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XX. Ein Fall yon Seelenblindheit und IIemianopsie mit Sectionsbefund. Yon Dr. Hermann Wllbrand, Augenarzt am Allgemeinen Krankenhause zu Hamburg. (Mit 4 Abbildungen im Text.) Der yon mir in mciner Arbeit tiber Seelcnblindheit i) bcschric- bene Fall Fraulein G. ist zur Section gekommen. Es mag mir gestattet sein, die etwas ausfllhrliehc Kranken- geschichtc noch einmal in extenso hicr anzufUhren. Fraulein G.~ eine 63jiihrige~ sehr intelligente Dame, will frilher stets gesund gewesen sein und namentlieh immer ein gutes Sehverm6gen be- sessen haben. Am 8. M~trz 1881 braeh Patientin plStzlieh und ohne vorhergegan- gene Prodrome Morgens beim Aufstehen bewusstlos zusammen, l~aehdem sic nach mehrstfindlicher Dauer der Insulterseheinungen wieder zu sieh gekommen war~ will sic in einem eigenthfimlichen Zustand sieh befunden haben~ fiber den sic zur Zeit keinen genauen Aufsehluss mehr geben kann. Aueh yon ihrer Umgebung und dem sic behandelnden Arzte ist niehts zu erfahren, da leider siimmtliehe ihr damals n~therstehende Personen in- zwisehen gestorben sind. -- Nur so viel ist ihr bewusst, dass sic mehrere Woehen unter Fieberregungen zu Bette lag, dass sic ihren Arzt wiihrend jener Zeit nieht erkannte und ihre Umgebung sic ffir blind hielt(l). 2) Dass sic aber nieht viillig blind war~ war ihr damals sehon bewusst~ ,denn wenn racine Umgebung an meinem Bette stand und mit Bedauern von meiner Erblindung spraeh, daehte ieh bei mir selbst~ blind kannst du doeh nieht sein~ denn du siehst ja doeh die Tisehdeeke mit der blauen Bord% die fiber den Tiseh im Krankenzimmer gebreitet ist." Ausserdem weiss sic mit Sieherheit~ dass sic naeh Wiederkehr des Bewusstseins Alles verstand~ was ihre Umgebung sowohl unter sieh 7 als mit ihr spraeh~ dass keinerlei hemiplegisehe Symptome~ noeh Stifrungen der Gesiehtsmuseulatur und der Spraehe vorhanden gewesen seien. 1) Die Seelenblindheit als Herderscheinung. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1887. 2) Auf diese eingeklammerten Zahlen in der Krankengeschichte wird bei der Erkli~rung des Falles mehrfach verwiesen werden. Deutsohe Zeitschr. L Norvonheilkundo. II. Bd. 24

Ein Fall von Seelenblindheit und Hemianopsie mit Sectionsbefund

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XX.

Ein Fall yon Seelenblindheit und IIemianopsie mit Sectionsbefund.

Yon

Dr. Hermann Wllbrand, Augenarzt am Allgemeinen Krankenhause zu Hamburg.

(Mit 4 Abbildungen im Text.)

Der yon mir in mciner Arbeit tiber Seelcnblindheit i) bcschric- bene Fall Fraulein G. ist zur Section gekommen.

Es mag mir gestattet sein, die etwas ausfllhrliehc Kranken- geschichtc noch einmal in extenso hicr anzufUhren.

Fraulein G.~ eine 63jiihrige~ sehr intelligente Dame, will frilher stets gesund gewesen sein und namentlieh immer ein gutes Sehverm6gen be- sessen haben.

Am 8. M~trz 1881 braeh Patientin plStzlieh und ohne vorhergegan- gene Prodrome Morgens beim Aufstehen bewusstlos zusammen, l~aehdem sic nach mehrstfindlicher Dauer der Insulterseheinungen wieder zu sieh gekommen war~ will sic in einem eigenthfimlichen Zustand sieh befunden haben~ fiber den sic zur Zeit keinen genauen Aufsehluss mehr geben kann. Aueh yon ihrer Umgebung und dem sic behandelnden Arzte ist niehts zu erfahren, da leider siimmtliehe ihr damals n~therstehende Personen in- zwisehen gestorben sind. - - Nur so viel ist ihr bewusst, dass sic mehrere Woehen unter Fieberregungen zu Bette lag, dass sic ihren Arzt wiihrend jener Zeit nieht erkannte und ihre Umgebung sic ffir blind hielt(l). 2) Dass sic aber nieht viillig blind war~ war ihr damals sehon bewusst~ ,denn wenn racine Umgebung an meinem Bette stand und mit Bedauern von meiner Erblindung spraeh, daehte ieh bei mir selbst~ blind kannst du doeh nieht sein~ denn du siehst ja doeh die Tisehdeeke mit der blauen Bord% die fiber den Tiseh im Krankenzimmer gebreitet ist."

Ausserdem weiss sic mit Sieherheit~ dass sic naeh Wiederkehr des Bewusstseins Alles verstand~ was ihre Umgebung sowohl unter sieh 7 als mit ihr spraeh~ dass keinerlei hemiplegisehe Symptome~ noeh Stifrungen der Gesiehtsmuseulatur und der Spraehe vorhanden gewesen seien.

1) Die Seelenblindheit als Herderscheinung. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1887. 2) Auf diese eingeklammerten Zahlen in der Krankengeschichte wird bei der

Erkli~rung des Falles mehrfach verwiesen werden. Deutsohe Zeitschr. L Norvonheilkundo. II. Bd. 24

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Beim Verlassen des Bettes befand slch die soust so inteliigente Dame in einem eigenthlimliehen Zustand yon Niehtsehen und doeh wieder Lesen- kGnnen~ den sie als Traumzustand bezeichnet~ und den sic nur nebelhaft zu skizziren vermag. Deutlieh ist ihr aber in Erinnerung geblieben, dass (was ja auch noch mehrere Jahre lang anhieit) ihr Gesiehtsfeld sehr ein- gesehr~nkt biieb (2)~ indem sic die Gegenst~nde ilberhaupt nur noch ge- radeaus und naeh oben erkennen konnte, w~hrend naeh rechts~ zur Seite naeh links und nach links unten niehts mehr wahrgenommen wurde. WSthrend der Ausfalt des Gesichtes nach den iinken Gesiehtsfeldh~lften hin ein dauernder blieb~ soll seit 2 Jahren das Gesichtsfeld yon der reeh- ten Seite her alimithlieh sich wieder aufgehellt haben.

Ausserdem erw~thnt Patientin noch, sle habe in den ersten Woehen ihrer Reconvaleseenz einmal einen Hund ftir den sic behandelnden Arzt angesehen~ und einmal~ als sic im Garten sass und das DienstmStdehen zum Essen rief, habe sic zu ihrer Umgebung ge~,ussert: ,Da kommt ja der gedeckte Tiseh" (3). Derartige Verwechslungen solien damals hau- tiger bei ihr vorgekommen sein. Seit jener Zeit nun ist unserer in Ham- burg geborenen und dort erzogenen Patientin das Ortsged~chtniss an die Stadt~ an ihre Strassen und Platze~ ja stellenweise an ihre eigene Woh- hung in hohem Grade defect. Noch jetzt wird sic bewegt~ in tier Er- innerung an ihren ersten Ausgang naeh jenem Anfalie, wie absolut ver- andert und vSllig fremd das Aussehen tier Stadt gewesen, und wie sehr sic beunruhigt und erschilttert worden sei~ als sic zum ersten Male wieder yon ihrer Wfirterin fiber den Jungfernstieg, den neuen Wall, vor alas Stadthaus geftlhrt, und wie ihr yon tier W~irterin die sonst so bekannten Strassen und Geb~.ude wieder gezeigt wurden. ,Wenn Sic es sagen, class dies tier Jungfernstieg~ jenes tier neue Wall und hier das Stadthaus ist~ dann wird es ja auch wohl so sein, ieh kann es aber nieht wieder- erkennen," ftlhrte sic als ihre Aeusserung gegen ihre damalige Begieiterin an. Das Gedaehtniss an jene Zeit ist jedoeh bei ihr sehr mangelhah, und erst durch h~ufiges l~achfragen und haufige Unterhaitungen mit ihr liessen sich die einzelnen Ged~chtnisssplitter aus jener Zeit zusammenlesen.

Dureh die Gesiehtsbeschr~,nkung nun wurde unsere Patientin weniger in Unruhe versetzt~ als dureh die auffaUende fremdartige Ver~,nderung des Eindrucks alter und gewohnter bIetzhautbilder. Sie wusste sich am alten 0rt, und doch war ihr derselbe fremd; und well sic in den Strassen ihrer Vaterstadt aliein sieh nicht mehr zurechtfinden konnte~ iebte sie sehr zurliekgezogen und verliess nur selten und hie ohne Begleltung ihre Wohnung. Nachdem 4 Jahre seit dem apoplektisehen Anfalle vergangen waren~ wurde yore 10. Februar 1885 ab folgender Status bei derselben aufgenommen.

Patientin~ eine 64 Jahre alte, etwas gebilckt gehende, intelligente Dame giebt tiber ihren jetzigen Zustand genaue Auskunft. Sic correspon- dirt zur Zeit viel und sogar in mehreren fremden Spraehen. Dem Stu- dium der fremden Spraehen, und namentlieh der Correspondenz in den- selben, babe sic immer mit grosser Liebe obgelegen. Sic spricht deutsch~ franzfisiseh, engliseh, danisch und versteht spaniseh. Ihre Phantasie sei immer sehr lebhaft gewesen. Ganze M~rchen und Geschichten habe sic biidlich sich vorstellen k~nnen; und dies so lebhaft, dass sic wegen ,dieser

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Phantasien oft filrchtete, geisteskrank zu werden". Man hatte ihr als Kind erz~hlt, sie sei auf einem Baum gewacbsen~ und der Storch habe sie dort abgepfl/lckt. Die yon ihrer kindlichen Phantasie entworfene optische Vorstellung steht ihr auch jetzt noch mit der gr~Jssten Lebhaftigkeit vor Augen. Vor ihrer Krankheit tr~umte sie sehr viel in bildlieben Vor- stellungen, jetzt tr~ume sie fast gar nichts mehr. Neulieh sah sie jedoeh wieder einmal das Bild ihrer verstorbenen Sehwester im Traum.

Die in ihrer Kindheit gelernten Gedichte will sie jetzt noeh alle her- sagen kSnnen. Zeicbentalent sei nieht besonders bei ihr ausgepragt ge- wesen, jedoch konnte sie gut nahen und feinere Stiekereien verfertigen.

