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08 Moskauer Deutsche Zeitung Nr. 1 (320) Januar 2012 Russland ist ein großes Land mit sehr vie- len ethnischen Gruppen. Das ist, überspitzt ausgedrückt, der gemeinsame Nenner, auf den sich die russischen und europäischen Experten nach fast drei Jahren Analyse des Status Quo beim Schutz von Minderheiten- sprachen in Russland einigen konnten. Die Situation ist reichlich kompliziert: In der Russischen Föderation leben über 170 eth- nische Gruppen, von denen jede ihre eigene Sprache und Kultur hat und diese mehr oder weniger vehement gegen Sprache und Kultur der Mehrheitsbevölkerung verteidi- gt. Als Russland vor fünfzehn Jahren dem Europarat beigetreten ist, verpflichtete es sich unter anderem, die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen zu ratifizieren. Unterzeichnet wurde sie 2001, ratifiziert ist sie bisher aber noch nicht. Deshalb wurde vom Europarat, der Europä- ischen Union und dem russischen Ministe- rium für Regionale Entwicklung das Joint Programme „Minderheiten in Russland: Sprachen, Kultur, Medien und Zivilgesell- schaft entwickeln“ ins Leben gerufen. Von 2009 bis 2011 wurde in drei Pilotregionen, der Republik Mordwinien, der Republik Dagestan und der Region Altai, untersucht, ob es Russland möglich ist, die Charta zu ratifizieren und in Kraft zu setzen. Russland verfügt bereits über Verfas- sungsgrundsätze und weitere Gesetze (siehe Kasten), die sowohl Bestand als auch Ent- wicklung der Minderheitensprachen sichern sollen, die jedoch nicht in allen Regionen des größten Flächenstaates der Welt gleich gut umgesetzt sind. Mit der Charta des Europarates soll ein über nationale Grenzen hinausgehender Vertrag zum Schutz von Minderheitensprachen geschlossen werden. Von 25 Staaten wurde sie bereits ratifiziert, unter ihnen Deutschland, Bosnien-Herze- gowina und die Ukraine. Neben dem Ziel, allgemein gültige Normen zu setzen, sieht die Charta ein Überwachungsverfahren vor, wonach alle drei Jahre von einem Sach- verständigenausschuss überprüft wird, ob der Vertragsstaat das Abkommen anwendet und die Regelungen einhält. Im Dezember wurde beispielsweise Österreich, das die Charta 2001 ratifiziert hatte, vom Europa- rat gerügt, nicht in ausreichendem Umfang zweisprachigen Schulunterricht in Deutsch und Slowenisch anzubieten. Bei der Abschlusskonferenz des Joint Pro- grammes, die im November in Moskau stattfand, wurden von der russischen Seite vor allem zwei Probleme bei der Ratifizie- rung der Charta genannt: aus über 170 Min- derheitensprachen diejenigen auszuwählen, die, zusätzlich zum allgemeingültigen zwei- ten Teil der Charta, im dritten Teil aus- drücklich erwähnt werden sowie die unter- schiedliche Behandlung von autochthonen und eingewanderten Völkern. Auch inner- halb der russischen Expertengruppe besteht Uneinigkeit, ob Deutsch als Minderheiten- sprache oder als Migrantensprache ange- sehen wird. Der Definition des Europarates zufolge sind Sprachen von Zuwanderern nicht durch die Charta geschützt. Dass die Russlanddeutschen, deren Vor- fahren vor knapp 250 Jahren nach Russland kamen, nicht mehr als Migranten anzusehen sind, stellte unter anderem Mahulena Hof- mannowa, Mitglied des Expertenkomitees des Europäischen Rates, im Gespräch mit der Moskauer Deutschen Zeitung klar. Und sie sagt: „Die Ratifizierung der Charta ist eigentlich eine technische Frage, die unnö- tig politisiert worden ist.“ Russland müsse die Charta ratifizieren, es habe sich bereits beim Beitritt zum Europarat dazu verpflich- tet. Das Argument, Russland habe bereits eine sehr gute Gesetzgebung im Bereich des Minderheitenschutzes, das von der rus- sischen Seite oft ins Spiel gebracht wird, lässt sie nicht gelten: „Gerade weil Russland schon so ein hohes Niveau beim Schutz für Minderheitensprachen hat, würde eine Ratifizierung der Charta die Situation nicht drastisch ändern und die Politik nicht dazu zwingen, viele neue Regelungen umzuset- zen.“ Allerdings würde die Sprachpolitik Russlands durch eine Ratifizierung der Charta besser kontrollierbar. Ein Punkt, der Befürchtungen auf der russischen Seite weckt, der aber Hofmannowa zufolge auch Chancen eröffnet: „Russland würde mit der Charta auch selbst die Möglichkeit gewin- nen, den Schutz der russischen Sprache in Europa zu fördern.