotes (Art. 14 EMRK) darstelle. Mit

einstimmigem Urteil vom 3.11.200921 stellte die Zweite Sektion22 des

Gerichtshofs eine Verletzung des Art. 2 EMRK-ZP1 in Verbindung mit

Art. 9 EMRK fest und gab der Klage statt. Auf Grund dieser Verletzung

wurde die Republik Italien außerdem zur Zahlung eines Schmerzens-

geldes in Höhe von 5000 € gemäß Art. 41 EMRK verurteilt.

III. Verfahren bis zum zweiten Urteil

Im Anschluss an die Urteilsverkündung kam es zu den sehr zahlrei-

chen, in der Einleitung bereits angesprochenen, Reaktionen und Stel-

lungnahmen. Am 28.01.2010 stellte die italienische Regierung sodann

einen Antrag auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer

gemäß Art. 43 Abs. 1 EMRK, Art. 73 EGMR-VerfO, welcher von einem

Ausschuss der selbigen angenommen wurde, vgl. Art. 43 Abs. 2

EMRK. Daraufhin beantragten verschiedene Drittparteien, dass ihnen

das Recht zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme nach Art. 36

Abs. 2 EMRK, Art. 44 Abs. 3 EMRK-VerfO eingeräumt werde.

Die letztlich zugelassenen Drittparteien waren ein Verbund von 33 Mit-

gliedern des Europäischen Parlaments, die Regierungen der Mitglied-

staaten Armenien, Bulgarien, Griechenland, Litauen, Malta, Monaco,

Rumänien, Russland, San Marino und Zypern sowie diverse Nichtre-

gierungsorganisationen23. Zehn weitere Mitgliedstaaten stellten das

Urteil öffentlich in Frage und forderten die Respektierung der religiösen

Identitäten und Traditionen eines jeden Landes.24 Somit traten insge-

samt 21 der 47 Mitgliedstaaten des Europarats dem Urteil öffentlich

entgegen. Am 30.06.2010 fand eine mündliche Verhandlung über die

Begründetheit gemäß Art. 59 Abs. 3 EGMR-VerfO statt.

20

Antragsnummer 30814/06. 21

EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien). 22

Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, § 51 Rn. 36, zum Aufbau der Spruchkörper. 23

Greek Helsinki Monitor; Associazone nazionale del libero Pensiero; Euro-pean Centre for Law and Justice; Commission international de ju-rists;Eurojuris; Interights; Human Rights Watch; Zentralkomitee der deut-schen Katholiken; Semaines sociales de France; Associazioni Cristiane La-voratori Italiani.

24 Albanien, Kroatien, Ungarn, Mazedonien, Moldawien, Österreich, Polen, Serbien, Slowakei, Ukraine.

Page 19: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

6

Den endgültigen Schlusspunkt unter das Verfahren setzte das Urteil

der Großen Kammer des EGMR vom 18.03.2011.25 Diese stellte mit

einer Mehrheit von fünfzehn zu zwei Stimmen fest, dass entgegen dem

ersten Urteil keine Verletzung von Art. 2 EMRK-ZP1 in Verbindung mit

Art. 9 EMRK vorliegt. Dieses Urteil ist nach Art. 44 Abs. 1 EMRK end-

gültig und somit sofort rechtskräftig.26

C. Entscheidungsgründe des Urteils vom 3.11.2009

I. Allgemeine Prinzipien

Die Zweite Sektion stellt der Urteilsbegründung27 allgemeine Prinzipien

voran, welche sie der bisherigen Rechtsprechung entnimmt.

1. Systematik, Zweck und Umfang des Art. 2 EMRK-ZP1

Zunächst wird auf diese Weise der Schutzbereich des Art. 2 S. 2

EMRK-ZP1 als eigenes Recht der Eltern genauer bestimmt. Dessen

beide Sätze müssten nicht nur in wechselseitigen Bezug gesetzt wer-

den. Vielmehr sei auch die Ausstrahlungswirkung der Art. 8 EMRK

(Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 9 EMRK und

10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) bei der Frage nach dem

Inhalt des Rechts zu berücksichtigen.28

Weiterhin stellt die Zweite Sektion fest, dass Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1

maßgeblich dazu diene, eine pluralistische Erziehung der Kinder si-

cherzustellen. Eine solche sei ein wesentlicher Bestandteil einer „de-

mokratischen Gesellschaft“ im Sinne der Konvention.29 Die Schule solle

ein Treffplatz verschiedener religiöser und weltanschaulicher Überzeu-

gungen sein, in der die Schüler Wissen über ihre jeweiligen Traditionen

und Gedanken vermittelt bekommen. Verhaltensweisen, die einer Mis-

sionierung ähneln, seien jedoch unzulässig.30

Aus diesem Grund ergebe sich aus Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 die Pflicht

des Staates, bei der Erfüllung der von ihm übernommenen Bildungsan-

gebote darauf zu achten, dass jedes im Lehrplan enthaltene Gedan-

kengut objektiv, kritisch und pluralistisch vermittelt wird. Dem Staat sei

verboten, eine Indoktrinierung der Kinder zu verfolgen, welche die reli-

25

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien). 26

Grabenwarter, EMRK, § 14 Rn. 2. 27

Die Zusammenfassung der Entscheidungsgründe orientiert sich an der eng-lischen Originalversion des Urteils.

28 Verweis auf EGMR, Urt. v. 7.12.1976 - Nr. 5095/71 (Kjeldsen, Busk Madsen und Pedersen/Dänemark), Series A no. 23, S. 4 - 30, Ziff. 52.

29 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 47 (b).

30 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 47 (c).

Page 20: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

7

giösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern nicht achte.

Dies sei die Grenze, die nicht überschritten werden dürfe.31

2. Negative Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK

Die Zweite Sektion bestätigt auch die Existenz einer negativen Religi-

onsfreiheit im Rahmen des Art. 9 EMRK, welche bei der Auslegung des

Art. 2 EMRK-ZP1 zu berücksichtigen sei. Daraus folge auch die staatli-

che Neutralitäts- und Objektivitätspflicht. Diese sei unvereinbar mit

jedwedem Auftreten, welches die Legitimität einer religiösen Überzeu-

gung oder deren Ausübung bewerte.32 Im Rahmen des Unterrichts sol-

le die Neutralität der Bewahrung des Pluralismus dienen.33

II. Beurteilung des konkreten Sachverhalts

1. Erweiterung der Prinzipien

Nach Ansicht des Gerichts bringen die aufgestellten Prinzipien mit sich,

dass in besonders sensiblen Bereichen, wie der Schulausbildung von

Kindern, die besonders verletzlich seien, auch jede Form von indirek-

tem Aufzwingen eines Glaubens von Seiten des Staates verboten sei.

Bei Schülern handele es sich um Menschen, die reifebedingt oftmals

noch nicht die Fähigkeiten hätten, die erforderlich seien, um die geisti-

ge Distanz zu der Botschaft zu bewahren, die aus der Bevorzugung

einer Religion durch den Staat hervorgehe.34

2. Religiöser Gehalt des Kruzifix

Das Gericht geht sodann der Wirkung des Kruzifixes nach und be-

stimmt dafür zunächst dessen genaue Bedeutung. Die italienische Re-

gierung hatte geltend gemacht, dass das Symbol des Kruzifixes zwar

unter anderem ein religiöses Symbol darstelle, jedoch ohne weiteres

auch als eine Verkörperung anderer Werte wie Gleichheit, Freiheit und

Toleranz angesehen werden könne und zudem eine immense histori-

sche Bedeutung für Italien habe. Dem tritt die Zweite Sektion entgegen,

indem sie dem Kruzifix einen primär religiösen Gehalt attestiert und die

Zurschaustellung nicht mehr vom historischen Kontext erfasst sieht.35

31

EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 47 (d). 32

EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 47 (e). 33

Verweis auf EGMR (Große Kammer), Urt. v. 29.6.2007 – Nr. 15472/02 (Fol-gerø u.A./Dänemark), ECHR 2007-VIII, Ziff. 84.

34 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 48.

35 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 51, 52.

Page 21: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

8

3. Wirkung des Kruzifix

Das Gericht stellt weiterhin fest, dass die Überzeugungen der Klägerin

ausreichend ernsthaft und widerspruchsfrei seien, sodass die Kruzifix-

präsenz als unvereinbar mit diesen angesehen werden könne. Denn

die Klägerin sehe in der Zurschaustellung eine Parteinahme zugunsten

des Katholizismus.36 Für ihre Kinder sei es unmöglich, ein Kruzifix an

der Wand des Klassenzimmers nicht wahrzunehmen.37 Im Rahmen der

Schulumgebung könne es als „kraftvolles, externes Symbol“ („powerful,

external symbol“)38 angesehen werden. Weiterhin berücksichtigt die

Zweite Sektion den Umstand, dass gerade in Ländern mit einer klaren

religiösen Mehrheit, die uneingeschränkte Präsenz von religiösen

Symbolen dieser Mehrheit dazu geeignet sein könne, Druck auf an-

dersgläubige oder nichtgläubige Schüler auszuüben.39 Die religiöse

Färbung der Schulumgebung könne emotional beunruhigend insbe-

sondere auf diese Schüler wirken. Insoweit garantiere die negative Re-

ligionsfreiheit nicht nur die Nichtbelästigung durch religiöse Veranstal-

tungen oder Religionsunterricht, sondern auch die Abwesenheit religiö-

ser oder atheistischer Symbole. Dies gelte umso strenger in einer Um-

gebung, der sich die Betroffenen nicht ohne erheblichen Aufwand ent-

ziehen können.40

4. Rechtfertigungserwägungen

Eine Rechtfertigung mit dem Verlangen anderer Eltern nach einer reli-

giös ausgerichteten Erziehung ihrer Kinder oder die Notwendigkeit

eines Kompromisses mit den christlichen, politischen Parteien Italiens

erkennt das Gericht nicht an. Zwar müssten auch diese Elternrechte

berücksichtigt werden, jedoch überwiege hier die staatliche Pflicht zur

konfessionellen Neutralität. Es ist der Zweiten Sektion nicht ersichtlich,

wie ein vernünftigerweise der katholischen Religion zuzuordnendes

Symbol in einem Klassenzimmer die in der Konvention geforderte Plu-

ralität als Teil der „demokratischen Gesellschaft“ im Rahmen der Aus-

bildung bewahren solle.41

36

EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 53. 37

EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 54. 38

Verweis auf EGMR, Ent. v. 15.2.2001 – Nr. 42393/98 (Dahlab/Schweiz), ECHR 2001-V, S. 447 – 464.

39 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 50.

40 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 55.

41 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 56.

Page 22: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

9

5. Schlussfolgerung

Die Zweite Sektion kommt somit letztlich zu dem Ergebnis, dass die

Zurschaustellung eines religiösen Symbols, insbesondere in Klassen-

zimmern, ein Verstoß gegen das Recht der Eltern, ihre Kinder entspre-

chend ihren eigenen Überzeugungen zu erziehen, sowie einen Verstoß

gegen das Recht der Kinder, einen bestimmten Glauben zu haben oder

nicht zu haben, darstelle. Dieser Verstoß liege darin begründet, dass

die staatliche Neutralitätspflicht in Bildungsfragen nicht gewahrt wür-

de.42 Mit der geltend gemachten Verletzung des Art. 14 EMRK setzt

sich das Gericht angesichts der schon anderweitig festgestellten Kon-

ventionsverletzung nicht eingehend auseinander.

D. Darstellung der Kritik am Urteil vom 3.11.2009

Im Folgenden wird die negative, sachliche Kritik, welche nach Erlass

des ersten Urteils aufgekommen ist, dargestellt, ohne diese vorerst zu

bewerten. Dies eröffnet im Rahmen der Analyse des zweiten Urteils die

Möglichkeit der Feststellung, inwieweit diese Kritik berücksichtigt wurde

und ob diese Berücksichtigung zu Recht erfolgte.

I. Religiöser Gehalt des Kruzifix

Dem Gericht wurde vorgeworfen, sich nicht genug mit den möglichen,

anderweitigen Bedeutungen des Kruzifixes auseinandergesetzt zu ha-

ben. Schon rein äußerlich sei die Erörterung mit nur zwei kurzen Ab-

sätzen sehr knapp ausgefallen.43 Ohne verstärkende, anderweitige

Umstände könne keine christliche Dominanz innerhalb aller möglichen

Bedeutungen angenommen werden.44 Ein Gericht dürfe keine autorita-

tive Festlegung vornehmen, sondern müsse auch andere Deutungs-

möglichkeiten in Erwägung ziehen.45

II. Wirkung des Kruzifix

Es wurde auch bemängelt, dass das Gericht in keiner Weise eine kon-

krete Beeinflussung der Schüler zugunsten der römisch-katholischen

Religion begründet, sondern lediglich mögliche Auswirkungen be-

schrieben habe.46 Ein solcher, hypothetischer Kausalzusammenhang

sei wohl kaum nachweisbar und müsste alle möglichen Faktoren be-

42

EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 57, 58. 43

Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 453. 44

CPL, Comments, Rn. 25. 45

Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 453. 46

Hillgruber, KuR 2010, S. 23.

Page 23: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

10

rücksichtigen. Das Gericht hätte aber wenigstens einen Versuch unter-

nehmen müssen, sein Ergebnis fundiert herzuleiten.47 Es begnüge sich

im Gegenteil damit, dass das Kruzifix als „kraftvolles, externes Symbol“

wahrgenommen werden könne, nicht jedoch müsse.48

Gerade in seiner Eigenschaft als „passives Symbol“ sei das Kruzifix

jedoch in seiner Wirkung nicht vergleichbar mit einem aktiven Verhal-

ten.49 Die Zurschaustellung eines Kruzifix sei kein Zwang, denn weder

müsse man es betrachten, noch dränge es zum Anschluss an die rö-

misch-katholische Kirche.50 Eine Indoktrinierung der Schüler liege mit-

hin gerade nicht vor.51 Es gehe zwar unter Umständen eine „störende“

Wirkung vom Kruzifix aus. Diese reiche jedoch nicht für eine Rechts-

verletzung aus, denn es gäbe kein Recht darauf, keinen Anstoß zu

nehmen.52

III. Fehlende Berücksichtigung kollidierender Rechte

Des Weiteren wurde angebracht, dass das Recht der anderen Eltern,

welche ihre Kinder in die traditionelle Religion hereinwachsen lassen

wollen, vollkommen außer Betracht geblieben sei.53 Es würden keiner-

lei Ausführungen zum angemessenen Ausgleich zwischen den kollidie-

renden Rechten der negativen und positiven Religionsfreiheit ge-

macht.54 Eine solche Verabsolutierung der Individualrechte führe zur

Annullierung der Interessen der Gemeinschaft.55 Dies liefe auf einen

Missbrauch der Minderheitenposition hinaus.56 Erstaunlich sei auch,

dass nicht auf die staatliche Erziehungsaufgabe - also eigenes staatli-

ches Interesse als Abwägungselement - eingegangen worden sei.57

Ebenso sei nicht berücksichtigt worden, dass Italien den Pluralismus

fördere, indem die Schulen auch anderen Religionen gegenüber tole-

rant eingestellt seien. So würden verschiedenste Bräuche gläubiger

Schüler akzeptiert und sogar Feste anderer Religionen gefeiert.58

47

Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 453. 48

Berkmann, Lautsi, Rn. 46; ECLJ, Memorandum, S. 3. 49

CPL, Comments, Rn. 7; ECLJ, Memorandum, S. 16; Monacos Regierung, EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 48.

50 ADF, Submission, S. 2; CPL, Comments, Rn. 7 ff.

51 Berkmann, Lautsi, Rn. 87; Puppinck, Symposium 2010, Rn. 28 ff.

52 ADF, Submission, S.2; CPL, Comments, Rn.9; Hillgruber, KuR 2010, S.22 f.

53 Kriele, FAZ 2010.

54 Streinz, Debatte 2010, S. 4, 7.

55 Puppinck, Romano, S. 3; Weiler, I.CON 2010, S. 4.

56 Italiens Regierung, EGMR (Große Kammer),s.o.Fn.15 (Lautsi/Italien),Ziff.40.

57 Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 455.

