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893 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 73 (2004), Heft 11 Fachthemen Vorgestellt werden der Entwurf und die Realisierung einer zweigeschossigen Glaskon- struktion, die konsequent auf Stahltrag- und Sicherungselemente verzichtet. Stützen und Träger sollten die Transparenz der Hülle nicht beeinträchtigen und sind deshalb aus Glas. Die Gesamttragwirkung wird über die Verklebungen der Bauelemente untereinan- der und mit dem angrenzenden Baukörper gewährleistet. Die Einleitung örtlicher Lasten in den Rand der Wandscheiben ohne zusätzliche konstruktive Elemente wird numerisch und experimentell untersucht. Dieser Experimentalbau dient dazu, konstruktive Lösungen zu testen und fundierte Aus- sagen zur Nutzung und zu den Kosten zu erhalten. An All-Glass construction – possibilities and problems. Presented are the design and realisation of a consequent self bearing glass construction without steel framing or sa- fety elements. No column or girder should derogate the transparent appearance of the face, which lead to realizing those parts in glass as well. The structural elements are glued together. Glue also connects the glass structure with the neighbouring building. Local loading at the bearing glass plates without any additional constructive elements is tested numerically and experimentally. The experimental construction was built to test constructive solutions and to gain sub- stantiated experiences in the usage and erection of such kind of buildings. Fenster, die keine intensiven Träger- konstruktionen benötigen. Das Ange- bot ist hier noch sehr beschränkt. Die Zielstellung und Herausfor- derung für das hier vorgestellte Ob- jekt bestand darin, an ein Gebäude, Baujahr 1910, eine zweietagige Glas- konstruktion anzugliedern, die konse- quent auf Stahltrag- und Sicherungs- elemente verzichtet. Stützen und Trä- ger sollten die Transparenz der Hülle nicht beeinträchtigen (Bild 2). Ihre Stabilität erhält die Konstruktion al- lein aus den Verklebungen der Ele- mente untereinander und mit dem vorhandenen Baukörper. Für die beteiligten Planer und ausführenden Betriebe stellte dies ei- nen Experimentalbau dar, der kon- struktive Lösungen testet und fun- dierte Aussagen zu Zustimmungen im Einzelfall und Preisen erlaubt. Frank Werner Eine Vollglaskonstruktion – Möglichkeiten und Probleme 1 Motivation Glas wird heute als konstruktiver Werkstoff im Bauwesen schon fast extensiv genutzt. Die Anwendungs- grenzen sind noch nicht erreicht, wo- bei die Anzahl von Konstruktionen mit Erklärungsbedarf sowohl aus Sicht der Gestaltung als auch Gebrauchs- tauglichkeit bzw. Sicherheit zunimmt. Die ästhetischen Möglichkeiten, die schnörkellose Glaskonstruktionen bieten, machen diesen Werkstoff in- teressant für Kombinationen mit älte- ren Bauten. Hier existieren sehr ge- lungene Synthesen [1], die die techni- schen und gestalterischen Möglich- keiten von Glasbauelementen zeigen. An vielen Bauten fällt auf, daß materialgerechten Konstruktionsde- tails wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Konstruktivistische Entwurfs- ideen und Sicherheitsbedenken füh- ren zum extensiven Einsatz von Edel- stahlblechen, -schrauben u. ä. (Bild 1). Ausgehend von den Material- eigenschaften des Glases sollten örtli- che bzw. konzentrierte Lasteinleitun- gen wie Verschraubungen mit Stahl- laschen, Punktlager u. ä. eigentlich vermieden werden. Wichtig sind da- neben Ausbauelemente wie Türen und Bild 1. Örtliche Sicherung von Glas- trägern und Stützen Fig. 1. Local safety elements for beams and columns Bild 2. Entwurf eines Hausanbaus mit Balkon Fig. 2. Design of an extension of a building with a balcony

Eine Vollglaskonstruktion – Möglichkeiten und Probleme

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893© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Stahlbau 73 (2004), Heft 11

Fachthemen

Vorgestellt werden der Entwurf und die Realisierung einer zweigeschossigen Glaskon-struktion, die konsequent auf Stahltrag- und Sicherungselemente verzichtet. Stützen undTräger sollten die Transparenz der Hülle nicht beeinträchtigen und sind deshalb ausGlas. Die Gesamttragwirkung wird über die Verklebungen der Bauelemente untereinan-der und mit dem angrenzenden Baukörper gewährleistet. Die Einleitung örtlicher Lastenin den Rand der Wandscheiben ohne zusätzliche konstruktive Elemente wird numerischund experimentell untersucht.Dieser Experimentalbau dient dazu, konstruktive Lösungen zu testen und fundierte Aus-sagen zur Nutzung und zu den Kosten zu erhalten.