“ Durch den Meinungsaustausch zwischen Experten des Europarates, der EU und russischen Experten ist aller Meinung nach ein Verständnis für die jeweils andere Seite entstanden. Russland hat die Folgen der Einführung der Charta erkannt und die europäischen Experten die russlandspezi- fischen Herausforderungen. Genau diese betont Sergej Sokolowskij, Mitglied im russischen Expertenteam und Dozent am Institut für Ethnologie und Anthropolo- gie der Russischen Akademie der Wis- senschaften: „In Russland gibt es mehr Minderheitensprachen als in der ganzen Europäischen Union.“ Bevor die Charta ratifiziert werden könne, müssten erst alle Minderheitensprachen in allen russischen Regionen untersucht werden, um ihren Entwicklungsstand einschätzen zu können. Und auch er sieht ein großes Problem in der Auswahl der Sprachen, die im dritten Teil der Charta explizit erwähnt werden: „Wenn eine Sprache in die Charta aufge- nommen wird und eine andere nicht, dann wird es Probleme und Konflikte geben. Die Republik Tatarstan beispielsweise ist schon lange dafür, die Charta anzuwenden. Aber nicht, um die tatarische Sprache zu schüt- zen, sondern damit in den Gebieten, wo baschkirische Dialekte gesprochen werden, auf Tatarisch unterrichtet wird. So entste- hen Konflikte.“ Auf keinen Fall dürfe die Auswahl der Sprachen willkürlich sein, sagt auch Hof- mannowa. Russland könne selbst entschei- den, wie viele Minderheitensprachen im dritten Teil erwähnt werden – zwei, 20 oder 50. Es gäbe mehrere Ansätze für eine Aus- wahl, beispielsweise eine quantitative, wel- che die Sprachen hervorhebt, die von einer bestimmten Anzahl an Menschen gespro- chen werden; oder es könnten die Repu- bliksprachen sein, wobei diese ja ohnehin schon am stärksten geschützt seien. Bei der Abschlusskonferenz in Moskau erklärte die russische Seite, das Experten- team habe Unvollkommenheiten in der eigenen Sprachpolitik entdeckt; gleichzei- tig habe Russland aber allen Grund, stolz auf sich zu sein. Nicht nur die bedeu- tende Anzahl an Minderheitensprachen, sondern auch der kulturelle Hintergrund der ethnischen Minderheiten werde schon jetzt durch die russischen Gesetze berück- sichtigt. Anpassungsbedarf sah Wladimir Sorin, stellvertretender Direktor des Insti- tuts für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, vor allem bei mehrsprachigen Kindergärten und dem Schulunterricht. Es bleibt der Eindruck, dass keine der bei- den Seiten so wirklich weiß, wie Russland, seine ethnischen Minderheiten und die Charta des Europarates zusammenfinden sollen. Die Ratifikation war laut Etienne Claeye, Leiter der Kooperation zwischen der EU und Russland, ohnehin nicht das Ziel des dreijährigen Joint Prorammes. Es gehe darum, nun in einer zweiten Phase weiter zusammenzuarbeiten und im Dialog miteinander zu bleiben. Zunächst soll die Untersuchung, die bis- her in drei Regionen stattfand, auf ganz Russland erweitert werden; eine Idee, die auch Hofmannowa für sinnvoll hält. Man habe dann einen guten Überblick. Und: „Wenn das abgeschlossen ist, ist die Ratifi- zierung nur noch ein kleiner Schritt.“ Zwei bis drei Jahre könne das allerdings dauern. Diese Aussage bestätigt das russische Mini- sterium für Regionale Entwicklung. Die Untersuchung der drei Pilotregionen sei bei Weitem nicht ausreichend, die Strukturen seien so unterschiedlich, dass nun weitere Analysen erforderlich seien, bevor über eine Annahme der Charta entschieden werden könne. Und das erfordere Zeit, in jedem Falle mehr als ein Jahr. Russland will nun auf eigene Faust untersuchen, wie es um den Schutz der Minderheitensprachen im Land steht. Die Expertise der europä- ischen Experten sei hilfreich gewesen und man werde weiterhin eng zusammenarbei- ten. Aber nun könne man als eigenstän- diger Akteur weitermachen. Sokolowskij: „Es wäre merkwürdig, wenn wir jemandem aus dem Ausland bräuchten, der uns immer daran erinnert, was wir umsetzen können und was nicht.