58 Italiens Regierung, EGMR (Große Kammer),s.o.Fn.15 (Lautsi/Italien),Ziff.39.

Page 24: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

11

IV. Nichtanwendung der „margin-of-appreciation“ Doktrin

Ein weiterer, erheblicher Kritikpunkt betraf die Tatsache, dass das Ge-

richt innerhalb seiner Begründung kein einziges Mal auf die Doktrin der

„margin-of-appreciation“ eingegangen ist. Diese Rechtsfigur (zur Dar-

stellung derselben siehe unten F.IV.), welche den Staaten einen erheb-

lichen Beurteilungsspielraum einräume, sei in dem vorliegenden Fall

von fundamentaler Bedeutung gewesen.59 Es beständen in religiösen

Fragen vielfältige Praktiken innerhalb der Mitgliedstaaten. Der EGMR

als Organ einer völkerrechtlichen Vereinbarung habe hier lediglich sub-

sidiäre Kontrollbefugnisse.60 Dieser dürfe sich nicht als Super-

Verfassungsgericht begreifen, sondern müsse die Diversität in Europa

achten und bestehen lassen.61

In diesem Zusammenhang wurde auch bemängelt, dass keinerlei

rechtsvergleichende Betrachtungen erfolgten.62 So stelle beispielswei-

se die Nationalflagge von 18 der 47 Mitgliedstaaten ein religiöses Sym-

bol dar.63 16 der Mitgliedstaaten seien konfessionell gebunden oder

erwähnten zumindest eine besondere Beziehung zu einer speziellen

Religion in den jeweiligen Verfassungsdokumenten. Elf von diesen 16

Staaten hätten Kreuze in ihren Schulklassen oder in ihren Gerichten

hängen und in nur zwei dieser Elf hätten sich nationale Gerichte gegen

diese Praxis ausgesprochen.64

V. Kritik an der Form und den Konsequenzen des Urteils

Neben der konkreten, inhaltlichen Kritik wurden auch in formaler Hin-

sicht Mängel erkannt. Das Urteil sei apodiktisch65 und die Begründung

desselbigen mit nur elf Ziffern viel zu kurz geraten.66 Weiterhin halte

sich die Begründung nicht an eine klare Prüfungsstruktur.67

59

Vgl. Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 455 ff.; CPL, Comments, Rn. 29; Italiens Regierung, EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 34; Rumäniens Regierung, EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 49; Puppinck, Symposium 2010, Rn. 13; Walter, FAZ 2009; Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Semaines sociales de France und Associazioni cristiane Lavoratori italiani, vgl. EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 55.

60 ADF, Submission, S. 2 f.; Puppinck, Symposium 2010, S. 3.

61 Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 457, 458.

62 ADF, Submission, S. 8; Italiens Regierung, vgl. EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 34.

63 CPL, Comments, Rn. 37: Andorra, Azerbaijan, Dänemark, Finnland, Geor-gien, Griechenland, Island, Liechtenstein, Malta, Moldawien, Norwegen, Serbien, Slovakei, Spanien, Schweiz, Schweden, Türkei, Großbritannien.

64 ECLJ, Memorandum, S. 5.

65 Walter, FAZ 2009; Weiler, EJIL 2010.

66 Weiler, EJIL 2010.

67 Berkmann, Lautsi, Rn. 13 ff; Leskovar, ICL, S. 236.

Page 25: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

12

Außerdem habe die Zweite Sektion die Begriffe „Neutralität“ und „Säku-

larismus“ miteinander vertauscht. Die Bevorzugung des Säkularismus

sei gerade keine neutrale Position, denn es würde einer antireligiösen

Haltung der Vorzug gewährt werden.68 So sei eine weiße Wand ohne

Kruzifix, also die Abwesenheit von Religion, gerade in einem mehrheit-

lich christlichen Land eindeutig keine neutrale Lösung.69 Sie sende die

klare Botschaft, dass Religion aus dem Alltag verbannt würde. 70 In der

Konsequenz sei es nun ein Menschenrecht, in einem säkularisierten

Staat zu leben, in dem die Religion aus der Öffentlichkeit verbannt

würde.71 In Europa gebe es jedoch gerade vielfältige Beziehungen zwi-

schen Kirche und Staat. Folge man der Argumentation des Gerichts, so

müsse auch die Jahreszählung ähnlich dem Kalender der französi-

schen Revolution geändert,72 die Feiertage und sogar der Sternenkranz

der Europafahne auf Grund seines biblischen Hintergrundes abge-

schafft werden.73

VI. Zusammenfassung

Es bleibt festzuhalten, dass an dem ersten Urteil gravierende Kritik in

handwerklicher als auch in materieller Hinsicht geübt wurde, wobei der

häufigste Kritikpunkt die Nichtberücksichtigung der „margin-of-

appreciation“ Doktrin darstellte. Diese ist daher im Rahmen der Analy-

se des zweiten Urteils besonders zu beachten.

E. Entscheidungsgründe des Urteils vom 18.3.2011

I. Rechtsvergleichende Betrachtung

Den eigentlichen Entscheidungsgründen74 wird ein Vergleich der recht-

lichen Regelungen und Praktiken bezüglich der Zurschaustellung von

religiösen Symbolen in den staatlichen Schulen der Mitgliedstaaten

vorangestellt. 75 Nach diesem bestehen in der großen Mehrheit der Mit-

gliedstaaten keine speziellen Rechtsvorschriften hinsichtlich dieser

Frage. Ausdrücklich verboten sei die Präsenz in drei76, ausdrücklich

68

Italiens Regierung EGMR (Große Kammer), s.o.Fn.15 (Lautsi/Italien),Ziff.35. 69

ADF, Submission, S. 7, 8; Weiler, I.Con 2011, S. 166, der hier die Parabel von Marco und Leonardo zu Verdeutlichung anführt.

70 CPL, Comments, Rn. 43.

71 Kriele, FAZ 2010.

72 Puppinck, Romano, S. 3.

73 Kriele, FAZ 2010.

74 Die Zusammenfassung der Entscheidungsgründe orientiert sich an der eng-lischen Originalversion des Urteils.

75 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 26 - 28.

76 Frankreich, Georgien und Mazedonien.

Page 26: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

13

geboten in fünf77 und übliche Praxis in sechs78 Mitgliedstaaten. In fünf79

Staaten seien oberste Gerichte mit der Problematik befasst gewesen.

II. Einleitende Erläuterung

Das Gericht legt sodann dar, dass es in der folgenden Entscheidung

einzig über die Vereinbarkeit der Zurschaustellung der Kruzifixe in itali-

enischen Schulzimmern mit den Verbürgungen der EMRK, also insbe-

sondere nicht über die abstrakte Frage der Zulässigkeit der Kruzifixprä-

senz an anderen Orten, zu entscheiden habe. Des Weiteren stellt das

Gericht fest, dass der Säkularismus ein ausreichendes Maß an Stich-

haltigkeit, Ernsthaftigkeit, Zusammenhang und Bedeutung besitze, um

als „Überzeugung/Weltanschauung“ gemäß Art. 2 EMRK-ZP180, Art. 9

EMRK angesehen zu werden.81

III. Allgemeine Prinzipien

1. Systematik, Zweck und Umfang des Art. 2 EMRK-ZP1

Im Verhältnis zu Art. 9 EMRK sei Art. 2 EMRK-ZP1 grundsätzlich als

lex specialis zu betrachten, so dass auch im Folgenden der letztere

Artikel die maßgebliche Norm sei.82 Jedoch müsse Art. 9 EMRK, wel-

cher auch die Freiheit, keiner Religion anzugehören, schütze, zur Aus-

legung herangezogen werden. Dieser verpflichte die Mitgliedstaaten zu

Neutralität und Objektivität.83 Ihre Aufgabe sei es, die öffentliche Ord-

nung, das religiöse Gleichgewicht und die Toleranz innerhalb der de-

mokratischen Gesellschaft zu wahren, insbesondere zwischen entge-

gengesetzten Gruppierungen.84 Dies gelte für Anhänger verschiedener

Glaubensrichtungen und auch im Hinblick auf nicht gläubige Personen.

Sodann legt das Gericht das Wort „achten“ („respect“) des Art. 2

EMRK-ZP1 aus. Dieses bedeute nicht nur ein bloßes „anerkennen“

oder „berücksichtigen“ des Elternrechts. Vielmehr beinhalte es auch

eine positive Verpflichtung des Staates.85

77

Deutschland (einige Bundesländer), Italien, Österreich, Polen, Schweiz (ei-nige Kommunen).

78 Griechenland, Irland, Malta, Rumänien, San Marino, Spanien.

79 Deutschland, Polen, Rumänien, Schweiz, Spanien.

80 Der EGMR bezieht sich oftmals nur generell auf den Art. 2 EMRK-ZP1.

81 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 57, 58.

82 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 59.

83 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 60.

84 Verweis auf EGMR (Große Kammer), Urt. v. 10.11.2005 – Nr. 44774/98 (Leyla Şahin/Türkei), ECHR 2005-XI, S. 173 - 230, Ziff. 107.

85 Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.2.1982 – Nr. 7511/76 (Campbell und Cosans/ Großbritannien), Series A no. 48, S. 4 – 20, Ziff. 37.

Page 27: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

14

2. Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten

Was genau jedoch unter „achten“ zu verstehen sei, könne nicht abs-

trakt beantwortet werden, da es für diesbezüglich vielfältige Praktiken

in den einzelnen Mitgliedstaaten gebe. Daraus folge, dass die Staaten

einen weiten Beurteilungsspielraum („margin-of-appreciation“) in Bezug

auf die Erfüllung dieser Verpflichtung haben.86 Das Gericht verweist auf

seine Rechtsprechung zur Gestaltung der Lehrpläne, die besage, dass

deren Inhalt grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaa-

ten falle. Somit dürften auch religiöse Inhalte objektiv, kritisch und plu-

ralistisch vermittelt werden. In diesem Zusammenhang stelle die In-

doktrinierung diejenige Grenze dar, welche die Staaten in jedem Falle

zu beachten und in keinen Fall zu überschreiten haben („the limit that

the states must not exceed.“).87

IV. Beurteilung des konkreten Sachverhalts

1. Anwendungsbereich des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1

Die Große Kammer bejaht die Anwendbarkeit des Art. 2 S. 2 EMRK-

ZP1 auch auf Sachverhalte, in denen es nicht um den Lehrplan selbst,

sondern wie im vorliegenden Fall um die Organisation der Schulumge-

bung geht.88

2. Religiöser Gehalt und nachweisbare Wirkung des Kruzifix

Auch kommt sie zu dem Ergebnis, dass das Kruzifix vor allem als reli-

giöses Symbol anzusehen sei. Alle anderen, möglichen Bedeutungen

seien zunächst nicht erheblich.89

Sodann äußert sich das Gericht zur Wirkung des Kruzifixes auf Schüler

dahingehend, dass es keine Beweise für eine Beeinflussung durch die-

ses gebe („no evidence“). Es könne somit weder davon ausgegangen,

noch könne verneint werden, dass Auswirkungen auf die Überzeugun-

gen der Schüler auftreten. Die Auffassung der Klägerin, dass das Kru-

zifix ihre Überzeugungen nicht achte, sei zwar verständlich, könne je-

doch allein keine Verletzung des Art. 2 EMRK-ZP1 begründen.90

86

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 61. 87

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 75, (Lautsi/Italien), Ziff. 62. 88

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 63 - 65. 89

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 66. 90

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 66.

Page 28: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

15

3. Beurteilungsspielraum („margin-of-appreciation“)

Das Gericht gibt sodann die von der italienischen Regierung schon im

ersten Verfahren angeführten, zusätzlichen Bedeutungen des Kruzifi-

xes wieder und stellt seine Ansicht dar, dass die Entscheidung, ob eine

Tradition fortgeführt werden solle, grundsätzlich in den Beurteilungs-

spielraum des jeweiligen Staates falle. Dabei müsse bedacht werden,

dass gerade hinsichtlich der kulturellen und geschichtlichen Entwick-

lung eine enorme Vielfalt innerhalb Europas bestehe. Die Verfolgung

einer Tradition könne einen Staat jedoch trotzdem nicht von der Bin-

dung an die EMRK befreien. Hinsichtlich der divergierenden Recht-

sprechung des Staatsrats und des Kassationsgerichtshofs zur Bedeu-

tung des Kruzifixes dürfe der EGMR aber keine Stellung beziehen.91

Auch stehe der Regierung Italiens in Übereinstimmung mit den aufge-

stellten, allgemeinen Prinzipien ein weiter Beurteilungsspielraum hin-

sichtlich der „Achtung“ der Überzeugungen der Eltern zu. Das Gericht

müsse daher grundsätzlich die Entscheidungen in Schulangelegenhei-

ten respektieren, solange keine Indoktrinierung vorliege.92 Gerade auf

Grund des fehlenden europäischen Konsenses zur Frage der Präsenz

religiöser Symbole in staatlichen Schulen sei somit nur zu prüfen, ob

die Grenzen des Beurteilungsspielraums überschritten seien.93

4. Überwiegende Sichtbarkeit („preponderant visibility“) des Kru-

zifixes

Der Mehrheitsreligion Italiens werde durch die obligatorische Zur-

schaustellung der Kruzifixe zwar eine überwiegende Sichtbarkeit

(„preponderant visibility“) in der Schulumgebung eingeräumt. Mit Ver-

weis auf seine Rechtsprechung zur Erstellung von Lehrplänen erkennt

das Gericht jedoch allein in diesem Umstand noch keine Indoktrinie-

rung.94 Des Weiteren sei das Kruzifix als passives Symbol nicht mit

belehrenden Reden oder echtem Zwang zur Mitwirkung an religiösen

Veranstaltungen vergleichbar.95 Anders als von der Vorinstanz ent-

schieden, sei das Kruzifix nicht als „kraftvolles, externes Symbol“ anzu-

sehen.96

91

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 67, 68. 92

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 69. 93

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 70. 94

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 71. 95

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 72. 96

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 73.

Page 29: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

16

Weiterhin bestehe gerade kein verpflichtender Religionsunterricht in

Italien und die Regierung öffne den Unterricht auch für andere Religio-

nen. Auch sei weder Intoleranz gegenüber andersgläubigen noch ge-

genüber nicht gläubigen Schülern feststellbar.97 Letztlich sei auch das

erzieherische Recht der Klägerin, ihre Kinder aufzuklären und zu bera-

ten, vollständig bewahrt worden.98

5. Schlussfolgerung des Gerichts

Aus diesen Erwägungen folge, dass der Staat innerhalb des Beurtei-

lungsspielraums gehandelt habe. Das Recht der Klägerin auf Achtung

ihrer weltanschaulichen Überzeugungen im Rahmen des Unterrichts

sei somit nicht verletzt worden.99 Hinsichtlich der eigenen Rechtsverlet-

zung der Kinder aus Art. 2 S. 1 EMRK-ZP1 in Verbindung mit Art. 9

EMRK sowie Art 14 EMRK sieht das Gericht keine neuen Gesichts-

punkte, die zu einem abweichenden Ergebnis führen könnten.100

F. Analyse des Urteils vom 18.3.2011 unter Berücksichtigung des

Gesamtkontextes

Im Rahmen der Analyse des Urteils der Großen Kammer soll, aufbau-

end auf den bisherigen Darstellungen, auch berücksichtigt werden, ob

und inwieweit sich die Gesamtumstände des Verfahrens, insbesondere

auch die Kritik, in den Entscheidungsgründen niedergeschlagen haben.

I. Struktur des Urteils

Die Große Kammer des EGMR überprüft bei einer Überweisung nach

Art. 43 Abs. 1 EMRK grundsätzlich den gesamten Fall erneut unter

jedem denkbaren Aspekt.101 Vorliegend fällt auf, dass die Erörterungen

zum Teil einer nur bedingt nachvollziehbaren Struktur folgen.

Sie beginnen zwar verständlich in Ziff. 63 – 65102 mit der Eröffnung des

Anwendungsbereichs des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1. Im Folgenden ist je-

doch nicht immer eine klare, analytische Linie auszumachen und das

Gericht springt manchmal zwischen verschiedenen gedanklichen As-

pekten.103 So finden sich in Ziff. 66 zunächst Ausführungen zum religiö-

97

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 74. 98

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 75. 99

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 76, 77. 100

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien), Ziff. 80, 81. 101

Pabel, EuGRZ 2006, S. 8. 102

Die im Rahmen der Analyse angegebenen Ziffern beziehen sich, soweit nicht anderweitig gekennzeichnet, auf EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 15 (Lautsi/Italien).

103 Fremuth, NVwZ 2011, bemerkt dies ebenfalls.

Page 30: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

17

sen Gehalt des Kruzifixes, wobei in der gleichen Ziffer eine erste Prü-

fung von dessen Auswirkungen vollzogen wird. Sodann wird erneut auf

die mögliche Bedeutung des Kruzifixes eingegangen, um letztlich in

verschiedenen Zusammenhängen auf einen Beurteilungsspielraum

(„margin-of-appreciation“) zu sprechen zu kommen (Ziff. 67 – 70). Zu-

letzt erfolgen Ausführungen zur überwiegenden Sichtbarkeit („prepon-

derant visibility“) (Ziff. 71 – 76), innerhalb derer jedoch abermals auf

den Charakter des Kruzifix eingegangen wird (Ziff. 72, 73).

