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2 Französische Orgelmusik fasziniert – heute viel- leicht mehr denn je. Die Meisterwerke eines Franck, Widor, Vierne, Tournemire, Duruflé, und wie sie alle heissen, sind von den Konzert- programmen nicht mehr wegzudenken. Schaut man sich allerdings den gottesdienstlichen Alltag an, so tauchen Kompositionen aus dem französi- schen Raum viel seltener auf. Das mag verschie- dene, zum Teil berechtigte Ursachen haben. Als Hauptgrund wird meist aufgeführt, die franzö- sischen Stücke des 19. und frühen 20. Jahrhun- derts seien einfach zu schwer für nebenberufliche Orgelspielende, zu schwer auch, um innert kur- zer Zeit einstudiert zu werden. Das trifft für die grossen Meisterwerke gewiss zu. Nur besteht das französische Repertoire nicht nur aus solchen Stücken. Es ist wahrscheinlich auch schlicht eine Frage der Gewöhnung. Hier zu Lande sind dem durchschnittlichen Orgelspielenden die Namen, mit denen man musikalisch gross geworden ist – Scheidt, Scheidemann, Pachelbel, Walther, Böhm oder Buxtehude –, nun mal viel vertrauter als Dubois, Lefébure-Wély, Boëllmann, Ropartz, Chaminade, Fleury. Mit diesem Beitrag soll gewissermassen Chancengleichheit zwischen den beiden musika- lischen Welten hergestellt werden. Keinenfalls geht es darum, Ihnen, liebe Leserinnen und Le- ser, die Barockmeister abspenstig zu machen. Nach der Begegnung mit dieser weitläufigen neuen Welt, einem Korpus von mehreren hun- dert Stücken, ziehe jeder seine eigenen Schlüsse und erkenne seine Vorlieben. Romantische Musik? Wenn man sich herumhört, wieso romantische Musik gerade für nebenamtliche Orgelspielende fast immer zweite Wahl ist, sind etwa folgende Argumente zu hören: – Stücke aus dem 19. Jahrhundert sind im Allgemeinen zu schwer, schwerer jedenfalls als durchschnittliche Barockstücke. – Romantische Musik tönt auf unseren meist barock orientierten kleinen Orgeln ungünstig. – Mit romantischer Musik können die meisten Gottesdienstbesucher wenig anfangen. – Gerade die Franzosen haben doch keine gottesdienstliche Orgelmusik geschrieben. – Romantische Musik ist zu gefühlsduselig. – Romantische Musik gefällt mir nicht. Während man den letzten beiden Argumen- ten nicht viel entgegensetzen kann («De gustibus non est disputandum»), soll in diesem Beitrag der Versuch gemacht werden, die ersten drei zu entkräften. Beim hörenden Publikum erfreut sich romantische Musik – wie alles zur richtigen Zeit und am richtigen Ort eingesetzt – grosser Beliebtheit, wie unzählige Reaktionen bezeugen. Das Argument drei ist also zumindest zu relati- vieren. Auch der Einsatz von Barockmusik ent- bindet nicht von der Pflicht, die jeweilige Got- tesdienstsituation als Ausgangspunkt zu nehmen. Dazu kommt, dass unser neues Gesangbuch viel mehr Lieder aus der Romantik enthält. Die ent- sprechende Musik ist in diesem Rahmen be- stimmt nicht deplatziert. Zum Argument zwei: Tatsächlich erfordert romantische Musik auf «unromantischen» Or- geln (man verzeihe den unmöglichen Ausdruck) einen etwas grösseren Anpassungsaufwand. Die Kunst des Übersetzens von Musik auf das jewei- lige Instrument ist aber wohl eine der wichtigs- ten überhaupt. Übersetzen muss man immer, auch bei Barockmusik. Wer hat schon je die «richtige» Orgel unter den Fingern? Auch mit der technischen Schwierigkeit ist es so eine Sache. Abgesehen vom Umstand, dass es auch in der Barockzeit vieles gibt (nicht nur von Bach), was ausserhalb der Reichweite des durch- schnittlichen Nebenberuflers liegt, muss fest- gehalten werden, dass im 19. Jahrhundert sehr rasch eine Zweiteilung der Orgelmusik zu beob- achten ist: zum einen in die konzertante Musik mit ihren tatsächlich sehr anspruchsvollen Stan- dardwerken, die sich heute grosser Bekanntheit und Beliebtheit erfreuen, zum anderen in eine un- überblickbare Produktion von weitgehend unbe- kannter, spezifisch gottesdienstlicher Musik, die in ihren Ansprüchen bewusst auf die Situation ne- benamtlicher Orgelspielender Rücksicht nimmt. Um solche Musik aus dem französischen Kultur- raum geht es in der nachfolgenden Abhandlung. Emanuele Jannibellil Pour orgue ou harmonium Leichte französische Orgelmusik im 19./20. Jahrhundert

Emanuele Jannibelli Pour orgue ou harmonium2 Französische Orgelmusik fasziniert – heute viel-leicht mehr denn je. Die Meisterwerke eines Franck, Widor, Vierne, Tournemire, Duruflé,

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Französische Orgelmusik fasziniert – heute viel-leicht mehr denn je. Die Meisterwerke einesFranck, Widor, Vierne, Tournemire, Duruflé,und wie sie alle heissen, sind von den Konzert-programmen nicht mehr wegzudenken. Schautman sich allerdings den gottesdienstlichen Alltagan, so tauchen Kompositionen aus dem französi-schen Raum viel seltener auf. Das mag verschie-dene, zum Teil berechtigte Ursachen haben. AlsHauptgrund wird meist aufgeführt, die franzö-sischen Stücke des 19. und frühen 20. Jahrhun-derts seien einfach zu schwer für nebenberuflicheOrgelspielende, zu schwer auch, um innert kur-zer Zeit einstudiert zu werden. Das trifft für diegrossen Meisterwerke gewiss zu. Nur besteht dasfranzösische Repertoire nicht nur aus solchenStücken. Es ist wahrscheinlich auch schlicht eineFrage der Gewöhnung. Hier zu Lande sind demdurchschnittlichen Orgelspielenden die Namen,mit denen man musikalisch gross geworden ist –Scheidt, Scheidemann, Pachelbel, Walther, Böhmoder Buxtehude –, nun mal viel vertrauter alsDubois, Lefébure-Wély, Boëllmann, Ropartz,Chaminade, Fleury.