An All-Glass construction – possibilities and problems. Presented are the design andrealisation of a consequent self bearing glass construction without steel framing or sa-fety elements. No column or girder should derogate the transparent appearance of theface, which lead to realizing those parts in glass as well. The structural elements areglued together. Glue also connects the glass structure with the neighbouring building.Local loading at the bearing glass plates without any additional constructive elements istested numerically and experimentally. The experimental construction was built to test constructive solutions and to gain sub-stantiated experiences in the usage and erection of such kind of buildings.

Fenster, die keine intensiven Träger-konstruktionen benötigen. Das Ange-bot ist hier noch sehr beschränkt.

Die Zielstellung und Herausfor-derung für das hier vorgestellte Ob-jekt bestand darin, an ein Gebäude,Baujahr 1910, eine zweietagige Glas-konstruktion anzugliedern, die konse-quent auf Stahltrag- und Sicherungs-elemente verzichtet. Stützen und Trä-ger sollten die Transparenz der Hüllenicht beeinträchtigen (Bild 2). IhreStabilität erhält die Konstruktion al-lein aus den Verklebungen der Ele-mente untereinander und mit demvorhandenen Baukörper.

Für die beteiligten Planer undausführenden Betriebe stellte dies ei-nen Experimentalbau dar, der kon-struktive Lösungen testet und fun-dierte Aussagen zu Zustimmungen imEinzelfall und Preisen erlaubt.

Frank Werner

Eine Vollglaskonstruktion – Möglichkeiten und Probleme

1 Motivation

Glas wird heute als konstruktiverWerkstoff im Bauwesen schon fastextensiv genutzt. Die Anwendungs-grenzen sind noch nicht erreicht, wo-bei die Anzahl von Konstruktionenmit Erklärungsbedarf sowohl aus Sichtder Gestaltung als auch Gebrauchs-tauglichkeit bzw. Sicherheit zunimmt.

Die ästhetischen Möglichkeiten,die schnörkellose Glaskonstruktionenbieten, machen diesen Werkstoff in-teressant für Kombinationen mit älte-ren Bauten. Hier existieren sehr ge-lungene Synthesen [1], die die techni-schen und gestalterischen Möglich-keiten von Glasbauelementen zeigen.

An vielen Bauten fällt auf, daßmaterialgerechten Konstruktionsde-tails wenig Aufmerksamkeit geschenktwird. Konstruktivistische Entwurfs-ideen und Sicherheitsbedenken füh-ren zum extensiven Einsatz von Edel-stahlblechen, -schrauben u. ä. (Bild 1).

Ausgehend von den Material-eigenschaften des Glases sollten örtli-che bzw. konzentrierte Lasteinleitun-gen wie Verschraubungen mit Stahl-laschen, Punktlager u. ä. eigentlichvermieden werden. Wichtig sind da-neben Ausbauelemente wie Türen und

Bild 1. Örtliche Sicherung von Glas-trägern und StützenFig. 1. Local safety elements for beamsand columns

Bild 2. Entwurf eines Hausanbaus mitBalkonFig. 2. Design of an extension of abuilding with a balcony

2 Konzeption2.1 Gestaltung

Das vorhandene Gebäude sollte ander Nord-Ost-Seite durch den Abrißder Außenwand geöffnet und mit ei-nem transparenten Anbau vergrößertwerden. Vorzusehen war ein darüberliegender Balkon. Die wesentlichenAbmessungen ergaben sich aus einemvorhandenen Fundament und derStockwerkshöhe. Ziel war eine einfa-che, glatte Konstruktion unter Aus-nutzung optimaler Glas-Elementgrö-ßen und weitestgehenden Verzicht aufStahlelemente zur Lastübertragungund -sicherung. Der Balkonbodensollte keine direkt begehbare Glas-fläche bilden, um auf mattierte Glä-ser verzichten zu können. Damit wirdzwar der Einsatz eines Stahl-Gitter-rostes notwendig, aber der Preis istdeutlich günstiger, und der Gebrauchs-wert (Rutschen, Begehbarkeitsgefühlusw.) steigt. Die Wasserführung mußtean der Hauswand erfolgen, um dieGestaltung der Front nicht zu stören.