Durch diesen Aufbau leidet mitunter die Nachvollziehbarkeit der Ge-

dankengänge. Dies ist sicherlich nicht von Vorteil. Schließlich wird die

Entscheidung auf Grund des Gesamtkontextes von einer breiten Öf-

fentlichkeit wahrgenommen und ist für diese von Bedeutung.

Im Lauf der Analyse wird daher nicht chronologisch, sondern dem

Sinnzusammenhang der Argumente der Großen Kammer folgend, auf

die Gründe des Gerichts eingegangen.

II. Anwendbarkeit des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1

Die erste Frage, mit der sich die Große Kammer auseinandersetzt, ist

die Anwendbarkeit des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1.

1. Grundsätze und Anwendungsbereich des Art. 2 EMRK-ZP1

Der erste Satz des Art. 2 EMRK-ZP1 enthält ein negativ formuliertes,

subjektives Recht auf Bildung. Er begründet zugleich eine staatliche

Gewährleistungspflicht hinsichtlich der generellen Schaffung von Bil-

dungseinrichtungen (institutionelle Garantie).104

Der zweite Satz hingegen stellt eine Regelung dar, die zwei grundsätz-

lich in einem Spannungsfeld zueinander stehende Sphären voneinan-

der abgrenzt. Diese sind zum einen der staatliche Erziehungsauftrag

und zum anderen das Erziehungsrecht der Eltern.105 Satz zwei begrün-

det implizit dieses allgemeine Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kin-

der.106 Daneben beinhaltet er aber auch das Abwehrrecht der Eltern,

vom Staat die „Achtung“ ihrer religiösen und weltanschaulichen Über-

zeugungen im Rahmen der von ihm übernommenen Aufgaben zu ver-

langen. Aus diesem Abwehrrecht kann im Einzelfall eine positive Pflicht

104

Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 13; Wildhaber, in: Karl, Int-KommEMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 31.

105 Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 452; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 7; Grabenwarter, EMRK, § 22 Rn. 68.

106 Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 5; Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 78.

Page 31: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

18

des Staates erwachsen, Maßnahmen zur „Achtung“ der Elterninteres-

sen zu treffen.107

Die Eröffnung des Schutzbereichs des Elternrechts erfolgt zum einen

über den Begriff der "religiösen und weltanschaulichen Überzeugun-

gen" („religious and philosophical convictions“). Diese Überzeugungen

sind ähnlich den Begriffen „Religion und Weltanschauung“ („religion or

belief“) im Sinne des Art. 9 EMRK zu verstehen.108 Es wird somit ein

gewisses Maß an Ernsthaftigkeit, Verbindlichkeit und Schlüssigkeit

derselben gefordert.109

Weiterhin muss ein Sachverhalt "auf dem Gebiet der Erziehung und

des Unterrichts übernommener Aufgaben" vorliegen. Diese „Aufgaben“

(„functions“) sind weit auszulegen, sodass nicht nur der Inhalt des

Lernstoffs und dessen unmittelbare Vermittlung, sondern das gesamte

staatliche Bildungsangebot erfasst ist.110

Vor allem bezweckt Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 auch die Schaffung eines

Pluralismus im Erziehungswesen, einem wesentlichen Bestandteil der

„demokratischen Gesellschaft“ im Sinne der EMRK. Daher besteht die

Pflicht des Staates zur objektiven, kritischen und pluralistischen Wis-

sensvermittlung.111

Insbesondere Art. 9 EMRK muss im Zusammenhang mit Art. 2 EMRK-

ZP1 gesehen werden, wobei letzterer als lex specialis nur einen Aspekt

von Art. 9 EMRK darstellt.112 Gerade bei der Auslegung des Achtens-

gebotes ist jedoch Art. 9 EMRK heranzuziehen.113

Durch diesen geschützt wird einerseits die positive Religions- und

Weltanschauungsfreiheit. Diese umfasst die Freiheit, einen Glauben zu

haben und sich privat oder öffentlich zu diesem zu bekennen.114 Als

Abwehrrecht soll Art. 9 EMRK primär gegen staatliche Einflussnahme

im Sinne von Vorschriften oder Verboten schützen, kann jedoch in

Ausnahmefällen auch eine staatliche Schutzpflicht gegen die Einfluss-

nahme Dritter eröffnen.115 Ebenso ist die negative Religionsfreiheit,

107

Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 16. 108

Schilling, Menschenrechtsschutz, Rn. 211. 109

Kempen, in: Tettinger/Stern, KölKomm, Art. 14, Rn. 6. 110

EGMR, Urt. v. 9.10.2007 – Nr. 1448/04 (Hasan und Eylem Zengin/Türkei), ECHR 2007-XI, Ziff. 49.

111 EGMR, s.o. Fn. 28 (Kjeldsen, Busk Madsen/Dänemark), Ziff. 50, 53.

112 Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9, Rn. 1; Grabenwarter, in: Karl, Int-KommEMRK, Art. 9, Rn. 29; Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, EuGR, Rn. 31.

113 Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 32.

114 Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 88.

115 EGMR, Urt. v. 20.9.1994 – Nr. 13470/87 (Otto-Preminger-Institut/ Öster-reich), Series A no. 295-A, S. 4 - 22, Ziff. 47.

Page 32: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

19

also die Freiheit, eine Religion nicht zu haben oder auszuüben, ge-

schützt. Der Staat darf mithin keinerlei direkte oder indirekte Einbezie-

hung einer unwilligen Person in eine religiös behaftetete Tätigkeit voll-

ziehen.116 Auch erwächst aus Art. 9 EMRK die staatliche Pflicht, neutral

und unparteiisch den verschiedenen Gruppen von Gläubigen und Un-

gläubigen die Ausübung ihrer jeweiligen Religionen und Weltanschau-

ungen zu ermöglichen.117 Die Freiheiten des Art. 9 EMRK gehören, wie

auch der Pluralismus, zu den Grundlagen einer „demokratischen Ge-

sellschaft“ im Sinne der Konvention. Sie stellen für Gläubige den Kern

ihrer Identität und Ausgangspunkt ihrer Lebensgestaltung und für Athe-

isten, Agnostiker und Skeptiker ein wertvolles Gut dar.118 Somit dienen

sie gleichsam der Bewahrung des Pluralismus.

2. Stellungnahme zur Lösung der Großen Kammer

In Ziff. 58, 63 – 65 bejaht die Große Kammer die Schutzbereichseröff-

nung des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 im konkreten Fall. Zwar hängt die Zur-

schaustellung des Kruzifixes mit dem Unterricht nicht in unmittelbarem

Zusammenhang, jedoch hält sich der EGMR auf der Linie seiner stän-

digen, neueren Rechtsprechung, welche auch den weiteren Rahmen

der Wissensvermittlung einbezieht.119

Dies überzeugt auch, denn nur durch eine weite Auslegung des Be-

griffs der „Aufgaben“ kann ein umfassender Schutz des Art. 2 S. 2

EMRK-ZP1 gewährleistet werden.120 Der Klassenraum als zentraler

Aufenthaltsort steht in untrennbarem Zusammenhang mit dem eigentli-

chen Unterricht im Sinne von Wissensvermittlung und ist Teil der staat-

lichen Bildungseinrichtung.121 Sofern der Staat sich also im Rahmen

seiner Aufgabenordnung für ein bestimmtes Bildungsangebot entschei-

det, hat er das Elternrecht auch im vollen Umfang zu berücksichtigen.

Insofern erfolgt die Zurückweisung des Vorbringens der Regierung Ita-

liens, die in Ziff. 38 eine ausschließliche Anwendbarkeit auf Sachver-

halte im Zusammenhang mit Lehrplänen befürwortete, zu Recht.

116

Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, EuGR, Rn. 31. 117

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 84 (Leyla Şahin/Türkei), Ziff. 107; zur Ausprägung der Neutralität in der Schule Schöbener, JURA 2003, S. 189.

118 EGMR, Urt. v. 25.5.1993 – Nr. 14307/88 (Kokkinakis/Griechenland), Series A no. 260-A, S. 4 - 24, Ziff. 31.

119 S.o. Fn. 110.

120 Vermeulen, in: van Dijk/van Hoof, Art. 2, S. 907.

121 Andreescu/Andreescu, JSRI Vol. 9, S. 65; HII, Submissions 2010, S. 4 f.; anders Richter Bonello in seinem zustimmenden Sondervotum, Rn. 3.1 – 3.3, der eine enge Auslegung des Begriffs „teaching“ vornehmen will.

Page 33: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

20

Die schon zuvor in Ziff. 58 vorgenommene Feststellung, dass im Hin-

blick auf die säkulare Einstellung der Klägerin eine „Überzeugung“ im

genannten Sinne besteht, verdient ebenso Zustimmung. Durch den

Begriff der „Überzeugungen“ sollen lediglich triviale Ideen aus dem

Anwendungsbereich herausgenommen werden, es sind also keine all-

zu hohen Anforderungen zu stellen.122

Soweit das Gericht in Ziff. 78 zu dem Ergebnis kommt, dass für die

eigenen Rechte der Kinder (Art. 2 S. 1 EMRK-ZP1, Art. 9 EMRK) kei-

nerlei abweichende Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind, muss im

Folgenden jedoch auch im Rahmen der Prüfung des Elternrechts die

negative Religionsfreiheit der Kinder als Bestandteil des Art. 2 EMRK-

ZP1 im vollen Umfang berücksichtigt werden. Denn die ausschließliche

Prüfung des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 als Recht der Eltern kann nicht zu

einer Einschränkung der Rechte der Kinder führen.123

Es ist festzuhalten, dass die Eröffnung des Schutzbereichs keine gro-

ßen Hindernisse bereitet und von der Großen Kammer überzeugend

bejaht wird.

III. Religiöser Gehalt des Kruzifix

In Ziff. 66 wird ersichtlich, dass das Gericht der teilweise aufgekomme-

nen Forderung nach einer ausführlicheren Begründung der festgestell-

ten, primär christlichen Bedeutung nicht nachkommt. Im Gegenteil be-

schäftigt es sich nur in einem kurzen, dreizeiligen Absatz mit diesem

Problem und erklärt alle weiteren, möglichen Bedeutungsinhalte für

zumindest „at this stage of the [...] reasoning“ unerheblich.

Diese Schlussfolgerung ist überraschend, denn lediglich einen Absatz

später (Ziff. 67) kommt das Gericht erneut auf die vorgebrachten, zu-

sätzlichen Bedeutungsinhalte zu sprechen. Dort geht es dem Gericht

jedoch nicht mehr um die Feststellung einer generellen Eignung des

Kruzifixes zur Beeinflussung der Schüler, sondern um Aspekte der Zu-

lässigkeit der Aufrechterhaltung einer Tradition durch die italienische

Regierung. Dies gehört im Gedankengang der Großen Kammer jedoch

zu einem anderen Problemkreis. Denn die Frage nach dem religiösen

Gehalt des Kruzifixes stellt sich zunächst als eine Art Vorfrage zu jed-

weden möglichen Beeinträchtigungen der negativen Religionsfreiheit

oder des Elternrechts durch das Kruzifix. Sollte es nämlich primär als

122

Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 13. 123

Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 30, zum Zusam-menspiel der beiden Rechtspositionen.

Page 34: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

21

Symbol von weltlichen Werten angesehen werden, so wäre eine Beein-

trächtigung der negativen Religionsfreiheit und des Elternrechts gar

nicht mehr möglich.

Bei der Bewertung der Ausführungen der Großen Kammer ist zu be-

achten, dass selbst die Regierung Italiens von der in der ersten Instanz

vorgetragenen Argumentation größtenteils Abstand genommen hat,

vgl. Ziff. 36. Dem Gericht kann daher nicht im gleichen Maße wie dem

ersten Urteil vorgeworfen werden, dass es sich nicht mit den verschie-

denen Bedeutungsinhalten des Kruzifixes auseinandergesetzt hat.

Jedenfalls muss bei der Beurteilung eines Symbols gerade die vorwie-

gende Konnotation - im römisch-katholischen Italien also die religiöse

Prägung – entscheidend sein.124 Dies erkannten letztlich auch die Kriti-

ker der ersten Entscheidung an.125 Auf Grund der jahrtausendelang

verwurzelten Glaubenssymbolik des Kreuzes überzeugt daher die in

Ziff. 66 vorgenommene Einordnung des Kruzifixes,126 welche auf ein

faktisches Verständnis desselben abstellt.127 Gerade das Beharren der

italienischen Regierung auf das Kruzifix als Verkörperung vornehmlich

weltlicher Werte im Verfahren vor dem ersten Urteil entwertete selbiges

letztlich und war wenig erfolgversprechend.128

Mit der Ausführung „is not decisive at this stage of the Courts’s reason-

ing“ meint die Große Kammer, ohne dies ausdrücklich darzulegen,

dass durch die Feststellung des primär religiösen Gehalts des Kruzifix

richtigerweise nicht zwangsläufig alle anderen, möglichen Bedeutungs-

inhalte abgesprochen werden.129 Diesen schenkt das Gericht sodann

auch im weiteren Verlauf der Prüfung noch Berücksichtigung.

IV. Einräumung der „margin-of-appreciation“

Das Gericht bezieht sich im Rahmen seiner Entscheidungsgründe acht

Mal auf die von der Kritik so vehement geforderte „margin-of-

appreciation“. Somit hat sich das Gericht zumindest rein äußerlich die-

sem Verlangen voll und ganz angenommen. Daher wird ist zu ergrün-

den, inwieweit diese (quantitativ) exzessive Anwendung inhaltlich ge-

rechtfertigt ist und welche Folge das Gericht daraus schließt.

124

Michl, JURA 2010, S. 692. 125

Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 453. 126

Vgl. Heckmann, JZ 1996, S. 883. 127

Berkmann, Lautsi, Rn. 20. 128

Berkmann, Lautsi, Rn. 22; Evans, JLR 2010, S. 356 f; GHM, Observations 2009, S. 1 f; Kriele, FAZ 2010.

129 Mancini, ECLR 2010, S. 14.

Page 35: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

22

1. Grundsätze der Doktrin

Bei der „margin-of-appreciation“ handelt es sich um einen Beurtei-

lungsspielraum, den der EGMR den nationalen Organen im Rahmen

der Überprüfung ihrer Maßnahmen am Maßstab der EMRK in ständiger

Rechtsprechung einräumt.130

a) Allgemeines

aa) Entwicklung und Herleitung

Erstmals explizit vom EGMR selbst erwähnt wurde diese Rechtsfigur in

der Rechtssache Handyside.131 Dort berief sich die Regierung Großbri-

tanniens zur Rechtfertigung der strafrechtlichen Verfolgung des kla-

genden Herausgebers eines Kinderbuchs („Little Red Schoolbook“) auf

den Schutz der Moral, da in dem Buch kurze Passagen zur Sexualauf-

klärung enthalten waren. Der Gerichtshof anerkannte dies als Rechtfer-

tigung des Eingriffs in die Meinungsfreiheit des Klägers und verwies auf

den weiten Beurteilungsspielraum der Regierung in Bezug auf die Be-

stimmung des Schutzgutes der Moral.

Die Doktrin ist weder in den travaux préparatoires noch in der Konven-

tion selbst ausdrücklich erwähnt oder vorgesehen.132 Ihre Berechtigung

wird einerseits darin gesehen, dass in gewissen Bereichen auf Grund

der Sachnähe ein Erkenntnisvorsprung der nationalen Behörden in

tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht besteht, der durch den EGMR

nicht gänzlich überprüft werden kann.133 Ähnliche Rechtsfiguren sind im

Verwaltungsrecht mehrerer Mitgliedstaaten zu finden, so dass die Dokt-

rin teilweise mit diesen in Verbindung gebracht wird.134 Auch ist die

Rechtsfigur eng verbunden mit dem Wesen der Rechtskontrolle des

EGMR, welche auf dem Prinzip der Subsidiarität basiert.135

130

Frowein, in: Frowein/Peukert, Vorbem. Art. 8 – 11, Rn. 13. 131

EGMR, Urt. v. 7.12.1976 – Nr. 5493/72 (Handyside/Großbritannien), Series A no. 24, Ziff. 47, zuvor lediglich als “power of appreciation/discretion” er-wähnt, so in EGMR, Urt. v. 18.6.1971 – Nr. 2832/66 (De Wilde, Ooms und Versyp/Belgien), Series A no. 12, Ziff. 93.

132 de la Rasilla del Moral, GLJ 2006, S. 613; Yourow, ZEuS 1998, S. 238.

133 Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 455; Brownlie, Principles, S. 576; Cal-liess, EuGRZ 1996, S. 294.

