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A u s d e r R i l l e Nathan Milstein – 70 Jahre grossartiges Geigenspiel War Vladimir Horowitz der grösste Pianist des 20. Jahrhunderts oder steht dieser Titel eher Sergei Rachmaninow zu? Und wie ist es bei den Geigern? Oft ist zu lesen, Jascha Heifetz gehöre zuoberst auf das Podest – doch fordern andere diesen Platz für David Oistrach. Aber auch Nathan Milstein wird immer wieder als Anwärter auf die höchste Würdigung genannt. Natürlich ist die Vergabe solcher Titel fragwürdig, sie deckt schlicht das Bedürfnis des Menschen nach dem «the best of…» ab. Sieht man genauer hin, merkt man, dass auch unterschiedliche Kriterien hinter einem solchen Urteil stecken: Die technische Überlegenheit, welche Heifetz anderen Geigern gegenüber aufweist, dürfte nicht in Frage zu stellen sein. Wer jedoch für Oistrach votiert, sieht ihn als bedeutendsten Musiker unter den Geigern, sind doch die Grösse und Tragfähigkeit seiner Tongebung, die Wärme seiner Artikulation und das Überzeugende seiner Interpretationskunst seine Markenzeichen. Nathan Milsteins Spiel hat ein geringeres Tonvolumen als jenes von Heifetz und Oistrach, doch betonen seine Anhänger, er überrage die anderen künstlerisch mit der Geschmeidigkeit seines Bogenwechsels und der Schönheit und Wärme seines Tones. Dieser Beitrag zeigt die wichtigen Lebensstationen Milsteins auf, versucht den Charakter seines Violinspiels zu beschreiben und weist auf eine Vielzahl seiner Plattenaufnahmen hin. Ein Beitrag von Ernst Müller Künstlerfotos aus der Sammlung von Roland Kupper 4 Nathan Milstein ist insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den Geigern, als es ihm vergönnt war, die Qualität seines Spiels bis ins hohe Alter unvermindert zu wahren. Bis zuletzt hatte er eine unfehlbare Intonation und eine volle Tongebung. Dies be- weist etwa ein Tondokument (die CD «The last Recital»), die den gut 82-Jährigen im Juni 1986 in einem Rezital mit dem Pianis- ten Georges Pludermacher im Vollbesitz seiner technischen und musikalischen Fähigkeiten zeigt. Und wer weiss, hätte nicht ein Armbruch nach einem Sturz im Jahre 1989 seinen Auftritten ein Ende gesetzt, vielleicht wäre Milstein noch bis zu seinem Tod wegen eines Herzinfarkts Ende 1992 als Solist aufgetreten. Be- denkt man nun, dass Milstein in Russland bereits vor der Russi- schen Revolution von 1917 erfolgreich öffentlich aufgetreten ist, so erstreckt sich seine Karriere als aktiver Musiker über 74 Jahre, was für einen Geiger (im Gegensatz zu einem Pianisten) mehr als ausserordentlich ist. Kindheit in Odessa und «Kind der Revolution» Nathan Milstein wurde am 31. Dezember 1903 in Odessa (heute Ukraine) als eines von sieben Kindern in eine jüdische Familie ge- boren. Als Siebenjähriger erhielt er Violinunterricht beim grossen Pädagogen Pyotr Stolyarsky, der auch der Lehrer des fünf Jah- re jüngeren, ebenfalls aus Odessa stammenden David Oistrach war. Als Elfjähriger erfolgte sein Debut mit dem Violinkonzert von Glasunow unter der Leitung des Komponisten! Ein Jahr später, 1916 wechselte er nach Petersburg zu Leopold Auer, der seiner- seits der Lehrer von Jascha Heifetz war. Interessant ist folgende Aussage Milsteins in seiner Autobiographie: «Im Allgemeinen, so glaube ich, wird die Rolle des Lehrers bei der Entwicklung einer künstlerischen Begabung überbewertet. Eine Begabung entwi- ckelt sich von allein, auf ganz natürlichem Weg. Schritt für Schritt entfaltet sich das Verständnis für die Grenzen des Ausdrucks. Dabei spielt das Temperament eine grosse Rolle. Geht es mit einem durch, findet also keine Analyse und Kontrolle mehr statt,

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Aus der Rille

Nathan Milstein – 70 Jahre grossartiges GeigenspielWar Vladimir Horowitz der grösste Pianist des 20. Jahrhunderts oder steht dieser Titel eher Sergei Rachmaninow zu? Und wie ist es bei den Geigern? Oft ist zu lesen, Jascha Heifetz gehöre zuoberst auf das Podest – doch fordern andere diesen Platz für David Oistrach. Aber auch Nathan Milstein wird immer wieder als Anwärter auf die höchste Würdigung genannt. Natürlich ist die Vergabe solcher Titel fragwürdig, sie deckt schlicht das Bedürfnis des Menschen nach dem «the best of…» ab. Sieht man genauer hin, merkt man, dass auch unterschiedliche Kriterien hinter einem solchen Urteil stecken: Die technische Überlegenheit, welche Heifetz anderen Geigern gegenüber aufweist, dürfte nicht in Frage zu stellen sein. Wer jedoch für Oistrach votiert, sieht ihn als bedeutendsten Musiker unter den Geigern, sind doch die Grösse und Tragfähigkeit seiner Tongebung, die Wärme seiner Artikulation und das Überzeugende seiner Interpretationskunst seine Markenzeichen. Nathan Milsteins Spiel hat ein geringeres Tonvolumen als jenes von Heifetz und Oistrach, doch betonen seine Anhänger, er überrage die anderen künstlerisch mit der Geschmeidigkeit seines Bogenwechsels und der Schönheit und Wärme seines Tones. Dieser Beitrag zeigt die wichtigen Lebensstationen Milsteins auf, versucht den Charakter seines Violinspiels zu beschreiben und weist auf eine Vielzahl seiner Plattenaufnahmen hin.