Es ergab sich folgendes Konzept:– drei Frontelemente 1,4 m × 3,9 m,da die Fertigungsmaße der Glasschei-ben begrenzt sind– Front- und Seitenelemente schlie-ßen den zu schaffenden geschlosse-nen Wohnraum (Isolierglas) ein undlaufen in Brüstungselementen für denBalkon aus.– Die Größe der Seitenelemente wirddurch die Türkonstruktion (rahmen-los) definiert.

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– zwei gegenüberliegende Türen ausGründen der Nutzung und Lüftung;keine weiteren Lüftungselemente, daauf dem Markt keine rahmenlosenFenstersysteme verfügbar waren– Wasserführung an der Hauswand,Neigung der Dachscheibe nur 3 Grad,um den Raumeindruck nicht zu sehrzu beeinflussen– zwei Stützen-Riegel-Halbrahmensenkrecht zur vorhandenen Haus-wand zur Aufnahme der Dachlastenund Windkräfte – Stützen jeweils neben den Türenan den Seitenwänden zur Aufnahmeder Windkräfte und Einwirkungenaus dem Schließen der Türen – Die Dachfläche wird aus drei kla-ren Glaselementen gebildet, eine be-gehbare Nutzfläche aus Edelstahl-Gitterrosten wird über den Dach-scheiben angeordnet.– Die Gitteroste werden mit einemdeutlichen Abstand zur Glasflächeaufgeständert, damit kann die durch-sichtige Glasfläche mit einer inter-essante Schattenbildung versehenwerden, und der Wasserablauf undSelbstreinigung werden nicht gestört(Bild 5).

– Der Handlauf als Abschluß derBrüstungsscheiben des Balkons wirdals tragfähige Rahmenkonstruktionausgebildet und mit den Brüstungs-scheiben verklebt.– Die Türelemente werden in denHauswänden verankert und besitzenkeine aus der Glasebene hervorste-hende Tragkonstruktion.

Die konsequente Nutzung vonGlas wird lediglich mit den Gitterro-sten und dem Handlauf unterbrochen.Beide Funktionen sind nur unter nichtzu vertretendem Aufwand anders zugestalten und stören die Gesamtkon-zeption kaum.

2.2 Konstruktion

Alle Elemente sollten möglichst so be-messen und konstruiert werden, daßsich aufwendige experimentelle Zulas-sungsversuche vermeiden lassen. Diefrühzeitige Zusammenarbeit mit demzuständigen Landesprüfamt ermög-lichte eine effektive planerische Ar-beit.

Der Einsatz von ESG wurde aufdie Elemente beschränkt, die wirklichexponiert sind. Die raumabschlie-ßenden Wände wurden nach derTRAV [2], Kat. A, Tabelle 2, Zeile 4, ge-staltet (Bild 4):– innen: 8 mm ESG– 20 mm SZR– außen: 2 × 6 mm SPG mit 0,76 mmPVB.

Damit sind auch die Forderun-gen nach [2] für die Brüstung des Bal-kons (Kat. C1, Tab. 2, Zeile 11) erfüllt.

Träger und Stützen wurden jeweilsaus drei ESG-Scheiben (t = 3 × 12 mm)zusammengesetzt, wobei die mittlereScheibe aus Gründen des Kanten-schutzes (Stiele) und der Auflagerung(Riegel auf Stiel) deutlich zurückge-setzt wurde. Dies führte auch zu einemsehr positiven gestalterischen Effekt.

Die Breiten der Riegel und Stieleergaben sich i. w. aus technologi-schen Forderungen der Herstellungmit L/h > 10. Die statisch erforder-lichen Abmessungen sind wesentlichkleiner, so daß hier deutliche Trag-reserven, selbst bei Ausfall von zweiScheiben, vorhanden sind.

DerAnschluß Riegel – Stiel wurdenach mehreren Versuchen sehr einfachgestaltet. Eine Momentenübertragungwar nicht gefordert, da die verklebtenWandscheiben in der Lage sind, alleHorizontallasten abzutragen. Damit

Bild 4. Anordnung der Wand- undDachelementeFig. 4. Arrangement of wall and roofelements

Bild 5. Auflagerung der Gitterroste aufdie Deckenträger und SeitenscheibenFig. 5. Support of the gird on the raftersand side panels

Bild 3. Schematische Darstellung derGesamtkonstruktionFig. 3. Schematic illustration of thestructure

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konnte auf die Realisierung einer ech-ten Zapfenverbindung verzichtet wer-den. Sie wäre auch relativ störanfällig,oder besser bruchgefährdet, bei derVer-klebung der jeweils drei ESG-Scheiben,wenn die mittlere Scheibe wesentlichlänger als die beiden anderen ist. Diemittlere Scheibe der Stiele steht an derStirnseite 10 mm über, und die Nut desRiegels, hier steht die mittlere Scheibezurück, wie oben beschrieben, nimmtden Stiel auf. Distanzelemente ausPTFE sorgen für die Begrenzung derPressung und die notwendigen Verfor-mungswege (Bild 6).