Es bestehen zur Zeit keinerlei motorische und sensible L~.hmungen. Ihre Sprache ist durchaus klar und correct.

Die von ihr selbst verfasste~ dureh meine Fragen noch unbeeinflusste Schilderung ihrer Krankengesehichte woUen wir wortgetreu hier wieder- geben.

,Am 8. MStrz stand ich, wie ich mein% ganz wohl auf. Als ich zum Wasehtiseh gehen wollte, flel ich nieder~ ieh wollte mich wieder aufrichten, vermochte es aber nieht mehr. Ieh fiel nieder und wurde bewusstlos~ dann nach l~tngerer~ nicht genau anzugebender Zeit kam ich~ in meinem Bette liegend~ wieder zum Bewusstsein und war yon meinem ganzen Haus- personal umgeben. Wie ich in mein Bett gekommen~ und wer mir dabei geholfen bat, weiss ieh nicht. Man sagte mir, ich sei krank, und der Arzt werde gleich kommen. Ich erinnere reich nicht~ den Arzt damals gesehen zu haben, sowie auch nicht in den darauf folgenden Wochen, in welehen er t~tglich kam. Mehrere Woeh~n habe ieh in starkem Fieber gelegen~ Niemand erkannt and fortwSthrend phantasirt. Dies weiss ieh jedoeh nur veto H~Jrensagen. Dass ieh sp~tter Thiere far Menschen und mein Dienst- m~tdehen far einen gedeckten Tisch angesehen habe, weiss ich, weiss jedoeh nicht, zu weleher Zeit dies war. Dann verging wieder eine l~.ngere Zeit~ yon der ieh nichts mehr weiss. Das erste, was mir damals erinner- lich ist, bezieht sich auf einen kleinen Spaziergang, den ich am Arm meiner W~rterin machte. So wurde es mir allm~.hlich besser~ aber meine Erinnerung ist sehr l/lekenhaft. Im Sommer 1882 war ich ziemlich wohl, das weiss ieh ganz deutlich~ and yon da ab ist es langsam besser ge- ~vorden bis s% wie ich jetz~ bin." B . G .

Spontan fallen ihr die einzelnen Daten ihrer Krankengeschiehte nieht so leicht ein~ wohl glebt sie aber gute Auskunft~ soweit sie es vermag~ wenn man dureh Fragestellung ihrem Ged~ehtniss zu H/life kommt.

Die Untersuchung der Augen am 10. Februar 1885 liess beiderseits normalen Augenspiegelbefund~ beiderseits normale Sehsehiirfe and normalen Farbensinn erkennen. Dabei besteht jedoch eine linksseitige incomplete homonyme Hemianopsie~ sowie ein hemianopischer Defect im unteren Oc- tanten beider rechten Gesiehtsfeldhiilften (siehe Fig. 1). Innerhalb tier defeeten linken Gesiehtsfeldhalften bestebt eine Zone~ in weleher nur Hellig- keit, dagegen keine Formen und Farben erkannt werden. In dem tlbrigen defeeten Theile beider linken Gesiehtsfeldhalften fehlt alle und jede Lieht- empfiadung. Die Pupillen sind gleich welt and reagiren bei Beleaeh- tung; es ist keine Beweglichkeitsbeschriinkung der Augenmusculatur vor- handen.

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Die Sehsehiirfe ist beiderseits normal (4). Die Patientin kann Ge: sehriebenes und Gedruektes mit Zuhtllfenahme einer Convexbrille gut und fliessend lesen (5). :Naeh Dietat sehreibt sie fehierlos. Beim Nieder- sehreiben der Zahlen yon 1--100 (ohne Dietat) und beim Niedersehreiben des Alphabets folgen die Zahlen und Buehstaben ohne Liieke in der ge- hiirigen Reihenfolge. Seit jenem Anfalle liisst sie jedoeh in ihren Briefen haufig einzelne Worte in der Satzfolge aus oder sehreibt dieselben zwei- real nieder~ wie z. B. , Ieh wtlnsehe Sie zu sehen~ zu sehen", - - oder ,ieh wiinsche - - (Sie zu sehen). Der Umstand~ dass sie seit ihrer Krank- heit hlles, was sie bei sieh im Stillen denkt, laut vor sieh hinsprieht~ be- rithrt sie aufs Peinliehste. Beim Lesen und Sehreiben folgt sie jedoeh den Worten nieht mit den Artieulationsbewegungen der Lippen.

Sie kann genau angeben, was einzelne Oeberden~ z. B. die des F|iiteu- spielers~ bedeuten sollen.

Ob in der ersten Zeit naeh jenem Anfalle aphasisehe Erseheinungen vorhanden gewesen seien~ kann sie nicht angeben~ ebensowenig~ seit warm sie wieder lesen und sehreiben kann. Im Allgemeinen will sie sieh jetzt viel leiehter dureh die Sehrift~ als durch gesproehene Worte verstlindlich maehen k~/nnen (was objeetiv nieht zu eonstatiren ist). Wenngleieh die Bewegliehkeit ihrer Hande und Finger niehts zu wtinsehen librig lasst, und namentlieh die Leiehtigkeit~ mit weleher sie sehreiben kSnne~ rtlhmend von ihr hervorgehoben wird~ will sic dagegen die Fahigkeit zu n~then und zur Verfertigung yon Handarbeiten fast vSllig eingebtisst haben. ,Wenn ieh jetzt niihe," erzithlte sie~ ,sieht meine Arbeit aus~ als ob sie yon einem Kinde angefertigt ware, die Stiehe sind ungleieh~ ieh steche mit der Nadel an anderen Stellen~ als es sein miisst% heraus u. s. w." - - WiewohI Pa- tientin in Hamburg geboren ist und an gesunden Tagen die Topographie des Ortes his ins Detail bin kannte, ist es ihr jetzt unm6glieh~ aueh nur einigermaassen sieh in den Strassen zureehtzufiaden. , Ieh kann mir zwar manehe Strassen (am 17. April 1885) vorstelien~ - - so ging ieh z. B. neulieh mit meiner Begleiterin dureh die R.-Strasse und wusste~ dass hier Her r Dr. G. wohnte~ aber selbstandig den Weg naeh der Strasse findea~ oder nur angeben zu sollen~ we sie anfiingt und we sie einmtindet~ ist mir ein Ding der Unm6gliehkeit" (6).

Das Bild lares spiiteren vitterliehen Hauses~ in welehem sie noeh 25 Jahr gewohnt hatte~ ist v611ig aus ihrem Ged~tehtniss versehwunden~ wiihrend die Vorstellung an das Haus, welches ihre Eltern wahrend ihrer Kindheit bewohnten~ vtillig erhalten ist.

Ueberhaupt stehen ihr die Eindriieke ihrer Kindheit meist noeh sehr lebendig vor der Seele.

Sie hat frtiher haufig Reisen gemaeht und ist viel in Kopenhagen gewesen. ,Wenn ieh die Augeu nun zumaehe (7) und reich naeh Kopen- hagen versetze~ sehe ieh die Strassen ganz deutlieh vor mir~ und ieh sehe aueh auf den Bergen am Rhein in meinem Geiste die Burgen~ - - wenn ieh nun aber dort sttinde und mit offenen Augen jene Stadt und j,ene Gegend betraehten wtirde~ dann wtirde ieh nieht wissen~ we ieh reich be- fande. Ieh ktinnte ganz gut im Geist und bei gesehlossenen Augen durch

Hamburg spazieren, wenn ieh aber wirklieh auf der Strasse stehe~ weiss ieh weder ein noeh aus. Bei gesehlosseneu Augen habe ieh mein aires

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Hamburg wieder vor .mir, oder wenigstens von vielen Strassen ein grosses Sttlck."

Alles~ was sie sieht~ hat far sie einen ,fremden (8)~ eigenartigen Charakter angenommen". Selbst die einzelnen MSbel in dem Zimmer~ ihrem tSglichen Aufenthaltsorte~ kommen ihr anders vor, als fraher, , es ist nicht mehr tier gewohnte, sondern ein fremdartiger Eindruek, den sie auf reich maehen". - - Worin das Wesen dieser Veranderung besteht~ kann sie nieht angeben~ denn sic sieht Alles vollkommen deutlieh uud renom- mirt oft mit ihrem guten Sehverm(igen.

Haufig bereitet ihr folgender Umstand grosse Besorgniss vor Geistes- krankheit: Wenn sie yon draussen kommend ihr Zimmer betrat (9), wahnte sic in einen fremden~ einem Anderen geh0rigen Raum gerathen zu sein~ so fremd und eigenthamlich sonderbar erschien ihr das eigene Zimmer. Zu jener Zeit~ so erzahlt sie, sagte ieh zu meinem Arzte: ,Naeh meinem Zustande zu folgern~ sieht der Mensch mehr mit dem Gehirn~ als mit dem Suge, das Auge ist blos das Mittel zum Sehen~ denn ieh sehe ja Alies klar und deutlich, ich erkenne es aber nicht und weiss oft nicht~ was das Geseheue seiu soll." - - , Ich sah damals jeden Gegenstand in meinem Zimmer und wusste ja auch, dass z. B. jener Glassehrank dort mein er- erbter Schrank war~ well er eben an der gewohnten Stelle in meinem Zimmer stand und meine Leute behaupteten, es set mein alter Glassehrank~ mir aber will das gar nieht in den Kopf, er macht auf reich einen frem- den Eindruek. Ja ich sehe im Spiegel ganz anders aus, als frtlher~ ich sehe mir selbst gar nicht mehr ahnlieh. Ich sehwtire Ihneu~ wenn ieh mieh im Spiegel sehe, kann ich nicht verstehen, dass ich das seiu soil, ieh sehe mir gar nieht ahnlich. Die Leute sagen aber alle, dass sic mieh noch kennen, und dass ieh reich in meinem Aussehen nieht verandert babe: - - ich kann das nicht begreifen, - - ich werde wohl geisteskrank werden ?"