“ Deutschland hat sieben Jahre gebraucht, um von der Unterzeichnung der Charta zu ihrer Ratifikation zu kommen. Noch ist nicht absehbar, wie viele Jahre Russland dafür brauchen wird. Und ob am Ende des Prozesses wirklich eine Ratifizierung durch die russische Staatsduma steht. Gesetzgebung zum Schutz der nationalen Minderheiten in Russland In Russland gibt es neben den Regelungen der Verfassung auch eine zusätzliche Gesetzgebung, die sich unmittelbar mit den nationalen Minderheiten befasst. Mit der Rahmenkonvention für den Schutz der nationalen Minderheiten des Europarates, die Russland 1998 ratifiziert hat, und nach der Verfassung der Russischen Föderation, verabschiedet im Dezember 1993, werden allen in Russland lebenden Völkern die Prinzipien der Gleichheit und Selbstbestimmung garantiert. Offiziell werden sie als „nationale Minderheiten“ oder „einheimische kleinere Völker“ und „kleinere ethnische Gemeinschaften“ bezeichnet. Die Rechte auf das Land und andere Naturschätze werden in Artikel 9 der Verfassung als „Basis für das Leben der Völker" beschrieben. Auch das Recht auf eine traditionelle Lebensweise wird durch diese Gesetze geschützt. Von 2001 bis 2004 wurden weitergehende Gesetze zum Schutz der Minderheiten verabschiedet sowie bereits bestehende Gesetze verbessert. Nationale Minderheiten dürfen ihre Sprache sprechen, sie weiterentwickeln, haben ein Recht auf Schulunterricht und Universitätskurse in dieser Sprache und das Recht, ihre Kultur und ihre Traditionen auszuleben; das legt das föderale Gesetz für die Sprachen der Völker in der Russischen Föderation fest. Wie es in der Realität aussieht, ist eine andere Sache; in über 170 Sprachen Schulunterricht anzubieten, ist ein hehres Ziel, das bisher nicht erreicht ist. 2002 wurde festgelegt, dass das kyrillische Alphabet Grundlage aller Schriften der Minderheitensprachen sein soll. Andere Schriftzeichen können durch zusätzliche Gesetze der einzelnen Republiken erlaubt werden. Das föderale Gesetz zur offiziellen Sprache in der Russischen Föderation von 2005 lässt eine Verwendung anderer, nicht russischer Sprachen in der inoffiziellen Öffentlichkeitssphäre zu, wobei in der offiziellen Kommunikation das Russische weiterhin obligatorisch ist. Während des Joint Programms mit den Experten des Europarates war die russische Gesetzgebung gründlich analysiert und als prinzipiell mit der europäischen Charta vergleichbar anerkannt worden. Die Gesetze seien gut zusammengestellt und durchdacht, das Problem bestehe nur in ihrer konkreten Umsetzung, erklärt Sergej Sokolowskij, Mitarbeiter des Institus für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Wenn die heute bestehende Gesetzgebung vollständig umgesetzt und angewandt würde, bräuchten die Minderheitensprachen in Russland keinen zusätzlichen Schutz. Natalia Gubko POLITIK Eine Charta für 170 Sprachen Europarat und Russland einigten sich in drei Jahren nicht über den richtigen Weg im Minderheitenschutz Beim Beitritt zum Europarat im Jahr 1996 verpflichtete sich Russland zu einer Ratifizie- rung der Europäischen Charta für Minderheitensprachen. Nun haben Experten des Europa- rates, der EU und der Russischen Föderation drei Jahre lang die Situation der Minderheiten in drei Regionen Russlands untersucht. Zu einem gemeinsamen Standpunkt sind sie trotz Analyse, Meinungsaustausch und gegenseitigem Verständnis nicht gekommen. Von Kathrin Aldenhoff primamedia.ru Die indigenen Völker des hohen Nordens leben auf viele Regionen Russlands verteilt. Das macht es besonders schwer, ihre Sprachen und Traditionen zu schützen. E G Russland besteht aus 83 Gebietseinheiten, darunter 21 Republiken, neun Kreise, 46 Gebiete, die beiden föderalen Städte Moskau und St. Petersburg, vier autonome Kreise und das autonome jüdische Gebiet. 26 von ihnen sind ethnisch definiert, wie beispielsweise Kalmückien, wo die Mehrheit der Bewohner den Kalmücken, einem mongolischen Volk mit buddhistischem Glauben angehört, das seit dem 17. Jahrhundert im südlichen Wolgagebiet leben. Dort ist Kalmückisch neben dem Russischen offizielle Amtssprache. Insgesamt leben in Russland über 170 ethnische Gruppen, die ethnischen Russen machen den aktuellen Bevölkerungsstatistiken zufolge knapp 80 Prozent der Bevölkerung aus, die größte ethnische Gruppe sind mit knapp vier Prozent die Tataren. 45 registrierte Gruppen bilden allein die indigenen Völker des hohen Nordens, Sibiriens und des fernen Ostens aus. Die insgesamt nur 275 000 Personen leben in 27 Regionen.