Die Lagerung der Riegel an dervorhandenen Konstruktion und derStützen auf den Fundamenten erfolgteüber PTFE-Elemente in Edelstahl-taschen.

Die Materialqualitäten und -dik-ken der Dachscheiben (L = 2,5 m undB = 1,4 m) wurden nach Festigkeits-berechnung festgelegt mit:– außen: 8 mm SPG– innen: 2 × 6 mm SPG mit 0,76 mmPVB– 20 mm SZR

Die Verklebung aller Wand- undDeckenelemente erfolgte mit einemSiliconkleber und den Fugenparame-tern [3] e = 6 mm und hc = 12 mm, sodaß die notwendigen Verformungenmöglich und alle Lastabtragungenüber diese Nähte gewährleistet sind.

Der Kleber-Werkstoff war wiefolgt ausgewiesen:– τ10% = 0,18 N/mm2;

τmax = 0,61 N/mm2

– τd = 0,61/6 N/mm2 = 0,10 N/mm2

– E = 0,9 N/mm2; αGlas = 9 × 10–6/KDie Auflagerung der Gitterroste

auf die Glaskonstruktion erfordertespezielle Lösungen, da keine zusätz-

lichen Tragelemente eingebaut wer-den sollten (Bild 5). Der Anschluß andie Riegel erfolgt über einfache Dop-pel-T-Stücke, deren Untergurt zwi-schen Riegeloberkante und Dach-scheibe eingeklebt wurde. Die vorhan-dene Dicke der Klebenähte und dieBreite der Riegel (> 36 mm) erlaubtdiese Konstruktionsvariante ohne Pro-bleme. Zusätzliche PTFE-Elementesorgen für die notwendige Lastvertei-lung unter den Profilstücken.

An den Seitenwänden mußte die Auflagerung auf den Innenschei-

ben erfolgen. Bild 7 zeigt die ge-wählte konstruktive Lösung. Da die-ses Detail bisher ohne Beispiel ist unddie praktische Wirkung der konzen-trierten Lasteinleitung nur schwerabzuschätzen war, wurden umfang-reiche Berechnungen und experi-mentelle Untersuchungen realisiert(s. Abschnitt 3.2).

2.3 Lasten und Bemessung

Die normativen Wind-, Schnee- undStabilisierungslasten lassen sich überdie Wandscheiben aufgrund der lan-gen Klebefugen ohne Probleme ab-tragen. Die Nutzlast des Balkonswurde auf 10 kN/m2 festgelegt, um soweit auf der sicheren Seite zu liegen,daß auf Tragfähigkeitsversuche ver-zichtet werden konnte.

Für die Riegel und Stützen – ein-seitig gehaltene Flachelemente – er-folgte eine geometrisch nichtlineareBiegetorsionsanalyse. Dabei fand dieVerklebung zwischen den Scheiben(PVB) keine Berücksichtigung, undes wurden jeweils nur zwei Scheibenals tragend angesetzt. Da diese Bau-teile aus konstruktiven Gründen rela-tiv hoch sein mußten, stellte dieNutzlast kein Problem dar.

Der Riegel-Stützen-Übergangwurde detailliert untersucht, um dienotwendige Dicke und Länge der ela-stischen Übertragungselemente (PTFE)bestimmen zu können (Bild 8).

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Bild 6. Ende eines Stieles mit Distanz-element; Stiel noch nicht mit der Fas-sade verklebtFig. 6. Heading section of columnwith distance piece, column still notbonded to wall panel

Bild 7. Element für die Auflagerungder Gitterroste auf die inneren Schei-ben der WandelementeFig. 7. Piece for the support of grids onthe inner panels of wall elements

Bild 8. Ausschnitt eines FE-Modells; Übergang Riegel–Stütze mit elastischerZwischenschichtFig. 8. Cut-out of a FE-model, junction of rafter-column with elastic intermediate layer

Die Kräfte, die durch das Öffnenund Schließen der Türen erzeugt wer-den, und die Windlasten auf die Sei-tenwände werden über eine jeweilsneben der Tür angebrachte Stütze indie Fundamente und die Wand- bzw.Deckenscheibe eingeleitet. Eine di-rekte Verbindung dieser Stützen mitder Deckenscheibe besteht dabeinicht, da dies dort zu ungewolltenBeanspruchungen geführt hätte. DieQuerkraftübertragung aus den Endender Wandscheiben in die Decken-scheibe ist ausreichend.