134 Arai-Takahasi, ECHR, S. 2 f.; Calliess, EuGRZ 1996, S.294; Yourow, ZEuS 1998, S. 233, 238 f., mit Verweis auf die Rechtsprechung des französi-schen Conseil d’Etat zur „margé d’appréciation“ sowie die deutschen Be-griffe „Ermessensspielraum“ und „unbestimmter Rechtsbegriff“.

135 de la Rasilla del Moral, GLJ 2006, S. 614; Grabenwarter/Marauhn, in: Gro-te/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 7, Rn. 57; Mancini, ECLR 2010, S. 20 f.

Page 36: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

23

bb) Bedeutung im Rahmen der EMRK

Das Subsidiaritätsprinzip ist Bestandteil des Spannungsfeldes zwi-

schen der nationalen Souveränität der Mitgliedstaaten und dem EGMR

als internationalem Gericht.136 Grundsätzlich sind primär die Mitglied-

staaten selbst nach Art. 1 EMRK gehalten, den Freiheiten der EMRK

im nationalen Recht aktiv zur Geltung zu verhelfen.137 Die EMRK macht

also generelle Vorgaben, wobei die genaue Art der Umsetzung der

Rechte und Freiheiten in die nationalen Rechtsordnungen den Mit-

gliedstaaten überlassen wird.138

“It is not, however, for the Court to substitute its own view for that of

the national legislature as to what would be the most appropriate poli-

cy in this regard”.139

Auch entscheidet der EGMR erst nach Ausschöpfung des innerstaatli-

chen Rechtswegs, Art. 35 Abs. 1 EMRK. Somit kommt dem Recht-

schutzsystem der Konvention seiner Konzeption nach ein komplemen-

tärer, aber subsidiärer Charakter zu.140 Da jedoch der EGMR seiner-

seits eine autonome Auslegung der Begrifflichkeiten der EMRK vor-

nimmt, entwickelt er unweigerlich einen einheitlichen, europäischen

Menschenrechtsstandard.141

Bei der Betrachtung der „margin-of-appreciation“ ist auch zu bedenken,

dass den Urteilen des EGMR in den nationalen Rechtsordnungen we-

der eine kassatorische noch eine unmittelbar gestaltende Wirkung zu-

kommt.142 Art. 46 Abs. 1 EMRK statuiert vielmehr die Pflicht der Mit-

gliedstaaten, die endgültigen Urteile des Gerichtshofs zu befolgen, wo-

bei die Art und Weise des Vollzugs nicht festgelegt wird.143 Sollte ein

Staat sich jedoch dazu entscheiden, ein unliebsames Urteil nicht zu

befolgen, so stehen dem Gericht keine über die Überwachung durch

das Ministerkomitee (Art. 46 Abs. 2 – 4 EMRK) hinausgehenden Voll-

streckungsmechanismen zur Verfügung.144 Die einzigen Maßnahmen,

die dem Ministerkomitee zustehen, sind die Suspendierung des Stimm-

136

Calliess, EuGRZ 1996, S. 298; Grabenwarter, EMRK, § 18, Rn. 21. 137

Herdegen, Europarecht, § 3 Rn. 4; Nigro, HRR 2010, S. 535. 138

Petzold, in: Macdonald/Matscher/Petzold, HR, S. 44. 139

EGMR, Urt. v. 21.09.1994 – Nr. 17101/90 (Fayed/Großbritannien), Series A no. 294-B, S. 27 - 57, Ziff. 81.

140 Arai-Takahasi, ECHR, S. 3; Grabenwarter, FS Tomuschat, S. 204; zum Subsidiaritätsprinzip Petzold, in: Macdonald/Matscher/Petzold, HR, S. 41 ff.

141 Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, § 51 Rn. 33; Herdegen, Europarecht, § 3 Rn. 26; Rohleder, Grundrechtsschutz, S. 425.

142 Ehlers, in: Ehlers, EuGR, Rn. 100; Rohleder, Grundrechtsschutz, S. 44 ff.

143 Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, § 51 Rn. 37.

144 Grabenwarter, EMRK, § 16 Rn. 11; Streinz, Debatte 2010, S. 6.

Page 37: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

24

rechts im Komitee oder der Ausschluss aus dem Europarat nach Art. 8

des Statuts des Europarats.145 Somit ist die Rechtsprechung des

EGMR auf die grundsätzliche Übereinstimmung der Vertragsstaaten

angewiesen.146

In diesem Gesamtkontext schafft die „margin-of-appreciation“ einen

Ausgleich, indem das Gericht sich in einigen, noch darzustellenden

Bereichen einem judicial self-restraint147 unterwirft. Als Ausgleich für die

partielle Abgabe ihrer Souveränität erhalten die Mitgliedstaaten eine Art

Grundkontrolle zurück.148 Vor diesem Hintergrund kann der „margin-of-

appreciation“ ein pragmatischer Aspekt nicht abgesprochen werden.149

b) Anwendungsbereich und Bestimmung

Der EGMR wendet die Doktrin zumindest explizit nicht auf alle Artikel

der EMRK an.150 Dem ehemaligen EGMR-Richter Macdonald zufolge

liegt die „margin-of-appreciation“ Doktrin jedoch jedem bedeutenden

Fall des EGMR zugrunde, unbeachtet der Tatsache, ob sie nun ange-

führt wurde oder nicht.151 Die genaue Bestimmung des Beurteilungs-

spielraums kann nicht abstrakt erfolgen, sondern hängt im Einzelfall

von vielen Kriterien ab.152 Hierbei ist zu bemerken, dass auch diese

einzelnen Faktoren keineswegs immer gleich gewichtet werden.153

aa) Wortlaut

Möglich ist zunächst die Heranziehung des Wortlauts der jeweiligen

Verbürgung.154 Hier kann die Formulierung „für erforderlich hält“ des

Art. 1 Abs. 2 EMRK-ZP1 auf einen weiteren, die Formulierung „unbe-

dingt erforderlich“ der Art. 6 Ab. 1 S. 2 oder Art. 10 Abs. 2 EMRK hin-

gegen auf einen geringeren Beurteilungsspielraum hinweisen.155

145

Grabenwarter, EMRK, § 16 Rn. 1. 146

Arai-Takahasi, ECHR, S. 3; Brownlie, Principles, S. 584; Calliess, EuGRZ 1996, S. 298; Hailbronner, FS Mosler, S. 361.

147 Vgl. Calliess, EuGRZ 1996, S. 294.

148 Brems, ZaöRV 1996, S. 298; Yourow, ZEuS 1998, S. 238, spricht von ei-nem eingeräumten „Fehlerspielraum“ spricht.

149 Macdonald, in: Macdonald/Matscher/ Petzold, HR, S. 123 („The margin of appreciation gives the flexibility needed to avoid damaging confrontations between the Court and Contracting States on their respective spheres of authority and enables the Court to balance the souvereignty of the Con-tracting Parties with their obligations under the Convention.“).

150 de la Rasilla del Moral, GLJ 2006, S. 613, m.w.N.

151 Macdonald, Margin, S. 208.

152 de la Rasilla del Moral, GLJ 2006, S. 615; Yourow, ZEuS 1998, S. 245.

153 Brems, ZaöRV 1996, S. 256.

154 Bernhardt, FS Mosler, S. 85.

155 Grabenwarter, EMRK, § 18, Rn. 21, jedoch kritisch zu dieser Sichtweise.

Page 38: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

25

bb) Legitimer Zweck

Auch der jeweilige, vom Staat zur Begründung seiner Handlung ange-

führte Zweck wird zur Bestimmung des Beurteilungsspielrauns heran-

gezogen.156 So hat der EGMR in der Rechtssache Sunday Times die

Wahrung der Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung im

Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK als einen Begriff angesehen, der ein-

facher an objektiven Maßstäben gemessen werden kann als beispiels-

weise der Schutz der Moral desselben Artikels, welcher der Ausgangs-

punkt des Urteils Handyside war.157 Somit ist auch der Beurteilungs-

spielraum des Mitgliedstaates geringer. Im Gegensatz dazu ist in Fällen

der Verfolgung des Schutzes der nationalen Sicherheit auf Grund der

hohen nationalstaatlichen Interessen eher von einem weiten Beurtei-

lungsspielraum des Staates auszugehen.158 Das Ziel des Schutzes der

„Rechte anderer“ im Sinne der Art. 8, Art. 9 und Art. 10 EMRK vermag

hingegen keinen eigenständigen Einfluss zu nehmen. In diesen Fällen

wird jedoch im Rahmen der weiteren Abwägung insbesondere die

durch die jeweiligen Drittrechte geschützte Personengruppe berück-

sichtigt, gerade in Fällen der Beteiligung Minderjähriger.159

cc) Bedeutung des betroffenen Rechts

Auch das jeweilige, durch die angegriffene Maßnahme beschränkte

Recht kann die Reichweite des Beurteilungsspielraums beeinflussen.160

Je bedeutender dies für den Bestand einer „demokratischen Gesell-

schaft“ im Sinne der Konvention oder auch für die Existenz des Berech-

tigten ist161, umso enger wird der Beurteilungsspielraum der Staaten.

Eine solche hohe Bedeutung ist sowohl für die Freiheit der Meinungs-

äußerung162 als auch für die Religionsfreiheit anerkannt.163

156

Brems, ZaöRV 1996, S. 257 ff. 157

EGMR, Urt. v. 26.4.1979 – Nr. 6538/74 (The Sunday Times/ Großbritanni-en), Series A no. 30, Ziff. 59; Marauhn, in: Ehlers, EuGR, Rn. 38.

158 EGMR, Urt. v. 26.3.1987 – Nr. 9248/81 (Leander/Schweden), Series A no. 116, S. 4 - 55, Ziff 59; Brems, ZaöRV 1996, S. 260 f.

159 Brems, ZaöRV 1996, S. 262.

160 EGMR, Urteil v. 24.11.1986 - Nr. 9063/80 (Gillow/Großbritannien), Series A no. 109, S. 4 - 52, Ziff. 55.

161 Grabenwarter, EMRK, § 18, Rn. 21.

162 EGMR, s.o. Fn. 131 (Handyside/Großbritannien), Ziff. 49; Brems, ZaöRV 1996, S. 266, mit diesbezüglichen Einschränkungen; Marauhn, in: Ehlers, EuGR, Rn. 3.

163 S.o. Fn. 118.

Page 39: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

26

dd) Konsens

Ein weiterer, wichtiger Faktor zur genauen Bestimmung des Beurtei-

lungsspielraums stellt die Existenz eines einheitlichen Standards inner-

halb der Mitgliedstaaten hinsichtlich der in Frage stehenden Regelung

und Praktik dar. Ein starker Konsens innerhalb der Mitgliedstaaten führt

zu einer Reduzierung des Beurteilungsspielraums und erschwert somit

den Ausbruch aus der gemeinsamen Praxis. Dagegen ist der Spiel-

raum in Konstellationen, in denen vielfältige Praktiken und Regelungen

bestehen, dementsprechend weiter.164 Auch hier besteht er jedoch

grundsätzlich nur innerhalb der bestehenden, gemeinsamen Praxis.165

Je weniger sich eine solche gemeinsame Überzeugung also auffinden

lässt, desto freier ist der Staat in seinen Entscheidungen.

Das Kriterium des Konsenses veranschaulicht den pragmatischen As-

pekt der Doktrin und das Bedürfnis des EGMR, nicht im Wege autono-

mer Festsetzungen einen neuen, europäischen Standard zu entwi-

ckeln, sondern sich an den in den Mitgliedstaaten vorhandenen Gege-

benheiten zu orientieren.166 Für den genauen Bezugspunkt zur Ermitt-

lung eines Konsenses bestehen keine allgemeinen Grundsätze.167 Es

sollte jedoch nicht ausreichen, auf „das Recht“ der Mitgliedstaaten im

Allgemeinen abzustellen.168 Vielmehr muss so genau wie möglich her-

ausgearbeitet werden, wo der Bezugspunkt liegt.169

ee) Besonderheiten bei positiven Verpflichtungen

Keine direkte Schlussfolgerung hinsichtlich der Reichweite des Beurtei-

lungsspielraums lässt sich bei positiven Verpflichtungen wie z.B. der

Pflicht zu „Achtung“ i.S.d. Art. 8 EMRK in der Weise ziehen, dass hier

der Beurteilungsspielraum per se weiter ist.170 Vielmehr kommt es auch

hier auf die in den anderen Fällen anerkannten Faktoren an.171

c) Bezugspunkt des Beurteilungsspielraums

Soweit sich aus den genannten Faktoren ein Beurteilungsspielraum

ergibt, bezieht er sich auf die Wahl der angemessenen Maßnahme im

164

Wildhaber, FS Ress, S. 1105 ff.; Yourow, ZEuS 1998, S. 242. 165

de la Rasilla del Moral, GLJ 2006, S. 617. 166

Vgl. Macdonald, in: Macdonald/Matscher/Petzold, HR, S. 123 f. 167

Hailbronner, FS Mosler, S. 374 ff. 168

Vgl. Brems, ZaöRV 1996, S. 284. 169

Macdonald, Margin, S. 201. 170

Brems, ZaöRV 1996, S. 246 f.; Dröge, EMRK, S. 369. 171

Dröge, EMRK, S. 367 ff; anders Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 485 f.

Page 40: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

27

Sinne eines Handlungsermessens, auf die Feststellung der tatbestand-

lichen Voraussetzungen einer Konventionsnorm und auf die weiteren

Faktoren, die die zulässige Eingriffsintensität bestimmen.172

d) Grenzen

Der eingeräumte Beurteilungsspielraum besteht nicht unbeschränkt.

„The domestic margin of appreciation thus goes hand in hand with Eu-

ropean supervision.“173

Es besteht somit eine Art Wächterfunktion des EGMR.174 Die Grenzen

der „margin-of-appreciation“ ergeben sich insbesondere auch aus dem

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.175

e) Zwischenergebnis

Bei der „margin-of-appreciation“ handelt es sich um ein vielschichtiges

und komplexes Instrument des EGMR, dem auch eine politische Be-

deutung innewohnt, welches in hohem Maß vom jeweiligen Einzelfall

beeinflusst ist und von verschiedenen Faktoren abhängt.176 Die Doktrin

ist jedoch kein eigenes Recht der Mitgliedstaaten, dessen „Verletzung“

gerügt werden kann.177 Vielmehr stellt sie ein Mittel zur Variation der

Kontrolldichte im Rahmen der Prüfung des EGMR dar.178

2. Stellungnahme zur Lösung der Großen Kammer

a) Begründung des Beurteilungsspielraums

Die Große Kammer bezieht sich in verschiedenen Zusammenhängen

auf den Begriff der „margin-of-appreciation“. So wird dieser einerseits in

Verbindung mit den weiteren, von der Regierung Italiens vorgebrachten

Bedeutungen des Kruzifixes angesprochen (Ziff. 67, 68). Andererseits

schaffe die Pflicht zur „Achtung“ der Überzeugung der Eltern (Ziff. 61,

69) eine Grundlage des Beurteilungsspielraums, wobei in diesem Zu-

sammenhang die Rechtsprechung zur Lehrplanerstellung hinzugezo-

gen wird (Ziff. 62). Letztlich misst die Große Kammer auch dem Um-

172

Calliess, EuGRZ 1996, S. 294; Kühling, in: v. Bogdandy/Bast, EV, S. 696. 173

EGMR, s.o. Fn. 131 (Handyside/Großbritannien), Ziff. 49. 174

Vgl. Kühling, in: v. Bogdandy/Bast, EV, S. 696. 175

Calliess, EuGRZ 1996, S. 294; Hoffmann, Subsidiarität, S. 42. 176

Vgl. EGMR, Urt. v. 25.9.1996 – Nr. 20348/92 (Buckley/Großbritannien), ECHR 1996-IV, Ziff. 74; Bernhardt, FS Mosler, S. 82.

177 Vgl. Andreescu/Andreescu, JSRI Vol. 9, S. 60, werfen dies einigen Kritikern des ersten Urteils vor.

178 Grabenwarter, FS Tomuschat, S. 199.

Page 41: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

28

stand des Fehlens eines Konsenses innerhalb der Mitgliedstaaten ei-

nen entscheidenden Einfluss zu (Ziff. 70).

aa) Traditionsfortführung

In Ziff. 67, 68 wird erkennbar, was die Große Kammer zuvor mit der

Wendung „at this stage of the reasoning“ meinte. Denn nun kommt sie

auf die zusätzlichen Bedeutungsinhalte des Kruzifixes zurück, welche

sie zuvor noch für unerheblich befand (Ziff. 66). In diesem Zusammen-

hang begründet das Gericht nun seine Ansicht, nach der es den natio-

nalen Streit hinsichtlich dieser zusätzlichen Bedeutungsinhalte nicht

verbindlich entscheiden darf. Dies überzeugt zwar einerseits, da die

Frage nach der Existenz einer Tradition letztlich nur von dem Begrün-

der der Tradition, also dem italienischen Staat, vorgenommen werden

kann. Jedoch ist fraglich, welchen Zweck das Gericht mit dieser Aus-

sage überhaupt verfolgt. Aus der bloßen Fortführung der Tradition

ergibt sich nämlich nach Ansicht des Gerichts keinerlei Befreiung hin-

sichtlich der staatlichen Verpflichtungen aus der EMRK.