Eine Charta für 170 Sprachen

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Artikel über die Implementierungsversuche der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Russland. Veröffentlicht in der Deutschen Zeitung in Moskau

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08 M o s k a u e r D e u t s c h e Z e i t u n g N r . 1 ( 3 2 0 ) J a n u a r 2 0 1 2

Russland ist ein großes Land mit sehr vie-len ethnischen Gruppen. Das ist, überspitzt ausgedrückt, der gemeinsame Nenner, auf den sich die russischen und europäischen Experten nach fast drei Jahren Analyse des Status Quo beim Schutz von Minderheiten-sprachen in Russland einigen konnten. Die Situation ist reichlich kompliziert: In der Russischen Föderation leben über 170 eth-nische Gruppen, von denen jede ihre eigene Sprache und Kultur hat und diese mehr oder weniger vehement gegen Sprache und Kultur der Mehrheitsbevölkerung verteidi-gt. Als Russland vor fünfzehn Jahren dem Europarat beigetreten ist, verpflichtete es sich unter anderem, die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen zu ratifizieren. Unterzeichnet wurde sie 2001, ratifiziert ist sie bisher aber noch nicht. Deshalb wurde vom Europarat, der Europä-ischen Union und dem russischen Ministe-rium für Regionale Entwicklung das Joint Programme „Minderheiten in Russland: Sprachen, Kultur, Medien und Zivilgesell-schaft entwickeln“ ins Leben gerufen. Von 2009 bis 2011 wurde in drei Pilotregionen, der Republik Mordwinien, der Republik Dagestan und der Region Altai, untersucht, ob es Russland möglich ist, die Charta zu ratifizieren und in Kraft zu setzen.