Ein Beitrag von Ernst MüllerKünstlerfotos aus der Sammlung von Roland Kupper

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Nathan Milstein ist insofern eine Ausnahmeerscheinung unter den Geigern, als es ihm vergönnt war, die Qualität seines Spiels bis ins hohe Alter unvermindert zu wahren. Bis zuletzt hatte er eine unfehlbare Intonation und eine volle Tongebung. Dies be-weist etwa ein Tondokument (die CD «The last Recital»), die den gut 82-Jährigen im Juni 1986 in einem Rezital mit dem Pianis-ten Georges Pludermacher im Vollbesitz seiner technischen und

musikalischen Fähigkeiten zeigt. Und wer weiss, hätte nicht ein Armbruch nach einem Sturz im Jahre 1989 seinen Auftritten ein Ende gesetzt, vielleicht wäre Milstein noch bis zu seinem Tod wegen eines Herzinfarkts Ende 1992 als Solist aufgetreten. Be-denkt man nun, dass Milstein in Russland bereits vor der Russi-schen Revolution von 1917 erfolgreich öffentlich aufgetreten ist, so erstreckt sich seine Karriere als aktiver Musiker über 74 Jahre, was für einen Geiger (im Gegensatz zu einem Pianisten) mehr als ausserordentlich ist.

Kindheit in Odessa und «Kind derRevolution»Nathan Milstein wurde am 31. Dezember 1903 in Odessa (heute Ukraine) als eines von sieben Kindern in eine jüdische Familie ge-boren. Als Siebenjähriger erhielt er Violinunterricht beim grossen Pädagogen Pyotr Stolyarsky, der auch der Lehrer des fünf Jah-re jüngeren, ebenfalls aus Odessa stammenden David Oistrach war. Als Elfjähriger erfolgte sein Debut mit dem Violinkonzert von Glasunow unter der Leitung des Komponisten! Ein Jahr später, 1916 wechselte er nach Petersburg zu Leopold Auer, der seiner-seits der Lehrer von Jascha Heifetz war. Interessant ist folgende Aussage Milsteins in seiner Autobiographie: «Im Allgemeinen, so glaube ich, wird die Rolle des Lehrers bei der Entwicklung einer künstlerischen Begabung überbewertet. Eine Begabung entwi-ckelt sich von allein, auf ganz natürlichem Weg. Schritt für Schritt entfaltet sich das Verständnis für die Grenzen des Ausdrucks. Dabei spielt das Temperament eine grosse Rolle. Geht es mit einem durch, findet also keine Analyse und Kontrolle mehr statt,

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dann werden Technik, Dynamik und Interpretation übertrieben, sie bleiben unreif.» (S. 39)

Milsteins dritter Lehrer war 1926 in Belgien Eugène Ysaye, wobei Milstein bemerkte, bei Ysaye nichts gelernt zu haben. Tatsächlich ist Milstein in technischer und in künstlerischer Hinsicht schon früh eigene Wege gegangen. Seine Lehrer dürften dennoch wichtige Anreger gewesen sein.

Gemeinsam mit Vladimir HorowitzVon grosser Bedeutung war eine weitere Begegnung in Sowjet-russland: Im Winter 1921 kam nach einem Violinabend in Kiew ein Siebzehnjähriger ins Künstlerzimmer zu Milstein: Vladimir Ho-rowitz. Milstein wurde zum Tee eingeladen und begegnete dort anderen Künstlern wie Heinrich Neuhaus. Am Tag darauf wurde nach einem zweiten Konzert beschlossen, dass Milstein bei der Familie Horowitz bleiben solle. Er stellt dazu lapidar fest: «Ich kam zum Tee und blieb drei Jahre». In diesen drei Jahren profitierten die beiden jungen Künstler davon, dass die junge Sowjetunion junge Künstler förderte. Milstein und Horowitz konzertierten als «Kinder der Revolution» im ganzen Land. 1925 verliessen die beiden Musiker die Sowjetunion und Milstein ist in den Folge-jahren in Berlin, Brüssel und Paris zu treffen. 1929 liess er sich wie Horowitz in den USA nieder. 1943 wurde er amerikanischer Staatsbürger. In späteren Lebensjahren lebte er in England. In die Sowjetunion kehrte Horowitz erst 1986 erstmals zurück, Milstein gar nie.

Vladimir Horowitz

Gregor Piatigorsky

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Milstein war 24, als er nach Amerika kam. Er debütierte dort 1929 mit Glasunows Violinkonzert unter der Leitung von Leopold Stokowski. Zu dieser Zeit spielten Milstein und Horowitz gemein-sam mit dem ebenfalls aus der Sowjetunion ausgewanderten Cellisten Gregor Piatigorsky als Trio einige Benefizkonzerte. Die drei Musiker hatten bereits 1926 in Berlin Bekanntschaft ge-schlossen, als Piatogorsky noch Solocellist bei den Berliner Phil-harmonikern unter Furtwängler war. Eine feste Formation waren die drei Musiker jedoch nie und es gibt keine Aufnahmen.

In den 1920er-Jahren hatten die beiden Künstler auch ihre per-sönlichen «Götter» gefunden: Für Horowitz war es Rachmani-now, für Milstein Fritz Kreisler.

Ein unverwechselbares Spiel?Liest man in Beschreibungen, was das Spiel eines Musikers un-verwechselbar mache, so stösst man oft auf Aussagen, die auch über andere Musiker gesagt werden, was ein solches Bestre-ben fragwürdig erscheinen lässt. Will man beschreibende Aus-sagen darüber machen, was Milsteins Spiel und Interpretationen kennzeichnet, kann man folgende Charakteristika festmachen: Sein Bogenwechsel ist sehr geschmeidig, Auf- und Abstrich ver-schmelzen förmlich in einem Ton. Die gewählten Tempi sind in der Regel zügig, wirken jedoch nie gehetzt. Der Ton hat Schön-heit und Wärme, wobei auch bei romantischen Werken eine ‚no-ble‘ Zurückhaltung die Interpretation prägt, ohne dass das Spiel dabei kühl wirkt. Sein Vibrato ist nie ausladend breit, sondern er-gibt sich zurückhaltend aus dem Spielfluss heraus. Joachim W. Hartnack hat in seinem Buch «Grosse Geiger unserer Zeit» (1977) einen Vergleich gewagt, der durchaus einen treffenden Kern hat: Wenn Geiger den Tenören gleichzusetzten wären, müsste man David Oistrach dem lyrischen, Milstein aber dem dramatisch-heldischen Fach zurechnen. Diese Aussage sagt aber nichts über das äussere Erscheinungsbild des Geigers aus. Bildaufzeichnun-gen zeigen Milstein nämlich als Künstler, dessen Erscheinung freundlich zurückhaltend und eher reserviert wirkt. Entsprechend sind seine Interpretationen nie überzeichnet, Milstein übertreibt nie, keine Phrase wirkt aufgesetzt äusserlich.