, I n den Physiognomien yon Personen, die ich fraher kannte, be- merke ich wenig oder keinen Unterschied. Jedoch hinterlassen die Leute, welehe ich seit meiner Erkraukung kenneu gelernt habe~ gar keinen bild- lichen Eiudruck mehr in meinem Gedachtnisse. Begegne ieh Ihnen morgen auf der Strasse, danu erkenne ieh Sic nieht." Nach der Sesshaftigkeit der Gehiirseindrtlcke gefragt, antwortete sie: ,Den Klang der Stimme und den Dialect meiner Besucher kann ich mir wohl vergegeuwartigen und werde jeden leieht danaeh wiedererkennen." Ihre Freundinnen berichten, dass auch wahrend tier ersten Zeit nach ihrer Erkrankung, naehdem sie sehon lange wieder ausser Bett war, sic Niemanden beim Eintreten in das Zimmer erkannt habe. Fragte sie aber: Wer ist da? und h0rte nut einen Laut des Eintretenden, dann erkannte sie auch ihren Besuch sofort. Auch jetzt ttbersieht sie haufig noch Jemanden, der sieh im Zimmer auf- halt (homonyme Hemianopsie!). ,Es ist mir so oft schon aufgefallen, class ieh naeh meiner Erkrankung sehr viel feiner und genauer h~ire, als fraher. Mein Geh6r ist geradezu auffallend besser geworden."

,Beziiglieh des Zeitmaasses befinde ieh mieh stets im Unklaren (10). Was vielleicht vor 10 Miauten geschah, kommt mir vor, als werin es sich vor 3 Stunden oder langer ereignet habe. Wenn racine Sehwester reich einmal wahrend 8 Tagen nieht besueht hat~ maehe ich ihr Vorwtlrf%

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warum sie seit 6 Wochen nicht einmal nach mir gesehen habe; - - ich kaun mit der Zeit nicht fertig werden, Alles zieht sich in die Unendllch- keit hinein. - - Wenn Sie eben bet mir waren~ so weiss ich nach Verlauf yon einer Stunde nicht~ ob es heute, gestern~ vorgesteru oder warm ge- wesen ist, als ich Ihren Besuch erupting."

Die Erweckung der optischen Vorstellungen durch specifische Reize (11) yon anderen Sinnesgebieten aus geschieht wenigstens ftir einzelne Gegen- st~nde des gewShnlichen Gebrauchs prompt. So erweckt mein ihr bet ge- schlossenen Augen in die Hand gegebener Bleistift sofort die bildliche Vorstellung desselben; - - der Geruch yon Petroleum, das Vorstellungs- bild ihrer Lampe.

Fragt man die Patientin ilber den Weg, die Richtung und die Stras- sen t welche zu passiren stud, um yon ihrer Wohnung aus einen bezeichneten Oft in der Stadt zu erreichen, dann giebt sie zur Antwort: ,,Das weiss ich nieht, das gelingt mir nicht (12), ich habe es schon so oft vergeblich versucht."

Wenn fie die Augen schliesst, will sie in Gedanken sich leichter orien-: tiren k6nnen (13)~ es set dann Alles wieder wie frtiher; - - ,die Wirklich- keit (der Anblick der Umgebung) macht reich confus, ich kanu besser in Ideen leben~ als in der Wirklichkeit," - - und in der That orientirt sic sich leichter~ wenn sie ihre Augen geschlossen h~lt und dann irgend einen Weg beschreiben will.

In ihrer Kommode und in ihrem Leinenschranke findet sie sich seit dem Anfalle nicht mehr zurecht. Der Anblick vieler Gegenst~nde, welche auf dem Tisch stehen, z. B. Flaschen und Gl$1ser~ ein Korb yon Semmeln~ macht sie verwirrt (14). Der Anblick ihres ge6ffneten Kleider- und Wiische- schrankes bringt sie in Verwirrung. Sie sieht zwar die einzelnen W~sche- stilcke in ihrem Schranke genau, doch muss sie ihr M~dchen stets zu ttUlfo rufen~ wenn sie darin etwas finden will. Diese Verwirrung wird auch beim Betreten der Strasse, beim Anblick vieler Menschen~ wie tlberhaupt dutch die Summe verschiedener und gleichzeitig auf das Auge einwir- kender Netzhauteindr•cke hervorgerufen.

Wegen dieser Verwirrung und der dadurch entstehenden ,Angst" meidet die Patientin den Besuch yon Concerten, Kirchen~ Theatern und Gesellschaften. Sie erz~hlt, vor l~ngerer Zeit einmal bet einer Trauung in der Kirche gewesen zu seth, der Anblick so vieler Menschen habe sie aber dermaassen verwirrt~ dass sie es ftlr nSthig fand~ die Augen zu schliessen.

Die Treppe geht sie immer rtickw~irts herunter, well sie beim Ab- steigen mit nach vorn gewendetem Gesicht durch den Anblick der vielen Treppenstufen verwirrt und schwindelig wird.

Die Patientin giebt ferner an t haufig an Zust~nden zu leiden~ die sie mit ,verkehrtem Denken" (15) bezeichnet. Es wird dabei in ihr die Vorstellung erweckt und vortibergehend festgehalten, als set an Stelle der neben ihrem Wohnzimmer befindlichen Schlafstube die Strasse. Auch wenn sie z. B. eben in ihrer in der Schlafstube stehenden Kommode gekramt~ dieselbe zugeschlossen und wieder auf ihrem gewohnten Sitz am Fenster des Wohnzimmers Platz genoromen habe~ beherrsche sie yon ungefahr die Vorstellung~ ihre Kommode st~tnde ja auf d e r Strasse~ und es set doch

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unntiiz~ dieselbe zuzuschliessen~ weil sie ja eben auf der Strasse st~inde. Wegen dieser Erscheinung ,des verkehrtenDenkens" ftlrehtet sie geistes- krank zu werden.

Jenem Platze am Fenster der Wohnstube nun, den sie den ganzen Tag tiber einnimmt , gegentiber miindet eine breite Strasse in die vor dem Hause vorbeiziehende Hauptstrasse. Sie hebt nun hervor, wie gut ihr Gesieht sei~ und wie sie selbst oben am Ende der Strasse die kleinen Kinder spielen sehen kGnne. H~iufig passire ihr aber etwas beim Hinausschauen auf die Strasse~ was sie sehr bettngsfige. So habe sie gestern noeh vom Fenster aus ein I~ing angestaunt (16)~ das mit Riidern sieh auf der Strasse fortbewegte~ es sei aueh eine mensehliche Figur darauf gewesen, es sei i h r aber erst nach langem Hinsehen klar geworden~ dass es ein Fleiseher- wagen gewesen sei. ,Vor meine Hausthiire getreten," klagt sie, ,,bsfinde ieh reich in einer fremdartigen Welt~ die reich confus macht, deshalb gehe ich selten und nisht gsrn ohne racine Begleiterin aus."

W~lhrend sie neulieh ruhig am Fenster sass, braehte sie ihre Ge- danksn darauf~ einmal naeh einer sehr werthvollen in ihrem Besitze be- findliehen Blumenvase zu sehen. Dieselbe ist yon auffallender Form~ gross und bunt und steht in ihrem Glassehranke, so dass der erste Bliek in denselben sie treffen muss. Sie hatte nun versehiedentlieh im Sehranke naeh derselben gesueht~ sie aber nieht gefundsn (17)~ his ihre Freundin kam und mit den Worten: ,Mein Gott, da steht sie ja doeh vor Dir"~ dis- selbs ihr zeigte. Jetzt kennt sie diesslbe wieder und kann sis aueh hash kurzem Suehen wiederfinden.

Wenn sis an ihrem Sehranke hantirt oder irgsnd etwas weglegt, um es bsi baldigem Wiedergebrauehe leiehter bei der Hand zu haben, kann sie es meist nieht wiederfinden und wird beim Suchen danach immsr verwirrter. (18) Das herbeigerufsne Dienstmiidehen muss ihr dann meist den gewtlnsshten Gegenstand zeigen~ der nur allzu h~tufig vor ihr liegt~ und dessert Vorhandensein ihrem Gssichte nieht entgangen sein konnte.

Sie klagt auch~ dass bei ihrer regen Correspondenz folgender Urn- stand sie haufig in Erregung und Verwirrung versetze.

Wenn sie z. B. einen Brief gsschrisben und densslben auf dem Sehreib- tisch liegen gslassen hab% um nachher dsnselben leiehter wiederzufinden~ und sie suehs den Brief~ so kGnne sie ihn nicht wiederfinden. , Ich suehe und suche und finde ihn nieht und werde ganz verwirrt~ und sehliesslieh liegt er doeh vor mir, - - ieh hatte ihn nieht erkannt, wiswohl ieh doeh vorzliglieh lesen und sonst so gut sshen kann." (Hemianopsie.)

Ueberhaupt ha t sie einen bsstimmten Platz in ihrem Zimmer~ wo sie Ailes~ was sie aus der Hand legt~ hinbringen muss, um es spiiter wieder- zufinden. Vergisst sis dies aber~ so ist es ihr ein Ding der UnmGglieh- keit~ den wsggelegten Gegenstand 7 z. B. ihre Lesebriile~ wiederzufinden.

Seit ihrer Erkrankung ist sie reizbar~ nervGs geworden~ wi~hrend sis frtlher gar nieht gewusst habsn will~ ,was Nerven seien". In ihrem Cha- rakter will sis sonst keine Veriinderung bemerkt habsn.

Die Patientin leidet zur Zsit h~ufig an ,explosionsartigen Empfin- dungen" ohne Knall im Kopfe~ verbunden mit einer plGtzliehen Lieht- empfindung. Die Patientin unterzog sieh einer Strychnineur~ nahm dabei Arsenik und kam der Aufforderung naeh~ mGgliehst viel spazieren und~

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auf ihre eigene Kraft vertrauend~ mit grosser Aufmerksamkeit in der Stadt umherzugehen.

Der frtiher vorhanden gewesene Gesichtsfelddefer des unteren Oc- tauten der rechten Gesiehtsfeldhalften hat sich nun allmithlich verloren (19)~ die linken Gesichtsfeldhiilften zeigen~ mit Ausnahme einer kleinen, nur an- deutungsweise vorhandenen Insel im liuken oberen Quadranten~ ungefi~hr dieselbe Form~ wie bei der friiheren Untersuchung, nur erreicht der Defect nicht mehr die Peripherie. Die erhalten gebliebene Partie in den linken Gesichtsfeldhiilften hat nicht die scharfe Abgrenzung, wie sic in den Figuren angegeben ist~ sondern bezeichnet die Region~ innerhalb welcher die Pa- tientin bei sehnellem Hin- und Herbewegen des weissen Untersuchungs- objectes ,etwas Helles" (20) bemerkt. Fig. 2. Es war also offenbar das Verm~igen in jener Zone vorhanden~ die Helligkeit zu empfinden, dagegen wurden darin weder Formen noch Farben erkannt.