Russland verfügt bereits über Verfas-sungsgrundsätze und weitere Gesetze (siehe Kasten), die sowohl Bestand als auch Ent-wicklung der Minderheitensprachen sichern sollen, die jedoch nicht in allen Regionen des größten Flächenstaates der Welt gleich gut umgesetzt sind. Mit der Charta des Europarates soll ein über nationale Grenzen hinausgehender Vertrag zum Schutz von Minderheitensprachen geschlossen werden. Von 25 Staaten wurde sie bereits ratifiziert, unter ihnen Deutschland, Bosnien-Herze-gowina und die Ukraine. Neben dem Ziel, allgemein gültige Normen zu setzen, sieht die Charta ein Überwachungsverfahren vor, wonach alle drei Jahre von einem Sach-verständigenausschuss überprüft wird, ob der Vertragsstaat das Abkommen anwendet und die Regelungen einhält. Im Dezember wurde beispielsweise Österreich, das die Charta 2001 ratifiziert hatte, vom Europa-rat gerügt, nicht in ausreichendem Umfang

zweisprachigen Schulunterricht in Deutsch und Slowenisch anzubieten.

Bei der Abschlusskonferenz des Joint Pro-grammes, die im November in Moskau stattfand, wurden von der russischen Seite vor allem zwei Probleme bei der Ratifizie-rung der Charta genannt: aus über 170 Min-derheitensprachen diejenigen auszuwählen, die, zusätzlich zum allgemeingültigen zwei-ten Teil der Charta, im dritten Teil aus-drücklich erwähnt werden sowie die unter-schiedliche Behandlung von autochthonen und eingewanderten Völkern. Auch inner-halb der russischen Expertengruppe besteht

Uneinigkeit, ob Deutsch als Minderheiten-sprache oder als Migrantensprache ange-sehen wird. Der Definition des Europarates zufolge sind Sprachen von Zuwanderern nicht durch die Charta geschützt.

Dass die Russlanddeutschen, deren Vor-fahren vor knapp 250 Jahren nach Russland kamen, nicht mehr als Migranten anzusehen sind, stellte unter anderem Mahulena Hof-mannowa, Mitglied des Expertenkomitees des Europäischen Rates, im Gespräch mit der Moskauer Deutschen Zeitung klar. Und

sie sagt: „Die Ratifizierung der Charta ist eigentlich eine technische Frage, die unnö-tig politisiert worden ist.“ Russland müsse die Charta ratifizieren, es habe sich bereits beim Beitritt zum Europarat dazu verpflich-

tet. Das Argument, Russland habe bereits eine sehr gute Gesetzgebung im Bereich des Minderheitenschutzes, das von der rus-sischen Seite oft ins Spiel gebracht wird, lässt sie nicht gelten: „Gerade weil Russland schon so ein hohes Niveau beim Schutz für Minderheitensprachen hat, würde eine Ratifizierung der Charta die Situation nicht drastisch ändern und die Politik nicht dazu zwingen, viele neue Regelungen umzuset-zen.“ Allerdings würde die Sprachpolitik Russlands durch eine Ratifizierung der Charta besser kontrollierbar. Ein Punkt, der Befürchtungen auf der russischen Seite weckt, der aber Hofmannowa zufolge auch Chancen eröffnet: „Russland würde mit der Charta auch selbst die Möglichkeit gewin-nen, den Schutz der russischen Sprache in Europa zu fördern.“

Durch den Meinungsaustausch zwischen Experten des Europarates, der EU und russischen Experten ist aller Meinung nach ein Verständnis für die jeweils andere Seite entstanden. Russland hat die Folgen der Einführung der Charta erkannt und die europäischen Experten die russlandspezi-fischen Herausforderungen. Genau diese betont Sergej Sokolowskij, Mitglied im russischen Expertenteam und Dozent am Institut für Ethnologie und Anthropolo-gie der Russischen Akademie der Wis-senschaften: „In Russland gibt es mehr Minderheitensprachen als in der ganzen Europäischen Union.“ Bevor die Charta ratifiziert werden könne, müssten erst alle Minderheitensprachen in allen russischen Regionen untersucht werden, um ihren Entwicklungsstand einschätzen zu können. Und auch er sieht ein großes Problem in der Auswahl der Sprachen, die im dritten Teil der Charta explizit erwähnt werden: „Wenn eine Sprache in die Charta aufge-nommen wird und eine andere nicht, dann wird es Probleme und Konflikte geben. Die Republik Tatarstan beispielsweise ist schon lange dafür, die Charta anzuwenden. Aber nicht, um die tatarische Sprache zu schüt-

zen, sondern damit in den Gebieten, wo baschkirische Dialekte gesprochen werden, auf Tatarisch unterrichtet wird. So entste-hen Konflikte.“