Mit diesem Beitrag soll gewissermassenChancengleichheit zwischen den beiden musika-lischen Welten hergestellt werden. Keinenfallsgeht es darum, Ihnen, liebe Leserinnen und Le-ser, die Barockmeister abspenstig zu machen.Nach der Begegnung mit dieser weitläufigenneuen Welt, einem Korpus von mehreren hun-dert Stücken, ziehe jeder seine eigenen Schlüsseund erkenne seine Vorlieben.

Romantische Musik?Wenn man sich herumhört, wieso romantischeMusik gerade für nebenamtliche Orgelspielendefast immer zweite Wahl ist, sind etwa folgendeArgumente zu hören:– Stücke aus dem 19. Jahrhundert sind im

Allgemeinen zu schwer, schwerer jedenfallsals durchschnittliche Barockstücke.

– Romantische Musik tönt auf unseren meistbarock orientierten kleinen Orgeln ungünstig.

– Mit romantischer Musik können die meistenGottesdienstbesucher wenig anfangen.

– Gerade die Franzosen haben doch keinegottesdienstliche Orgelmusik geschrieben.

– Romantische Musik ist zu gefühlsduselig.– Romantische Musik gefällt mir nicht.

Während man den letzten beiden Argumen-ten nicht viel entgegensetzen kann («De gustibusnon est disputandum»), soll in diesem Beitragder Versuch gemacht werden, die ersten drei zuentkräften. Beim hörenden Publikum erfreutsich romantische Musik – wie alles zur richtigenZeit und am richtigen Ort eingesetzt – grosserBeliebtheit, wie unzählige Reaktionen bezeugen.Das Argument drei ist also zumindest zu relati-vieren. Auch der Einsatz von Barockmusik ent-bindet nicht von der Pflicht, die jeweilige Got-tesdienstsituation als Ausgangspunkt zu nehmen.Dazu kommt, dass unser neues Gesangbuch vielmehr Lieder aus der Romantik enthält. Die ent-sprechende Musik ist in diesem Rahmen be-stimmt nicht deplatziert.

Zum Argument zwei: Tatsächlich erfordertromantische Musik auf «unromantischen» Or-geln (man verzeihe den unmöglichen Ausdruck)einen etwas grösseren Anpassungsaufwand. DieKunst des Übersetzens von Musik auf das jewei-lige Instrument ist aber wohl eine der wichtigs-ten überhaupt. Übersetzen muss man immer,auch bei Barockmusik. Wer hat schon je die«richtige» Orgel unter den Fingern?

Auch mit der technischen Schwierigkeit ist esso eine Sache. Abgesehen vom Umstand, dass esauch in der Barockzeit vieles gibt (nicht nur vonBach), was ausserhalb der Reichweite des durch-schnittlichen Nebenberuflers liegt, muss fest-gehalten werden, dass im 19.Jahrhundert sehrrasch eine Zweiteilung der Orgelmusik zu beob-achten ist: zum einen in die konzertante Musikmit ihren tatsächlich sehr anspruchsvollen Stan-dardwerken, die sich heute grosser Bekanntheitund Beliebtheit erfreuen, zum anderen in eine un-überblickbare Produktion von weitgehend unbe-kannter, spezifisch gottesdienstlicher Musik, diein ihren Ansprüchen bewusst auf die Situation ne-benamtlicher Orgelspielender Rücksicht nimmt.Um solche Musik aus dem französischen Kultur-raum geht es in der nachfolgenden Abhandlung.

Emanuele JannibellilPour orgue ou harmonium

Leichte französische Orgelmusik im 19./20. Jahrhundert

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Nur etwas muss man zugeben (allerdingsbetrifft dies den deutschsprachigen Raum): denoffensichtlichen Mangel an Manualiter-Orgel-musik im 19. Jahrhundert. Orgelmusik war inDeutschland ganz selbstverständlich Pedaliter-Musik, etwas anderes war nicht denkbar. Ganzim Gegensatz zur (frühen und mittleren) Ba-rockzeit: Hier war wirklich obligates Pedalspieleigentlich immer Sache von Spezialisten. InFrankreich – und damit nähern wir uns langsamunserem Hauptgebiet – war dies ganz anders.Die Franzosen haben dem Pedal traditionell undbis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine wesent-lich weniger wichtige Rolle zugewiesen: wohleine Spätfolge der Tatsache, dass bei den klassi-schen französischen Orgeln das Pedal ein Tenor-und nicht ein Bassklavier war. Man betrachteeinmal nahezu die Gesamtheit der französischenBarockmusik unter diesem Gesichtspunkt. Des-halb schien in Frankreich die Komposition vonManualiter-Orgelmusik weniger abwegig.

Das Argument der fehlenden gottesdienstli-chen Musik aus unserem westlichen Nachbar-land verdient ebenfalls kurze Betrachtung.Natürlich wurden im weit gehend katholischenFrankreich keine Choralvorspiele über deutscheKirchenlieder komponiert (mit einigen bemer-kenswerten Ausnahmen: Boëly, Guilmant,Langlais, Girod), doch wäre es falsch zu behaup-ten, die Franzosen hätten im Gottesdienst aus-schliesslich improvisiert. Dies trifft sicher für diebekannten Meisterorganisten an den grossen Ka-thedralen zu. Bei dem Heer von mittelmässigenKünstlern an kleineren Stellen bestand aberdurchaus ein Bedarf an Kompositionen für dietraditionellen fünf Interventionen der Orgel inder grossen Messe (Introitus – Offertorium –Elevation – Kommunion – Ausgang) sowie fürdie Alternatim-Praxis in der feierlichen Sonn-tagsvesper (Magnificat-Versetten), ein Bedarf,der, wie die Folge zeigt, auch von grossen Meis-tern befriedigt wurde – neben der Schaffung derallseits bekannten Konzertwerke. Die meistennachfolgend aufgeführten Sammlungen sindganz direkt auf diese Verwendung hin kompo-niert worden (am stärksten diejenige von Tour-nemire, dann aber auch die Stücke von Böell-mann, Franck und Ropartz; am wenigsten dach-te wohl Vierne an die Liturgie).

Gottesdienstliches Orgelspiel –gestern und heuteVielleicht ist es angebracht, kurz auf die Unter-schiede in der Ausgestaltung der Stücke zwi-schen der französischen Tradition und unserer(katholischen) Gegenwart hinzuweisen. Einigetypische Divergenzen fallen schon auf den erstenBlick auf: etwa, dass die Eingangsspiele erstaun-lich kurz und manchmal auch leise sind. Eigen-artig ist in unseren Augen auch die grosse Länge(und Lautstärke) der meisten Offertorien sowiedie relative Kürze der Kommunions- und Aus-gangsspiele im Verhältnis zur heutigen Praxis.Darum kurz einige Bemerkungen zur Orgel-spielpraxis in der französischen Messe des 19.Jahrhunderts:– Eingangsspiel: Es handelt sich meist um ein

«Prélude à l’introït», das heisst um ein Kurz-vorspiel zum gregorianischen Introitus-Versdes jeweiligen Sonntages.