17. April 1885. Ein anderer und yon der Patientin dankbar empfun- dener Erfolg der Strychnincur bestand in dem Aufh(iren des ,verkehrten Denkens". Allmithlich verloren auch die Gegenstande in ihrem Zimmer ,den fremdartigen Charakter". Aueh konnte sie nun zum ersten Male den Weg zu meinem Sprechzimmer allein finden; sie kann denselben auch aus dem Gediich/niss richtig beschreiben. Auf diesem Wege machte ihr eine Oerflichkeit (die Gegend der Kunsthalle und das Bootshaus des Ruderelubs) einen bekannten Eindruck. Wenn sie diese Oertlichkeit zu Gesieht be- kam~ war sie beruhigt, den richtigen Weg zu mir eingeschlagen zu haben. Offenbar war fiir diese specielle Oertlichkeit das Erinnerungsbild in der linken Sehsphitre erhalten geblieben.

28. April 1885. Litsst man die Patientin die Augen sch].iessen und nennt ihr verschiedene Dinge, so kann sie sieh dieseiben bildiich vor- stellen (21). Auch beztlglich der Topographie Hamburgs kann sie sich die Bilder einzelner Strassen~ einzelner Pliitze und einzelner Aussiehts- punkte in der Stadt vorstellen, andere dagegen nur verschwommen~ und wieder andere gar nicht. Naeh ihrer Aeusserung wilrde sie~ wenn sie vom Himmel in eine bekannte Strasse Hamburgs fiele, dieselbe wohl wieder- erkennen; aber so den Weg nach einzelnen ihr bezeichneten Orten zu finden~ ist ihr noch ein Ding der Unm(iglichkeit.

16. Mai 1885. ,Das verkehrte Denken" hat aufgeh(irt. Ebenso ist der ,fremdartige Charakter" ihrer M~lbelstiicke versehwunden~ auch stiert sie nun nicht mehr die Gegenstande auf der Strasse yon ihrem Feaster aus au~ ohne sie zu erkennen~ ,jedoch nehme ich auch jetzt noch Abeuds oft einen beliebigen Gegenstand yon dem Tische auf und denke: Mein Gott~ was mag denn dies ftir ein Ding sein? und erst nach wiederholtem Beschauen und Beftlhien wird es mir klar, was es sein soil. Ich kann mir viele Strassen vorstellen, wie sie verlaufen und aussehen~ ich kann aber mit dem besten Willen nicht den Weg dahin finden i ich weiss nicht, wo die einzelnen Strassen anfangen und wo sic aufhSren. Wenn ich vom Himmel in eine Strasse fiel% wilrde ich sie wohl erkennen~ aber ihr An- bliek macht reich verwirrt~ und wenn ich viel darin gehe~ bekomme ich Kopfschmerzen." Auf meinen Einwand, dass sic yon ihrer Wohnung aus doch schon den Weg zu ihrer (ira Oberaltenstift wohnenden) Freundin allein gefunden habe, antwortete sie: , Ich weiss~ dass ich yon hier, meiner

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Wohnung aus links um die Ecke gehen muss, dann komme ieh auf den Steindamm, auf welchem ieh nur wenige Schritte welt zu gehen habe, um zu einem mir befreundeten Kaufmann zu gelangen~ den ich sehon 8fters besucht habe. Bin ich an dessen Wohnung angelangt, dann gehe ich ge- trost geradeaus weiter~ well ieh weiss~ ich bin auf dem richtigen Wege. Ich gehe dann welter, bis ich~ - - o Gott, an jenen Platz mit den vielen roth und weiss angestrichenen Omnibussen komme, dann ist es fertig mit mir~ dann muss ich alle 3 Sehritte fragen (22), wenn ich reich nicht verlaufen will. Die Leute laehen reich aus, weil~ wenn ieh eben einen Passanten gefragt habe, ich den n~tchstfolgenden wieder naeh dem Wege fragen muss. Ieh weiss dann nieht vorwiirts noeh rtlckwiirts."

Aueh nach einigen anderen Oertliehkeiten kann sie yon ihrer Woh- nung aus selbstiindig den Wee finden~ jedoch vermag sie dann nie allein zurtlckzukehren~ d. h. ohne zu fragen~ denselben Wee zurtlckzufinden.

Beim wiederholten Besuch ihrer Freundin im Oberaltenstift (einem kasernenartigen Bau mit Kuppel fiber dem Hauptgeb~iude) fiel ihr der Urn- stand auf, dass das Gebiiude, das ihr zum ersten Male ausserordentlich imponirte, nun einen viel kleineren Eindruck mache. ,Ueberhaupt komme ihr jetzt Alles mehr zusammengedr~tngt vor."

Auf dem linken Ohre hat sic manehmal Brausen~ sie h/~rt aber sonst vorzliglich. Der Geruehssinn ist intact.

Die sogenannten Explosionen ohne Knall im Kopfe (Empfindung des Blasenplatzens) treten jetzt viel bescheidener auf und werden nur meist in der Schliifengegend wie ein leichtes, kurzes Blasen empfunden.

Bis zum 10. September 1885 hatte sich der Zustand unserer Patientiu sehr gebessert~ ,,es ist aber doch noeh lange nicht so mit dem Sehen und meinen Gesiehtseindrticken, wie vor der Krankheit." Sie behauptet jetzt, ,nu t ein mechanisehes Leben zu ftlhren," ein Zustand~ den sie mit fol- gendem Beispiel zu illustriren versucht: ,Will ich z. B. reich Abends zu Bette begeben, dann denke ich, du musst dir noch dies und jenes zureeht- legen und Manches in Ordnung bringen. Komme ich dann in mein Schlaf- zimmer, so bemerke ich mit Erstaunen~ dass ich schon Alles selbst besorgt hatte. Alles liegt in bester Ordnung auf seinem Platze~ es wurde abet mechaniseh yon mir vollftlhrt~ und ieh wusste nieht~ dass diese Arbeit sehon gethan war."

,Abends vor dem Einsehlafen denke ieh meine Beseh~ftigung fur den nitehsten Morgen durch und nehme m i r v o r , dies und jenes zu ordnen: dabei kann ieh mir deutlich bildlieh vorstellen, wie ich die Sache absolvire. Will ich aber am anderen Morgen meinen Vorsatz ausfilhren, dann bin ich wie durum und kann es nieht.

Auf die Frage: ,K~nnen Sie sieh die Landkarte yon England vor- stellen?" antwortet sie , j a " (23); ,K6nnen Sie die Umrisse derselben auf dies Papier zeichnenP" Sie thut es und verfertigt eine den Verhiiltnissen ungefiihr entsprechende skizzenhafte Zeiehnung, die Umrisse yon England und Irland. Die versehiedenen, ihr in einem Atlas vorgelegten Landkarten bezeiehnet sie richtig und weiss auch sehr rasch die Hauptstiidte der be- treffenden L~nder auf derselben zu finden.

Ein ihr vorgelegtes Bild (zu dem Gedichte ,Der Alpenj~ger" yon Schiller geh6rig) weiss sie den Einzelheiten nach zu deuten~ ohne aber

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angeben zu kSnnen~ zu welchem Gedichte diese Illustration wohl geh5ren mSehte.

Auf die Frage : ,,K~nnen Sie sieh beim Vorlesen jenes Gedichtes die einzelnen Situationen vorstellen?" antwortet sie , ja" .

Aufgefordert, folgende ihr vorgelegte Gegenst~inde einzeln, und ohne dieselben anzufassen~ mit BTamen zu bezeiehnen (Cigarre, Bleistift~ Messer~ Ztindholzbtlehse, Stahlfeder ~ Salzfass~ Stein ~ Topfscherbe, Johannisbeer- traube~ Ring~ Knopf~ Ztlndholz, Zehnpfennigsttlck~ Korkpropfen~ Sehltlssel~ Briefmarke), erkennt und bezeiehnet sie prompt und riehtig.

Legt man diese Sttleke zusammen auf einen Teller und fordert sie auf~ ein Bestimmtes unter denselben herauszunehmen, so finder sie das bezeiehnete Stack rasch und leieht.

L~tsst man sie bei gesehlossenen Augeu dieselben Gegenst~nde mit der Hand beffihlen (24) und fragt si% ob sie sieh dieselben bildlieh vor- stellen kOnne~ so antwortet sie , ja". Aueh kurze Zeit naeh diesem Ex- periment kann sie die ihr vorgelegten Gegenst~nde meist~ ohne welche auszulassen~ aufz~hlen.

In vergangener Woehe will sic pl6~zlieh in den Beinen sehwaeh ge- worden und hingefallen sein~ ohne ihr Bewusstsein verloren zu haben. 4 Tage habe diese Sehw~iehe unter Sehwindel angehalten. Als sie danaeh in der Zeitung lesen wollte~ fiel es ihr auf, dass sie Wort ftlr Wort zwar las, aber den Sinn des Gelesenen nieht fassen konnte. Dieser Zustand hielt ebenfalls einige Tage an.

Fassen wir nun noch einmal kurz das Krankheitsbild zusammen~ so zeigt unter Insulterscheinungen, apoplektiform entstauden~ uns dieser Fall im Beginne der Erseheinungen eine doppelseitige homonyme Hemianopsi% die anfitnglieh auf den beiden linken Gesiehtsfeldhitlften sieher eomplet~ auf den reehten aber ineomplet war.

Zugleieh mit diesen [-Ierdsymptomen traten noeh Erseheinungen yon Seelenblindheit bei unserer Patientin auf, deren Vorhandensein nooh naeh 4 Jahren festgestellt werden konnte. Hauptsi~ehlich manifestirte sieh dieser Zustand in einem Verluste des 0rtssinnes und in einer eigenthtlmliehen Fremdartigkeit des Eindrueks alter und gewohnter Netzhautbitder. Neben der Unmiiglichkeit sieh trotz normater Sehsehltrfe und normalen Farben- sinnes beim Verlassen ihrer Wohnung zureehtfiaden zu k6nnen, war auf- fallender Weise die Orientirung ih der rein bildliehen Vorstellung bei ge- sehlossenen Augen eine bei Weitem bessere~ ebenso wie das Vermiigen fortbestand~ bei g e s e h l o s s e n e n A u g e n sich irgend welche optisehen Erinnerungsbilder zu vergegenwitrtigen. ~eben diesen Erseheinungen ver- setzen die Symptome ,des verkehrten Denkens" unsere Patientin noeh in Unruhe~ also jenes Zustandes, wiihrend dessen Dauer der Gedanke plStz- lich in ihr lebendig wurde, als sei ihre Sehlafstube die Strasse~ oder ihre Kommode stiinde auf der Strasse u. s. w. Da sie dureh den Anbliek vieler Gegenstiinde verwirrt wurde, beschilinkte sieh das sonst alleinstehende 67jiihrige Friiulein auf den persSnlichen Verkehr mit einer itltliehen~ geistig weit unter ihr stehenden Frau und verliess nur hSehst selten, und meist nur auf kurze Wegstrecken, ihre Wohnung. In der Folge stellte sieh der griisste Theil des unteren Quadranten und zwei inselfSrmige Gebiete im oberen Qaadranten der linken Gesiehtsfeldhiilften eines jeden Auges wieder

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Ein Fall yon Seelenblindheit und Hemianopsie mit Sectionsbefund. 373

Fig. 3a.