Braucht es Dirigenten?1965 ist bei EMI eine Platte mit Mozarts Violinkonzerten 4 und 5 erschienen. Begleitet wird Milstein vom «Philharmonia Orches-tra» London. Die englische HMV-Ausgabe und die amerikani-schen Angel-Pressung geben keinen Dirigenten an. Die deutsche EMI-Platte nennt Erich Leinsdorf als Dirigenten. Dies ist falsch. Tatsächlich hat Milstein das Orchester selbst geleitet. Auch bei Aufnahmen der Violinkonzerte Bachs und Vivaldis dirigiert der Geiger selbst. In Milsteins Memoiren wird überdeutlich, dass er wenig von Dirigenten hält, was etwa folgende Aussagen bele-gen: «Aus der Sicht des Publikums ist der Dirigent eine Art von Oberbefehlshaber. Selbst mittelmässige Dirigenten zweitklassi-ger Orchester werden in England zum Ritter geschlagen. In den meisten Ländern bewundern Regierungsbeamte halt die Tatsa-che, dass ein Dirigent eine Hundertschaft befehligt.» (S. 214). Noch pointierter ist folgende Aussage: «Ich wage einen riskan-ten Vergleich. Wenn ein gutaussehender Mann und eine wun-derschöne Frau miteinander ins Bett gehen, um sich zu lieben, brauchen sie keinen Souffleur, der ihnen sagt, was sie tun sol-len. Unglücklicherweise spielen Dirigenten zu oft die Rolle eines derartigen Inspirators. Gute Orchestermusiker brauchen keine Oberaufsicht, schlechte Musiker werden nicht gut spielen, ganz gleich, wer dirigiert.» (S. 69).

Milsteins Einschätzung von Dirigenten ist zwar amüsant, doch sagt sie mehr über das starke Selbstverständnis Milsteins als Solist in Violinkonzerten aus als über die Realität. Milsteins Me-moiren zeigen, dass der Geiger in mehrerer Hinsicht dezidierte Vorstellungen vertritt. So sagt er etwa, er glaube im Allgemeinen nicht daran, dass das Geschick eines Geigers von der Wahl des Instruments abhänge. Er gehöre nicht zu denen, die Geigen ver-göttern. Von der historisch informierten Aufführungspraxis, wie sie sich in den letzten zwei Lebensjahrzehnten Milsteins durch-gesetzt hat, hält der Geiger wenig, was etwa folgende Aussage belegt: «Heutzutage sind Ensembles, die Barockmusik auf Origi-nalinstrumenten spielen, ziemlich populär. Das Publikum bewun-

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dert sie. Es glaubt, es bekäme die Ergebnisse gründlicher For-schung zu hören, als Musik im Stil der Zeit. Meiner Meinung nach spielen derartige Ensembles zum Beispiel Bach häufig genug auf unglaublich fade Weise.» (S. 135). Interessant ist auch Milsteins Vorstellung, Klavier und Geige würden sich nicht sonderlich gut vertragen, da das Klavier im übertragenen Sinne eine Art Schlag-instrument sei. Milstein hat trotzdem Zeit seines Lebens welt-weit mit bevorzugten Pianisten vielbeachtete Sonatenabende gegeben.

Milstein hat in den ersten Jahrzehnten seiner Musikerkarriere in der Person von Artur Balsam und dann seit den frühen Sechziger-jahren im Franzosen Georges Pludermacher zwei Klavierbeglei-ter gefunden, mit denen er in Konzerten und im Aufnahmestudio ausgezeichnet musizieren konnte. Der Schreibende hat Milstein nur einmal im Konzert erlebt und zwar in einem Sonatenabend mit Pludermacher im April 1981 – Milstein war damals 77 Jahre alt und spielte souverän und rein. Das Programm war typisch für Milstein: alleine spielte er die 2. Partita von Bach, dann folgte eine Beethovensonate und nach der Pause erklangen kurze Werke von Saint-Saens, Sarasate und Paganini.

Eine lange Freundschaft verband Milstein mit dem Choreogra-phen George Balanchine, dem er in seinen Memoiren das ge-samte letzte Kapitel widmet. Einige Komponisten kommen in Milsteins Werturteil nicht schmeichelhaft weg, Igor Strawinsky etwa. Den jungen Sergej Prokofjew hielt Milstein für ein Genie (er erachtet dessen erstes Violinkonzert als eines der besten der Mo-derne) und schätzte viele seiner frühen Werke. Er glaubte jedoch, seine Schaffenskraft habe ihn früh verlassen, was er teilweise auch auf die widrigen Umstände in der Sowjetunion zurückführt, in die sich der Komponist habe einpassen müssen.

Milstein und seine MitmusikerAlan Blyth, der Kritiker des englischen «Gramophone» hat Mil-stein 1975 in dessen Londoner Wohnung besucht. Er schildert, dass die Wände voller Fotos hingen und aufzeigen, dass Mil-stein freundschaftliche Beziehungen zu vielen Musikern gepflegt habe. Unter den Geigern ist da in erster Linie Fritz Kreisler zu nennen. Mit ihm und seiner Frau Harriet verband ihn eine jah-relange Freundschaft. Die Bewunderung Milsteins für Kreisler ist aus vielen Stellen seiner Memoiren zu lesen. Auch Toscanini, mit dem Milstein dreimal auftrat, und Rachmaninow, den er in dessen Haus am Vierwaldstättersee oft gemeinsam mit Horo-witz besuchte, gehörten zum Kreis jener Musiker, die Milstein verehrte. Die lebenslange Freundschaft mit Horowitz ist leider nicht in Tondokumenten belegt. Es gibt eine einzige Aufnahme der Beiden aus dem Jahre 1951, sie spielten die dritte Violinsona-te von Brahms für die Platte ein. Und obwohl Milstein Horowitz immer wieder mit dem Gedanken konfrontierte, Aufnahmen zu machen, wich jener stets aus. Der wahrscheinlichste Grund dafür dürfte gewesen sein, dass Horowitz lieber den Pfau repräsentier-te, der solistisch mit Orchester oder in Klavierrezitals brillierte, als dass er sich als Kammermusiker «einordnen» wollte. Grosse Ver-ehrung besass Milstein auch für den Pianisten Artur Rubinstein. Und zwar schätzt er nicht nur die Subtilität seines Chopin-Spiels, sondern auch seinen Beethoven. Milstein sagt, Rubinstein habe

Fritz Kreisler

Milsteins Klavierbegleiter Artur Balsam

Von Milstein nach dem Basler Konzert vom April 1981 signiertes Künstler-foto

nicht lange nachdenken müssen, um tiefgründig zu spielen. Er sei ein Beweis dafür, dass für einen grossen Musiker Instinkt wichti-ger sei als Intellekt.