In der Bewertung der Längsnähteder Wandelemente mit den Stützenist eine Beanspruchung zu berück-sichtigen, die aus der horizontalenVerformung derWandelemente, senk-recht zur Scheibenebene, unter Eigen-last resultiert. Bei der Montage muß-ten bemerkenswerte Anstrengungenunternommen werden, um die Ele-mente aus einer leichten Bogenformin die Sollform zu bringen.

Die Abschätzung der Beanspru-chung aus Anprallasten auf die Brü-stungsscheiben des Balkons erfolgterechnerisch mit statischen Ersatz-lasten in ungünstigen Stellungen. Ins-besondere wurden hier die Verklebun-gen an den Handlauf und die Decken-scheibe betrachtet. Dazu wären expe-rimentelle Untersuchungen hilfreichgewesen, da die realen Gegebenheitenkompliziert sind.

Der Handlauf, Kasten 50 × 50 ×3 mm Edelstahl, ist als Rahmen aus-gebildet und biegesteif an der Haus-wand angeschlossen. Er übernimmtwesentliche Aufgaben der System-stabilisierung und war wichtig für dieMontage der Wandelemente von3,9 m Höhe.

2.4 Punktlasten am Scheibenrand

Die Einleitung der konzentrierten Ein-zellasten aus der Lagerung der Gitter-roste in die Seitenscheiben erfordertedetaillierte Untersuchungen. Das Pro-blem ist von allgemeinerem Interesse,da solche konstruktiven Gegebenhei-ten auch für Verschattungselemente,Wasserführungen oder ähnliches zugestalten sind.

Die Übertragungselemente mit U-förmigem Querschnitt (Bild 7) sitzendirekt über den Innenscheiben (8 mmESG) und dem Randverbund. DieLastüberleitung und -ausbreitung istnur schwer realitätsnah nachvollzieh-

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bar. Dazu wurden relativ aufwendigeFE-Modelle erstellt und umfangreicheStabilitäts- und Spannungsanalysenrealisiert. Damit konnten zumindestGrenzwerte für Bauteilversuche undMessungen direkt am Objekt gewon-nen werden.

Die Innenscheiben wurden wiefolgt modelliert:

Lagerungsbedingungen– senkrecht zur Scheibenebene ge-stützt und momentenfrei– in der Scheibenebene am unterenRand an zwei Stellen gelagert, wie diespraktisch mit elastischen Klötzern er-folgt, umlaufend elastisch (Material-eigenschaften des Klebers) gehalten

Lasten– unterschiedliche Lastansatzpunkteam oberen Querrand, b = 60 mm– Störlasten senkrecht zur Scheiben-ebene, zur Erzeugung von Imperfek-tionen– horizontale Flächenlasten zur Si-mulation von Windlasten o. ä., z. B.aus Mitwirkung mit der äußerenScheibe.

Imperfektionenwurden durch Ansatz unterschied-licher Eigenformen mit Amplitudenvon 1/300 der Scheibenbreite simu-liert.

Resultate (Bilder 9 und 10):– Maßgebend werden örtliche Zug-beanspruchungen senkrecht zur Last-einleitungsrichtung neben den Auf-lagerbereichen (Bild 9, siehe Ver-suche).

– Die Beanspruchungen werden re-lativ schnell in die seitlichen Ränderabgeleitet.– Die errechneten Belastungen schei-nen ohne Probleme ansetzbar, wenndie Oberfläche der Glaskanten die not-wendige Qualität aufweist.– Die Übertragung der Einzellastenaus den Gitterrostauflagerungen in dieDachträger scheint problemlos, da hieretwa 36 mm Trägerbreite (3 × 12 mmGlas plus Zwischenschichten) zur Ver-fügung stehen und örtliche Stabilität-sprobleme nicht zu erwarten sind.

3 Experimentelle Untersuchungen3.1 Vorversuche

Die Modellierung der konzentriertenLasteinleitung an den Scheibenrän-dern ist mit sehr vielen Annahmenverbunden, die in Vorversuchen zu-mindest überprüft werden sollten.