Unterfl~che des rechten Hinterhauptslappens,

Fig. 3 b.

Oberfl~he des rechten Hinterhauptslappens.

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her. In diesen wiedergewonnenen Partien wurden zwar noch Hellig- keiten~ aber keine Formen und Farben mehr erkannt.

W~hrend der letzten Jahre ihres Lebens hatte sieh die Patientin meiner weiteren Beobaehtnng leider entzogen~ sie soil aber yon anderweitlgen Krankheitsf~.llen versehont geblieben sein. Naeh Aussage ihrer I-Iausleute waren bis zu ihrem Tode die Klagen immer die namliehen: sie sahe nichts and doch wieder Alles. Sie sel nur selten ausgegangen, babe sehr zu- rtiekgezogen gelebt, sei aber noch his zu ihrem Ende sehr gut bei Vet- stand gewesen. Infolge eines apoplektisehen Anfalls versehied sie naeh wenigen Stunden~ ohne wieder zum Bewusstsein gekommen zu sein.

24 Stunden naeh dem Tode wurde das Gehirn aus dem Sch~del ge- nommen und in tote in Mtlller'sche Fltissigkeit gelegt. Herr College E i s e n l o h r hatte die Freundliehkeit, nach der HHartung die Section des- selben vorzunehmen.

S e e t i o n s b e f u n d : R e e h t e H e m i s p h e r e : Figur3. DerLobus fusiformis tief eingesunken, in einen sehlaffh~utigen Sack verwandelt, tier bis zur Spitze des Hinterhauptslappens sieh erstreekt. Von oben zeigt sich der ganze Oeeipitallappen etwas eingesunken, die Windungen etwas sehmal~ die 0berfl~ehe aber nirgends erweieht. Der Cuneus in seiner Hinterh~lfte stark redueirt, welch. Die Spitze desselben zusammenh~ngend mit dem an der Unterfl~iche erw~hnten Herde des Lobus faslformis. Die Rinde der Fissura ealearina zeigt eine leiehte Ver~.nderung~ der Praecuneus nor- mal~ ebenso die lateralen Oberflachen des Oeeipitallappens und der ganzen Parietal win d ungen.

L i n k e H e m i s p h a r e : In der Markstrahlung der II. Occipitalwindung, wenige Millimeter unterhalb der grauen Rinde in der Tiefe der die I. von der II. Oeeipitalwindung trennenden Furche, eine kleine HShle, an die sieh frontalwarts eine erweichte Zone anschliesst (alter Herd). Diese er- weiehte Zone geht welter naeh vorn allmahlieh in einen frischen Erwei- chungsherd tlber~ der die centrale Markmasse der Hemisphere vollstandig zerstSrt hatte.

Zum leiehteren Verstiindniss der naehfolgenden Erl~uterungen seheint es nothwendig, auf das Schema Fig. 4 zu verweisen.

~,7m stellt das binoeulare Gesiehtsfeld vor. In dem gemeinschaft- lichen Fixirpunkte F beider Gesichtsfelder sehneiden sieh die Sehaxen f F and f~F eines jeden Auges.

f stellt die Fovea centralis des linken Auges LA and f dieselbe des reehten Auges R A dar.

7 7 " ist das Gesiehtsfeld des linken Auges (LA) and zwar F~," die homonyme nasale rechte G e s i e h t s fe 1 d h~lfte desselben, in Connex stehend mit der temporalen N e t z h a u t h ~ l f t e g f d e s linken Auges~ wahrend F~, die temporale G e s i e h t s fe 1 d h~ilfte, resp. die homonyme linke des linken Auges darstellt in Abhangigkeit yon der nasalen l~etzhauthalfte f x des LA.

~,~ ~,,r ist das Gesichtsfeld des rechten Auges R A~ und zwar F~,~ die homonyme linke (nasale) H~lfte desselben~ in Connex stehend mit der tem- poralen l~e t z h a u t h~lhe f~ x ~ des rechten Auges~ w~.hrend F7 m die tem- porale G e s i c h t s f e l d h a l h e ~ resp. die eine homonyme rechte des reehten

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Ein Fall yon Seelenbllndheit und Hemianopsie mit Sectionsbefund. 375

Auges darstellt, in Abhangigkeit vonde r nasalen Ne tzhau th~ l f t e g~ft des rechten Auges.

Im binocul~iren Gesichtsfelde decken sich bei eingehaltener Fixation die nasalen Gesichtsfeldhalften 2,rF und 7, 'F mit den inneren und mitt- leren Zonen der homonymen temporalen Gesichtsfeldh~ilften~ so dass die Ge- sammtausdehnung des binocul~iren Gesichtsfeldes unter normalen Verhitlt- nissert lediglich durch die temporalen Gesichtsfeldh~lften y F and ~,mF allein bestimmt wird.

Fig. 4.

L.H. R.H.

7 F und ~,tF stellen die homonymen linksseitigen G e s i o h t s f e l d - h~lften hlG dar~ in Abh~tngigkeit yon den rechtsseitigen homonymen bTetz- hauth~tlften f x und f~xP~ und diese stehen wieder in Connex mit dem optischen Wahrnehmungscentrum r o W der rechten Hemisph~tre R H durch die optis~hen Leitungsbahnen (rechts ausgezogen, links punktirt).

r o e ist alas rechte optisehe Erinnerungsfeld. Fy mund Fy" stellen die homoDymen rechtsseitigen G e s i r h t s fe 1 d -

halften hr G dar in Abh~ingigkeit yon den linksseitigen homonymen N e t z- hauthalften f g ' und f g , und diese stehen wieder in Connex mit dem opfisehen Wahrnehmungscentrum lo W tier linken Hemisphare LH.

loE is~ das linke optische Erinnerungsfeld des linken Hinterhaupts- lappens.

GA ist die Rinde des Gyrus angularis.

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876 XX. WILBRAND

a b stellt summarisch die Gruppe der Associationsfasern dar~ welche die Zellen oder Zellencomplexe des optischen Wahrnehmungscentrums mit den Erinnerungszellen im optischen Erinnerungsfelde verkniipfen.

bc und c d geben summarisch die Fasergruppe der Fibrae propriar des optischen Erinnerungsfeldes wiedcr, d. h. derjenigen Associationsfasern~ welche die einze!nen optischen Erinnerungszellen oder Zellencomplexe mit einander verbinden.

bd ist die Gruppe der Associationsfasern yon den optischen Erinne- rungszellen nach dem Gyrus angularis.

In unserem Falle hattcn sich also die Verh~iltnisse derartig ge. staltet, dass mit dem intaeten linkshirnigen optischen Wahrnehmungs- eentrum lo W Fig. 4 zwar deutlich gesehen wurde [normale Sehschlirfe (4) S. 365~ normale homonyme reehtsseitigc Gesiehtsfeldh~lften hr G Fig. 4 und Fig. 2], aber dureh Unterbreehung eines grossen Theiles der subcorticalen Associationsfaserung des gleichen Hinterhauptslap- pens eine Erschwerung des Wiedererkennens gesehener Gegenst~nde in der Form yon Seelenblindheit dauernd bewirkt worden war. Die ZerstSrung der Assoeiationsfaserang betraf wahrseheinlich einen Theil der Assosiationsbahnen a b vom optischen Wahrnehmungscentrum lo W

zum linken optischen Eriunerungsfelde l e E , und jener Associations- bahnen b c (Fibrae propriae), welche die einzelnen Abschnitte des optischen Erinnerungsfeldes selbst mit einander verknUpfen.

So konnten also die dureh Vermittelung yon la W deutlich em- pfundenen :NetzhauteindrUeke wegen Zerstiirung eines Theiles der Associationsfaserngruppe a b ihre Erinneruugsbilder nieht erregen, oder es war durch Zerst(Irung eines Theiles der Associationsfasern- gruppe bc der Mechanismus ftir den normalen Ablauf eines grossen Theiles der bis dahin in einem bestimmten Associationsverhaltnisse yon einander abhiingig gewesenen optischen Vorstellungsreih en (Ideen- association) ersehwert, gehemmt und vielfach zerrissen.

Da das optische Wahrnehmungscentrum r e W tier rechten Hemi- sph~ire wegen Zerst~irung des Cuneus und Alteration der Rinde der Fissura ealearina (Fig. 3) nicht sah [Ausfall der homonymen linken Gesichtsfeldhlilften h l G bis auf eine nur Helligkeiten empfindende periphere Zone Fig. 2], bei geschlosseuen Augen aber die Function des optischcn Gedi~ehtnisses der Patientin kaum gestiirt erschien [(7), S. 365; (13), S. 367], so mtissen die Symptome yon Seelenblindheit in diesem Falle lediglich dureh jenen alten Herd unter der Rinde der II. Oecipitalwindung bei -t- Fig. 4 der linken Hemisph~tre bedingt worden sein.

Die bei der Section gefundenen Krankheitsherde in beiden Hin- terhauptslappen sind nun offenbar gleiehzcitig oder in sehr raseher

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Ein Fall von Seelenblindheit und Hemianopsie mit Sectionsbefuad. 377

Aufeinanderfolge entstanden, denn nach Angabe der AngehtMgen dcr Patientin maehte dieselbe in den ersten Woehen ihrer Krankheit den Eindruek einer total Erblindeten [vgl. (1) S. 361]. Diese doppelsei- tige Blindheit im Beginne des Leidens, mit welcher die bei der Sec- tion gefundene Intactheit des linken optischen Wahrnehmungscentrums in seheinbarem Widerspruehe steht, erklRrt sieh jedoeh leieht aus den folgenden Erw~tgungen. Jener alte Herd bei q- Figur 4 unter der RiMe der I. and II. Oecipitalwindung der linken Hemisph~tre hatte, wie so h~iufig in den ersten Wochen der Erkrankung, seine Umgebung durch Druek oder Stauungserscheinungen beeinflusst and dadureh die Function der in seiner Naehbarschaft verlaufenden Seh- strahlungen gehemmt. Als Folge dieses Umstandes konnten yon den homonymen NctzhauthRlften g f und g r f l keine Lichtreize mehr nach dem optisehen Wahrnehmungseentrum in l o W fortgeleitet werden, was sieh kliniseh (als indireete Herderseheinung) dureh einen totalen Ausfall der homonymen reehten Gesiehtsfeldh~ilften h r G (homonyme reehtsseitige Hemianopsie) manifestirte. Je mehr sieh nun in der Folge die dutch den apoplektisehen Anfall gesetzten Ausfallserseheimmgcn auf den eigentliehen Herd in + Figur 4 besehrttnkten, wurde auch die nur behindert, aber nieht zerstSrt gewesene Leitungsf~thigkeit der linken Sehstrahlungen wieder freier.

