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Eine internationale Sprachlernklasse am
GymnasiumOrganisation, Erfolge und Herausforderungen am Beispiel des Kreisgymnasiums Halle
(Westf.)
Bartos Lehmann
Universität Paderborn, 24.10.2018, 18-20 Uhr
Verlauf des Vortrages
1 Gesetzliche Bestimmungen – Erlasse2 Unsere Schülerinnen und Schüler3 Rahmenbedingungen und Unterrichtsorganisation4 Curriculum5 Diagnostik6 Helfersystem7 Über den Unterricht hinaus8 Herausforderungen9 Erfolge10 Zukunftsperspektiven: Durchgängige Sprachbildung
„Es gibt ganz gewiss keine andere Sprache, die so unordentlich und systemlos daherkommt und dermaßen jedem Zugriff entschlüpft. [...] Es gibt zehn Wortarten, und alle zehn machen Ärger. Ein durchschnittlicher Satz in einer deutschen Zeitung ist eine erhabene, eindrucksvolle Kuriosität; er nimmt ein Viertel einer Spalte ein; er enthält sämtliche zehn Wortarten – nicht in ordentlicher Reihenfolge, sondern durcheinander; er besteht hauptsächlich aus zusammengesetzten Wörtern, die der Verfasser an Ort und Stelle gebildet hat, sodass sie in keinem Wörterbuch zu finden sind – sechs oder sieben Wörter zu einem zusammengepackt, und zwar ohne Gelenk und Naht [...] und danach kommt das Verb, und man erfährt zum ersten Mal, wovon die ganze Zeit die Rede war; und nach dem Verb hängt der Verfasser noch ‚haben sind gewesen gehabt haben geworden sein‘ oder etwas dergleichen an.“
Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Mark_Twain#/media/File:MarkTwain.LOC.jpg am 17.10.2018Mark Twain: Gesammelte Werke in zehn Bänden.
Wie bringt funktioniert Deutsch-Unterricht ohne gemeinsame
Referenzsprache?Ein Experiment...
1 Gesetzliche Bestimmungen und Erlasse
BASS vom 01.05.2014„Unterricht für
Schülerinnen und Schüler mit
Zuwanderungs-geschichte“
BASS = “Bereinigte amtlicheSammlung von Schulvorschriften”
BASS vom 01.05.2014
BASS-Ergänzung vom
28.06.2016
BASS-Ergänzung vom
28.06.2016
2 Unsere Schülerinnen und Schüler
Unsere IVO-Klassen2015-2018 IVO II 2015-2018 IVO I ab 2018 Regelunterricht +
Sprachfördergruppeca. 16 SuS ca. 16 SuS ca. 10 SuS
Sprachförderung auf Niveau A1 Sprachförderung auf Niveau A2/B1 Niveaus A1-B1
Lehrwerk: “Logisch!“ Lehrwerk: “Logisch!“ diverse Materialien, u.a. „Mein Deutschheft“
fester Klassenverband mit Klassenlehrer
fester Klassenverband mit Klassenlehrer
Regelklasse + IVO-Team als Unterstützung
Schulsozialarbeit Schulsozialarbeit Schulsozialarbeit
ca. 30 Stunden Unterricht ca. 30 Stunden Unterricht ca. 10 Stunden Deutsch-Unterricht
Was sind die Vor- und Nachteile der jeweiligen Systeme?