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Über «gute» und «weniger gute»ViolinkonzerteEs erstaunt nicht, dass Milstein auch zu kompositorischem Wert und Wichtigkeit der grossen Violinkonzerte klare Vorstellungen besitzt. An der Spitze einer «Hitparade» steht für Milstein das Violinkonzert Beethovens, das er als ein Wunder und so etwas wie eine göttliche Botschaft versteht. Mendelssohns e-Moll Konzert hält er von der ersten bis zur letzten Note für das Werk eines Genies. Einen hohen Stellenwert misst Milstein auch dem Konzert von Johannes Brahms zu, allerdings mit der Ergänzung «trotz allem». Während Milstein ei-nem Mozart und einem Beethoven zugesteht, dass ihnen Gott über die Schulter geschaut habe, meint er, der Musik von Brahms fehle es an göttlicher Inspiration. Brahms habe für sein Violinkonzert die Form des Beethoven-Konzerts übernommen und es sei eine seiner besten Kompositionen entstanden, doch fehle bei Brahms ein na-türliches Ganzes. Zudem singe die Musik bei Brahms nicht. Nicht unbescheiden stellt Milstein fest, er habe oft mit dem Gedanken ge-spielt, das Violinkonzert, das Doppelkonzert und die beiden Klavier-konzerte von Brahms zu bearbeiten. Das sei zwar alles gute Musik, doch sei sie in unbefriedigender Form niedergeschrieben!

Demgegenüber hält Milstein das erste Violinkonzert von Bruch für ein Meisterwerk und stellt es (mit Ausnahme des letzten Satzes) über jenes von Brahms. Beide Konzerte hat der Geiger übrigens dreimal eingespielt.

Hoch im Kurs steht bei Milstein auch das Violinkonzert von Tschai-kowsky, das er als wahrhaft virtuoses Konzert bezeichnet. Als at-traktives Konzert betrachtet er auch jenes von Dvorak, kritisiert es aber als zu gewichtig. Dafür gesteht er der Komposition «Sympho-nie Espagnole» von Edouard Lalo viel Brillanz zu. Kaum etwas kann Milstein den Konzerten von Sibelius und Elgar abgewinnen. Das Konzert Elgars sei eine misslungene Imitation des Brahms-Konzerts, das ja seinerseits eine wenig gelungene Imitation des Beethoven-Konzerts sei.

Das Konzert von Glasunow hat Milstein ein Leben lang begleitet, obwohl er es nicht unbedingt als Meisterwerk einstuft.

Milsteins Leben umschliesst die enorme Zeitspanne vom dem noch zaristischen Russland bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion.

Eine Postkarte, die Prokofiew in die USA geschickt hat. Milstein erach-tet den Komponisten in dessen jungen Jahren als Genie

Beethoven - für Milstein das grösste aller Violinkonzerte

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Ein von Milstein und Artur Balsam signiertes Konzertprogramm

In seinen letzten Lebensmonaten hat Milstein dankbar auf sein Leben zurückgeblickt, seine Einschätzung der politischen Ent-wicklung der postkommunistischen Welt blieb skeptisch. Ausser seiner Ablehnung des ihm fremden kommunistischen Systems hat Milstein politisch kaum Stellung bezogen. Wie wenig Mil-stein von Politik und vor allem von deren Vertretern hielt, mag folgende Passage aus seinen Memoiren belegen: «Heutzutage kommen gekrönte Häupter und Politiker selten zu Konzerten mit klassischer Musik. Erscheinen sie bei solchen Anlässen, so tun sie es gewöhnlich nicht der Musik wegen, sondern für einen wohltätigen Zweck, oder weil sie darin eine wichtige politische Geste sehen. Warum kann man klassische Musik nicht um ihrer selbst willen lieben? Wir leben doch im Zeitalter des Dilettantis-mus. Überall sind Dilettanten am Ruder – in der Kultur, in der Wirtschaft, in der Politik. Und sie tun alle so, als seien sie Profis.» (S.140)

Einzig für die belgische Königin Elisabeth, der Begründerin des «Concours Reine Elisabeth» hat Milstein viel Bewunderung üb-rig. Zwar war sie im Bereich der Musik Amateurin, doch war für Milstein das, was sie anstrebte, von der «Reinheit des Herzens» geprägt. Auf den Punkt gebracht, liebte Königin Elisabeth die Mu-sik, die in ihr war, und nicht sich selbst in der Musik. Eine Haltung, die Milstein bewundert.

Milstein in seinen AufnahmenIn der Folge sei auf eine grosse Zahl der Einspielungen Milsteins hingewiesen, ohne dass Anspruch auf Vollständigkeit besteht. Bei allem Bemühen um ein sachliches Urteil sind die dabei aus-gesprochenen Empfehlungen vom Werturteil des Schreibenden geprägt.

Was Plattenlabel betrifft, lassen sich die Aufnahmen des Geigers in vier Phasen unterteilen: Von 1935 bis 1945 sind Aufnahmen

für Columbia entstanden und auf Schellack herausgekommen. Von 1953 bis 1957 sind gute und wichtige Einspielungen beim Label Capitol erschienen. Danach stand Milstein bei EMI / (Co-lumbia) unter Vertrag; und ab etwa 1972 entstanden nochmals zahlreiche Platten bei «Deutsche Grammophon». Einige Werke liegen in mehreren Einspielungen vor. Die folgenden Hinweise auf Milsteins Platten sind deshalb nicht chronologisch, sondern nach Werken geordnet.