So konnte ich kurz vor der vSlligen Restitution der homonymen reehten GesiehtsfeldhRlften als letzten Rest jener Beeinflussung noeh einen Ausfall der periphersten Zone des unteren Quadranten, Fig. 2, bei der Gcsichtsfeldaufnahme nachweisen [vgl. (2) S. 362 und (19) S. 369]. Daneben wird wohl aus demselben Grunde der Herd im optischen Wahrnehmungscentrum r e W der rechten Hemisphttre an- fttnglieh einen eompleten und absoluten Ausfall der homonymen links- seitigen Gesichtsfeldh~ilften h lG bewirkt haben, um dann im wei- teren Verlaufe der Beobaehtung (Fig~ I und 2) dauernd die Form einer incompleten, nieht absoluten 1) Hemianopsie [vgl. (20) S. 369] beizu- behalteu. (Die engschrafiirten Partien links unten stellen die erhalten gebliebenen Zonen abgestumpfter Empfindung dar.)

Wie somit in den ersten Wochcn der Erkrankung theils dureh direete ZerstSrung des optisehen Wahrnehmungscentrums, theils durch

'indireete Hemmung seiner Function oder der Leitungsftthigkeit der Sehstrahlungen doppeltseitige homonyme Hemianopsie und damit Er- blindung hervorgerufen worden war [vgl. (1) S. 361], sind in gleieher

1) Bei den nicht absoluten Hemianopsien werden auf der hemianopischen Seite entweder nur Helligkeiten, oder Helligkeiten und Formen, aber keine Farben mehr wahrgenommen.

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheillrunde. II. Bd. 25

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Weise anfanglich die A s s o e i a t i o n s b a h n e n beider Hinterhaupts- lappen ausgiebiger als spiiter in ihrer Function gehemmt gewesen, Denn durch Wirkung auf seine Umgebung war der Functionsausfall der A s s o e i a t i o n s b a h n e n des linken Hinterhauptslappens anf~inglieh ausgiebiger, als der Griisse des eigentlichen Herdes dauernd entspreehen sollte, und dutch Druck, resp. dureh Stauungswirkungen auf die be- naehbarten Hirntheile hatte der Herd im rechten optischen Wahr- nehmungscentrum ebenfalls die Assoeiationsbahnen in diesem Hinter- hauptslappen beeinfiusst und damit die Symptome von Seelenblind- heit p r ~ t g n a n t e r hervortreten lassen [vgl. (3) S. 362].

Kliniseh konnten diese Symptome yon Seelenblindheit selbst- verst~indlich erst mit der Wiederkehr des Sehvermiigens beobaehtet, resp. erkannt werden.

Bei der sp~iteren Beschr~nkung des Funetionsausfalles auf den eigentliehen Herd im optischen Wahrnehmungscentrum der rechten Hemisph~tre wurden die A s s o e i a t i o n s b a h n e n des rechten optischen Erinnerungsfeldes wieder frei, und das optisehe Vorstellungsvermiigen dieser Hemisphare konnte darum wieder unbehindert functioniren.

Wenn ich in meiner frtiheren Arbeit i) tiber dies Thema die Ver- muthung ausgesprochen hatte, die Seelenblindheit sei wohl durch einen Rindenherd im optisehen Erinnerungsfelde der linken Hemi- sph~tre entstanden, so muss dieser Ausspruch nach der Section des Falles dahin beriehtigt werden, dass lcdiglich durch eine ZerstSrung gewisser Associationsbahnen des Hinterhauptslappens die Seelenblind- heit bedingt worden war.

Aueh L i s s a u e r 2) hatte an einem Falle mit Sectionsbefund ge- zeigt, dass Seelenblindheit lediglich dutch eine Zerst~rung gewisser Associationsbahnen des Hinterhauptslappens hervorgerafen werden kiinne. Ob nun die vom optischen Wahrnehmungscentrum nach dem optischen Erinnerungsfelde verlaufenden Fasergruppen a b, Fig. 4, untergegangen waren, oder ein grosser Theil jener Faserung b c, auf deren Bahnen durch Verkniipfung der Erinnerungszellen unter einander die optischen Vorstellungsreihen in ihren individuell eingeschliffenen Associationsverh~tltnissen erregt werden, oder ob beiden Fasergat- tungen dieses Sehieksal zu Theil geworden war, bleibt anatomisch unentschieden~ wiewohl das Letztere der Fall gewesen zu sein seheint. Denn es liegt die Annahme nahe, dass durch Zerstiirung der Bahnen ab, Fig. 4, das Wiedererkennen gewohnter Netzhauteindrticke erschwert

1) Die Seelenblindheit als Herderscheinung. Wiesbaden, J. F. Bergmann. 2) Arch. f. Psych. Bd. XXI.

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Ein Fall yon Seelenblindheit und Hemianopsie mit Sectionsbefund. 379

werde [vgl. (6) S. 365; (8) (9) S. 366; (16) (17) S. 368], w•hrend eine Zcrstiirung eines Theiles der Fasergruppen bc Unterbrechungeu und Stih'ungen in dem Ablaufe gewohnter optiseher Vorstellangs- reihen bewirken miichten in der Art, wie wir sic in der Kranken- geschichte niiher geschildcrt haben [vgl. (10) S. 366; (12) (14) (15) S. 367; (21) S. 369; (22) S. 371].

Im Interesse der richtigen Auffassung der seither gesehilderten Verh~iltnisse erscheint es nothwendig, an dieser Stelle eine knapp ge- fasste, unseren heutigen Anschauungen entsprechende Darstellung tiber den Verlauf der Rctinalerregungcn durch das optische Wahrnehmungs- centrum ins psychische Gebiet hinein zu geben.

Lassen wit zum ersten Male das Bild z. B. einer Glocke in unser Auge fallen, so wird yon der dadurch gereizten hletzhaut die Er- regung auf den optischen Bahnen (Nervus, Traetus, Sehstrahlungen) zu beiden optischcn Wahrnehmungscentren in der Rinde dcr Fissura calcarina fortgctragen. Als psychisches Corrclat zu der durch dieseu Vorgang im optischen Wahrnehmungscentrum selbst bewirkten mole- eul~ircn Erregung tritt das Bild diescr Glocke vor unser Bewusst- sein, wir e m p f i n d e n das Bild, d. h. wit sehen die Glocke.

Die yon der Netzhaut fortwirkende Erregung kommt beim Be- trachten der Glocke aber nieht im optischen Wahrnehmungscentrum zur Ruhe, sondcm verbreitet sich weiter tiber gewisse das optisehe Wahrnehmungsccntrum mit Zellen im optischen Erinnerungsfelde ver- knUpfenden Associationsfasern. Summarisch sind diese Verhiiltnisse im Schema, Fig. 4, dureh a b bezeichnet. In diesen durchlaufenen Bahnen und Zellen hinterl~,tsst nun jcne Erregung eine bleibende Spur: das E r i n n e r u n g s b i l d von jener Glocke, dureh einen Vor' gang, den wit uns physisch etwa als eine Lagever~tnderung der Mo- lektlle yon gcwisscr, allm~thlich durch den Stoffwechsel wieder be- cinfiusster Dauer vorstcllcn kiinnen. Da dieses ,,Deponiren des Erinne- rungsbildes" nun u n b e w u s s t vor sich geht - - denn wir bemerkea bcim Anblick dcr Glocke nicht, dass dieser bildliche Eindruck unscrem Ged~tchtnisse einverleibt wird -- , blcibt, wenn wit nun beim Schlusse der Augcn die Glocke nieht mehr schen und unser Geist sich mit anderen Dingen besch~iftigt, das deponirte Erinnerungsbild vorl~iufi~ latent. Dass dieses ErinnerungsbiId abet wirklich deponirt worden ist, schliessen wir sowohl aus der Thatsache des W i e d e r e r k e n - n e n s der Glocke beim abermaligen Anblick, als auch aus dcm Ver- m(igen, bei gcschlossenen Augen uns das Bild jencr Glocke beliebig wieder vor die Seele ftihren zu k(innen.

Es fragt sich nun, in welcher Weise wit uns die Anlagerung 25*

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uud Reproduction des angelagerten Erinncrungsbildes psyehophysiseh verst~tndlich machen dtirfen.

Dureh das auf der Macula entworfene Bild jener Gloeke und die auf den optisehen Bahnen naeh dem macul~tren Rindenfelde fort- geleitete Erregung wurden zahlreiehe kleinste physiologisehe Ein- heiten~ aus denen wit uns das optisehe Wahrnehmungscentrnm mo- saikartiff zusammengesetzt denken milssen, und die wit kurz mit ,Empfindungszellen" bezeiehnen wollen, in einen Reizzustand ver- setzt, welehem als psyehiseher Parallelvorffang die Empfindung des Sehens der Gloeke entspraeh. Jede Zelle des optisehen E r i n u e - r ungsfeldes, also sehleehtweg jede Erinnerungszelle steht nun dureh Assoeiationsfasern mit alien Empfindungszellen des optisehen W ah r- ne h m u n g s eentrums in Zusammenhanff. (Summariseh ist dieses Ver- haltniss dureh die Linie ab, Fig. 4, ausgedrtiekt.) Da nun im nor- malen Auffe meist die Empfindungszellen des m a e u l ~ t r e n Rinden- feldes in erht~hten Reizzustand versetzt werden, so wird die Erregung dureh das Bild jener Gloeke von den maeu l~ t r en Empfindungszellen auf die gerade freien (nicht im Ver~ndertmgszustande - - latentes Er- inneruuffsbild - - verharrenden) hssociationsbahnen uud dureh diese nach einer noeh freien Erinnerunffszeile tibergeftihrt. Nachdem nun mit dem Sehlusse der Augen das Bild der Gloeke versehwundeu war, hatte sich in den vou dieser Erreffung bertlhrten Associationsbahnen nebst Erinuerungszelle eine bleibende Lagever~tnderung der MolecUle vollzogen. Dutch dieses bleibende Residuum der Erregung: das au- g e l a g e r t e Erinnerungsbild ~ sind nun die betreffende Erinnerungs- zelle und diejenigen Assoeiationsbahnen, welehe ihr das Bild jener Gloeke zugeleitet hatten, ftir die gleiehen und ~thnliehen veto optisehen Wahrnehmungscentrum zugchenden Reize, wie wit uus ausdrtleken, abgestimmt; - - d. h., wird zum zweimn Male das Bild der Gloeke veto optischen Wahrnehmungscentrum gesehen, so durehlituft diese Erregunff die ftir sic abgestimmten, zur Erinnerungszelle ftihrenden Bahnen, und nur diese~ yon Neuem. Als psyehiseher Parallelvorgang ftir diese neue Erregung (dutch welche die anf~tnglich lose Lage- ver~tnderung der MolecUle in den Erinnerunffsbahnen sehon eine festere geworden ist) tritt das Erinnerungsbild der Gloeke zu dem im Wahr- nehmungseentrum empfunden werdenden hinzu. Durch diesen fast gleichzeitig mit dem Sehen erfolgenden Vorgang e r k e n n e n wit die Glocke, als schon einmal wahrgenommen, wi ed er. Je hi~ufiger nun diese Bahnen durch dasselbe oder ein ~thnliches Netzhautbild der Glocke erregt werden, um so fester und dem wieder aasgleiehenden :(verwischenden) Einfiusse des Stoffweehseis widerstehender wird die