– Offertorium: Während der Gabenbereitungwurde (und wird in Frankreich sowie auch inmanchen Gegenden der Schweiz immer noch)die Kollekte eingezogen. Deshalb dauerte dieZeremonie auch viel länger als im heutigenkatholischen Gottesdienst. Der Organist warzu lautem Spiel angehalten, damit das allzuirdische Klingeln der Geldbeutel unhörbarblieb (!).

– Elevation: Dieses leiseste Stück begann nachdem Sanctus und endete vor dem Vaterunser,begleitete also das gesamte Hochgebet; daherdie oft beträchtliche Länge.

– Kommunion: Wie beim Eingangsspiel, han-delt es sich hier um ein Orgelversett zum ent-sprechenden gregorianischen Kommunionsge-sang. Es musste daher nicht die ganze Längedes Kommunionsganges umspannen.

– Ausgangsspiel: Hier trifft man grosse Unter-schiede in der Länge an. Einige Komponistentrauten den Kollegen in der Provinz offenbarnur kurze und leichte Stücke zu, andere schrie-ben in der Länge grosser und ausladender Im-provisationen.

Versetten: Erstaunlich viele der nachfolgendbesprochenen Stücke (so wahrscheinlich alle lei-sen Stücke aus «l’organiste I» von Franck) warenfür die Alternatim-Praxis beim gregorianischenMagnificat in der feierlichen Sonntagsvesper be-stimmt und zwar nicht nur die ausdrücklich sobezeichneten. Dies ist eines der ältesten und tra-ditionsreichsten Einsatzgebiete der (solistischen)Orgel in Frankreich – und nicht nur hier. Man

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denke an die bekannten Zyklen von Frescobaldioder Dandrieu (und beispielsweise an Scheidt imdeutsch-evangelischen Raum!). Auch die mei-sten anderen «Livres d’orgue» der französischenKlassik gehören hierhin. Im 19. Jahrhundert wares längst nicht mehr üblich, sich auf die grego-rianische Melodie zu beziehen (allerdings findensich schon im 18. Jahrhundert nur noch Ansätzehierzu). Hingegen war es notwendig, auf dieTonart der Gesangsteile Rücksicht zu nehmen,freilich nur mit der Wahl des Grundtones. DieModalität selbst fand in den Kompositionen kei-ne Fortführung.

Für den heutigen katholischen Gottesdienstdrängt sich eine Umordnung auf:

So eignen sich viele Ausgangsspiele als Ein-gangsspiele, die Kommunionsstücke können alsZwischengesangs- oder GabenbereitungsstückeVerwendung finden. Die Elevationen haben häu-fig die richtige Länge für das Orgelspiel währendder Kommunionsausteilung. Viele Offertorienwird man bei uns besser zum Ausgang spielen.Die Magnificat-Versetten sind dann sehr nützlich,wenn ganz kurze Stücke gesucht werden oderwenn man durch Aneinanderreihung vieler kur-zer Stücke eine gewisse zeitliche Flexibilität wah-ren will. In diesem Sinne eignen sie sich ausge-sprochen gut für das Orgelspiel während des re-formierten Abendmahls, für welches oft sogardie Elevationen zu kurz sind. Im reformiertenGottesdienst sind die Verwendungsmöglichkei-ten der Stücke generell vielfältiger.

Das Harmonium in FrankreichWieso diese Fülle von Harmoniumsmusik gera-de in Frankreich, wird man sich fragen. Dies hatviel mit der kirchenmusikalischen Situation inder «France profonde» (der viel zitierten franzö-sischen Provinz, zu tun), die sich sehr stark vonderjenigen in Deutschland, Österreich und derSchweiz unterschied. Die französische Provinzwar eben wirklich «provinziell». Hier hat ja dernegative Beigeschmack dieses Adjektivs seinenUrsprung. In durchschnittlichen französischenLandkirchen waren Orgeln (und ausgebildeteSpieler) eine Ausnahme. Ganz selbstverständlichbegann deshalb das neu erfundene Harmoniumin die Lücke zu springen.

Die französische Harmoniumsmusik warwährend des ganzen 19. Jahrhunderts also fastimmer eine Orgelersatz-Musik, die fürs einfacheViereinhalb- oder Fünfeinhalbregister-Harmo-nium (von dem noch zu sprechen sein wird) und

nicht fürs so genannte Kunstharmonium (wel-ches eine Abhandlung für sich wert wäre) ge-dacht war. Von der Ausnutzung aller Möglich-keiten dieser raffinierten Instrumente, wie siebeispielsweise bei Karg-Elert anzutreffen ist,kann keine Rede sein. Die meisten Komponis-ten, die in der nachfolgenden Liste Erwähnungfinden, waren denn auch fast ausschliesslich Or-ganisten. Sie schrieben fürs Harmonium, umeben den Literaturbedarf der französischen Pro-vinzkirchen zu befriedigen. Ihre Beziehung zudem Instrument war nicht immer sehr tief. Dieskommt aber der Verwendung dieser Stücke alsOrgelmusik sehr entgegen. Ganz im Gegensatzwiederum zur Harmoniumsmusik etwa vonKarg-Elert, die – wenn überhaupt – nur nach tie-fer gehender Bearbeitung auf der Orgel darstell-bar ist.

Diese Zeilen verstehen sich keinesfalls alsAbhandlung über das Instrument Harmonium.Deshalb werden hier keine genaue Beschreibungund auch keine Historie geliefert. Im Zentrumsteht hier einzig und allein die Musik, also alles,was mit «pour harmonium ou orgue» bezeichnetist und ihre Verwendungsmöglichkeit in derheutigen organistischen Praxis. Gleichwohl sollkurz auf das französische Harmonium in jenerZeit eingegangen werden. Da viele KomponistenAngaben zur Registrierung auf dem Harmoni-um machen, muss eine gewisse Kenntnis desInstrumentes vorausgesetzt werden, um bei derÜbersetzungsarbeit auf die Orgel keine grobenFehler zu machen. Die weit gehende Standardi-sierung der Instrumente in Frankreich macht esden Komponisten möglich, die Registrierungmittels simplen Ziffern eindeutig festzulegen;ein Pendant zu den ebenfalls stark standardisier-ten Orgeldispositionen. Diese Angaben gilt es,richtig zu verstehen.