Beethoven und BrahmsMilstein hat Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 als das grösste aller Violinkonzerte bezeichnet. Er hat es zweimal einge-spielt: 1955 in Mono für Capitol mit dem «Pittsburgh Symphony Orchestra» unter William Steinberg und 1961 mit dem Londoner «Philharmonia Orchestra» unter Erich Leinsdorf. Beide Aufnah-men sind lohnend. Man hat der späteren Aufnahme den leisen Vorwurf gemacht, die sei etwas steril. Dem ist zu widerspre-chen, denn hier legt ein Geiger als «Gesamtgeste» eine für ihn typische Perfektion an den Tag. Milstein überzeugt mit zwin-genden Phrasierungen und einer emotionalen Dichte, die den ausladenden Ton vermeidet. Milstein spielt eine ausgezeichnete eigene Kadenz. Er wählt bei beiden Aufnahmen zügige Tempi. Besonders auffällig ist dies beim zweiten Satz, den Milstein ver-gleichbar schnell nimmt wie Jascha Heifetz. Die frühere Aufnah-me unter Steinberg wirkt aufnahmetechnisch zwar «älter», doch hat der Klang viel Körper.

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Dreimal hat Milstein das Konzert von Brahms eingespielt

Das Violinkonzert D-Dur op. 77 von Johannes Brahms liegt in drei Einspielungen vor. Die Monoaufnahme aus Pittsburgh von 1954 profitiert von einer markanten Orchesterbegleitung durch Steinberg. Aber auch Anatole Fistoulari begleitet mit dem Philhar-monia Orchestra sechs Jähre später aufmerksam und kraftvoll. Bei allen drei Aufnahmen besticht Milstein durch seinen magi-schen Ton und seine elegante Gestaltung. Kann sein, dass diese in der späten Aufnahme mit Jochum und den Wiener Philharmo-nikern (1974) in der «nobelsten» Ausprägung erscheint. Milsteins Ton hat in dieser dritten Aufnahme weniger Glanz als in den früheren, die Aufnahme wirkt im Orchesterklang beschränkter. Jedenfalls entsteht der Eindruck, Fistoulari habe in der mittleren Aufnahme mehr Genauigkeit auf Orchesterdetails gelegt als Jo-chum.

Über die Einspielung des Doppelkonzerts für Violine, Cello und Orchester a-Moll op. 102 von Brahms kann man geteil-ter Meinung sein. In unserem Winterheft 2010/2011 hatten wir einen ausführlichen Artikel zu diesem Werk, nachdem sich acht AAA-Mitglieder die unterschiedlichsten Interpretationen ange-hört hatten. Die Aufnahme, die Milstein 1951 mit seinem Cellis-tenfreund Gregor Piatigorsky, sowie dem «Robin Hood Dell Or-chestra Philadelphia» unter Fritz Reiner eingespielt hat, kam nicht gut weg. Die dominierende Meinung war, das Dirigat Reiners sei zu unbeteiligt und akademisch, dem Orchesterklang fehle es an Feinheiten. Reiners Tempi wirken etwas gehetzt, was die beiden Solisten «treibt». Die Herren Jean-Charles Hoffelé und Piotr Ka-minski setzen demgegenüber in ihrer ausgezeichneten Publika-tion «Les indispensables du disque compact» diese Aufnahme trotz des rauen, alten Klangs an die erste Stelle und erklären, die Einspielung dieser drei Interpretengenies stelle eine interpretato-rische Explosion erster Güte dar. Sie loben den «brüderlichen» Wettstreit der beiden Solisten, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befänden.

Besonders zu erwähnen ist die einzige Einspielung, die Milstein mit seinem Freund Vladimir Horowitz gemacht hat. Die Beiden konnten sich nicht einigen, welche Werke sie einspielen sollten. So blieb es bei der einen Aufnahme der 3. Violinsonate von Brahms (d-Moll op. 108). Die beiden Freunde sprechen die gleiche musikalische Sprache. Es erstaunt nicht, dass Horowitz meist kraftvoll vorwärts drängt. Milsteins Spiel tut dies keinen Abbruch.

MozartMozart nimmt in der Diskographie Milsteins keine prominente Stellung ein. Milsteins flüssiges und stilsicheres Geigenspiel und eine angemessene Orchesterbegleitung bereiten bei seiner Ein-spielung der Violinkonzerte Nr. 4 und 5 viel Freude beim Hören. Weniger überzeugend scheint mir eine LP von Capitol (Milstein Masterpieces), die unter anderem Mozarts Adagio E-Dur KV 261 und das Rondo C-Dur KV 373 enthält. Das «Concert Arts Orches-tra» unter Walter Susskind klingt in dieser Aufnahme schwammig und hallig, es stellt sich schon deshalb kein Hörvergnügen ein. Die B-Seite dieser Platte enthält immerhin gute Interpretationen von kleinen «Masterpieces»: Wieniawskis «Légende» op. 17, «In-troduction et rondo capriccioso» von Saint-Saëns und Strawins-kys «Berceuse» aus dem Feuervogel bieten gute Unterhaltung.

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Bruno Walter

no Walter vom Mai 1945. Wer sich jedoch darauf einlässt, hört eine betörende Interpretation mit raschen Tempi. Diese Aufnah-me war übrigens die allererste LP, die Columbia im Juni 1948 als 33 1/3 RPM-Platte veröffentlichte!

Dvorak, Goldmark, GlasunowMilstein hat die Konzerte von Dvorak und Glasunow dreimal ein-gespielt (die beiden Werke sind jeweils auf einer Platte vereint): 1951 mit Antal Dorati und dem «Minneapolis Symphony Orches-tra» (Dvorak) und William Steinberg und dem «RCA Victor Sym-phony Orchestra» (Glasunow), 1957 mit William Steinberg und dem «Pittsburgh Symphony Orchestra» und nochmals 1966 mit Rafael Frühbeck de Burgos und dem «New Philharmonia Orches-tra». Der Blick des Geigers auf die Werke unterscheidet sich in diesen Aufnahmen kaum. Jene unter Steinberg ist die bekanntes-te und wohl auch die wichtigste. Über Milsteins Aufnahme des Violinkonzerts von Dvorak schei-den sich die Geister. Vor allem die angelsächsische Kritik hat sei-ne Interpretation mit Steinberg als kalt und herzlos betitelt. Man denkt dabei wohl unter anderem daran, dass in den ländlichen Tänzen des Finales keinerlei charmante rustikale Atmosphäre herrscht. Milstein wählt schnelle Tempi, bei denen das «Roman-tische» verlorenzugehen scheint, es fehlt an Lieblichkeit. Dass Milstein dieses Konzert selbst nicht zu den bedeutenden Violin-konzerten zählt, weil er es für zu «gewichtig» hält, mag eine Er-klärung dafür sein, dass er das Konzert eher mit zügiger und spie-lerischer Leichtigkeit und durchaus mit kühler Noblesse angeht. Man kann dies auch positiv sehen: Milstein meidet alles Folkloris-tische in diesem Konzert und zügelt das Expressive zugunsten ei-ner schönen gesanglichen Linie! Wer das Konzert lieber virtuos, ausladend romantisch und zugleich packend hören möchte, sei auf die Mono-Aufnahme von Johanna Martzy mit Ferenc Fricsay (auf DGG) verwiesen, es ist dies vermutlich die beste Aufnahme der Geigerin. Natürlich sind auch die Aufnahmen von David Ois-trach, Isaac Stern oder Josef Suk empfehlenswert.