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erworbenr Lagerungsver~inderung der Molectile andauern, es wird unvergiinglichcr in unserer Erinnerung klebcn und bet neucn Er- regungen dcr gleichcn Bahnen immer sch~irfer und deutlicher her- vortrcten.

Bis dahin haben wir also den Act des Sehens und Erkennens, die uns pathologisch als getrenntc Vorgiinge crscheinen, normal aber moist so schnell verlaufen, dass Sehen und Erkenncn eins ist, psycho- physisch geschildert, l~Iun fliesscn abcr dem optischen Vorstellungs- vermt~gen, d. h. dcr Fiihigkeit, Erinnerungsbildcr aus dem latcnten Zustande in den bewussten zu erheben, Erregungen yon zwei Haupt- richtungen zu:

1. Wie wir geschen habcn, yon dem optischen Wahrnchmungs- centrum, und

2. auf dem Wege der Idecnassociation yon anderen Rindenge- bietcn her. Denn die Gcsammtheit der optischen Erinnerungszellen ist sowohl unter einander (summarisch dutch b c, Fig. 4, wieder- gegebcn), als auch mit anderen, nicht dem optischen Erinnerungsfeldc zugch(irigen Rindengebicten nctzartig dutch Associationsbahnen vcr- knUpft (summarisch durch bd undcd , Fig. 4, wiedergegeben). Dcnn yon jcner Glocke werden in analoger Weise und gleichzeitig mit den optischen Erinnerungsbildern auch in anderen Sinncssphitren Erinne- rungseindrUcke deponirt, so z. B. die Klangcrinncrungen im Klang- erinncrungsfelde, die TastcindrUcke im Rindengebiete far die Tast- vorstellungcn. SinneseindrUcke, die abet gleichzeitig empfunden wet- den, tretcn mit ihren Erinncrungsbildern in gegenseitige Association und far den hier in Redo stchcnden Gegcnstand ,,Glocke" in der Art, class sowohl dutch den Tastcindruek, als durch den Glockenklang und vice versa die optische Vorstellung ,,Glocke" geweekt werden kann. Es werden also so vicl qualitativ versehiedene Sinnesvorstel- lungen yon der Glocke deponirt, als durch diesclbe tiberhaupt ver- sehiedenc Sinnesorgane crregt wcrdcn k(innen. Die Gesammtheit allot so dcponirtcn SinneseindrUcke eincs Gegenstandes bildet nun den B e g r i f f desselben. So besteht also der Begriff ,,Glocke" aus drei qualitativ verschiedcnen Sinnescomponenten, aus den dahin gc- h(irigen Vorstellungen des Tast-, des Klang- und des optischen Er- innerungsfcldes.

Wir hattcn vorhin erwahnt, dass nach den Associationsgesetzcn gleiche und ~hnliche Sinneseindrticke in der gcschilderten Weise in Association zu cinandcr tretcn. Nan cmpfiingt das Kind yon dcrsclbcn und anderen Glocken eine ganzc Menge durch Association mit ein- ander verkntipfter Einzelbilder. Jcder Sinneseindruck einer Glockr

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erregt, sofern die Erregung ungest~rt verlaufen kann, alle vorher deponirten, wie die Glieder einer Kette zusammenh~tngenden Erinnc- rungsbilder, die successive durch den Verlauf der Erregung ins Be- wusstsein gehoben werden kiinnen.

Nachdem beim Kinde die Bildung des Begriffs im Groben in der beschriebenen Wcise cntwickelt worden war, tritt nun noch das Wor t in Association zu jenem begrifflichen Complexe yon Erinne- rungsbildern. Das Wort bildet gewissermaassen den Schlussring der den Begriff bildenden Kctte von Erinnerungsbildern. In der knappen Fassung des Begriffs dutch das Wort wird unser Denken ausserordent- lich erleiehtcrt, und das Kind macht nun rasch Fortschritte in der /ntelligenz. Spiiterhin lernt es noch, die Buehstaben und Worterinne- rungsbilder im Druek und in den Sehriftzeiehen verschiedener Sprachen zu den gesproehenen Worten und den Begriffen in Association zu bringen, wodurch erzielt wird, dass jeder specielle Sinneseindruck eines Gegenstandes mit dem Begriffe desselben aueh die sprachliche Fassung in Laut, Schrift, Geste und vice versa in Erregung ver- setzt.

Wie wir oben erwi~hnten, werden nach den Associationsgesetzen nicht nur a h n l i e h e , sondern auch g l e i c h z e i t i g oder sehr raseh nach einander aufgenommene Sinneseindrtieke zu einander in Asso- ciation gebraeht. So wurden neben dem Bilde jener Glockc auch yon dem Tische, auf welchem sic stand, und der Person, welehe sic in der Hand bewegte, Erinnerungsbilder deponirt, welehe dutch die Vorstellang jener Glocke ebenfalls wieder geweekt werden. Da nun jener Tiseh und jene PersSnlichkeit, welehe die Glocke in den H~in- den bewegt hatte, ebenfalls wieder mit einem grossen Complexe yon Erinnerungsbildern in Association stehen, und diese wieder mit an- deren u. s. f., so kann entweder auf gr(isseren oder kleineren Um- wegen im Verlauf der Ideen/lssoeiation die Erregung wieder zur Er- weckung der Vorstellung jener Gloeke zurUckkehren, oder es wird dutch eine in der Ideenassociation fortwirkende Erregung eines anderen Sinnesapparates schliesslieh die Vorstellung jener Glocke wieder er- weckt.

Somit haben wir die drei Hauptwege kennen gelernt, auf welehen tin bestimmtes Erinnerungsbild in das Bewusstsein gehoben werden kann :

1. vom optisehen Wahrnehmungscentrum aus auf directem Wege in das optische Erinnerungsfeld hinein;

2. aus dem Gebiete der Ideenassociation, und

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Ein Fall yon Seelenblindheit and Fiemianopsie mit Sectionsbefund. 383

3. durch das gesprochene, gedruckte oder gesehriebene Wort von dem sprachlichen Associationsgebiete her.

Wiihrend nun die Bewegungsvorstellungen far die Lautspraehe und die Schrift, ebenso wie die Worterinnerungskl~inge, ftir gewtihn- lich lediglich in der linken Hemisph~ire deponirt werden, k~nnen wir an Fallen mit Hemianopsie beweisen, dass die op t is chert Erinne- rungsbilder gleichm~issig in beiden Hemisphtiren angelagert sind.

Kehreri wit nun zu unserem Falle wieder zuruck! Aus der obigen Darstellung ist es begreiflich, dass ein Herd,

welcher bei vorgeschrittenen Jahren der Patientin einen Theft der Associationsbahnen des Hinterhauptslappens zerst(irt und dutch Com- bination mit dem Ausfall der entgegengesetzten Gesiehtsfeldhtilften bei offenen Augen Symptome yon Seelenblindheit verursacht hatte, auf die Intelligenz der Patientin im Allgemeinen nur einen geringen Einflass austiben konnte.

Es ertibrigt nun noch, der auff'alligen Erscheinung bier Erw~ih- hung zu than, dass bei einem Falle yon Seelenblindheit, deren Ur- sache auf eine Unterbrechung gewisser Associationsbahnen des Hin- terhauptslappens der l i n k e n Hemisphiire bezogen werden musste, keine, wenigstens andauernden, Symptome yon Alexie [vgl. (5) S. 365] gefunden worden waren. Offenbar hatte der Krankheitsherd die Associationsbahnen b d~ Fig. 4, zwisehen dem optisehen Erinnerungs- felde nnd dem Gyrus angularis, resp. unteren Seheitelliippchen un- verletzt gelassen. Die Erkrankung des Gyrus angularis, resp. des unteren Scheitell~ippchens ist bekanntlieh ftir das Auftreten yon Alexie in hohem Grade bedeutungsvoll. In unserem Falle waren nun nach Ausweis des Sectionsbefundes die Rindencentren dieser Gegend ab- solar intact gewesen.

Da die Function des rechten optischen Wahrnehmungscentrums r 0 W dauernd in einer Weise herabgesetzt war, dass von bier aus keine Buchstabenerinnerungsbilder in roE, dem optischen Erinnerungs- felde derselbeu Hemisphiire, mehr erregt werden konnten, so k(innen die Associationsbahnen yon r o E nach G A der linken Hemisph~ire (sie sind auf Fig. 4 der Einfachheit halber weggelassen) nicht in Betraeht kommen. Dass abet im normalen Zustande auf diesen Bahnen Buch- stabenerinnerungserregungen nach G A zu Zwecken des Lesens ge- langen, hatte ich auf S. 175 meiner oben citirten Arbeit an Fallen mit Sectionsbefund nachgewiesen. - -

Wenn wir noch einmal kurz zusammenstellen, welehe diagnosti- schcn S~itze sich mit grosser Wahrseheinlichkeit aus der Betrachtung dicses Falles ablciten lassen, so dtirfen wir Folgendes anftihren:

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1. Seelenblindheit kann aueh bei Intactheit der Rinde t) des Hinter. hauptslappens, lediglich dureh Zerst(irung gewisser Assoeiationsbahnen desselben, und namentlieh bei Herden, welche nahe unter der Rinde der I. und II. Occipitalwindung ]iegen, hervorgebraeht werden.