Unter Umständen dient die Feststellung lediglich dazu, das grundsätzli-

che Vorliegen eines legitimen Zwecks zu bejahen.179 Denn so zeigt die

Große Kammer, dass sie die Entscheidung des italienischen Staates

im Grundsatz anerkennt. Es wird also nicht die generelle Frage der

Sinnhaftigkeit der Zurschaustellung der Kruzifixe gestellt.

Hierin liegt mit Hinblick auf die Kritik wohl überwiegend ein politisches

Zugeständnis, denn so macht das Gericht darauf aufmerksam, dass es

die weiteren, möglichen Bedeutungen des Kruzifixes durchaus aner-

kennt. Letztlich bleibt die genaue Tragweite dieser ersten Grundlage für

die Einräumung eines Beurteilungsspielraums jedoch unklar.

bb) „Respect“ und Rechtsprechung zum Erziehungswesen

Sodann wendet sich das Gericht in Ziff. 69 i.V.m. Ziff. 61 der Bedeu-

tung der Verpflichtung des „Achtens“ aus Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 zu. In

diesem Begriff, welchen es parallel zu Art. 8 EMRK versteht, sieht es

eine weitere Verankerung der „margin-of-appreciation“. Denn wie ge-

nau die „Achtung“ der elterlichen Überzeugungen und die darin enthal-

tene positive Verpflichtung zu erfolgen habe, sei für jeden Fall geson-

dert zu bestimmen. Dies folge aus den vielfältigen Praktiken innerhalb

der Mitgliedstaaten.

179

Vgl. EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 84 (Leyla Şahin/Türkei), Ziff. 154.

Page 42: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

29

Allein aus der möglichen, positiven Verpflichtung, welche der Begriff

des „Achtens“ mit sich bringt, kann jedoch nicht auf einen besonders

weiten Beurteilungsspielraum geschlossen werden.180 Ob das Gericht

diesen Schluss in Ziff. 61 zieht, kann nicht eindeutig festgestellt wer-

den, denn es bezieht sich in dem selben Gedankengang (Ziff. 62) zur

Bekräftigung auf einen allgemeinen Grundsatz seiner Rechtsprechung.

Hiernach wird die Organisation des Schulunterrichts jedenfalls teilweise

auch immer als Ausfluss der historischen und kulturellen Besonderhei-

ten eines Landes oder einer Region betrachtet.181 Die Einrichtung und

Ausgestaltung des Schulwesens eröffnet somit grundsätzlich einen

Beurteilungsspielraum der Staaten.182 Insoweit besteht auch ein gewis-

ser Zusammenhang mit der generellen Fortführung der Tradition, wie

sie in Ziff. 67, 68 angeführt wurde. Die Große Kammer befindet sich

somit im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung.183 Die generelle

Sensibilität in diesem Bereich ist mit Blick auf die enge Verbindung mit

der jeweiligen, einzigartigen Kultur der Länder auch durchaus geboten.

cc) Mangelnder Konsens

Nach Anführung der ersten beiden Grundlagen für die Gewährung ei-

nes Beurteilungsspielraums stellt das Gericht in Ziff. 70 insbesondere

auch darauf ab, dass es keinen innereuropäischen Konsens zur Prä-

senz religiöser Symbole in staatlichen Schulen gebe. Dieser mangeln-

de Konsens ist nicht gleichzusetzen mit der „Vielfältigkeit der Praktiken“

hinsichtlich der Ausgestaltung der „Achtung“ als allgemeinem Grund-

satz der Rechtsprechung. Vielmehr beruft sich das Gericht konkret auf

die in den Ziff. 26 – 28 angestellte, rechtsvergleichende Betrachtung.

Ein solches Vorgehen erscheint mit Hinblick auf die obigen Ausführun-

gen grundsätzlich zulässig. Jedoch ist die Pauschalität des Verweises

in Ziff. 70 auf die Ziff. 26 – 28 auffällig, welchen das Gericht mit keinem

weiteren Satz erläutert. Die Zahlen, die das Gericht in diesen Ziffern

ermittelt hat, müssen nicht unbedingt so eindeutig interpretiert werden.

Zwar ist unbestreitbar, dass ein ausdrückliches Verbot der Zurschau-

stellung in lediglich drei Mitgliedstaaten noch nicht auf einen diesbe-

180

Dröge, EMRK, S. 368 f.; Richter Malinverni und Richterin Kalaydjieva wol-len in ihrem abweichenden Sondervotum, Rn. 1, sogar einen besonders engen Beurteilungsspielraum auf Grund der positiven Verpflichtung an-nehmen.

181 Brems, ZaöRV 1996, S. 291; Fiedler, VVdStRL 59, S. 218.

182 Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 33.

183 Grabenwarter, in: Zimmermann, Religion, S. 123.

Page 43: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

30

züglichen Konsens schließen lässt. Man könnte jedoch auch darauf

abstellen, dass in nur fünf der insgesamt 47 Mitgliedstaaten die Zur-

schaustellung ausdrücklich vorgeschrieben ist. Daraus ließe sich der

Schluss ziehen, dass 42 Mitgliedstaaten darüber übereinstimmen, je-

denfalls keinerlei zwingende Vorgaben hinsichtlich der Präsenz zu ma-

chen. Legt man diese Sichtweise zugrunde, würde der Ausbruch aus

dieser Praxis für die restlichen fünf Mitgliedstaaten erschwert werden.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass die fünf Länder als ein hinrei-

chendes Gegengewicht angesehen werden können, um das Konstrukt

eines solchen Konsenses zu verhindern.

Eine andere Möglichkeit liegt darin, einen Konsens der Verfassungsge-

richte bzw. obersten Gerichte derjenigen Länder auszumachen, in de-

nen es ausdrückliche Vorschriften zu den Kruzifixen gibt.184 Ein solcher

ließe sich den Aufstellungen der Großen Kammer durchaus entneh-

men. In drei der fünf angeführten Länder haben die Verfassungsgerich-

te, sofern sie mit diesbezüglichen Klagen befasst waren, entschieden,

dass zumindest eine obligatorische Kreuzpräsenz in Klassenzimmern

nicht mit dem Prinzip der staatlichen Neutralität zu vereinbaren sei und

die negative Religionsfreiheit verletze. Auch in Italien, dem vierten der

fünf Länder, hat der Kassationsgerichtshof in einer zumindest ähnli-

chen Situation185 ebenso entschieden. Weiterhin haben sich in zwei der

sechs Länder, in denen die Kreuzpräsenz zumindest eine häufig anzu-

treffende Praxis darstellt, die obersten Gerichte gegen eine kompro-

misslose Anerkennung dieser Praxis entschieden. Aus Ziff. 28 ergibt

sich, dass in keinem der anderen Mitgliedstaaten ähnliche Konstellatio-

nen höchstrichterlich entschieden wurden. Somit haben – der Aufstel-

lung des Gerichts folgend – bis auf den italienischen Staatsrat aus-

nahmslos alle obersten Gerichte und Verfassungsgerichte eine obliga-

torische Zurschaustellung ohne Kompromisslösungen als unzulässig

erachtet.

In dem generellen Verweis auf Ziff. 26 - 28 wird als Bezugspunkt des

Konsenses nur „die Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatli-

chen Schulen“ angeführt (Ziff. 70); andere Erwägungen werden außer

Betracht gelassen.186 Dies ist zumindest kritikwürdig, denn der EGMR

184

So auch das abweichende Sondervotum des Richters Malinverni und der Richterin Kalaydjieva, Rn. 1.

185 S.o. Fn. 16.

186 Im zustimmenden Sondervotum des Richters Rozakis und der Richterin Vajić, S. 3, wird zwar die Möglichkeit eines alternativen Bezugspunktes zur Ermittlung des Konsenses gesehen und eine Entwicklung zur restriktiven

Page 44: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

31

hat es im Rahmen seiner Rechtsprechung durchaus schon als ausrei-

chend erachtet, dass sich innerhalb der Mitgliedstaaten politische Leit-

linien abzeichnen187 oder sich Gemeinsamkeiten erst in der Entwick-

lung befinden.188

Da jedoch die religiöse Vielfältigkeit innerhalb Europas eines der häu-

figsten Argumente der Kritiker der ersten Entscheidung war,189 will das

Gericht dieser Aussage anscheinend nicht kritisch entgegentreten.

Trotzdem verdeutlichen die Sondervoten nach Art. 45 Abs. 2 EMRK,

Art. 74 Abs. 2 EMRK-VerfO der Richter Rozakis, Vajić, Malinverni und

Kalaydjieva das grundsätzliche, diesbezügliche Problembewusstsein

der Großen Kammer.

Es bleibt festzuhalten, dass die Schlussfolgerung des Gerichts bezüg-

lich des mangelnden Konsenses im Ergebnis zwar nicht fernliegt. Eine

eingehender begründete Ablehnung desselben wäre jedoch die über-

zeugendere Lösung gewesen.

dd) Nicht berücksichtigte Faktoren

Wie bei der Darstellung der Grundsätze der Doktrin erörtert, erfolgt die

genaue Bestimmung der „margin-of-appreciation“ aus einem komple-

xen und einzelfallbezogenen Zusammenspiel verschiedener Faktoren.

So verwundert es, dass von Seiten des Gerichts keinerlei Erwägungen

angeführt werden, die zu einer Verengung des eröffneten Beurteilungs-

spielraums führen könnten. Hierbei ist insbesondere zu beachten, dass

oftmals schon die Bestimmung der Weite des Beurteilungsspielraums

das Ergebnis der weiteren Prüfung zumindest andeutet.190

Die Große Kammer erwähnt jedoch die negative Religionsfreiheit der

Kinder aus Art. 9 EMRK als hohes Schutzgut in einer „demokratischen

Gesellschaft“ nicht. Auch auf das Elternrecht aus Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1

wird kein Bezug genommen.191

Handhabung religiöser Symbole in öffentlichen Einrichtungen erkannt. Die-se wird jedoch nicht als ausreichend erachtet.

187 Brems, ZaöRV 1996, S. 280.

188 EGMR (Große Kammer), Urt. v. 11.7.2002 – Nr.28957/95 (Christine Good-win/Großbritannien), ECHR 2002-VI, Ziff. 74; Pellonpää, EuGRZ 2006, S. 485; Wildhaber, FS Ress, S. 1106.

189 S.o. Fn. 59.

190 Richter Malinverni und Richterin Kalaydjieva im abweichenden Sondervo-tum, Rn. 1; vgl. auch Fiedler, VVdStRL 59, S. 218.

191 Richters Rozakis und Richterin Vajić, sehen im zustimmenden Sondervo-tum, S. 1 f., die Bedeutung des Elternrechts im Wandel der Zeit schrump-fen. Zur Begründung werden der moderne Alltag und die in diesem stetig

Page 45: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

32

b) Grenzen

In Ziff. 70 unterstreicht das Gericht die Tatsache, dass durchaus eine

Grenze zu dem eingeräumten Beurteilungsspielraum besteht („This

margin-of-appreciation, however, goes hand in hand with European

supervision.“). Diese Grenze sieht das Gericht zum einen in einer ne-

gativen Ausprägung als Verbot der Indoktrinierung (Ziff. 69). Ebenso

besteht jedoch die positive Ausprägung als Gebot der objektiven, kriti-

schen und pluralistischen Wissensvermittlung,192 welche insbesondere

im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Unparteilichkeits- und

Neutralitätspflicht des Staates aus Art. 9 EMRK zu sehen ist.193 Diese

„positive Begrenzung“ ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus den Aus-

führungen in Ziff. 69, 70. In Ziff. 69 nimmt die Große Kammer jedoch

Bezug auf Ziff. 61, 62, welche die genannten Verpflichtungen erwäh-

nen. Auch nimmt sie in Ziff. 60, 72 Bezug auf das Neutralitätsgebot.

Die Indoktrinierung ist in der Rechtsprechung als Grenze zwischen den

beiden Sphären des Art. 2 S. 2 EMRK-ZP1 anerkannt, ebenso wie die

Begrenzung durch die positiven Pflichten.194

c) Zwischenergebnis

Es bleibt festzuhalten, dass die grundsätzliche Einräumung eines Beur-

teilungsspielraums durchaus zu Recht erfolgt. Als völkerrechtliches

Gericht sollte der EGMR in Bereichen, die von großer innereuropäi-

scher Diversität geprägt oder der Kultur der Länder angehörig sind, nur

einen Mindestschutz gewähren, auch um sich nicht dem Vorwurf einer

anmaßenden Gerichtsbarkeit auszusetzen und somit seine Akzeptanz

zu gefährden. Jedoch ist das pauschale Abstellen auf den fehlenden

Konsens sowie die Nichtberücksichtigung der betroffenen Rechte unzu-

reichend. So wird auch ersichtlich, dass sich die Große Kammer ein-

deutig gegen eine „dynamische“ Herangehensweise entscheidet.

Zugleich erweckt allein die in absoluten Zahlen gesehene, häufige

Nennung des Begriffs der „margin-of-appreciation“ den Eindruck, dass

die Große Kammer sich in dieser Hinsicht keinen erneuten Vorwürfen

wachsenden, vielfältigen Einflüsse auf Kinder angeführt. Dies führe gene-rell zum einem verminderten Einfluss der Eltern.

192 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 11; Schilling, Menschen-rechtsschutz, Rn. 212.

193 Michl, JURA 2010, S. 691.

194 Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 20; Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 78; vgl. Waldhoff, DJT 2010, S. 55, zur Neutralität als Grenze.

Page 46: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

33

ausgesetzt sehen wollte. Denn auch in vergangenen Entscheidungen,

in denen der EGMR der „margin-of-appreciation“ einen erhebliche Be-

deutung beimaß, ging dies nicht zwangsläufig mit einer so häufigen,

expliziten Erwähnung derselben einher.

Im Übrigen ist aber ebenso festzuhalten, dass die vollständige Außer-

achtlassung der „margin-of-appreciation“ im ersten Urteil nicht über-

zeugt.195 Schon weil sich die Regierung Italiens ausdrücklich auf diese

berufen hat, hätte die zweite Kammer aus taktischen Gründen Ausfüh-

rungen zu dieser machen müssen.196 Denn allein die Verwendung des

Begriffs hätte zumindest die grundsätzliche Berücksichtigung der natio-

nalen Souveränität aufgezeigt und so vielleicht zu einer höheren Ak-

zeptanz des Urteils geführt.

Zu den Grenzen des Beurteilungsspielraums ist schon hier festzuhal-

ten, dass die negative Grenze der Indoktrinierung im Urteil der Zweiten

Sektion lediglich einmal im Rahmen der allgemeinen Prinzipien er-

wähnt wurde.197 Im Ergebnis sah die Zweite Sektion einen Verstoß ge-

gen die staatliche Neutralitätspflicht, die Indoktrinierung wurde zumin-

dest nicht ausdrücklich angeführt. Welcher Schluss daraus gezogen

werden kann, ist im Folgenden zu ergründen.

V. Wirkung des Kruzifix

Bei der Betrachtung der Ausführungen des Gerichts bezüglich der Wir-

kung des Kruzifixes erweist sich als problematisch, dass sich der Ein-

fluss des Beurteilungsspielraums als Kontrolldichte-Konzeption nicht

unmittelbar offenbart.198 Jedenfalls kann sich das Gericht aber auch

unter Abstellung auf die „margin-of-appreciation“ einer weiteren Prü-

fung nicht entziehen.199

1. „No evidence“ eines Einflusses

Bevor die Große Kammer die Ausführungen zur „margin-of-

appreciation“ vornimmt, trifft sie in Ziff. 66 eine missverständliche Aus-

sage hinsichtlich der Wirkung des Kruzifix, nämlich, dass es keinerlei

Beweis („no evidence“) für eine tatsächliche Einwirkung auf die Schüler

gebe und die „verständliche“, subjektive Empfindung der Klägerin allei-

195

Mancini, ECLR 2010, S. 24 f., erkennt zumindest sinngemäß eine Anwen-dung der Doktrin durch die Zweite Sektion und sieht ein Abstellen auf diese auch nicht geboten.

196 So wohl auch Annicchino, Stato, S. 15 f.

197 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien), Ziff. 47 (d).