Bruch und MendelssohnWie bereits erwähnt, hält Milstein Bruchs erstes Violinkonzert für ein Meisterwerk und stellt es über jenes von Brahms. Er hat das Konzert dreimal eingespielt. Völlig überzeugend ist die Stereo-Einspielung mit dem Dirigenten Leon Bazin und dem «Philharmo-nia Orchestra». Milstein und Barzin gehen mit einem packenden dramatischen Konzept ans Werk, das auch die düsteren Kom-ponenten des Werks zur Geltung bringt. Barzin erweist sich als ausgezeichneter Begleiter. Als Referenzaufnahme erweist sich auch die A-Seite dieser Capitol-Platte! Hier ist das Konzert von Mendelssohn ausdrucksstark und dennoch mit himmlisch wir-kender Reinheit zu hören. Barzin legt in der Orchesterbegleitung einen Erfindungsreichtum an den Tag, wie man ihn in diesem Konzert höchst selten zu hören bekommt! Klanglich sind diese Aufnahmen gut.

Eine wenige Jahre früher entstandene Mono-Aufnahme unter William Steinberg (mit dem «Pittsburgh Symphony Orchestra») ist ebenfalls zu empfehlen, mit der Einschränkung, dass sie klang-lich nicht an die Einspielung mit Barzin herankommt. Auch hier ist das Konzert von Bruch mit jenem von Mendelssohn gekoppelt. Steinberg begleitet «robuster» als Barzin.

Interpretatorisch ebenfalls lohnend, aber klanglich nur für «Liebha-ber» ist Milsteins älteste Aufnahme aus den frühen 40er-Jahren unter John Barbirolli (mit den New Yorkern); sie ist ursprünglich bei Columbia auf Schellack erschienen und in der frühen LP-Zeit als 25 cm Columbia Platte.

Das Violinkonzert von Mendelssohn liegt neben den beiden er-wähnten Aufnahmen unter Barzin und Steinberg in zwei weite-ren Einspielungen vor: 1973 hat die Deutsche Grammophon das Werk mit dem 70-jährigen Milstein und Claudio Abbado und den Wiener Philharmonikern aufgenommen. Abbado erweist sich hier als inspirierter Begleiter.

Aus klanglichen Gründen vor allem für Verehrer Milsteins ist die Aufnahme des Mendelssohn Konzerts aus New York mit Bru-

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Kontrovers beurteilt: Milsteins Einspielungen des Violinkonzerts von Dvorak. Referenzcharakter hat aber Milsteins Interpretation des Konzerts von Glasunow.

Was man Milsteins Interpretation von Dvorak allenfalls vorwerfen könnte, gilt gar nicht für das Konzert von Glasunow. Hier ist nichts von kühler Distanz zu spü-ren. Milstein geht das Werk mit grosser «romantischer» Geste an und legt eine ge-winnende Musikalität an den Tag. Jeden-falls hat man bei Milstein den Eindruck, man habe es mit einem Meisterwerk zu tun. Die Tatsache, dass der Geiger das Konzert als Elfjähriger unter der Leitung des Komponisten erstmals gespielt hat, verleiht seinen Interpretationen eine ge-wisse Authentizität.

Höchst hörenswert ist das 1877, also zwei Jahre vor jenem von Dvorak komponierte Violinkonzert von Karl Goldmark. Dieses Konzert wird relativ selten gespielt, weil die Komposition oft als minderwertig be-zeichnet wird. Goldmarks Melodien haben indessen einen ungezwungenen Charme und eine ruhige, eher intime Ausdrucks-kraft. Milsteins Monoaufnahme von 1957 mit dem «Philharmonia Orchestra» unter Harry Blech kann durchaus Freude berei-ten. Es gibt übrigens auch einen auf Ace-tatplatten aufgezeichneten Livemitschnitt aus dem Jahre 1942. Hier ist Milstein mit

Bruno Walter und dem «New York Philhar-monic Orchestra» zu hören. Mit Walter hat das Werk einen «erzählenden» Charakter, Walter streicht die Gegensätze stärker he-raus. Wegen der mässigen Klangqualität ist diese Platte natürlich primär etwas für Verehrer Milsteins.

Tschaikowsky undProkofjewTschaikowskys Violinkonzert liegt eben-falls in drei Einspielungen Milsteins vor (1940, 1959, 1972). Bei der mittleren Ein-spielung mit dem «Pittsburgh Symphony Orchestra» unter William Steinberg über-zeugen Solist und Dirigent gleichermas-sen. Das gewählte Tempo ist wie meist bei diesem Geiger zügig. Zu bewundern sind eine grosse Leichtigkeit des Violin-spiels und eine enorme Spannkraft und ein grosser Atem im ersten Satz. Milstein meistert die Partitur farbenreich und vir-tuos. Ebenso überzeugend ist Milsteins dritte, 14 Jahre später entstandene Auf-nahme mit Claudio Abbado und den Wie-ner Philharmonikern. Abbados Begleitung legt Wert auf Klangschönheit; Milstein hat noch die gleiche Verve wie in der Einspie-lung mit Steinberg. Zweifellos gehören sei-ne Aufnahmen neben jenen von Heifetz und Oistrach zu den Referenzen.

Vom Violinkonzert Tschaikowskys gibt es aus dem Jahre 1940 eine weitere Aufnah-me Milsteins mit dem «Chicago Sympho-ny Orchestra» unter Frederick Stock. Sie stellt jedoch keine wirkliche Alternative zu den beiden erwähnten dar, ist doch das Orchester aufnahmetechnisch stark im Hintergrund.