Voraus noch eine kleine Begriffsklärung: Inder Anfangszeit findet sich die Bezeichnung«harmonium» nur selten. Dies war damals näm-lich eine (geschützte) Markenbezeichnung desersten Produzenten (A.F. Debain, patentiert1840). Der gebräuchliche Name für das Instru-ment war «orgue expressif», was immer wiederfür Missverständnisse sorgt.

Hier also der Registerbestand des standardi-sierten französischen Harmoniums:

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Selbstverständlich sind die Bezeichnungen«Grundstimmen» und «Streicher» nicht wörtlichzu nehmen; beim Harmonium sind natürlichimmer (durchschlagende) Zungen im Spiel.

Folgenschwerste Eigenart ist die Manualtei-lung zwischen e1und f1, welche die Möglichkeiteröffnet, auf dem grundsätzlich einmanualigenHarmonium Effekte zweimanualigen Spielsnachzuahmen. Da alle Register geteilt sind, lässtsich mit zwei verschiedenen Klangfarben operie-ren: mittels 8’-Registrierung in der Basslage und16’-Registrierung in der Diskantlage nebenei-nander liegend, mittels 4’-Registrierung in derBasslage und 16’-Registrierung in der Diskantla-ge sogar übereinander liegend. Ersteres beispiels-weise überall dort, wo eine � oder � unter demunteren und eine � oder � über dem oberenSystem steht, letzteres bei � unten und � oder� oben. Der Satz ist also etwas «gespreizt» (grös-serer Abstand zwischen der rechten und der lin-ken Hand als üblich) und wird durch die Regis-trierung wieder zusammengezogen. NamentlichFranck macht in «l’organiste I» recht häufig vondiesen Möglichkeiten Gebrauch (beispielsweisein der Nr. 1 der Stücke in Fis). Vorsicht also im-mer dann, wenn oben und unten unterschiedli-che Ziffern stehen und die melodische Linie den«Äquator» zwischen e1 und f1 nicht überschreitet.Ein kurzer Blick auf die Ziffern ist deshalb un-umgänglich, auch wenn man die Harmoniums-registrierungen nicht als Richtschnur nehmenwill.

Eine Bemerkung zur ganz anders geartetenSituation in Deutschland ist zum Schluss viel-leicht angebracht. Dies auch, um zu verstehen,

wieso die Suche nach ähnlich gearteten Stückenim deutschen Kulturraum weitgehend vergebenssein wird. In Deutschland (wie auch in Öster-reich, der Schweiz, der Niederlande und dennordischen Ländern) war die Rolle des Harmo-niums als Orgel-Ersatzinstrument nie so ausge-prägt wie in Frankreich. Dies ist sicher auf die«flächendeckende» Versorgung dieser Ländermit Kirchenorgeln zurückzuführen. Das Har-monium, welches übrigens auch längst nicht ineinem so weit gehenden Ausmass standardisiertwar, erfuhr nicht geringere Berücksichtigung alsin Frankreich, konnte sich aber rasch als eigen-ständiges (Salon-)Instrument mit entsprechen-der Literatur behaupten. Deshalb existiert wenigliturgische Harmoniumsmusik aus dem germa-nischen Kulturraum.

Typologie der französischen Musik«pour harmonium ou orgue»1. «Grosse Musik für das kleine Instrument Har-

monium»Diese findet sich am häufigsten in FrancksStücken, die unter dem Namen «l’organiste II»bekannt sind, ferner bei Vierne, Chaminade undLanglais, zum Teil bei Dubois, Ropartz undFleury. Sie versuchen, Klang und Ästhetik gros-ser Orgeln mit bescheidenem technischem Auf-wand und meist ohne Beizug des Pedals nachzu-ahmen. 2. Liturgische Miniaturen bis hin zur Paraphrase

gregorianischer Themenstellen die weitaus grösste Gruppe dar und sindbei Guilmant, Gigout, Boëllmann, Franck,Tournemire und teilweise bei Ropartz und Saint-

� Grundstimme 8’ (Cor anglais) Bass C–e1 � Grundstimme 8’ (Flûte) Diskant f1–g3

� Grundstimme 16’ (Bourdon) Bass C–e1 � Grundstimme 16’ (Clarinette) Diskant f1–g3

� Zunge 4’ (Clairon) Bass C–e1 � Zunge 4’ (Fifre o. Flageolet) Diskant f1–g3

� Zunge 8’ (Basson) Bass C–e1 � Zunge 8’ (Hautbois) Diskant f1–g3

Register, die nicht in allen Instrumenten vorhanden sind:� Streicher 2’ (Harpe éolienne) Bass C–e1 � Streicher 16’ (Musette) Diskant f1–g3

VC oder � Schwebung 16’(Voix céleste) Diskant f1–g3

E Expression: schaltet den Magazinbalg aus und ermöglicht so direktes Verändern des Winddruckesund somit der Lautstärke mittels unterschiedlich starken Tretens.G Grand Jeu: das Tutti des Instrumentes, als Knopf oder Kniehebel.O Ouvert: öffnet ein Loch über den Zungen und lässt so mehr Klang hervortreten; häufig nur fürdie Register � und � vorhanden. So lässt sich beispielsweise eine Bassmelodie hervorheben (sieheFranck, «organiste I», Nr. 2 der Stücke in E).

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Saëns zu finden. Guilmant und Gigout behan-deln die Gregorianik noch nach alter Art (Har-monisierung Note-gegen-Note), während beiTournemire, Langlais und Fleury die neue, freie,von den Erkenntnissen der Mönche von So-lesmes beeinflusste Paraphrase anzutreffen ist.3. Stücke, die ganz spezifisch auf die Möglichkeiten

des Harmoniums Bezug nehmen. Hier ist vor allem die Manualteilung und dieAusnutzung der klanglichen Besonderheiten(gut klingende tiefe Lage!) zu nennen. Die Ma-nualteilung ist bei Franck am meisten aus-genützt. Die Klanglichkeit des Harmoniums istbei Tournemire und Berlioz am stärksten hinein-komponiert, doch klingen auch Boëllmanns, Le-fébure-Wélys und Gigouts Stücke sehr gut aufdem Harmonium.