2. A n d a u e r n d e Symptome yon Seelenblindheit neben com- pleter homonymer Hemianopsie (oder incompleter, bei welcher nur noch Helligkeiten, aber keine Farben mehr wahrgenommen werden) sind auf eine Erkrankung in b e id e n Hinterhauptslappen zu beziehen. Entweder ist hierbei das corticale optische Wahrnehmungscentrum

d e r einen Hemisph~ire und das cortieale optisehe Erinnerungsfeld der anderen I,iemisph~ire l~idirt, oder die Sehstrahlungen einer I-Iemi- sphare und gewisse Associationsbahnen im Hinterhauptslappen der anderen Hemisph~ire sind durch einen Herd in ihrer Function ge- hcmmt, oder die Rinde des optisehen Wahrnehmungscentrums der einen Hemisphiire und Gruppen yon Associationsfascrn des anderen Hinterhauptslappens und vice versa functioniren nicht.

3. Es stehen das optische Wahrnchmungscentrum und das optische Erinnerungsfeld einer und derse~ben Hemisphere in d i r e e t e r Belation. Es kann, mit anderen Worten, yon dem optischen Wahrnehmungs- centrum der einen Hemisphiire aus das optische Erinnerungsfeld der anderen Hemisph~ire d i r e c t nicht erregt werden. Denn wie wir bei unserem Falle gesehen haben, war bei erhaltenem optischen Wahrnehmungseentrum und Zerstiirung des optischen Rindenfeldes, resp. gewisser Associationsbahnen des Hinterhauptslappens derselben I,iemisphiire das erhalten gebliebene optische Erinnerungsfeld der anderen Hemisph~ire, resp. die Intactheit seiner Associationsbahnen ftir das Wiedererkennen de r yon der anderen Hemisph~ire geschenen Gegenstande ohne Belang.

4. Wenn bei einer doppelseitigen Affection der Sebspblire das optische Erinnerungsfeld einer Hemisphere mit der zugeh(ir~gen Asso- ciationsfaserung normal gcblieben ist, verschwinden bei g e s c hie s- s e n e n Augen die StSrungen im optischen Vorstellungsvermiigen. Denn nun k(innen yon anderen Sinr~esgebieten dieser Hemisphi~re dutch die Ideenassoeiation die optisehen Vorstellungen geweckt werden ~ und ungest(irt weiter verlaufen. - -

Wit hatten oben erw~ihnt, dass die Intaetheit des maeul~iren Rin- denfeldes fiir das eventuelle Hervortreten yon Seelenblindheit yon ganz besonderer Bedeutung sei. In diesem Umstande nun findet auch die auffallige Erscheinung der Coincidenz einer, auf einen e i a h e i t -

1) Die mikroskopische Untersuchung derselben zeigte ein v61tig normales Verhalteu.

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l i c h e n Herd in einer Hemisphttre zu beziehenden, homonymen He- mianopsie mit n i e h t a n d a u e r n d e n Symptomen yon Seelenblind- heit ihre Erklttrung. Wir haben im Vorhergehenden gezeigt, dass bei n i e h t g e s e h l o s s e n e n Augen vorhandene Seelenblindheit, ver- eint mit homonymer tIemianopsie~ auf einen doppelseitigen Herd be- zogen werden mtlsse, und ferner, dass Seelenblindheit bei einseitiger Zerst~rung des optisehen Wahrnehmungseentrums und g e ~ ffn et en Augen gar nieht auftreten k~nne, weil yon dem zerst~rten optisehen Wahrnehmungscentrum keine Erregungen dem optischen Erinnerungs- felde derselben Hemisphiire mehr zuflSssen. Wie erklttren sich dem- nach die Fttlle von homonymer Hemianopsie mit Seelenblindheit, die auf einen einheitliehen Herd in einer Hemisph~tre bezogen werden mUssen? Ich habe einen derartigen Fall aus meiner Praxis auf S. 143 meiner oben citirten Arbeit beschrieben. Solehe homonymen Hemian- opsien sind stets incomplete gewesen, bei denen das maeulare Ge- bier im Gesichtsfelde, also die Gegend um den Fixationspunkt herum, s t e t s intact geblieben war. Bei diesen Fallen s i e h t zwar das ma- culttre Rindenfeld (nehmen wir an a in l oW, Fig. 4), der die in- complete Hemianopsie erzeugende Herd hatte aber als indireetes Herd- symptom auf einen Theil der Bahnen a b gedrlickt und dadureh auf der einen Hemisph~tr e zugleieh mit den Symptomen der homonymen Hemianopsie auch Erscheinungen yon Seelenblindheit erzeugt. Der Patient sah mit der macul~tren Region beider Hemisphttren deutlieh, und w~ihrend in der anderen Hemisphttre das Fortwirken der Er- regung auf das optisehe Vorstellungsverm~gen unbehindert vor sich ging, riefen dieselben Gegenstttnde in der aifieirten Hemisph~ire einen fremdartigen Eindruck hervor, undes war auf dieser Seite zugleich das Fortwirken der Erregung auf die Bahnen des optisehen Vorstel- lungsverm~)gens behindert.

Ein solcher Zustand muss selbstverst~ndlieh fur das be~roffene Individuum, zumal wenn er plStzlieh auftritt, etwas sehr Befremd- liehes und Verwirrendes haben. Waren dabei die Assoeiationsbahnen naeh dem optisehen Erinnerungsfelde nur indirect dureh Druek ge- hemmt, so werden in einem derartigen Falle die Symptome yon Seelenblindheit aueh rasch wieder verschwinden; war daneben abet wirklieh ein Theil jener Associationsbahnen zerst~rt, dann ist woh! anzunehmen, dass auch hier mit der Zeit das den Gesichtseindrtleken anhaftende Fremdartige dutch EingewShnung allm~thlieh sieh wieder verlieren werde, weil eben die Function tier anderen Hemisphttre eine v~llig normale geblieben ist.

Kehren wit nun noch einmal zu unserem Falle zurtlck, so k~nnten

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Manche gewillt scion, das fiber den Fixationspunkt in die ausgefallene Gesichtsfeldhalfte hineinragende maculare Gebiet, also Alles, was vom Gesichtsfeld um F herum (Fig. 1) nach links hintiberragt, als einen

~von dem erhalten gebliebenen macularen Rindenfelde des rechten optischen Wahrnehmungscentrums abhangigen Gesichtsfeldrest zu be- trachten. Dieser Umstaud miisstc die Erklarung des Falles in hohem Grade compliciren, weil damit macul~ire Netzhauteindrticke dem rech- ten optisehen Wahrnehmungscentrum (was ja nach unseren Angaben ausgefallen war) zugeflossen w~iren. Dass dem nun nieht so ist, und dieser Theil des Gesichtsfeldes als ,,tlberschUssige Gesichtsfeld- pattie" zur Orgauisation des linkcn optischen Wahrnchmungscentrums gehiirt, habe ich weitlaufig in meiner Arbeit ,,Die hcmianopischen Gesichtsfeldformen und das optische Wahrnehmungscentrum", Wies- baden, J. F. Bergmann (S. 13) auseinandergesetzt und kann fiiglich bier darauf verweisen.

Auch bcztiglich der Hemianopsiefrage bietet unser Fall grosses Interesse.

H e n s c h e n in Upsala hat in einer noch im Druck befindlichen Arbeit, in dercn Druckbogen mir die Einsicht gestattet wary das ganze klinische Beobachtungsmaterial fiber Hemianopsie kritisch be- arbeitet und ist zu dem Schlusse gekommen, das optische Wahr- nehmungsccntrum masse in die Rinde der Fissura calcarina verlegt werden.

Die Section unseres Falles hatte ergeben, dass das hintere Ende des Cuneus v(illig zerstiJrt war und die Rinde der Fissura calcarina eine leichte obcrfliichliche Ver~nderung zeigte. Die homonymen linken Gesichtsfeldhiilften licssen nun grosse absolute Defecte und im unteren Quadranten eine periphere Zone zwar erhalten gebliebenen Gesichtsfeldcs (Fig. 1 und 2) erkenncn, in welcher jedoch nur Hellig- keiten, aber keine Formen und Farben mehr erkannt wordcn waren.

In eincr frtiheren Arbeit 1) hatte ich darauf hingewiesen, dass an verschiedene Schichten des optischen Wahrnehmungscentrums h~chst wahrscheinlich das Vermiigen, Hclligkeiten, Formen und Far- ben zu empfinden, gebunden sei, und dicse Fiihigkeiten vonder Lei- tung an aufw~rts in der eben genannten Reihenfolge zu erregen w~iren. Vielleicht mag jener oberfiachlichen Alteration der Rinde der Fissura calcarina die Thatsache zur Last zu legcn sein, dass nur noch Hel-

1) Ophthalm. Beitrage zur Diagnose der Gehirnkrankheiten. Wiesbaden, J. F. Bergmann.

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ligkeiten in den erhalten gebliebenen Theilen der linken Gesiehts- feldh~tlften empfunden wurden.

Es kann nieht in Abrede gestellt werden, dass innerhalb nieht absoluter hemianopiseher Gesiehtsfelddefeete eine abgestumpfte Em- pfindung fur Formen und Farben als Folge des Druekes sines benaeh- batten Krankheitsherdes auf die Sehstrahlungen hervortreten k~nne, bach Analogie, wie wit dies beztlglieh des Verh~tltnisses tier Seh- seh~irfe und Farbenempfindung zur Ausdehnung des Gesiehtsfeldes bei der Sehnervenatrophie oder ~thnliehen Proeessen vom Sehnerven aus beobaehten. Eine derartige Alteration der Sehstrahlungen kann jedoeh nieht d a u e r n d in der besehriebenen Weise im Gesiehtsfelde hervortreten, sondern die optisehe Leitung wird entweder mit der Zeit v~llig wieder frei, oder die betroffenen Fasern gehen zu Grunde, u n d e s entsteht somit ein absoluter Gesiehtsfelddefeet, an dessert Grenze sieh vielleieht eine sehmale Zone abgestumpfter Empfindung dauernd erhalten mtiehte. Far einen relativ s o g ro s s e n Bezirk abet, wie er sieh in dem unteren Quadranten der linken Gesiehtsfeldh~tlften der Figur 1 und 2 darstellt, darf jener Ausfall der Formed- und Farbenempfindung doeh wohl nur auf die Erkrankung der Rinde des optisehen Wahrnehmungseentrums bezogen werden.