Herkunft der IVO-Schülerinnen und Schüler (von insg. 67)
Syrien Irak Mazedonien Afghanistan Albanien Serbien
Rumänien Armenien Polen Bulgarien Türkei Bosnien-Herzegowina
Mongolei Litauen Eritrea Turkmenistan Tadschikistan Russland
Syrien (24)
Irak (9)Mazedonien (5)
Afghanistan (4)
Albanien (4)
Herkunftssprachen der IVO-Schülerinnen und Schüler
Arabisch Kurdisch Mazedonisch Dari Albanisch Türkisch
Polnisch Serbien Rumänisch Armenisch Russisch Bulgarisch
Tadschikish Bosnisch Mongolisch Litauisch Tigrinya (Eritrea) Turkmenistan
Arabisch (23)
Kurdisch (7)Mazedonisch (6)
Dari (4)
Albanisch (4)
3 Rahmenbedingungen und Unterrichtsorganisation
Stunden- und Patenklassenpläne: IVO-Plan
Kernfächer: Deutsch (Grammatik, Literatur, Wortschatz, Textproduktion, Sprechen etc.), Mathe, Englisch, Sport, teilweise Politik
Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag
1 DaZ Ar E Bs M Bs ÜFM En Sp En
2 DaZ Ar E Bs M Bs ÜFM En Sp En
3 DaZ En 7c D Du Ku Br M Gz PK Slr
4 DaZ En 7c D Du PK Slr M Gz E Bs
5 DaZ Mb Re Lw DaZ Mb E Bs DaZ Le
6 DaZ Le Re Lw DaZ Mb DaZ Ar DaZ Le
Stunden- und Patenklassenpläne: PatenklasseMontag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag
1 8b Mathe Hz 8b Sport Ta M Bs ÜFM En 8b Deutsch Du
2 8b Mathe Hz 8b Sport Ta 8b Philosophie Mb ÜFM En 8b Mathe Hz
3 8b Sport Ta 8b Deutsch Du 8b Deutsch Du M Gz 8b ÜFM Hz
4 8b Sport Ta 8b Deutsch Du 8b Deutsch Du M Gz 8b Englisch Bs
5 DaZ Mb 8b Mathe Hz DaZ Mb 8b Deutsch Du 8b Englisch Bs
6 8b Englisch Bs 8b Mathe Hz DaZ Mb DaZ Ar DaZ Le
7 Mittagspause
8 8b Kunst Nk
9 8b Kunst Nk
4 Curriculum
Was soll unterrichtet werden?
Curriculum
(Kern-)Lehrplan
Kompetenzstandards (z.B. GeR)
evtl. sogar Stoffverteilungsplan
Prinzipien der Unterrichtsgestaltung: Kompetenzorientierung
• Handlungsorientierung• Authentische kommunikative Situation• Grammatik hat dienende Funktion• Aufgabenorientierung
+ Vorbereitung auf den Regelunterricht (Textsorten, Arbeitsmethoden, Operatoren, etc.)
Hausinternes Curriculum der IVO-Klassen
• Eigenentwurf nach Inspiration durch die Lehrpläne z.B. aus Sachsen und Bayern
5 Diagnostik
Von uns eingesetzte Diagnose-Tools
• C-Tests• Grießhabers „Profilanalyse“, z.B. in Verbindung mit• „Sturz ins Tulpenbeet“
C-Tests (nach Baur et al. 2013)
Das Leben in der SteinzeitSchon vor Tausenden von Jahren lebten Menschen auf der Erde. Sie benutzten Werkze________ aus Stein. Di________ Zeit heißt Steinze________ . Die Steinzeitmenschen jag________ oft kleine Ti________. Manchmal jagten s________ riesige Mammuts. D________ Menschen sammelten au________ Früchte, Kräuter, Wur________ und Pilze. S________ waren Jäger u________ Sammler. Um e________ Mammut zu tö________ , mussten viele Män________ gemeinsam jagen. S________ benutzten zum Ja________ lange Speere a________ Holz. An d________ Spitzen waren sch________ Feuersteine. Die Mens________ hatten Kleidung aus Fellen. Sie nähten die Felle aus Leder streifen zusammen. Zum Nähen benutzten sie Nadeln aus Knochensplittern. Die Steinzeitmenschen machten eine Entdeckung: Sie schlugen Feuersteine aneinander und machten Feuer. Nun konnten sie sich wärmen und das Fleisch braten.Textbeispiel aus: Baur et al. 2013
“Sturz ins Tulpenbeet“ (nach Gantefort/Roth 2008)
Sprachprofilanalyse (nach Grießhaber 2005)
Stufe 6 Petra hat das von ihr gekaufte Buch ausgelesen. à erweitertes Partizipialattribut
Stufe 5 Petra hat das Buch, das sie sich gekauft hat, ausgelesen. à Insertion eines Nebensatzes
Stufe 4 ..., weil er so komisch spricht. à Nebensatz mit VerbletztstellungStufe 3 Dann bin ich mit dem Zug gefahren. à InversionStufe 2 Ich möchte heute eine Pizza kaufen. à Separation finiter und infiniter
ElementeStufe 1 Ich weiß. à Finitum an zweiter PositionStufe 0 Haus geh. à keine Satzstruktur, bruchstückhaft
6 Helfersystem
7 Über den Unterricht hinaus
8 Herausforderungen
Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen
• Kulturelle Missverständnisse• Elternarbeit• Finanzielle Lage der Familien• Schnittstelle mit dem Regelunterricht (Patenklassen)• Nachteilsausgleiche• Durchgängige Sprachbildung in allen Fächern
9 Erfolge
Was haben wir erreicht?