198 Vgl. Letsas, ECHR, S. 86 f.

199 Macdonald, in: Macdonald/Matscher/Petzold, HR, S. 124.

Page 47: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

34

ne nicht zur Feststellung einer Verletzung des Art. 2 EMRK-ZP1 aus-

reiche. Somit entsteht der Eindruck, dass sich die Große Kammer

schon zu Beginn der Prüfung gegen das Vorliegen eines Eingriffs200 in

das Elternrecht ausspricht und die Beweislast für das tatsächliche Vor-

liegen eines Einflusses der Klägerin auferlegt.201

Bei näherer Betrachtung kann eine solche Deutung jedoch keinen Be-

stand haben. Denn sollte die Große Kammer wirklich davon ausgegan-

gen sein, dass gar keine Berührung des Elternrechts vorliegt, weil es

dafür eines objektiven Nachweises der Kruzifixwirkung bedürfe, so hät-

te sie auf alle weiteren Ausführungen und Abwägungen verzichten

können. Da das nicht der Fall ist, kann nur angenommen werden, dass

nach Ansicht der Großen Kammer zumindest noch weitere, objektive

Momente hinzukommen müssen, um tatsächlich zur Feststellung einer

„Nichtachtung“ zu kommen.

Die Formulierung muss also dahingehend verstanden werden, dass

lediglich eine endgültige Rechtsverletzung („breach“) durch die subjek-

tive Vorstellung der Klägerin noch nicht vorliegt, wohl aber eine grund-

sätzliche Beeinträchtigung des Elternrechts. Für eine solche Deutung

spricht, dass die „Überzeugung“ der Eltern als ein rein subjektives Ele-

ment zunächst den Ausgangspunkt der Rechte und Verpflichtungen

aus Art. 2 S. 2 EMRK-ZP-1 darstellt. So sah dies auch die Zweite Sek-

tion, die zur Begründung eines Konventionsverstoßes keinesfalls nur

auf die subjektiven Vorstellungen der Klägerin abstellte. In Ziff. 53202

befand die Zweite Sektion lediglich, dass das subjektive Empfinden der

Klägerin nicht „willkürlich“ sei, um den Ausgangspunkt für die weiteren

Erörterungen zu eröffnen. Der Ausdruck „it is understandable“ im Urteil

der Großen Kammer muss daher ebenso im Sinne einer Willkürprüfung

verstanden werden.

Möglicherweise bezweckte die Große Kammer mit dieser ausdrückli-

chen Feststellung der Beweisproblematik auch ein Zugeständnis an die

aufgekommene Kritik. Mit der Formulierung zeigt sie eindeutig, dass sie

sich des Problems eines direkten Nachweises des Einflusses auf die

Schüler bewusst ist und weitere Faktoren in die Überlegungen einbe-

ziehen wird. Dadurch stellt sie klar, dass es kein Recht darauf gibt,

200

In der EMRK besteht keine systematische Eingriffsdogmatik, vgl. Ehlers, in: Ehlers, EuGR, Rn. 58; dies gilt insbesondere für Art. 2 EMRK-ZP1, siehe Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 452, 454.

201 Vgl. Fremuth, NVwZ 2011.

202 EGMR, s.o. Fn. 4 (Lautsi/Italien).

Page 48: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

35

„keinen Anstoß zu nehmen“, wie von der Kritik oftmals vorgebracht.203

Letztendlich bleibt also festzuhalten, dass die Feststellung der Großen

Kammer zwar im Ergebnis richtig ist, da für eine endgültige Verletzung

maßgeblich ist, ob sich der Staat an die Grenze hält, die zwischen dem

Erziehungsauftrag des Staates und dem elterlichen Erziehungsrecht

gezogen ist.204 Jedoch bringt die unpräzise Formulierung in diesem

Punkt, welche wohl auch taktischen Erwägungen entspringt, Verständ-

nisprobleme mit sich.

2. Auswirkung der „preponderant visibility“

In den Ziff. 71 ff. geht die Große Kammer sodann der Frage der Einhal-

tung der Grenzen des Beurteilungsspielraums trotz der hervorgehobe-

nen Sichtbarkeit des Kruzifixes nach. Dabei stellt sie in erster Linie auf

den Begriff der Indoktrinierung ab. Die Pflicht zur objektiven, kritischen

und pluralistischen Wissensvermittlung, die im Zusammenhang mit

dem Neutralitätsgebot zu sehen ist, wird nicht ausdrücklich angeführt.

a) Indoktrinierung

Bei der Prüfung der Indoktrinierung stellt das Gericht einleitend fest,

dass allein die übergewichtige Stellung, die der Mehrheitsreligion Itali-

ens durch die obligatorische Zurschaustellung des Kruzifixes einge-

räumt wird, keinesfalls eine Indoktrinierung darstelle.

aa) Vergleich mit den Fällen Folgerø und Zengin

Zur Begründung dieser Schlussfolgerung verweist die Große Kammer

auf die Fälle Folgerø und Zengin (Ziff. 71). In diesen größtenteils paral-

lel gelagerten Sachverhalten bestand in Norwegen bzw. in der Türkei

ein verpflichtender Religionsunterricht. Dieser behandelte alle größeren

Religionen und Weltanschauungen, sodass im Laufe eines Schuljahres

ein gewisser Wechsel bestand.205 Jedoch hatten die jeweiligen Mehr-

heitsreligionen des Landes (Christentum und Hanafit-Islam) einen pro-

zentual größeren Anteil am Lehrplan, als den anderen Religionen zu-

kam. In beiden Fällen klagten die Eltern der Schüler gegen die Teil-

nahme ihrer Kinder an diesem Unterricht.

203

S.o. Fn. 52; ebenso Richterin Power im zustimmenden Sondervotum, S.1. 204

Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 454. 205

In Norwegen wurde das Unterrichtsfach als „Christentum, Religion und Philosophie“, in der Türkei als „Religion, Kultur und Ethik“ bezeichnet.

Page 49: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

36

Der EGMR kam jeweils zu dem Zwischenergebnis, dass das anteilige

Übergewicht der Mehrheitsreligion im Unterricht grundsätzlich durch die

Bedeutung der Religion für das Land und dessen Traditionen gerecht-

fertigt sei. Der Staat handle hier noch innerhalb seiner „margin-of-

appreciation“, es sei keine Indoktrinierung anzunehmen.206 Dennoch

dürfe ein solches Übergewicht allenfalls quantitativ, nicht jedoch quali-

tativ ausfallen.207 Letztlich kam der EGMR aber in beiden Fällen zu

gerade dieser Schlussfolgerung, dass nämlich auch eine qualitative

Besserstellung der Mehrheitsreligion vorlag. In diesem Fall hätten die

Staaten einfach durchzusetzende Befreiungsmöglichkeiten vom Unter-

richt ermöglichen müssen. Diesen Anforderungen genügten die vorge-

sehenen Befreiungsmöglichkeiten nicht.208

Ein vorschnelles Übertragen dieser Grundsätze auf den vorliegenden

Fall stößt auf Bedenken. So handelte es sich bei den Lehrplan-Fällen

gerade um Schulkonzepte, die im Grundsatz auf echte, pluralistische

Wissensvermittlung ausgerichtet waren.209 Eine solche Vermittlung von

Fakten kann grundsätzlich nicht durch das Elternrecht abgewehrt wer-

den.210 Die Absicht einer echten Wissensvermittlung ist im Fall des

Kruzifixes jedoch nicht zu erkennen. Die Fortführung einer Tradition

kann isoliert betrachtet nicht als Wissensvermittlung angesehen wer-

den, durch das Kruzifix allein erfolgt keine Weiterbildung.

Weiterhin fällt es schwer, im Fall der obligatorischen Zurschaustellung

allein des Kruzifixes ein quantitatives vom einem qualitativen Element

abzugrenzen. Das Kruzifix ist das einzige Symbol, welches mit staatli-

cher Befürwortung verpflichtend im Schulalltag erscheint. Schon diese

Einseitigkeit bringt das qualitative Übergewicht mit sich. Die übrigen

Religionen werden von staatlicher Seite aus nicht zwingend in Schul-

klassen zur Schau gestellt, sondern lediglich geduldet. In den Lehrplan-

Fällen war hingegen der gesamte Unterricht, also auch die Einheiten zu

den anderen Religionen, staatlich organisiert und vorgeschrieben.

Zu bedenken ist auch, dass schon im Fall Folgerø das qualitative

Übergewicht teilweise logische Folge des quantitativen Übergewichts

war. In den Unterrichtseinheiten wurden Aktivitäten im Zusammenhang

206

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 33 (Folgerø/Dänemark), Ziff. 89; EGMR, s.o. Fn. 110 (Hasan und Eylem Zengin/Türkei), Ziff. 63.

207 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 33 (Folgerø/Dänemark), Ziff. 95.

208 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 33 (Folgerø/Dänemark), Ziff. 97 - 100; EGMR, s.o. Fn. 110 (Hasan und Eylem Zengin/Türkei), Ziff. 71 - 76.

209 EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 33 (Folgerø/Dänemark), Ziff. 88 f.; EGMR, s.o. Fn. 110 (Hasan und Eylem Zengin/Türkei), Ziff. 58 f.

210 Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 21.

Page 50: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

37

mit der gerade behandelten Religion veranstaltet. Die Folge, dass so-

mit auch mehr Aktivitäten der christlichen Religion stattfanden, war ein

Aspekt des qualitativen Übergewichts.211

Unter Berücksichtigung dieser Unterschiede ist es nachvollziehbar,

dass die Zweite Sektion diese Fälle nicht entsprechend herangezogen

hat. Die Große Kammer verweist jedoch mutatis mutandis und ohne

erklärende Erläuterung. Gerade aus den Lehrplan-Fällen ließe sich die

Möglichkeit einer Ausnahmeregelung herleiten,212 welche (nur) in Fäl-

len des ausdrücklichen Verlangens eines Schülers ein Abhängen des

Kruzifixes vorsähe. Nähme man entgegen der Großen Kammer ein

qualitatives Übergewicht an, wäre eine solche Regelung geboten.

bb) Relativierungs- und Neutralisierungserwägungen

Im Anschluss an den Verweis zur Lehrplan-Rechtsprechung folgen

verschiedene Argumentationsstränge, die einer Art Relativierungs- und

Neutralisierungsgedanken entspringen.213 Diese haben sowohl Einfluss

auf die Frage des Vorliegens einer Indoktrinierung als auch insbeson-

dere auf die positiven Pflichten.

(1) Lediglich ein „passive symbol“

So führt das Gericht zunächst den Gedanken der „Passivität“ des Kru-

zifixes ein (Ziff. 72). Dabei erscheint schon der Begriff des „passiven“

Symbols nicht eindeutig. Diesen entnimmt die Große Kammer nicht der

eigenen Rechtsprechung, sondern greift hier einen häufig angeführten

Begriff der Kritiker des ersten Urteils auf.214 Diesen ergänzt sie unglück-

licherweise um eine Erklärung. Es erfolgt auch keine Abgrenzung zum

„aktiven Symbol“.215 Eine solche wäre auch schwierig, kann die Passivi-

tät doch als ein Wesensmerkmal eines Symbols angesehen werden.

Das passive Symbol wird von der Großen Kammer nur von aktiver

Teilnahme an religiösen Veranstaltungen und lehrenden Vorträgen

abgegrenzt. Es ist zwar durchaus nachzuvollziehen, dass einer aktiven

Einwirkung auf die Schüler ein anderer Stellenwert beizumessen wäre.

So kommt die Große Kammer mit diesem Gedanken auch gewisser-

211

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 33 (Folgerø/Dänemark), Ziff. 94. 212

Leskovar, ICL, S. 238 f.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 12. 213

Richter Rozakis und Richterin Vajić bestärken diese Schlussfolgerung auf S. 4 ihres zustimmenden Sondervotums.

214 ECLJ und Monacos Regierung, s.o. Fn. 49.

215 BVerfGE 93, 20 befand einen „appellativen Charakter“ des Kruzifixes, wel-cher wohl einem „aktiven Symbol“ näher stünde.

Page 51: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

38

maßen auf das Beweisproblem aus Ziff. 66 zurück. Diese Unterschei-

dung wäre aber auch bei der bloßen Verwendung des Begriffes „Sym-

bol“ nachvollziehbar geblieben, der eigene Gehalt des Zusatzes „pas-

siv“ bleibt unklar.216

Es ist gleichwohl festzustellen, dass die Wirkung des Kruzifixes durch

diese Ausführungen der Großen Kammer nur einseitig relativiert wird.

Es werden keinerlei trotz „Passivität“ möglicherweise bestehende Ge-

fahren der unterschwelligen Einwirkungen bedacht.217 Die Ausführun-

gen der Zweiten Sektion zu der emotional beunruhigenden Wirkung

bleiben völlig unbeachtet. Intensivere Erörterungen in dieser Hinsicht

wären jedoch angesichts des pauschalen Abstellens auf die „Nichtbe-

weisbarkeit“ in Ziff. 66 geboten gewesen.218

(2) Kein „powerful external symbol“

Die Begrifflichkeit des „passiven Symbols“ steht möglicherweise im

Zusammenhang mit Ziff. 73. Denn von den vorigen Ausführungen der

Großen Kammer ausgehend, ist es folgerichtig, dass ein passives

Symbol auch kein „starkes, externes Symbol“ darstellt. Dies hatte die

Zweite Sektion in einem Vergleich mit der Rechtssache Dahlab noch

angenommen.

In dieser Rechtssache wurde einer zum Islam konvertierten Grund-

schullehrerin in der Schweiz untersagt, dass Kopftuch während des

Unterrichts zu tragen. Der EGMR erkannte in diesem Verbot einen Ein-

griff in die positive Religionsfreiheit der Lehrerin. Dieser wurde jedoch

als gerechtfertigt erachtet, da das Verbot insbesondere der Wahrung

der öffentlichen Ordnung und dem Schutz der negativen Religionsfrei-

heit der Schüler diene, auf welche ein solch „kraftvolles, externes Sym-

bol“ möglicherweise einen missionierenden Einfluss haben könnte.219

Der Staat handelte somit innerhalb seiner „margin-of-appreciation“.

In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rechtssache Şahin hinzu-

weisen. Dort sah der EGMR das Verbot an eine türkische Studentin,

ein Kopftuch in der Uni zu tragen, ebenfalls als gerechtfertigt an. Das

Kopftuch könne politisch-religiösen Druck auf die Kommilitonen ausü-

ben, so dass das Verbot der Wahrung des religiösen Friedens und der

216

Vgl. Zucca, I.CON 2011 Grand, S. 3 f. 217

Richterin Power deutet dies in ihrem zustimmenden Sondervotum, S. 2, zumindest an („symbols […] are carriers of meaning. They may be silent but they may, nevertheless, speak volumes.“).

218 Heckmann, JZ 1996, S. 888 f., zu möglichen Wirkungen.

219 EGMR, s.o. Fn. 38 (Dahlab/Schweiz).

Page 52: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

39

Rechte und Freiheiten anderer diente.220 Auch die Türkei bewegte sich

somit innerhalb ihrer „margin-of-appreciation“. In beiden Fällen erkann-

te der EGMR einen glaubenswerbenden Effekt des Kopftuchs.221

Mit der Zurückweisung des Vergleichs mit dem Kopftuch tritt die Große

Kammer der Zweiten Sektion das einzige Mal explizit entgegen. Äu-

ßerst problematisch ist jedoch, dass dieser Widerspruch nicht begrün-

det wird. Vielmehr begnügt sich die Große Kammer mit der Feststel-

lung, dass es diesmal, anders als in den Fällen Folgerø und Zengin, an

der Vergleichbarkeit mangele. Bis auf eine Wiedergabe des Sachver-

halts wird diese Aussage jedoch erneut nicht erläutert. Zwar ging es im

Fall Dahlab um eine Beschränkung der positiven Religionsfreiheit und

um die Prüfung, ob ein Verbot des Staats innerhalb der „margin-of-

appreciation“ lag, also um einen „umgekehrten“ Sachverhalt. Es ist

dennoch nicht ersichtlich, wie die Große Kammer allein hieraus den

Schluss zieht, dass die Einschätzung als „powerful, external symbol“

auf keinen Fall haltbar sei. Bei diesem Begriff handelt es sich nicht um

die Auslegung eines Tatbestandsmerkmals, welches der Schweizer

Regierung im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums zugebilligt wurde,

sondern um einen vom EGMR verwendeten Begriff.222 Es ist mit Blick

auf Ziff. 66 auch darauf hinzuweisen, dass der EGMR in den Kopftuch-

Fällen– wohl im Zusammenhang mit dem „powerful, external symbol“ –

es schon ausreichen ließ, dass die abstrakte Gefahr eines potentiellen

Einflusses bestehe.223

Gerade ein Kopftuch ist auch ein Zeichen der persönlichen Religions-

ausübung. Dieser individuelle Charakter liegt beim Kruzifix nicht ohne

weiteres vor, eine Tatsache, die für die Eigenschaft „external“

spricht.224 So steht hinter dem Kopftuch auch die positive Religionsfrei-

heit der Lehrerin, ein Recht, auf das sich der Staat als Anweisender im

Kruzifixfall nicht berufen kann.225

Andererseits kann ebenso angeführt werden, dass ein Kruzifix, welches

lediglich an der Wand hängt, nicht beachtet werden muss und somit

weniger „powerful“ ist.226 Auch steht es nicht in unmittelbarem Zusam-

220

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 84 (Leyla Şahin/Türkei), Ziff. 115. 221

Weber, DVBl 2006, S. 173. 222

Die Schweizer Regierung nannte es „powerful, religious symbol“. 223

Berkmann, Lautsi, Rn. 47; GHM, Intervention 2008, S. 2. 224

Michl, JURA 2010, S. 692, der sogar davon ausgeht, dass das Kruzifix ein viel stärkeres „powerful, external symbol“ ist.