Das 1. Violinkonzert von Sergej Prokofjew gehört zu den von Milstein bevorzugten Werken. Seine frühe, 1954 für Capitol ent-standene Einspielung mit Vladimir Golsch-mann und dem Saint Louis Orchestra (ge-koppelt mit Lalo) klingt erstaunlich gut für diese Zeit. Solist und Dirigent haben ein überzeugendes dramatisches Konzept. Isaac Stern hat Prokofjew mit mehr Herz gespielt, Milstein ist strikter. Wenn Pro-kofjews Komposition – wie Milstein selbst bemerkt hat – genial ist, dann ist davon in dieser atemberaubenden Interpretation et-was zu spüren. Mehr jedenfalls als in der acht Jahre später entstandenen Aufnahme Milsteins mit dem Philharmonia Orchestra unter Carlo Maria Giulini, der farbenreich begleitet, dem Werk jedoch weniger «Zug» abgewinnt. Auf der gleichen EMI-Platte befindet sich das 2. Violinkonzert Prokofjews. Hier begleitet im Jahre 1966 nicht Giulini, sondern Rafael Frühbeck de Burgos. Der Orchesterklang scheint mir hier wenig attraktiv. Vom 2. Konzert dürfte es empfehlenswertere Aufnahmen ge-ben; man denke etwa an jene von Isaac Stern, David Oistrach und Leonid Kogan.

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Eine rundum überzeugende Einspielung der Sonaten und Partiten von Bach aus den 70er-Jahren

Bei Sammlern hoch im Kurs: Milsteins Bach-Einspielungaus den Fünfzigerjahren

Lalo und Saint-SaënsDie «Symphonie Espagnole» von Edouard Lalo ist eine brillante Komposition, die Milstein sehr geschätzt hat. Eine Monoaufnah-me mit Vladimir Golschmann befindet sich auf der Rückseite der erwähnten Capitol-Platte mit dem 1. Konzert Prokofjews. Lalo war Franzose spanischer Herkunft. Der spanische Geiger Pablo de Sarasate hat seine «Symphonie Espagnole» 1875 uraufge-führt. Das Werk verarbeitet keine spanische Folklore, sondern besteht in Thematik und Rhythmik eher aus folkloristisch nach-gestalteten Motiven. Die Einspielung mit Milstein bereitet helle Freude. Einziger Wehrmutstropfen ist die Tatsache, dass Milstein wie früher leider üblich (z.B. auch bei der sensationellen Aufnah-me mit Bronislaw Huberman) die vier- und nicht die fünfsätzige Fassung spielt, also das Intermezzo als dritten Satz weglässt. Wer die vollständige Fassung hören möchte, sei beispielsweise auf die Aufnahmen von Arthur Grumiaux mit Manuel Rosenthal (Philips) oder von David Oistrach mit Jean Martinon (Columbia) verwiesen!

Das 3. Violinkonzert von Saint-Saëns ist häufig eingespielt wor-den. Milsteins Aufnahme mit dem «Philharmonia Orchestra» unter Anatole Fistoulari ist «ganz oben» als Referenzeinspielung einzuordnen! Es ist bewundernswert, mit welcher Eleganz der Geiger den Hörer mitnimmt. Die Begleitung durch Fistoulari ist packend und unwiderstehlich.

Bach: Sonaten und Partitenfür Violine soloIn unserer Ausgabe Sommer & Herbst 2012 habe ich die Be-hauptung aufgestellt, die überzeugendste Gesamteinspielung der Werke Johann Sebastian Bachs für Violine solo stamme von Nathan Milstein und ergänzt, vielleicht sei Milsteins zweite, 1975 bei DG erschienene Aufnahme des reifen Künstlers sogar der früheren, preislich höher gehandelten aus den 50er-Jahren (auf Capitol) vorzuziehen. Und zwar ganz einfach, weil sie im Flair des Geigers für die formale Gestaltung, in der Klarheit des polypho-nen Spiels und im Bestreben Milsteins, die Virtuosität ganz in den Dienst des Ausdrucks zu stellen, unübertroffen sein dürfte. Dem möchte ich hier nichts beifügen.

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Miniaturen und PaganinianaWie viele seiner Geigenkollegen hat auch Nathan Milstein Platten aufgenommen, die sogenannte «Zugabenstücke» enthalten. Die-se Aufnahmen zeigen ein brillantes Geigenspiel und können dem Hörer beste Unterhaltung bieten. Mit einer Ausnahme möchte ich hier nicht weiter darauf eingehen. Die Plattenangaben finden Sie unten bei den letzten vier Punkten der Diskographie. Die Aus-nahme ist die Capitol-LP «Recital», die etwas Besonderes bietet: Faszinierend zu hören und brillant gespielt findet sich hier nämlich Milsteins eigene Komposition «Paganiniana» für Violine solo, bei welcher der Geiger das 24. Caprice Paganinis als Ausgangspunkt für Variationen nimmt, wie Paganini sie selbst geschrieben haben könnte. Es ist ein Stück, das beim Publikum stets gut ankommt und deshalb auch von anderen Geigern ins Repertoire aufgenom-men worden ist. Es gibt unter anderem eine Einspielung von Gi-don Kremer auf DG. Milstein selbst bemerkt: «Die Idee zu Pa-ganiniana spukte schon sehr lange in meinem Kopf herum. Ich schrieb sie jedoch erst in Amerika. Für einen Violinabend brauch-te ich nämlich noch ein Zehnminutenstück. Also setzte ich Paga-niniana kurzerhand aufs Programm und zwang mich dann dazu, das Stück in mehreren Nächten hintereinander zu vollenden. Ich machte selbst an dem Tag noch Änderungen, an dem das Kon-zert stattfand.» (Memoiren, Seite 122)

Eine LP Milsteins ist besonders rar und auf dem Occasionsmarkt heute nur teuer erhältlich: Als Reverenz an seine Jugend hat Mil-stein 1963 unter dem Titel «Music of old Russia» kurze Kompo-sitionen (teilweise Transkriptionen) für Violine und Orchester von Tschaikowsky, Rachmaninow, Rimski-Korsakow, Glasunow und Mussorgsky mit einem nicht genannten Orchester unter Robert Irving eingespielt. Es gibt auch eine Monopressung (Columbia CX 1922), die eventuell günstiger zu erstehen ist.