Darstellung auf stilfremden OrgelnRegistrieren auf der Orgel ist immer eine Grat-wanderung zwischen dem Versuch, das jeweiligeInstrument bestmöglich zum Klingen zu brin-gen und dem Bestreben, einen bestimmtenKlang zu imitieren oder, anders gesagt, in dieSprache der eigenen Orgel zu übersetzen. Jenachdem, wie stark die Eigenpersönlichkeit ei-nes Instrumentes ausgeprägt ist, wird das eineoder das andere im Vordergrund stehen. Bei derUmsetzung von Harmoniumsmusik auf die Or-gel stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage,wie weit man versuchen soll, den spezifischenHarmoniumsklang nachzuahmen. Ob dies über-haupt möglich oder nur schon erwünscht ist,lässt sich nicht generell sagen. Gewisse Orgelnsträuben sich entschieden dagegen. Bei vielender nachfolgend vorgestellten Stücke ist dies garnicht nötig, ja nicht einmal wünschbar. EinzelneRegistrierungsfragen werden in der Folge direktbei den behandelten Stücken erörtert. Hier sol-len in Kürzestform einige generelle Hinweise ge-geben werden, wie beim Vortrag auf stilfremden,meist barock orientierten (Klein-)Orgeln ambesten vorgegangen werden kann.

Zunächst ist festzuhalten, dass leise Stückemeist weniger Probleme bieten. Mit einem (oderbesser zwei) 8’-Register lässt sich manches Stückganz passabel darstellen. Auf ganz kleine Orgelnwird dies wahrscheinlich nur durch Koppeln derbeiden Manuale zu machen sein, aber kein Man-gel ist, im Gegenteil: Häufiges Koppeln kannnur empfohlen werden. Dadurch wird eineScheinakustik erzeugt, die zusammen mit demfast automatisch sich einstellenden leicht schwe-

benden Klang schon erstaunlich «romantisch-kathedralesk» klingt. Wünscht man die Imita-tion von Schwebestimmen (voix céleste) leistetder Tremulant gute Dienste wie auch der uralteTrick, ein Register nur teilweise herauszuziehen(unbedingt vorher ausprobieren, vor allem in derhohen Lage).

Streicherregistrierungen lassen sich mit demPrinzipal 8’ allein verblüffend gut nachahmen,wie überhaupt die Verwendung dieses Registers(meist das schönste in der ganzen Orgel!) als So-list nicht genug empfohlen werden kann. Ist dieOrgel so klein, dass sich als erste prinzipalischeStimme der 4’-Prästant findet, nimmt man die-sen eine Oktave tiefer, was bei Melodien in ho-her Lage keine Schwierigkeiten machen sollte.Wünscht man eine etwas lautere Registrierung,so zieht man mit Vorteil zur Gesamtheit der 8’-Register aus der 4’-Lage zunächst nur die Flö-te(n), dies entgegen gängiger barocker Praxis.

Schwieriger wird es, wie angetönt, bei lautenRegistrierungen. Viele Orgeln besitzen als einzi-ge kräftige Register 2’-Oktaven, Mixturen undZimbeln. Diese sind, vor allem in hoher Lage,ausgesprochen ungeeignet zur Darstellung fran-zösischer Musik des 19. Jahrhunderts. Mixtur-klänge allein kommen hier fast nie vor (am ehes-ten noch bei Guilmant, Ropartz und Tourne-mire). Was tun? Erste Möglichkeit: Aliquoten stattMixturen als Klangkronen. Zweite Möglichkeit:alle Grundstimmen und eine (oder mehrere)Zungen (evtl. zusätzlich zu den Aliquoten). Diesergibt meist eine nicht allzu grosse Lautstärke,was aber kein Nachteil sein muss. Dritte Mög-lichkeit: Spiel ganzer Stücke oder Abschnitte ei-ne Oktave tiefer. Dieses eigentliche Zaubermittel(wohl neben dem häufigen Koppeln der wich-tigste Kniff ) kann nicht genug empfohlen wer-den; es funktioniert bei französischer Musik, dieim Manual meist sehr hoch liegt, erstaunlichhäufig. Eventuell können einzelne in der grossenOktave vorkommende Töne umarrangiert wer-den; eine Vorgehensweise, die sich übrigens im-mer wieder auch für die Manualpartie von ge-wöhnlichen Orgelstücken mit Pedal anbietet.

Wo eine Solozunge gefordert ist, gerät manin Schwierigkeiten, wenn das eigene Instrumentgar keine oder nur eine sehr barocke (womöglichkurzbechrige) Zunge aufweist. Steht gar keineZunge zur Verfügung, behilft man sich bei eherlauten Stücken mit einer Aliquotmischung (Cor-net oder Sesquialtera), bei leisen mit dem bereitserwähnten Prinzipal 8’ allein. Eine kurzbechrige

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Zunge kann allerdings bei der Imitation der Voixhumaine unschätzbare Dienste leisten. Ist dieZunge sehr grell (Schalmei, Krummhorn, Mu-sette usw.), kann man versuchen, sie durch Zu-ziehen mehrerer 8’-Register (durchaus auchPrinzipale) zu «zähmen».

Bei Stücken, die mit Registerteilung in Bassund Diskant rechnen, wird man etwas umarran-gieren müssen und zweimanualig mit der klin-genden Lage als Basis spielen. Also beispielswei-se bei Registervorschrift � im Bass und � �im Diskant (4’-Lage im Bass und 16’-Lage imDiskant) den Bass eine Oktave höher auf 8’-Ba-sis und den Diskant eine Oktave tiefer ebenfallsauf 8’-Basis nehmen. Die wörtliche Nachah-mung des Originals ist kaum möglich oder sinn-voll: Unsere Orgeln haben selten geteilte Ma-nuale und wenn, dann liegt die Teilung zwischenh° und c1. Und im Übrigen sind Manual-16’-Re-gister und 4’-Zungen gerade auf kleinen Orgelnseltene Gäste ...

Nun noch die Frage, was zu tun sei, wennkein Schweller zur Verfügung steht. Fast alle hiervorgestellten Komponisten gehen vom Harmo-nium und seinen dynamischen Möglichkeitenoder wenigstens von einer Orgel mit Schwell-werk aus. Banal: Wenn man kein Schwellwerkbesitzt, gibt es halt keine dynamischen Schattie-rungen! Zuziehen oder Wegstossen von Regis-tern ist hier selten machbar oder sinnvoll. Eherhalte man sich an den alten (auch von Reger dar-gestellten) Interpretationsgrundsatz, bei einerPhrase etwas verhalten zu beginnen, auf denHöhepunkt hin zu beschleunigen und dann wie-der aufs Phrasenende hin nachzugeben. Diessollte eigentlich auch dann selbstverständlichsein, wenn ein Schweller vorhanden ist und ein-gesetzt wird. Es gibt nichts Unmusikalischeresals ein rein mechanisch betätigter Schwelltrittohne agogische Unterstützung. Wenn wir schonbeim Schweller sind, noch eine Bemerkung fürdie Kollegen, die das Glück haben, auf einer Or-gel mit sehr grossem Schwellwerk zu musizieren:Viele einmanualige (Forte-)Stücke kann manganz auf dem Tutti (evtl. ohne Mixturen) desSchwellwerks spielen. Dies klingt besonders gut,wenn eine 16’-Zunge vorhanden ist. Die Har-moniumsdynamik lässt sich dann praktischwörtlich nachvollziehen.