Auf einen Versuchsrahmen wur-den Scheiben der Größe 1,0 m × 0,5 mdreiseitig aufgeklebt (s. Bild 11). DerKleber war der gleiche, der später fürdas Bauwerk verwendet wurde. DieLasteinleitung erfolgte in verschiede-nen Versuchsreihen in der Mitte derScheiben und symmetrisch in derNähe der Längsränder (Bild 12). Einegrößere Anzahl von Dehnmeßstreifenund induktiver Wegaufnehmer ermög-lichte es, das Dehnungs-Verformungs-verhalten der Scheiben relativ detail-liert zu erfassen. Insbesondere dieHauptspannungsrichtungen im Last-einleitungsbereich und die Verteilungder Beanspruchungen bzw. die Wir-kung der Auflagerung konnten gutnachvollzogen werden.

Bild 9. Spannungszustand σx am Scheibenrand infolge örtlicher LasteinleitungFig. 9. Stress distribution σx at plane edge from concentrated load

Zugspannungσx = +120 N/mm2

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Unverformt Einwellige Vorverformung Zweiwellige Vorverformung (L/200) (L/200)

Spannungen σx[N/mm2]:

σx = –148,6 … +117,0 σx = –149,9 … +121,2 σx = –146,5 … +119,9

Spannungen σy[N/mm2]:

σy = –253,7 … +74,4 σy = –253,9 … +74,3 σy = –253,9 … +74,4

Grenzlast 2 · F = 256,5 kN 256,5 kN 256,5 kN

Bild 10. Spannungsverteilung in der örtlich belasteten Scheibe für eine Grenzspannung von σx = +120 N/mm2 aus geome-trisch nichtlinearen Analysen mit unterschiedlichen ImperfektionsformenFig. 10. Stress distribution for the local loaded panel with a limit stress of σx = +120 N/mm2 from a geometrical nonlinearanalyses with different imperfection shapes

Die vorhandenen Erfahrungenwurden wie folgt bestätigt:– Die Spannungen unter den Last-einleitungsbereichen bauen sich sehrschnell ab, in einer Entfernung von80 mm zur Glaskante sind die Bean-spruchungen σy halbiert.– Neben den Lasteinleitungsberei-chen bauen sich Gebiete mit Zug-spannungen +σx auf, die für das Ver-sagen maßgebend werden.– Vor dem Bruch der Scheiben wur-den 15 mm unterhalb des Randes Zug-spannung in der Größenordnung vonσx = +22 N/mm2 gemessen, die tat-sächliche maximale Spannung dürfte

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im Abgleich mit FE-Analysen bei etwaσx = +30 N/mm2 liegen; damit ent-sprechen diese Werte den Erfahrun-gen nach [4].– Die Bruchauslösung war deutlichim zugbeanspruchten Gebiet zu er-kennen (Bild 13).

Für vergleichende FE-Analysenerfolgten Messungen der Scheiben-dicken und Ermittlungen der E-Mo-duli. Die Scheibendicken erwiesensich über die Plattenfläche als relativgleichmäßig mit Schwankungen von0,01 mm um den Wert von t =2,88 mm. Etwas schwieriger gestal-tete sich die Bestimmung der E-Mo-duli aus verschiedenen Biegeelemen-ten. Hier ergaben sich Werte zwischen67000 N/mm2 und 72000 N/mm2.Für die Berechnungen wurde dannmit einem Wert E = 70000 N/mm2

gearbeitet.Neben den Untersuchungen zur

Tragfähigkeit des Glases erfolgten auchumfangreiche Messungen zum Verhal-ten des Silikon-Klebers bzw. zur Last-abtragung über die hoch elastischenRandverklebungen. Die Fugen wur-den definiert hergestellt (Bild 14) undvermessen, so daß über Verformungs-und Kraftmessungen Rückschlüsse aufdie Beanspruchungen möglich waren.Die errechnete maximale Beanspru-chung lag bei τ = 0,47 N/mm2, bei wei-terer Lasterhöhung brach die Scheibe.Der Kleber zeigte bis zur Grenzbean-spruchung ein weitgehend linearesKraft-Verformungsverhalten. Langzeit-versuche konnten nicht realisiert wer-den.

Da für die ausgeführte Konstruk-tion mit einem τgrenz = 0,10 N/mm2

gerechnet wurde, weist der Kleber für

den angestrebten Zeitraum sicher ge-nügend Festigkeits- und Duktilitäts-reserven auf.