• aktuell 7 Schülerinnen und Schüler am Gymnasium fest eingeschult
• davon 3 in der Oberstufe
• davon 1 Schüler kurz vor dem Abitur (Q2)
• viele erfolgreiche Übergänge in andere Schulformen
• sozialer Anschluss für viele (Chor, Orchester, Sanitätsdienst, Klassenfahrten)
• Sensibilisierung des Kollegiums
• Kooperation mit anderen Schulen
Eine Schriftprobe einer Schülerin der EF
10 Zukunftsperspektiven: Durchgängige Sprachbildung
...drei didaktische Herangehensweisen (Beese et al. 2014)
BICS und CALP Alltags- und Bildungssprache (nach Cummins 1979)
CALP(konzeptionelle Schriftlichkeit)
BICS(konzeptionelle Mündlichkeit)
BICS (basic interactive communicativeskills): Altagssprache, Sprache über Situationen im Alltag, Konversationen mit Freunden, meist mündlich
CALP (cognitive academic languageproficiency): Sprache, die nötig ist, um über Gegenstände des Unterrichts zu sprechen, abstrakter- Aneignung von Textstrukturen,
Schriftsprachlichkeit
Beispiele für BICS und CALP
Da ist er. – Der da? – Ja, genau, hab ich doch gesagt. – Gut, komm, geh‘n wir da hin.
Zwei Flächen sind kongruent (deckungsgleich), wenn sie durch Parallelverschiebung, Drehung, Spiegelung oder auch aus den verschiedenen Verknüpfungen dieser Abbildungen, also zum Beispiel erst Drehung dann Spiegelung, ineinander überführt werden können.
Gestern war ich mit meiner Freundin im Stadtpark. Da haben wir auch noch andere Leute getroffen. Es war eigentlich ganz lustig, aber Jan war nicht da, ich hätte ihn gern gesehen.
The water moves from one reservoir to another, such as from river to ocean, or from theocean to the atmosphere, by the physical processes of evaporation, condensation, precipitation, infiltration, runoff, and subsurface flow.
30.04.2018 Bartos Lehmann, Andrea Mathieu, Cem Özel
‘The water cycle‘
Air currents move clouds around the globe, and cloud particles collide, grow, and fall out of the sky as precipitation. Some precipitation falls as snow andcan accumulate as ice caps and glaciers, which can store frozen water forthousands of years. Snowpacks in warmer climates often thaw and meltwhen spring arrives, and the melted water flows overland as snowmelt. Most precipitation falls back into the oceans or onto land, where, due togravity, the precipitation flows over the ground as surface runoff. A portionof runoff enters rivers in valleys in the landscape, with streamflow movingwater towards the oceans. Runoff, and groundwater seepage, accumulateand are stored as freshwater in lakes.
Quelle: The USGS Water Science School. https://water.usgs.gov/edu/watercyclesummary.html abgerufen am 09.03.2018
Beispiel aus der Schulpraxis: Physik
fachspez. Abkürzungen
verkürzte Nebensatz-konstruktion;
UnpersönlichkeitFachterminus
Einführung Fachterminus
Fachterminus
Kompositum
fachspez. Abkürzungen
erweiterte Nominalphrase
Fachterminus, Abkürzung Funktions-
verbgefüge
Formel FachterminusEinführung
FachterminusFachterminuskomplexe
Attribute
Nominalisierung
komplexe Attribute anstelle von
Attributsätzen
komplexe Attribute
Beispiel aus der Schulpraxis: Mathematik
Alltagssprache Bildungssprache Fachsprache
frei nach Cummins 1986, Maier/Schweiger 1999, Koch/Österreicher 1985
„Gestern war Schlussverkauf und ich war in meinem Lieblings-Klamottenladen shoppen. Bei der Hose hab ich 10,- Euro Prozente bekommen. Und weil ich direkt bezahlt hab‘, hat der Verkäufer mir nochmal 3,-Euro darauf gegeben. Dann hab‘ ich 77,50 bezahlt.“
“Im Schlussverkauf wurde auf die UVP einer Hose 10,- Euro Rabatt gewährt und wegen Barzahlung wurden auf den neuen Preis 3% nachgelassen. So betrug der Verkaufspreis schließlich 77,50 Euro.“
„Wird der Grundwert um 10,- Euro und um weitere 3% vermindert, ist der Prozentwert 77,50 Euro.“
...noch ein Beispiel aus dem Mathematikunterricht
„Bei einem Brand in einer Firma entnimmt die Feuerwehr das Löschwasser einem quaderförmigen Bassin. Das zwei Meter tiefe Wasserreservoir ist zehn Meter breit und 50 m lang.Wie lange kann die Feuerwehr mit zehn Schläuchen und der zur Verfügung stehenden Wassermenge löschen, wenn die Pumpe pro Minute 400 Liter in jeden Schlauch drückt?“aus: „Fokus Mathematik“ Hrsg. von Lütticken/Uhl (2013), S. 174, Nr. 19.