Zuletzt sei noch eine Selbstverständlichkeitangefügt, die vielleicht keine ist: Alles ist legatozu spielen! Auch, und erst recht, wenn keine Bö-gen stehen. Das heisst, in Umkehr von dem, was

für Barockmusik gilt: wo nichts steht, ist legatogemeint. Wünschen die Komponisten etwas an-deres, geben sie es auch an. Einzige Ausnahme:Tutti-Akkordblöcke (accords plaqués) werden(evtl. über gebundenem Bass) non legato ge-spielt; eine schiere Selbstverständlichkeit. Dieskommt in unserem Zusammenhang allerdingsfast nie vor (am häufigsten noch in «l’organisteII» von Franck). Zu Missverständnissen Anlassgibt hie und da das Nebeneinander von Stellenmit längeren Bögen und solchen ohne (bei Ro-partz recht häufig). Bei solchen Bögen handelt essich meist um Zusammenhangs- oder Phrasie-rungsbögen. Dies bedeutet nun nicht, dass diebogenlosen Stellen non legato zu spielen seien.Bei älteren Meistern (aber auch noch bei Boëll-mann) trifft man hie und da noch auf Bögen,die von Taktstrich zu Taktstrich führen. Hier hatman es mit Dauerlegatobögen zu tun, die nichtin dem Sinn wörtlich zu nehmen sind, dass mannun vor jeder ersten Note des Taktes eine Arti-kulationspause machen würde.

Für die vertiefte Beschäftigung mit solchenFragen sei auf die Orgelschule von Jon Laukvik(Band 2, siehe Literaturverzeichnis) verwiesen.

Zu den Komponisten und ihrenWerkenFür einmal soll für die nachfolgende Abhand-lung eine Anleihe an die moderne Bike-, Reise-und Gastroführerliteratur gemacht werden: DieStücke und die Komponisten werden sehr wohlauf herkömmliche Art und Weise mehr oder we-niger ausführlich abgehandelt. Voraus geht aberein kurzes Rating nach den folgenden Kriterien:1. musikalische Qualität2. technische Schwierigkeit3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll?6. Eignung für Pedalorgeln7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?9. Charakter der Stücke

Vergeben werden für die ersten vier Kategori-en ein bis fünf Sterne; bei den anderen wird dieFrage mit ja/nein beantwortet. Die Punkte einsund zwei sind zwangsläufig sehr subjektiv, sollenaber eine erste Orientierung ermöglichen. DerSchreibende übernimmt hierfür die volle Verant-wortung. Die Hinweise zu einzelnen Stückensind exemplarisch gedacht. Eine genaue Bespre-

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chung jedes Stücks würde den hier gegebenenRahmen bei weitem sprengen.

Hector Berlioz (1803–1869): Troispièces pour orgue ou harmonium(Orion Music Publications)1. musikalische Qualität: ***2. technische Schwierigkeit: **3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ****4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: ***5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? teilweise ja6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts:

bedingt8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nein

9. Charakter der Stücke: sehr unterschiedliche aber ins-gesamt anspruchslose und gefällige Stücke, die eineunbekannte Seite des Komponisten der «Symphoniephantastique» offenbaren.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesDie französischen Komponisten des 19. Jahr-hunderts lassen sich grob in zwei Gruppen un-terteilen: in Organisten und solchen, die nichtsmit der Orgel am Hut hatten. Die erste Gruppeist grösser als man gemeinhin denkt und um-fasst auch Namen wie Bizet, Gounod, Delibes,Messager, Chausson, Magnard, Pierné, Fauré(die man – obwohl allesamt praktizierende Or-ganisten – nicht mit der Orgel in Verbindungbringt, weil sie fast nichts für unser Instrumentgeschrieben haben). Zur zweiten Gruppe ge-hören etwa Adam, Aubert, Halévy, Lalo, Masse-net, Chabrier, Debussy, Ravel. Der gründlichsteNicht-Organist, wenn man so sagen darf, war

aber Hector Berlioz. Von ihm stammt bekannt-lich der Ausspruch, zwischen Orgel und Orches-ter verhalte es sich wie zwischen Kaiser undPapst: unvereinbar! Seine Bemerkungen über dieOrgel und das Harmonium (welches hier nochden Markennamen «orgue mélodium» trägt) im«Grand traité d’instrumentation» von 1842/43sind lesens- und bemerkenswert (in Auszügen imInternet greifbar unter www.hberlioz.com/scores/berlioztraite.html#orgue). Berlioz verabscheutealles, was das Wesen der klassischen Orgel aus-macht. Darum erstaunt es umso mehr, dass esvon ihm Kompositionen mit dem erwähnten Ti-tel gibt. Erstaunlich auch, dass es sich nicht ein-mal um Jugendwerke handelt – sie wurden 1845komponiert. Berlioz scheint gewisse Kenntnissedes Harmoniums zu besitzen. So ist der Satzzwar etwas primitiv, aber durchaus instrumen-tengerecht. Auch gibt er genaue Harmoniumsre-gistrierungen an und macht von Pseudozweima-nualigkeit sowie 16’–8’-Effekten Gebrauch. Mitder Orgel haben die Stücke freilich trotz des Ti-tels nicht viel zu tun, was aber nicht heisst, dasssie nicht ausführbar wären.

Zu einzelnen Stücken«Ländliche Serenade an die Madonna»: bear-

beitet das bekannte italienische «Lied der Pif-ferari» in zwei schlichten, eher akkordischen Va-riationen. Bemerkenswert, weil ausgesprochenharmoniumsgemäss ist das Diminuendo vom ffzum pp morendo am Schluss (Beispiel 1). DasStück lässt sich gut auf die Orgel übertragen.Eventuell wird die rechte Hand ab Allegro assaieine Oktave tiefer gespielt. Die Ausführung desDiminuendos gibt aber auf fast allen Orgelnohne grosses Schwellwerk Probleme auf.