225 Richter Malinverni und Richterin Kalaydjieva in ihrem abweichenden Son-dervotum, Rn. 6.

226 Schöbener, JURA 2003, S. 190; Berkmann, Lautsi, Rn. 43.

Page 53: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

40

menhang mit einer aktiv auftretenden Person.227 Somit ist die Ansicht

der Großen Kammer im Ergebnis vielleicht nicht unhaltbar, ohne tiefere

Auseinandersetzung mit diesen Argumenten erschließt sich die Unver-

gleichbarkeit jedoch nicht.228 Vielmehr hinterlässt die Pauschalität den

Eindruck, der EGMR würde per se von einer Unvergleichbarkeit des

islamischen Kopftuchs mit anderen religiösen Symbolen ausgehen.229

(3) Kein obligatorischer Religionsunterricht

Auch die nächste Ausführung der Großen Kammer, dass in italieni-

schen Schulen keinerlei verpflichtender Religionsunterricht bestehe

(Ziff. 74), wird ohne weitere Schlussfolgerung vorgebracht. Es ist zwar

verständlich, dass ein zusätzlicher Religionsunterricht die Wirkung des

Kruzifixes möglicherweise unterstützen würde.230 Eine solche Wirkung,

welcher Art auch immer, hat die Große Kammer jedoch an dieser Stelle

noch nicht positiv anerkannt. Es wird lediglich der wiederholte Ansatz

einer Argumentation sichtbar, die generell auf die Relativierung der

Wirkung des Kruzifixes hinausläuft.

(4) Öffnung des Schulalltags für andere Religionen

Gleiches gilt für das Argument, dass die italienischen Schulen offen für

die religiösen Praktiken anderer Glaubensrichtungen seien. Es ist zu

bedenken, dass es sich bei den aufgeführten Beispielen (Erlaubnis des

Kopftuchtragens für Schülerinnen, Möglichkeit der Einrichtung ver-

schiedener Religionsunterrichte, gelegentliches Feiern des Fastenbre-

chens Īdu l-Fiṭr) jeweils um individuelle, religiöse Betätigungen handelt,

die vom Staat nur erlaubt, nicht aber vorgeschrieben werden. Diese

individuellen Betätigungen unterstehen unmittelbar dem Schutz der

aktiven Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK. Daher ist nicht ersichtlich,

warum solche individuellen Glaubensbekundungen die Wirkung des

Kruzifixes als staatlich vorgeschriebenes, religiöses Symbol minimie-

ren. Diese Erwägungen stehen wohl vielmehr im Zusammenhang mit

den positiven, staatlichen Pflichten.

227

Schöbener, JURA 2003, S. 190. 228

Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 453, stimmen dem Vergleich zu. 229

Zur Kritik der Behandlung des Kopftuchs in der Rechtsprechung des EGMR siehe Nigro, HRR 2010, S. 542 ff; Rorive, CLR 2009, S. 2680, 2684 f; zur Frage der religiösen Ungleichbehandlung in der Rechtsprechung des EGMR Janis/Kay/Bradley, EHRL, S. 368 ff.

230 Heckmann, JZ 1996, S. 882 f.

Page 54: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

41

(5) Aufrechterhaltung des allgemeinen Erziehungsrechts

Die letzten Erörterungen der Großen Kammer beziehen sich darauf,

dass das allgemeine Erziehungsrecht der Eltern außerhalb des Schul-

betriebes (Ziff. 75) vollumfänglich erhalten bleibe. Es wurde jedoch zu

keinem Zeitpunkt vorgebracht, dass der Staat in dieses Recht der El-

tern eingreife. Das Gericht scheint lediglich letzte Zweifel ausräumen

zu wollen, indem möglicherweise trotzdem noch bestehende Auswir-

kungen über das allgemeine Elternrecht „aufgefangen“ werden können.

Vor allem, weil das Gericht bis zuletzt keine dieser Wirkungen positiv

festgestellt hat, entfaltet dieses Argument keine große Überzeugungs-

kraft.

b) Beeinträchtigung der Pflicht zur objektiven, kritischen und plu-

ralistischen Wissensvermittlung und Neutralität

Wie dargestellt, erfolgt keine klare Trennung der negativen und positi-

ven Grenzen des Beurteilungsspielraums. Nach der Feststellung der

„preponderant visibility“ erschöpft sich die Argumentation in den erör-

terten Relativierungsgedanken. In diesem Rahmen muss die Große

Kammer insbesondere auch die Wahrung des Neutralitätsgebots und

der objektiven, kritischen und pluralistischen Wissensvermittlung prü-

fen. Es stellt sich also die Frage, inwieweit sie dieses durch die obliga-

torische Zurschaustellung überhaupt beeinträchtigt sieht.

In den Ziff. 70 ff. wird lediglich in Ziff. 72 unter Verweis auf Ziff. 60 auf

das aus Art. 9 EMRK folgende, staatliche Neutralitätsgebot Bezug ge-

nommen.231 Dort stellt die Große Kammer fest, dass das Kruzifix gera-

de als „passives Symbol“ mit der Neutralitätspflicht vereinbar sei. Er-

neut enthält sie sich jedoch jeglicher weiterer Erläuterungen.

Auf die staatliche Neutralitätspflicht scheint die „margin-of-appreciation“

einen deutlichen Einfluss zu haben. Die Große Kammer erkennt an,

dass die hervorgehobene Sichtbarkeit grundsätzlich eine Abweichung

von dieser Pflicht darstellt. Insoweit legt sie in Ziff. 71 eine Art Stufen-

verhältnis zwischen Indoktrinierung und Neutralitätspflicht

(„…amounting to indoctrination“) zugrunde. Aus dem Begriff des „Hin-

auslaufens“ wird ersichtlich, dass die Große Kammer durchaus eine

Abweichung von der Pflicht zur pluralistischen, objektiven Wissensver-

mittlung und Neutralität feststellt. Diese Schlussfolgerung, dass eine

231

Richter Bonello, führt in seinem zustimmenden Sondervotum, Rn. 2.2 an, dass dieses Neutralitätsgebot in der EMRK nicht vorgesehen sei.

Page 55: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

42

grundsätzliche Beeinträchtigung der Neutralitätspflicht vorliegt, wird von

den Ausführungen des Richters Rozakis und der Richterin Vajić unter-

stützt.232

Gerade in diesem Zusammenhang entfaltet die Neutralisierungslogik

der Ziff. 74 eine entscheidende Bedeutung. Die Formulierungen der

Großen Kammer sind so zu deuten, dass dem Staat im Rahmen des

Beurteilungsspielraums eine gewisse Abweichung von seiner konventi-

onsrechtlichen Neutralitätspflicht zusteht. Sollte der Staat, wie im vor-

liegenden Fall, einen Ansatz verfolgen, in dem der Religion in der Öf-

fentlichkeit Raum gewährt wird, also eine Art „offene Neutralität“233, so

kann auch die obligatorische Kruzifixpräsenz über pluralistische Ansät-

ze und den Beurteilungsspielraum gerechtfertigt sein. Die Große Kam-

mer erachtet es also als ausreichend, dass der Staat zusätzlich die

positive Religionsfreiheit aller Schüler in gleichem Maße umfangreich

gewährt und betrachtet somit unter Berücksichtigung der „neutralisie-

renden“ Elemente die Schulumgebung als Ganzes, um die Abweichung

von einer strikten Neutralität zuzulassen.

Daraus lässt sich auch entnehmen, dass die Große Kammer aus den

Fällen Dahlab und Şahin keinesfalls schließt, dass ein unantastbares

Neutralitätsgebot im Sinne eines religiös-weltanschaulichen Unbetei-

ligtseins bestehe und dieses keine religiösen Einflüsse in der Schulum-

gebung zulasse.234 Diese Schlussfolgerung überzeugt, denn die Kopf-

tuch-Fälle bezogen sich auf Staaten, die einen strengen Laizismus

praktizieren, nämlich auf den schweizerischen Kanton Genf und die

Türkei.235 In diesen Fällen wurde die Wahrung der Neutralität, anders

als vorliegend, als legitimer Zweck der Verbote angeführt. Den Staaten

wurde innerhalb der „margin-of-appreciation“ grundsätzlich die Ent-

scheidung zu einer „laizistischen Neutralität“ als Ausfluss des Staats-

systems zugebilligt.

Es ist hier zu beachten, dass es an einer Übereinstimmung zur genau-

en Reichweite des Grundsatzes der staatlichen Neutralität innerhalb

der Mitgliedstaaten mangelt.236 Diese ist oftmals eng verbunden mit

den unterschiedlichen, staatskirchenrechtlichen Systemen, wobei we-

232

Zustimmendes Sondervotum, S. 3 f. 233

Heckel, DVBl 1996, S. 472; vgl. für Italien Berkmann, Lautsi, Rn. 66. 234

Tulkens, CLR 2009, S. 2586; zu diesem Schluss kamen nach dem ersten Urteil Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 458; Calo, JLR 2010, S. 106 ff.

235 Berkmann, Lautsi, Rn.62; Grabenwarter, in: Zimmermann, Religion, S. 103; Janis/Kay/Bradley, EHRL, S. 596.

236 Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 456 f.; Schöbener, JURA 2003, S. 189.

Page 56: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

43

der der strenge Laizismus in der Türkei und Frankreich, noch das Be-

stehen einer Staatskirche in einigen skandinavischen Ländern für sich

genommen konventionswidrig sind.237 Der EGMR hat die Aufgabe, un-

abhängig vom jeweiligen System die Einhaltung der Konventionsgaran-

tien zu prüfen, wobei Systeme der Staatskirche in religiösen Fragen

zumindest ein höheres Konfliktpotential aufweisen.238 So hat der EGMR

in den vorangegangenen Entscheidungen auch jeweils nur im Einzelfall

festgestellt, dass der Laizismus ein, nicht aber das einzige mit der Kon-

vention vereinbare System ist.239 Die Große Kammer selbst nimmt so-

mit sinnvollerweise keine derart verbindliche Festlegung hinsichtlich

eines strikten Neutralitätsgebots vor.240 Es wäre jedoch möglich, den

Vergleich der verschiedenen Ausprägungen des Neutralitätsgebots auf

die Schulumgebung zu beschränken. Dies würde zu ähnlichen Überle-

gungen wie bei der Konsensermittlung, letztlich also zu keinem zwin-

genden Ergebnis führen.

Jedoch bleibt der Gedanke des Beitrags des Kruzifixes zum Pluralis-

mus als „einer von vielen“ religiösen Eindrücken im Schulalltag angreif-

bar. Die Zweite Sektion erkannte, dass allein das Kruzifix die staatliche

Befürwortung beanspruchen kann. Auch wenn die Große Kammer die-

se Parteinahme unter gewissen Voraussetzungen auf Grund des Beur-

teilungsspielraums der Mitgliedstaaten zulässt, müssen die weiteren

Folgen einer solchen berücksichtigt werden, eine Überlegung die eng

mit der Prüfung der Indoktrinierung verbunden ist. Auch ist festzuhal-

ten, dass allein die Abwesenheit von Intoleranz gegenüber nicht gläu-

bigen Schülern, wie von der Großen Kammer angeführt, nicht zum po-

sitiven Vorliegen von Neutralität führt.241

3. Unberücksichtigte Gesichtspunkte

Gerade unter Berücksichtigung der positiven Pflichten bildet ein Ker-

naspekt des Falles die Prüfung der Verhältnismäßigkeit („test of propor-

tionality“), wobei diese als Teil der Indoktrinierungsprüfung anzusehen

ist. Es muss somit darauf geschlossen werden, dass die Ausführungen

237

Graulich, in: Tettinger/Stern, KölKomm, Art. 10 Anm. 2, Rn. 21 ff.; Frowein, Religionsfreiheit , S. 78; Tulkens, CLR 2009, S. 2577, 2584.

238 Pabel, EuGRZ 2005, S. 15; Waldhoff, DJT 2010, S. 54 f.

239 Pabel, EuGRZ 2005, S. 15 f.

240 Vgl. Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 455, mit diesbezüglicher Forde-rung; zur grundsätzlichen Möglichkeit der Anführung des Neutralitätsgebo-tes Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 17 Rn. 133.

241 Fremuth, NvWZ 2011.

Page 57: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

44

in Ziff. 70 ff. dem Grunde nach Ausdruck eines allgemeinen Verhält-

nismäßigkeitsgedankens sind.242

a) Kollidierende Rechte und wirkungsverstärkende Aspekte

Es müssten somit insbesondere das Elternrecht aus Art. 2 S. 2 EMRK-

ZP1243 (in Verbindung mit der negativen Religionsfreiheit des Art. 9

EMRK) der Klägerin einerseits und der positiven Religionsfreiheit der

mehrheitlich römisch-katholischen Bevölkerung (und somit auch Schü-

ler) andererseits244 unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums

in Ausgleich gebracht werden.245 Eine solche, konkrete Abwägung um-

geht die Große Kammer größtenteils. Diese wäre jedoch geboten ge-

wesen und entspricht auch der Praxis des EGMR.246

Dabei wären auch Aspekte zu beachten, die zu einer erhöhten Schutz-

bedürftigkeit der Kinder der Klägerin führen können. Insbesondere zwei

von der Zweiten Sektion als maßgeblich erachtete Umstände bleiben

unberücksichtigt. So wird die besondere Position der Schüler in einem

Sonderrechtsverhältnis, welchem sie sich nicht entziehen können,247

sowie das Alter der Schüler in dem Urteil der großen Kammer außer

Betracht gelassen. Zwar legt die Große Kammer in Ziff. 57 dar, dass

nicht über die allgemeine Präsenz von religiösen Symbolen in öffentli-

chen Einrichtungen entschieden werden soll. Den Besonderheiten des

Schulwesens wird in Form der Relativierungserwägungen jedoch nur

einseitige Beachtung geschenkt.

Gerade die dauerhafte, unausweichliche Konfrontation durch das Kruzi-

fix, welcher sich die Schüler ausgesetzt sehen, ist ein Gesichtspunkt,

der zu einer erhöhten Schutzbedürftigkeit.248 In den herangezogenen

Lehrplan-Fällen handelte es sich um einzelne Unterrichtseinheiten, also

Sachverhalte mit Ereignischarakter, sodass unter diesem Gesichts-

punkt sogar eine niedrigere Intensität vorliegt.

242

Dies wird bestärkt durch das zustimmende Sondervotum des Richters Ro-zakis und der Richterin Vajić, S. 1; zustimmendes Sondervotum des Rich-ters Bonello, Rn. 3.4; vgl. auch Wildhaber, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn. 113; vgl. zum ersten Urteil mit Blick auf den Einfluss der Neutralitätspflicht Berkmann, Lautsi, Rn. 60 ff.

243 Siehe hierzu erneut die Schlussfolgerungen der Richters Rozakis, unter Anschluss der Richterin Vajić, s.o. Fn. 191.

244 Grabenwarter, in: Karl, IntKommEMRK, Art. 9 EMRK, Rn. 56; anders Hill-gruber, KuR 2010, S. 11.

245 Richters Rozakis und Richterin Vajić, im zustimmenden Sondervotum S. 1; Andreescu/Andreescu, JSRI Vol. 9, S. 66; Berkmann, Lautsi, Rn. 59.