3.2 Messungen am Bauwerk

Der mehrschichtige Aufbau derWandelemente ist nur mit vielenVereinfachungen für numerischeoder experimentelle Analysen zu mo-dellieren. Deshalb schien es interes-sant, Messungen direkt am fertigenBauwerk vorzunehmen. Dazu wur-den an einem Element der Seiten-scheiben an der unmittelbar belaste-ten Innenscheibe und zu Vergleichs-zwecken auch an der durch denScheibenzwischenraum und die in-nere Verbundscheibe getrenntenAußenscheibe Meßelemente befestigt(Bilder 15 und 16).

Die Last wurde über 25-kg-Säckemit Stahlgranulat auf einer relativ klei-nen Fläche so aufgebracht, daß im we-sentlichen die zwei Auflager über der

Bild 12. Lasteinleitung in den freienScheibenrand über Blöcke aus Weich-aluminiumFig. 12. Load transfer to the free edgeof a panel by pieces of weak aluminium

Bild 13. Bruchausgang neben demLasteinleitungsgebiet der Versuchs-scheibeFig. 13. Initiation of an crack besidethe load transfer area of the test panel

Bild 14. Ausbildung der Silikonfugeauf dem VersuchsrahmenFig. 14. Configuration of silicon gapon the test frame

Bild 15. Dehnmeßstreifen an derinneren Scheibe, direkt unter einemLasteinleitungselementFig. 15. Strain gage element on innerpanel, direct under one of the supportelements

Bild 11. Rahmen zur dreiseitigen Lage-rung der Versuchsscheiben, Floatglas,tmittel = 2,88 mmFig. 11. Frame structure for support ofthe investigated panels, float-glass,taverage = 2.88 mm

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Scheibe belastet wurden (Bild 17). DieLastkontrolle erfolgte mittels Kraft-meßdosen (Bild 18) an den Auflagern.Die Dehnungsmeßstreifen registriertensehr empfindlich alle Belastungsvor-gänge, Laufen auf der Versuchsebeneusw., so daß die erhaltenen Kurvensehr unstetig erscheinen. Die wichtig-sten Ergebnisse sind:– Die gemessenen Spannungen erwie-sen sich deutlich kleiner als erwartet.– Die Verteilung der Beanspruchungs-zonen stimmte punktuell mit den be-rechneten Verteilungen überein.– Die Außenscheiben zeigten denBelastungszyklen folgende Beanspru-chungen auf unerwartet hohem Ni-veau, hier scheint der Einfluß vonSonneneinstrahlung lokal deutlichausgeprägt.– Die gemessenen Beanspruchungenin der zweiten Meßreihe (s. Bild 16,0,7 m unterhalb der Lasteinleitungs-kante) sind nicht von Bedeutung.– Das System zeigte im Rahmen derMeßmöglichkeiten elastisches Ver-halten, d. h., merkliche Überbean-spruchungen konnten nicht beobach-tet werden.

– Das Gesamtsystem aus Gitter-rostträgern und Lagerelementen er-wies sich als sehr stabil, befürchteteVerformungen in den Klebefugentraten auch bei großen Lasten nichtauf.

Die gemessenen Spannungsgrö-ßen liegen etwa im Bereich von 10 %der rechnerisch zu erwartenden. Da-für lassen sich mehrere Gründe an-führen:– Die Lastverteilung ist wesentlichdeutlicher als in den Rechnungen an-genommen, obwohl auch dort nichtmit steifen Lasteinleitungsgebieten ge-rechnet wurde.– Der Scheibenrandverbund und dieVerklebung mit der Deckenscheibewirken als zusätzliche lastverteilendeElemente, die zu einer wesentlichenVerringerung der Lastkonzentrationführen.– Die notwendige und technischkaum zu umgehende Verklebung derAuflagerelemente mit der innerenAußenscheibe, um auch die Dich-tigkeit zu gewährleisten, führt zu einerdeutlichen Beanspruchung der äuße-ren Scheibe des VSG-Systems.

Die Gefahr einer örtlichen Über-beanspruchung kann damit als unbe-

deutend eingestuft werden. Dieses ein-fache Auflagersystem läßt sich auchfür relativ hohe Einzellasten einset-zen.

Insgesamt lieferten die Versucheeine große Anzahl von interessantenErgebnissen, die weiterer gezielterAnalysen bedürfen, um die techni-schen Details logisch darstellen zukönnen.