Einiges ist in diesem Beitrag unberücksichtigt geblieben. So etwa die Sonateneinspielungen barocker Werke des Geigers oder sei-ne Aufnahmen von Violinkonzerten Vivaldis und Bachs. Und viel-leicht fehlt in diesem Beitrag gerade Ihre Lieblingsaufnahme von Milstein. Abschliessend kann ein Beitrag wie dieser nicht sein.

Es ist immer wieder faszinierend, wenn man sich vertieft mit ei-nem Interpreten auseinandersetzt. Ich habe mich nun mehrere Wochen «mit Nathan Milsteins Welt» und seinen Aufnahmen auseinandergesetzt, es war eine faszinierende Reise. Vielleicht regt dieser Artikel unsere Leser an, die eine oder andere Aufnah-me Milsteins aus der eigenen Plattensammlung aufzulegen und kritisch das hier Gesagte zu prüfen.

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Diskographische Angaben:Bach: Sämtliche Sonaten und Partiten (BWV 1001 bis 1006)• DG2709047;3LPs(A:1973&1974)• CapitolPCR8370,3LPs(A:1955&1956)

Beethoven: Violinkonzert D-Dur op. 61:• Philharmonia Orchestra; Erich Leinsdorf / Columbia 33CX

1863 (A: 1961)• PittsburghSymphonyOrchestra;WilliamSteinberg/Capitol

P8313 (A: 1955, mono)

Brahms: Violinkonzert D-Dur op. 77:• WienerPhilharmoniker;EugenJochum/DG2530592 (A : 1974)• PhilharmoniaOrchestra;AnatoleFistoulari/Capitol& EMI 1C 053-80 019 (A : 1960)• PittsburghSymphonyOrchestra,WilliamSteinberg/Capitol

P8271 (A: 1954, mono)

Brahms: Violinsonate Nr. 3, d-Moll op. 108• mitVladimirHorowitz,Klavier/RCA,HorowitzCollection Vol. 17, 26.41339 (A: 1950, mono)

Bruch : Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26• PhilharmoniaOrchestra;LeonBarzin(&Mendelssohn Violinkonzert) / Capitol SP 8518 (A: etwa 1960)• PittsburghSymphonyOrchestra,WilliamSteinberg(&Men-

delssohn Violinkonzert) / Capitol P8243 (A: 1953, mono)• NewYorkPhilh.;JohnBarbirolli/ColumbiaML2003(25cm

Platte) (A: etwa 1942)

Dvorak: Violinkonzert a-Moll op. 53:• NewPhilharmoniaOrchestra,RafaelFrühbeckdeBurgos/

EMI SME 91 694 (A: 1966)• PittsburghSymphonyOrchestra,WilliamSteinberg/Capitol

P 8382 (A: 1957, mono)• MinneapolisSymphonyOrchestra,AntalDorati/LaVoixde

son Maître FALP 241 (A : 1951)

Glasunow: Violinkonzert a-Moll op. 82• NewPhilharmoniaOrchestra,RafaelFrühbeckdeBurgos/

EMI SME 91 694 (A: 1966• PittsburghSymphonyOrchestra,WilliamSteinberg/Capitol

P 8382 (A: 1957, mono)• RCAVictorSymphonyOrchestra,AntalDorati/LaVoixde

son Maître FALP 241 (A : 1951)

Goldmark: Violinkonzert a-Moll op. 28• PhilharmoniaOrchestra;HarryBlech/CapitolP8414 (A: 1958)• NewYorkPhilh.;BrunoWalter/BrunoWalterSocietyBWS

523 (A : 1942, live)

Lalo: Symphonie espagnole op. 21(viersätzig, ohne Intermezzo)• SaintLouisOrchestra;VladimirGolschmann/CapitolP8303

(A : 1954)

Mendelssohn : Violinkonzert e-Moll op. 64• WienerPhilharmoniker;ClaudioAbbado/DG2530359 (A: 1972)• New York Philharmonic; Bruno Walter / z.B. auf Odyssey

34694 (A : 1945)• MitdenDirigentenBarzinundSteinbergsieheBruch

Mozart: Violinkonzerte 4 & 5• PhilharmoniaOrchestra/ColumbiaSAX5254(A:1965)

Prokofjew : Violinkonzert Nr. 1 D-Dur op. 19• PhilharmoniaOrchestra;CarloMariaGiulini/AngelS36009

(A : 1962)• SaintLouisOrchestra;VladimirGolschmann/CapitolP8303

(A : 1954)

Prokofjew: Violinkonzert Nr. 2 g-Moll op. 63• NewPhilharmoniaOrchestra,RafaelFrühbeckdeBurgos/

Angel S 36009 (A : 1965)

Saint-Saëns: Violinkonzert Nr. 3 h-Moll op. 61• AnatoleFistoulari;PhilharmoniaOrchestra/AngelS36005

(A: 1963)

Tschaikowsky : Violinkonzert D-Dur op. 35• WienerPhilharmoniker;ClaudioAbbado/DG2530359 (A: 1972)• PittsburghSymphonyOrchestra,WilliamSteinberg/AngelS

35686 (A: 1959)• ChicagoSymphonyOrchestra;FrederickStock z.B. auf Odyssey 34604 (A: 1940)

Zudem: • Milstein: Masterpieces for Violin and Orchestra / Werke

von Mozart, Saint-Saens, Beethoven (Romanze Nr. 2), Wieniawski etc. / Capitol P 8528 (A: etwa 1960)

• Milstein: Recital; Enthält Milsteins «Paganiniana», sowie kurze Stücke von Pergolesi, Schumann, Brahms, Suk, Bloch; mit Carlo Bussotti, Klavier / Capitol P 8259, Mono

• Milstein: Music of old Russia / Stücke von Tschaikowsky, Rachmaninow, Rimski-Korsakow, Glasunow, Mussorgsky; Orchester unter Robert Irving / HMV SAX 2563 (A: 1963)

• Milstein: Encores / Kurze Stücke von Kreisler, Schumann, Szymanowski, Händel etc.; mit Leon Pommers, Klavier / Ca-pitol P 8536

• Milstein: Four Italian Sonatas (Tartini, Vivaldi, Corelli, Ge-miniani) mit Leon Pommers, Klavier /Capitol P 8481

Buchhinweis:Nathan Milstein / Solomon Volkov: Lassen Sie ihn doch Geige lernen. Erinnerungen, Piper-Verlag, München 1993(Autobiographie, nur antiquarisch zu finden)