Auf keinen Fall dürfe die Auswahl der Sprachen willkürlich sein, sagt auch Hof-mannowa. Russland könne selbst entschei-den, wie viele Minderheitensprachen im dritten Teil erwähnt werden – zwei, 20 oder 50. Es gäbe mehrere Ansätze für eine Aus-wahl, beispielsweise eine quantitative, wel-che die Sprachen hervorhebt, die von einer bestimmten Anzahl an Menschen gespro-chen werden; oder es könnten die Repu-bliksprachen sein, wobei diese ja ohnehin schon am stärksten geschützt seien.

Bei der Abschlusskonferenz in Moskau erklärte die russische Seite, das Experten-team habe Unvollkommenheiten in der eigenen Sprachpolitik entdeckt; gleichzei-tig habe Russland aber allen Grund, stolz auf sich zu sein. Nicht nur die bedeu-tende Anzahl an Minderheitensprachen, sondern auch der kulturelle Hintergrund der ethnischen Minderheiten werde schon jetzt durch die russischen Gesetze berück-sichtigt. Anpassungsbedarf sah Wladimir Sorin, stellvertretender Direktor des Insti-tuts für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften, vor allem bei mehrsprachigen Kindergärten und dem Schulunterricht.

Es bleibt der Eindruck, dass keine der bei-den Seiten so wirklich weiß, wie Russland, seine ethnischen Minderheiten und die Charta des Europarates zusammenfinden sollen. Die Ratifikation war laut Etienne Claeye, Leiter der Kooperation zwischen der EU und Russland, ohnehin nicht das Ziel des dreijährigen Joint Prorammes. Es gehe darum, nun in einer zweiten Phase weiter zusammenzuarbeiten und im Dialog miteinander zu bleiben.

Zunächst soll die Untersuchung, die bis-her in drei Regionen stattfand, auf ganz Russland erweitert werden; eine Idee, die auch Hofmannowa für sinnvoll hält. Man habe dann einen guten Überblick. Und: „Wenn das abgeschlossen ist, ist die Ratifi-zierung nur noch ein kleiner Schritt.“ Zwei bis drei Jahre könne das allerdings dauern. Diese Aussage bestätigt das russische Mini-sterium für Regionale Entwicklung. Die Untersuchung der drei Pilotregionen sei bei Weitem nicht ausreichend, die Strukturen seien so unterschiedlich, dass nun weitere Analysen erforderlich seien, bevor über eine Annahme der Charta entschieden werden könne. Und das erfordere Zeit, in jedem Falle mehr als ein Jahr. Russland will nun auf eigene Faust untersuchen, wie es um den Schutz der Minderheitensprachen im Land steht. Die Expertise der europä-ischen Experten sei hilfreich gewesen und man werde weiterhin eng zusammenarbei-ten. Aber nun könne man als eigenstän-diger Akteur weitermachen. Sokolowskij: „Es wäre merkwürdig, wenn wir jemandem aus dem Ausland bräuchten, der uns immer daran erinnert, was wir umsetzen können und was nicht.“

Deutschland hat sieben Jahre gebraucht, um von der Unterzeichnung der Charta zu ihrer Ratifikation zu kommen. Noch ist nicht absehbar, wie viele Jahre Russland dafür brauchen wird. Und ob am Ende des Prozesses wirklich eine Ratifizierung durch die russische Staatsduma steht.

Gesetzgebung zum Schutz der nationalen Minderheiten in RusslandIn Russland gibt es neben den Regelungen der Verfassung auch eine zusätzliche Gesetzgebung, die sich unmittelbar mit den nationalen Minderheiten befasst.

Mit der Rahmenkonvention für den Schutz der nationalen Minderheiten des Europarates, die Russland 1998 ratifiziert hat, und nach der Verfassung der Russischen Föderation, verabschiedet im Dezember 1993, werden allen in Russland lebenden Völkern die Prinzipien der Gleichheit und Selbstbestimmung garantiert. Offiziell werden sie als „nationale Minderheiten“ oder „einheimische kleinere Völker“ und „kleinere ethnische Gemeinschaften“ bezeichnet. Die Rechte auf das Land und andere Naturschätze werden in Artikel 9 der Verfassung als „Basis für das Leben der Völker" beschrieben. Auch das Recht auf eine traditionelle Lebensweise wird durch diese Gesetze geschützt.