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Bild 16. Verteilung der Dehnmeßstrei-fen auf der inneren Scheibe; DMS 1, 2,7 und 9 finden sich auch auf derAußenscheibeFig. 16. Locations of the strain gageson the inner panel; DMS 1, 2, 7, 9 arealso located on the outer panel

Bild 17. Anordnung der Last, 1 t Stahlgranulat auf 0,5 m2 FlächeFig. 17. Positioning of the load, 1 t of steel granulate on an area of 0,5 m2

Bild 18. Auflagerung des Belastungs-trägers über eine Kraftmeßdose auf dieLagerelementeFig. 18. Support of the load beam viaload cell on the support element

4 Zusammenfassung

Es ist gelungen, einen gestalterischund konstruktiv ansprechenden Bau-körper zu schaffen, der wesentlichdurch das Material Glas geprägt wird.Dieser Werk- und Baustoff erlaubteine schlichte, sehr transparente Kon-struktion, in der Tragelemente undraumabschließende Elemente mit mi-nimalem Aufwand aneinandergefügtsind. Auf lokale Verbindungselementewurde bewußt verzichtet, da sie nichtdem Tragverhalten des spröden Mate-rials Glas entsprechen.

Glas wird an keiner Stelle ausrein gestalterischen Gründen einge-setzt. Gerade für raumöffnende Bau-körper bietet diese Konstruktions-form hervorragende Gestaltungsmög-lichkeiten.

Die relativ großen Klebefugengestatten eine problemlose Übertra-

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gung der vorhandenen Beanspruchun-gen, sind natürlich vom architektoni-schen Gesichtspunkt in vielen Fällennicht erwünscht. Die konstruktivenMöglichkeiten, hier zu gefälligen Lö-sungen zu kommen, sind gegenwärtigbeschränkt. Benötigt werden transpa-rente Kleber und völlig neue Konzeptefür Glas-Verbundmaterialien und Fu-genausführungen.

Realitätsnahe Analysen im Fu-genbereich sind sehr kompliziert. Diesorgfältige konstruktive Realisierungunter Berücksichtigung der Qualitätder Glaskanten spielt hier eine we-sentliche Rolle.

Die Tragfähigkeit der vorhande-nen Konstruktion weist deutliche Re-serven auf, wobei die Dauerhaftigkeitder Verklebungen den wesentlichenFaktor für die Standsicherheit bildet.

Es muß über effektive Tragele-mente nachgedacht werden, die ko-

stengünstig zu fertigen sind und diefür das Material Glas notwendigenTragreserven (Redundanzen) aufwei-sen. Die hier verwendeten einfachenebenen Träger und Stützen aus meh-reren Scheiben sind zu aufwendig inder Herstellung und besitzen zu großeElementhöhen.

Insgesamt ist es gelungen, einenBaukörper zu realisieren, der sowohlder Gestaltung als auch dem sprö-den Material Glas in anspruchsvollerWeise gerecht wird.

Literatur

[1] Bemm, M.: Entwicklungen im Stahl-Glas-Bau und ihre besondere Bedeu-tung an historischen Bauten, 6. Infor-mationstag des Instituts für Konstruk-tiven Ingenieurbau, Bauhaus-UniversitätWeimar, Oktober 2003.

[2] Technische Regeln für die Verwen-dung von absturzsichernden Vergla-sungen (TRAV), Entwurfsfassung Febr.2001.

[3] Bekanntmachung der Leitlinie füreuropäische technische Zulassung fürgeklebte Glaskonstruktionen. 12/2002.

[4] Laufs, W.: Ein Bemessungskonzeptzur Festigkeit thermisch vorgespannterGläser. Aachen, Shaker Verlag GmbH,2000.

[5] Nijsse, R.: Special Steel and AdhesivlyBonded Connections for Glass Struc-tures, Structural Engineering Interna-tional, Vol. 14 (2004), N. 2, p. 104.

[6] Niebling, M.: Planung von Ganzglas-konstruktionen, Diplomarbeit an derProfessur Stahlbau der Bauhaus-Uni-versität Weimar, 2002.

Autor dieses Beitrages:Prof. Dr.-Ing. habil. Frank Werner, Bauhaus-Universität Weimar, Professur Stahlbau,Marienstraße 5, 99421 Weimar

Bild 19. Zugspannungen unterhalb eines Lasteinleitungspunktes für zwei Last-zyklen Fig. 19. Axial stress below a load transfer element for two load cycles