Was sind hier mögliche „Stolpersteine“ (nicht nur) für eingeschulte IVO-Schülerinnen und -Schüler?
aus: Kniffka/Neuer (2008)
Unterrichtsprinzip: „Scaffolding“ – Ein Gerüst
Bildquelle: http://view.stern.de/de/rubriken/architektur/architektur-hochhaus-baustelle-dubai-burj-khalifa-dubai-original-2231651.html
Phasen von Scaffolding(nach Gibbons 2002 und Kniffka 2012, 215-219)
1. Bedarfsanalyse
Ermittlung des Sprachbedarfs aus fachlicher Sicht (z.B. Lehrmaterialanalyse)
2. Ermittlung des Lernstands der Schülerinnen und Schüler
Spezifische Sprachstandserfassung der Klasse und individueller SuS
3. Unterrichtsplanung
- Vorwissen aktivieren
- Auswahl geeigneter Zusatzmaterialien
- Sequenzierung geeigneter Lernaufgaben und –formen sowie Darstellungsformen in aufsteigender Schwierigkeit (reicher Input, metasprachlicher, sowie metakognitiver Austausch)
4. Unterrichtsinteraktion
verlangsamt, authentisch, aktivierend, modellierend, kontextualisierend
Makro-Scaffolding
Mikro-Scaffolding
Ein Beispiel eines Scaffolding-Arbeitsblattes
Quelle: https://www.kreis-lippe.de/media/custom/2001_5202_1.PDF?1418911228
Ein Beispiel eines Scaffolding-Arbeitsblattes
Quelle: https://mathe-sicher-koennen.dzlm.de/mskfiles/uploads/docs/MSK_Berlin_Broschuere_KF_Sprache_20140321.pdf
Bildquelle: https://de.freepik.com/vektoren-kostenlos/quot-danke-quot-in-verschiedenen-sprachen-hintergrund_988283.htm
QuellennachweiseChristoph Gantefort/Hans-Joachim Roth (2008): Ein Sturz und seine Folgen. In: Thorsten Klinger/Knut
Schwippert/Birgit Leiblein (Hrsg.): Evaluation im Modellprogramm FörMig. ( = FörMig Edition Band 4.) Münster: Waxmann, S. 29-50.
Cummins, James (1980): The construct of language proficiency in bilingual education. In: Alatis, J. E. (ed.) Current Issues in Bilingual Education. Washington: Georgetown University Press, 81-103
Beese, M. et al. (2014): Sprachbildung in allen Fächern. München: Langenscheidt.
Gibbons, P., 2002. Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching Second Language Learners in theMainstream Classroom. Portsmouth, NH: Heinemann.
Grießhaber, Wilhelm (2005): Sprachstandsdiagnose im Zweitspracherwerb: Funktional-pragmatische Fundierung der Profilanalyse. URL: http://spzwww.uni-muenster.de/griesha/pub/tprofilanalyse-azm-05.pdf.
Kohl, Norbert (Hrsg.) (1985): Mark Twain: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Ausgewählt und zusammengestellt von Norbert Kohl. Band 4: Bummel durch Europa. Deutsch von Gustav Adolf Himmel. Frankfurt am Main (Insel) 1985. S. 527–545. — Die Übersetzung wurde von Michael Schneider revidiert und ergänzt.
Kniffka, G., Neuer, B., (2008): „Wo geht‘s hier nach ALDI? – Fachsprachen lernen im kulturell heterogenen Klassenzimmer.“ In: Budke, A. (Hrsg.) Interkulturelles Lernen im GeographieUnterricht. Potsdam: Universitätsverlag, S. 121-135. http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2008/2451.