Von 2001 bis 2004 wurden weitergehende Gesetze zum Schutz der Minderheiten verabschiedet sowie bereits bestehende Gesetze verbessert. Nationale Minderheiten dürfen ihre Sprache sprechen, sie weiterentwickeln, haben ein Recht auf Schulunterricht und Universitätskurse in dieser Sprache und das Recht, ihre Kultur und ihre Traditionen auszuleben; das legt das föderale Gesetz für die Sprachen der Völker in der Russischen Föderation fest. Wie es in der Realität aussieht, ist eine andere Sache; in über 170 Sprachen Schulunterricht anzubieten, ist ein hehres Ziel, das bisher nicht erreicht ist.

2002 wurde festgelegt, dass das kyrillische Alphabet Grundlage aller Schriften der Minderheitensprachen sein soll. Andere Schriftzeichen können durch zusätzliche Gesetze der einzelnen Republiken erlaubt werden.

Das föderale Gesetz zur offiziellen Sprache in der Russischen Föderation von 2005 lässt eine Verwendung anderer, nicht russischer Sprachen in der inoffiziellen Öffentlichkeitssphäre zu, wobei in der offiziellen Kommunikation das Russische weiterhin obligatorisch ist.

Während des Joint Programms mit den Experten des Europarates war die russische Gesetzgebung gründlich analysiert und als prinzipiell mit der europäischen Charta vergleichbar anerkannt worden. Die Gesetze seien gut zusammengestellt und durchdacht, das Problem bestehe nur in ihrer konkreten Umsetzung, erklärt Sergej Sokolowskij, Mitarbeiter des Institus für Ethnologie und Anthropologie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Wenn die heute bestehende Gesetzgebung vollständig umgesetzt und angewandt würde, bräuchten die Minderheitensprachen in Russland keinen zusätzlichen Schutz.

Natalia Gubko

P O L I T I K

Eine Charta für 170 SprachenEuroparat und Russland einigten sich in drei Jahren nicht über den richtigen Weg im Minderheitenschutz Beim Beitritt zum Europarat im Jahr 1996 verpflichtete sich Russland zu einer Ratifizie-rung der Europäischen Charta für Minderheitensprachen. Nun haben Experten des Europa-rates, der EU und der Russischen Föderation drei Jahre lang die Situation der Minderheiten in drei Regionen Russlands untersucht. Zu einem gemeinsamen Standpunkt sind sie trotz Analyse, Meinungsaustausch und gegenseitigem Verständnis nicht gekommen.

Von Kathrin Aldenhoff

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Die indigenen Völker des hohen Nordens leben auf viele Regionen Russlands verteilt. Das macht es besonders schwer, ihre Sprachen und Traditionen zu schützen.

E!"#$%&"' G()**'# $# ()%%+,#-Russland besteht aus 83 Gebietseinheiten, darunter 21 Republiken, neun Kreise, 46 Gebiete, die beiden föderalen Städte Moskau und St. Petersburg, vier autonome Kreise und das autonome jüdische Gebiet. 26 von ihnen sind ethnisch definiert, wie beispielsweise Kalmückien, wo die Mehrheit der Bewohner den Kalmücken, einem mongolischen Volk mit buddhistischem Glauben angehört, das seit dem 17. Jahrhundert im südlichen Wolgagebiet leben. Dort ist Kalmückisch neben dem Russischen offizielle Amtssprache. Insgesamt leben in Russland über 170 ethnische Gruppen, die ethnischen Russen machen den aktuellen Bevölkerungsstatistiken zufolge knapp 80 Prozent der Bevölkerung aus, die größte ethnische Gruppe sind mit knapp vier Prozent die Tataren. 45 registrierte Gruppen bilden allein die indigenen Völker des hohen Nordens, Sibiriens und des fernen Ostens aus. Die insgesamt nur 275 000 Personen leben in 27 Regionen.