Beispiel 1

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«Hymne pour l’élévation»: ein recht differen-ziertes Stück in einem teilweise obligaten vier-stimmigen Satz, bei dem die unterste Stimmemit Vorteil vom Pedal ausgeführt wird. Auchhier Dynamik- und Registrierungsprobleme.

«Toccata»: ein reines Manualiter-Stück indurchgehender Achtelbewegung bis auf die ak-kordischen Schlusstakte; an sich gut auf kleineOrgeln zu übertragen. Will man aber die rechteHand mit ihrer obligaten Zwei- und Dreistim-migkeit schön legato ausführen, ist ein sehrdurchdachter Fingersatz vonnöten.

Louis-James-Alfred Lefébure-Wély(1817–1869): L’office catholique(Regnier-Canaux, vergriffen) undBoléro de concert (Harmonia)1. musikalische Qualität: unbestimmt2. technische Schwierigkeit: ***3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: **4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: ****5. Eignung für Pedalorgeln: ****6. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nein

Zum Komponist und zum Werk als GanzesAn Lefébure-Wély scheiden sich die Geis-ter; kaum ein Komponist des französischen19. Jahrhunderts weckt solche Emotionen.Auch überzeugte Apologeten der Epoche gera-ten da ins Schwitzen! Nun, wenn man seineMusik als das nimmt, was sie sein will, lösen sichalle Probleme in Luft auf: kirchliche Unterhal-tungsmusik! Im Übrigen lag dies damals «imTrend», wie man heute sagt: Auch andere pfleg-ten damals den «style pompier» (den zeremoni-ellen Stil, etwa Edouard Batiste oder auch – derjunge Franck!), nur waren nicht alle so brillanteKönner wie der «Fürst der Orgel». Auch hiergilt, wie immer: zur richtigen Zeit am richtigenOrt. Niemand würde behaupten wollen, all dieMärsche, Polkas usw. stellten Meisterwerke dar.Andererseits gibt es nicht viele Orgelstücke, mitdenen man auch beim orgelfremdesten Publi-kum spontan Beifall ernten kann.

Das Werk Lefébure-Wélys, offizieller Musi-ker des Second Empire par excellence und ersterOrganist der 100-registrigen Cavaillé-Coll-Or-gel der Pfarrkirche Saint-Sulpice in Paris, ist un-überblickbar. Gross ist auch die Zahl von Wer-ken für Harmonium und für Orgel ohne Pedal,wie letzteres überhaupt in seinen Stücken eine

äusserst bescheidene Rolle spielt. Aus dieser Fülleseien die obgenannten Stücke herausgegriffen.«L’office catholique» enthält 120 Sätze, aufgeteiltin zehn Suiten. Es ist die gleiche Abfolge vonPräludien, Offertorien, Elevationen, Märschenund – immer wieder – Versetten. Längst nicht al-le Stücke sind im erwähnten Humm-tata-Stil ge-schrieben. Vieles überrascht durch fast keuscheInnerlichkeit und schlichtesten Satz. Immer trittaber das eminent melodische Genie des Kompo-nisten zu Tage.

Zu einzelnen StückenHerausgegriffen sei der Boléro de concert d-moll, neben der Sortie in Es-Dur wohl sein be-kanntestes Stück und dank einer Einzelausgabeleicht greifbar (Beispiel 2). Der Perkussionseffektder Begleitung im Boléro-Rhythmus lässt sichwohl nur mit Zungenregistrierung erzielen.Spielt man zweimanualig, ist also die Umkeh-rung der üblichen Anordnung angebracht: Zun-ge in der Begleitung statt für die Melodie. DieÜbernahme der tiefen Bassnote mit dem Pedal(angekoppelt, evtl. mit einem 16’ und einem lei-sen 8’-Pedalregister) erleichtert das Ganze be-trächtlich. Die Registerangabe des Komponistenist nicht eindeutig: Was ist mit C gemeint? Istdies eine andere Bezeichnung für die Diskant-schwebung 16’ (voix céleste, üblicherweise mitVC oder � angegeben), wie der HerausgeberEwald Kooiman im Vorwort vermutet? Jeden-falls ist schon mit der � in der rechten Hand ein16’-Register gefordert. Im Mittelteil ist, nament-lich auf kleinen Orgeln, sogar Tiefoktavieren derMelodie überlegenswert.

Überflüssig anzumerken, dass es sich hier si-cher nicht um Gottesdienstmusik im eigentli-chen Sinne handelt. Ebenso sicher ist aber, dassjeder in der Praxis einen Ort finden wird, wo ge-nau und nur mit diesem Stück die beabsichtigteWirkung zu erzielen ist.

César Franck (1822–1890): l’organis-te, Bd. I (Enoch, Durand, Kalmus,Universal) und l’organiste, Bd. II(Enoch, Editions du Marais,pro organo, Leduc)

Zum Komponist und zu beiden Sammlungen Vorbemerkung: Zum 100.Todesjahr Francks er-schien in dieser Zeitschrift (1990 Nr. 6, S. 285–310, allein den hier besprochenen Harmoniums-sammlungen sind vier Seiten gewidmet) ein sehr

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informativer Beitrag über den Komponisten ausder Feder von André Manz.

Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dassder Name Franck hier auftaucht, ist der wohlgrösste französische Orgelmusikkomponist des19. Jahrhunderts doch in erster Linie für seinegrossformatigen und in jeder Beziehung schwie-rigen Stücke für grosse Orgel bekannt. Nun wis-sen aber mittlerweile die meisten, dass das Werkdes belgischen Meisters viel mehr umfasst als diezwölf grossen Fresken, auf die es früher reduziertwurde. Interessant sind hier für uns die Samm-lungen, die unter der Bezeichnung «l’organiste»im Umlauf sind.