246 Langenfeld, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 24, Rn. 19.

247 Richter Malinverni und Richterin Kalaydjieva, Sondervotum, Rn. 5.

248 Heckmann, JZ 1996, S. 883.

Page 58: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

45

Auch sah die bisherige Rechtsprechung das Alter von Schülern, wel-

ches von der Großen Kammer in Ziff. 66 nur beiläufig erwähnt wird, als

entscheidend an. In den Fällen Dahlab und Folgerø wurde dieser Tat-

sache besonderes Gewicht beigemessen.249 Auch wenn es sich im Fall

Dahlab um Grundschüler im Alter von vier bis acht Jahren, vorliegend

aber um Schüler im Alter von elf bis dreizehn Jahren handelt, rechtfer-

tigt dieser Unterschied nicht die komplette Außerachtlassung entspre-

chender Erwägungen.250

Auf der anderen Seite spricht gegen eine erhöhte Schutzbedürftigkeit

der restlichen Schüler, dass die aktive Religionsfreiheit vorliegend nicht

in eine Leistungsdimension in Form einer staatlichen Schutzpflicht er-

wächst.251 Eine solche kann sich zwar insbesondere aus der Beson-

derheit von Sonderrechtsverhältnissen ergeben.252 Der Großteil der

vom EGMR hierzu entschiedenen Fälle bezog sich jedoch auf das

Sonderrechtsverhältnis in Haftanstalten, welches von einer höheren

Intensität als das Schulwesen geprägt ist. So wären für Schüler, die ein

Kruzifix als individuelle, religiöse Bekräftigung verlangen, hinreichende

Ausweichmöglichkeiten, wie das Tragen einer Kette mit Kreuzanhä-

nger, offen.253 Zu diesem Ergebnis kam auch die Zweite Sektion, wobei

diese ebenfalls eine vertiefte Abwägung schuldig blieb. Es sollte zwar

keinesfalls, wie das erste Urteil vermuten ließ,254 ein uneingeschränk-

ter Vorzug der negativen Religionsfreiheit bestehen. Doch stellt es –

trotz Bestehen eines Beurteilungsspielraums - ein Versäumnis der

Großen Kammer dar, keine ausdrückliche Abwägung vorzunehmen.

b) Minderheitenschutz

In einer solchen Abwägung müsste auch die besondere Situation einer

Minderheit im christlich dominierten Italien, welche die Zweite Sektion

noch ausdrücklich in ihre Erwägungen mit einbezog, beachtet wer-

den.255 Die Große Kammer stellt aber der Gruppe von nicht gläubigen

Schüler vielmehr eine allgemeine Gruppe von gläubigen Schülern (un-

249

EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 33 (Folgerø u.A./Dänemark), Ziff. 94; EGMR, s.o. Fn. 38 (Dahlab/Schweiz).

250 HII, Submissions 2010, S. 4.; Schöbener, JURA 2003, S. 191.

251 Hillgruber, KuR 2010, S. 12; anders Richter Bonello in seinem zustimmen-den Sondervotum, Rn. 3.5.

252 Frowein, Religionsfreiheit, S. 84.

253 Fremuth, NVwZ 2011.

254 Michl, JURA 2010, S. 694.

255 Vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 2 EMRK-ZP1, Rn.4; Michl, JURA 2010, S. 692, für einen konsequenten Minderheitenschutz in diesem Fall; zur aus-grenzenden Wirkung von Symbolen Heckmann, JZ 1996, S. 882 f.

Page 59: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

46

beachtet des genauen Glaubens) gegenüber. Damit wird die Minder-

heitenposition derer, die sich auf die negative Religionsfreiheit berufen,

letztlich eher verstärkt. Hinsichtlich des Minderheitenschutzcharakters

der Menschenrechte256erkennt der EGMR in ständiger Rechtsprechung

an, dass Demokratie nicht automatisch bedeutet, dass die stärkere

Gruppe den Vorrang hat. Vielmehr müsse eine Balance gesucht wer-

den, die die angemessene und faire Behandlung der Minderheit erlaubt

und den Missbrauch von dominierenden Positionen verhindert.257

Obwohl die Große Kammer in Ziff. 60 explizit auch auf die Pflicht des

Staates zum Interessenausgleich zwischen gläubigen und nicht gläubi-

gen Personen hinweist, fehlt es an solchen Ausgleichserwägungen.

4. Zwischenergebnis

Es bleibt festzuhalten, dass die Große Kammer der zentralen Frage der

Indoktrinierung durch Symbolgebrauch258 nur unzureichend nachgeht.

Der pauschale Verweis auf die Unbeweisbarkeit in Ziff. 66 erweist sich

so letztlich doch schon als entscheidendes Fundament der Begrün-

dung. Es wird keinerlei Versuch unternommen, die eventuellen Mög-

lichkeiten eines Einflusses positiv anzuerkennen oder zu erörtern. Der

angreifbare Verweis auf die Lehrplan-Rechtsprechung und das nicht

weiter erläuterte, „passive“ Symbol einerseits sowie die nicht weiter

dargelegte Ablehnung eines „powerful, external symbols“ andererseits

ersetzen vielmehr eine intensive Prüfung. Gerade wenn die Indoktrinie-

rung als unumstößliche Grenze angesehen wird, sollte eine tieferge-

hende Erörterung derselben erfolgen.

Ähnliches gilt für die Abwägung unter Berücksichtigung der positiven

Pflichten des Staates. Die Anerkennung der Existenz verschiedener

Ausprägungen des Neutralitätsgebots sowie die pluralistischen Grund-

gedanken, die die Neutralisierungserwägungen tragen, verdienen zwar

grundsätzlich Zustimmung. Jedoch sollte der „staatskirchenrechtliche

Freiraum“259, der aus der „margin-of-appreciation“ folgt und es dem

EGMR erlaubt, sich einer verbindlichen Festlegung des Neutralitätsge-

botes zu entledigen, nicht dazu führen, dass jegliche konkrete Abwä-

256

Hillgruber, KuR 2010, S. 9; Hobe, Völkerrecht, S. 463; zu Art. 9 EMRK auch Calo, JLR 2010, S. 107.

257 EGMR, Urt. v. 13.8.1981 – Nr. 7601/76 (James, Young und Webs-ter/Großbritannien), Series A no. 44, S. 4 – 27, Ziff. 63.

258 Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, S. 453.

259 Weber, DVBl 2006, S. 174.

Page 60: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

47

gung der konflingierenden Rechte unterbleibt.260

Es wird deutlich, dass die Große Kammer ihre durch die „margin-of-

appreciation“ bereits beschränkte Kontrolle nochmals zurückhaltender

ausübt. Dadurch wird jedoch der effektive europäische Grundrechts-

schutz, auch wenn dieser nur einen Mindeststandard darstellt, sehr

weit zurückgedrängt.

G. Abschließende Stellungnahme

Unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes sind verschiedene Män-

gel an der Art und Weise des Zustandekommens des Ergebnisses der

Großen Kammer zu beobachten.

So können die Ausführungen zu der Anwendbarkeit des Art. 2 S. 2

EMRK-ZP1 und zum religiösen Gehalt des Kruzifixes noch überzeu-

gen. Die weiteren Schlussfolgerungen sind jedoch unter einigen, hier

aufgezeigten Gesichtspunkten alles andere als zwingend. Dabei fallen

auch, wie schon am ersten Urteil kritisiert, strukturelle und formale

Mängel ins Gewicht. Teilweise stellt die Große Kammer Behauptungen

auf, die sie nur unzureichend oder gar nicht begründet. Es erfolgt keine

offene, ausführliche Abwägung der kollidierenden Rechtspositionen.261

Vielmehr belässt es die Große Kammer bei den aufgezeigten Relativie-

rungs- und Neutralisierungselementen. Ebenso bleiben Argumente der

Zweiten Sektion einfach unbeachtet und die eigene Rechtsprechung

wird an entscheidenden Stellen kommentarlos und ergebnisorientiert

herangezogen.

Unausweichlich ins Zentrum der Erörterungen wird die „margin-of-

appreciation“ gerückt, der mit dem zumindest angreifbaren, pauschalen

Verweis auf einen mangelnden Konsens eine erhöhte Bedeutung zu-

gesprochen wird. Der häufigen Bezugnahme auf die Doktrin entspringt

der Verdacht, dass das Gericht eine endgültige Positionierung zu dem

grundliegenden Problem des Falles, nämlich der tatsächlichen Wirkung

des Kruzifixes, zumindest teilweise umgehen wollte.

Dabei ist zu bedenken, dass die grundsätzliche Sensibilität des EGMR

in Fragen des Zusammenspiels von Schulwesen und Religion, in Fort-

führung der bisherigen Rechtsprechung, im Grundsatz durchaus gebo-

ten ist. So hätte auch die Zweite Sektion nicht primär auf die Neutrali-

tätspflicht abstellen dürfen, sondern sich genauer mit der Wirkung des

260

Vgl. Pabel, EuGRZ 2005, S. 14; Rorive, CLR 2009, S. 2683 f., mit ähnlicher Kritik zum Urteil Şahin.

261 Dem „main issue“ nach Anicht des Richters Rozakis und der Richterin Vajić im zustimmenden Sondervotum, S. 1.

Page 61: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

48

Kruzifixes im Einzelfall und weiteren Abwägungsaspekten beschäftigen

müssen. Dies gilt umso mehr, da sie die „margin-of-appreciation“ außer

Acht ließ. Jedoch sollte auch die Rückkehr zur Sensibilität zu keinem

Verzicht auf die angesprochene Abwägung berechtigen. Indem die

Große Kammer eine solche größtenteils umgeht, begeht sie einen ähn-

lichen Fehler wie die Zweite Sektion zuvor. Im Rahmen einer solchen

Abwägung hätte es nicht zu einer „Ganz-oder-Gar-nicht“ Lösung müs-

sen.262 Das Aufzeigen möglicher Ausnahmeregelungen, die der Recht-

sprechung des EGMR nicht fremd sind, wäre denkbar gewesen und

hätte der Vielschichtigkeit des Problems Rechnung tragen können.263

Dem EGMR kann nun jedenfalls nicht mehr vorgeworfen werden, dass

er in der Rechtssache Lautsi einen anmaßenden Schritt zum „europäi-

schen Verfassungsgericht“264 vollzogen und sich vom judicial self-

restraint losgelöst hat.265 Die Große Kammer zeigt sich vielmehr über-

aus kritikhörig und hat die vorgebrachten Argumente teilweise unver-

ändert übernommen. So kann der Eindruck nicht erwehrt werden, dass

die „Allianz gegen den Säkularismus“266, im Kern bestehend aus 21 der

47 Mitgliedstaaten des Europarats, letztlich zu viel politischen Druck

auf das Gericht ausgeübt hat. Daraus alleine ließe sich zwar nicht fol-

gern, dass die Große Kammer zu einem unhaltbaren Ergebnis gelangt

ist. Schon die nationale Kritik am Kruzifix-Urteil des Bundesverfas-

sungsgerichts zeigt, dass es wohl keine unstreitige Lösung gibt.

Jedoch ist es, wie angeführt, die Art und Weise der Begründung, auf

Grund derer die Überzeugungskraft des Urteils (und somit in diesem

Fall auch die Legitimität des EGMR) in Frage gestellt werden könnte.

Insbesondere die „margin-of-appreciation“ hätte vom Gericht nicht so

eingesetzt werden sollen, dass der ungünstige Eindruck von Willkür

und mangelnder Rechtssicherheit entsteht,267 welcher bei einem ein-

stimmigen Ergebnis in erster Instanz und einem entgegengesetzten,

beinahe einstimmigen Ergebnis der Großen Kammer naheliegt. Daher

hätte das Gericht in besonderem Maße versuchen müssen, sich durch

262

Anders Hillgruber, KuR 2010, S. 14. 263

Annicchino, Stato, S. 17 ff.; Waldhoff, DJT 2010, S. 55 und Walter, FAZ 2009; sahen diesen Lösungsweg ebenfalls als vielversprechend an.

264 Ress, Dimensionen, S. 132.

265 Siehe dazu auch das diesbezügliche Plädoyer des maltesischen Richters Bonello in seinem zustimmenden Sondervotum, Rn. 1.1 ff.

266 Puppinck, Romano, S. 1, 4.

267 Benvenisti, NYJILP 1999, S. 852 f., weist auf die Problematik der Doktrin bei unpopulären Urteilen hin.

Page 62: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

49

die Kraft der eigenen Argumente Autorität zu verschaffen. Da es an

einer solch ausführlichen und bei Entscheidungen der Großen Kammer

normalerweise üblichen Begründungsarbeit268 fehlt, wird die negative

Religionsfreiheit im Ergebnis auf den Schutz vor offensichtlicher, akti-

ver Beeinflussung reduziert.

So attestiert das Urteil dem EGMR letztlich zwar Konsequenz in der

Fortführung seiner Linie, sich möglichst wenig in kontroverse, staatskir-

chenrechtliche Fragen der Mitgliedstaaten einzumischen, indem die

„margin-of-appreciation“ hervorgehoben wird. Allerdings bemerkte

schon Richterin Tulkens, Präsidentin der Zweiten Sektion:

„European supervision cannot [...] be escaped simply by invoking the

margin of appreciation.“269

Eine solche Flucht (hier: vor öffentlicher Kritik) lässt sich nicht objektiv

erfassen und kann nur aus Anhaltspunkten geschlossen werden. Der-

artige Anhaltspunkte finden sich leider an verschiedenen Stellen der

Entscheidungsgründe der Großen Kammer

H. Ausblick

Dem Urteil war erwartungsgemäß eine wohlwollende und weniger hef-

tige Rezeption in der Öffentlichkeit, insbesondere von Vertretern der

Kirchen, beschert. So begrüßte der Vatikan die Entscheidung diesmal

als "wichtiges Urteil, das Geschichte machen wird"270, in Deutschland

war von einer "sehr guten Entscheidung für Europa“ die Rede.271

Interessanter als diese Reaktionen wird zum einen sein, wie sich die

Literatur dem Urteil annimmt. Noch kann hier keine Feststellung erfol-

gen, da diesbezügliche Veröffentlichungen auf Grund der Aktualität

noch nicht vorhanden sind.

Auch werden die künftigen Urteile des EGMR, die Fragen der (negati-

ven) Religionsfreiheit aufwerfen, von großem Interesse sein. Gerade

mit Blick auf das sich in Entwicklung befindliche Verhältnis Europas

zum Islam wird sich zwangsläufig eine immer vielschichtigere und im-

mer auch vom Einzelfall abhängige Rechtsprechung entwickeln.272

268

Pabel, EuGRZ 2006, S. 10 f. 269

Abweichenden Sondervotum, EGMR (Große Kammer), s.o. Fn. 84 (Leyla Şahin/Türkei), Rn. 3.

270 So ein Pressesprecher des Vatikan laut stern.de v. 19.3.2011, http://www.stern.de/panorama/genugtuung-fuer-den-vatikan-kruzifixe-duerfen-in-italienische-klassenzimmer-1665451.html (Stand: 1.6.2011)

271 CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt laut stern.de, ebd.

272 Als künftiger, brisanter Fall sei nur die Frage der Konventionskonformität des Schweizer Minarettverbots, EGMR (Erste Sektion) – Nr. 66274/09 (Li-

gue des Musulmans de Suisse/Schweiz) genannt.

Page 63: EGMR (Lautsi) - Stellungnahme

50

Hier bildet die vorliegende Entscheidung ungeachtet ihrer Mängel einen

weiteren Baustein im Gesamtgefüge der Rechtsprechung und deren

allgemeinen Grundsätzen, insbesondere zum Umgang mit religiösen

Symbolen in der Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang muss auch

die Rolle der „margin-of-appreciation“ beobachtet werden, wobei eine

stärkere Herausarbeitung der anwendbaren Kriterien für diese sehr

wünschenswert erscheint.

Für die Mitgliedstaaten tritt durch das Urteil keine unmittelbare Verän-

derung ein. Die (obligatorische) Zurschaustellung religiöser Symbole im

Schulalltag ist zulässig, solange der Staat in einem pluralistischen

Rahmen die Öffnung der Schulumgebung für andere Religionen ge-

währleistet. Ebenso wird den Staaten mit Blick auf die Entscheidungen

Dahlab und Şahin eine entgegengesetzte Entscheidung zugebilligt. Ob

die Neutralisierungsargumentation auch in Fällen außerhalb der

Schulumgebung Einzug halten wird, bleibt abzuwarten.

Inwieweit die Akzeptanz des EGMR unter dem Verfahren Lautsi gelit-

ten hat, lässt sich noch nicht abschätzen. Jedenfalls wurden die lautes-

ten Kritiker besänftigt. Ob die Art und Weise der Besänftigung auch auf

lange Sicht die beste Lösung war, sei dahingestellt. Es wird auch in

Zukunft nicht ausbleiben, dass sich der EGMR öffentlicher Kritik wird

stellen müssen. In diesen Fällen scheint die Berufung auf die „margin-

of-appreciation“ in der Weise, wie es vorliegend geschah, nicht förder-

lich. So bleibt zu hoffen, dass der EGMR in Zukunft ungeachtet etwai-

ger Kritik seine Wächterfunktion unbeirrt ausführt und der Eindruck,

den das vorliegende Urteil teilweise aufwirft, täuscht. An Möglichkeiten,

das Gegenteil zu beweisen, wird es nicht mangeln.