Vorweg gleich eine Klarstellung, da zu denTiteln «l’organiste I» und «l’organiste II» teilwei-se falsche oder zumindest verwirrende Ansichtenim Umlauf sind. Die so betitelten, leider weitverbreiteten Hefte aus dem Enoch-Verlag ent-halten in Wahrheit die (Schand-)Tat des Franck-Schülers Charles Tournemire, der sich als impul-siver und vor Fantasie strotzender Meister ge-nötigt fühlte, die Werke seines verehrten Lehrerszu «verbessern» (Registrierungen und Bögenwurden nach eigenem Gutdünken gesetzt, jaganze Teile ohne Kommentar gestrichen!). Auchdie Bezeichnungen «organiste I» und «organisteII» wurden in der dritten Auflage der Enoch-Ausgabe ins Spiel gebracht und stammen nichtetwa von Franck selber. Nur bei den 59 Stücken(eigentlich 63, mehr dazu später) aus seinen letz-ten Lebenstagen, unvollendet nachgelassen

(«l’organiste, 1er volume» in Tournemires Aus-gabe), stammt die Ordnung von Franck. «L’or-ganiste, 2e volume» ist ein Potpourri verschie-denartigster Stücke aus den frühen Schaffens-jahren Francks, deren Zusammenstellung vonFranck so nicht gewollt war und im Übrigen,trotz ihres Untertitels, wegen des häufig gefor-derten Pedals nur bedingt in diesen Zusammen-hang gehört. Man lasse also die Finger von den(übrigens miserabel gedruckten) Enoch-Heftenund greife am besten zu den Ausgaben bei Kalmusoder Universal (für die 59 Stücke) bzw. bei denEditions du Marais, Collection du Patrimoine(Herausgeber Joris Verdin) für die grösseren derfrühen Stücke. Von diesen existiert auch einekleine aber brauchbare Auswahl bei pro organo(Herausgeber Hermann J. Busch). Die fünf grös-seren Stücke von 1863 gab Louis Vierne in einerFassung für Orgel heraus (Leduc, 1901). Eineunbefriedigende Situation! Sehnsüchtig wartetman deshalb auf den Band VI der neuen Ge-samtausgabe im Universal-Verlag (HerausgeberGünther Kaunzinger). Ebenfalls eher nicht zuempfehlen ist die hie und da noch anzutreffendeAusgabe der 59 Stücke in der Revision von Mau-rice Duruflé (Durand). Wohl geht dieser, seinemganz anders gearteten Temperament zu Folge,wesentlich pietätvoller mit dem Notentext um,doch schränken die vielen Pedal- und Manual-angaben sowie die Vorschläge für Orgelregistrie-rungen unnötig ein.

Beispiel 2

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Zu den 59 Stücken von 1890 («l’organiste I»)1. musikalische Qualität: *****2. technische Schwierigkeit: **3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ****4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: *****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? möglich aber selten

sinnvoll6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nein

9. Charakter der Stücke: wunderbare, in ihrem äusse-ren Aufwand geradezu asketische kurze bis kürzesteStücke, in denen keine Note zuviel steht und die einestets gewählte Harmonik und Melodik offenbaren.

Es mag erstaunen, dass Franck in seinem letztenLebensjahr Zeit und Lust hatte, neben den mo-numentalen drei Chorälen noch kleinformatigeOrgelstücke zu schreiben. Vielleicht ist es des-halb nicht überflüssig, eben dieses letzte Lebens-jahr kurz Revue passieren zu lassen, um den Hin-tergrund der Entstehung dieser Meisterwerke zuerhellen. Ja, diese Bezeichnung ist nicht übertrie-ben, möchte ich doch behaupten, dass es hier umdas Spitzenwerk in dieser ganzen Reihe handeltund vielleicht auch um die einzige Sammlungfranzösischer Orgelmusik überhaupt, die hoch-wertig und leicht ausführbar ist.

Franck ist nicht der einzige Komponist, derin seiner letzten Schaffensphase zu einer ArtNeuer Einfachheit zurückgefunden hat. Mandenke etwa an die Choralvorspiele von Brahms,die in einer ähnlichen Lebenssituation entstan-den sind. Bemerkenswert bei Franck ist aller-dings, wie erwähnt, das Nebeneinander (oderbesser Ineinander) von Fresko und Miniatur.

Nun also zu diesem schicksalshaften Jahr1890: Im Mai wurde Franck Opfer eines Ver-kehrsunfalls (selbstverständlich war nicht etwaein Auto im Spiel, wie vielerorts zu lesen ist;Franck wurde von einem Pferdegespann ange-fahren). Zur Erholung reiste er ins Haus einesVerwandten nach Nemours (Seine-et-Marne),wo er einen durchaus glücklichen und arbeitsrei-chen Sommer verbrachte. Er schlug sich mitmehreren Kompositionsprojekten herum: einerSonate für Cello und Klavier (die nie kompo-niert werden sollte), den drei Chorälen für Orgelsowie einem Auftrag des Hauses Enoch für leich-te Orgelstücke. Dass Franck, dessen Güte undSelbstlosigkeit legendär war, letzteren trotz sei-

ner beschränkten Kräfte ernst nahm, zeugt dienachfolgende Chronologie, die auf Grund derAngaben in den Manuskripten erstellt wurde:Choral Nr. 1 in E-Dur: 7. AugustL’organiste, Stücke in C: 16. AugustL’organiste, Stücke in Des: 21. AugustL’organiste, Stücke in D: 24. AugustL’organiste, Stücke in Es: 28. AugustL’organiste, Stücke in E: undatiertL’organiste, Stücke in F: 1. SeptemberL’organiste, Stücke in Fis: 5. SeptemberZurück in Paris, ging es folgendermassen weiter:Choral Nr. 2 in h-moll: 17. SeptemberL’organiste, Stücke in G: 26. SeptemberL’organiste, Stücke in As*: undatiertChoral Nr. 3 in a-moll: 30. September

Franck starb am 8. November und hinterliessdie Sammlung unvollendet, wie er auch dieDruckfahnen der drei Choräle nicht mehr korri-gieren konnte. Verwaist blieb auch seine Orgel-klasse am Konservatorium mit ihren vielen hoff-nungsvollen jungen Talenten (darunter den 20-jährigen Altersgenossen Tournemire und Vierne;letzterer hat in seinen «Souvenirs» ein beredtesZeugnis ihres Gemütszustandes abgegeben).

*Was die wenigsten wissen: Franck hat dieSuite in As durchaus vollendet, die Stücke 4 bis7 aber nicht mehr zu Handen des Notenstechersabschreiben können. Sie wurden deshalb vomVerleger auch nicht in die Erstausgabe von 1892übernommen; und fast alle modernen Ausgabensind ihm darin gefolgt. Das (erste) Manuskriptaller 63 Stücke ist erhalten (Bibliothèque Natio-nale, Paris, Cons. Ms. 8606). Im zweiten, eben-falls erhaltenen (ebenda, Cons. Ms. 8606), fin-den sich dann eben nur die bekannten 59Stücke. Die vier fehlenden, durchaus vollende-ten und publizierbaren Stücke wurden übrigensspäter gedruckt und waren bisher nur in einerschwer erhältlichen Sammlung (Pièces roman-tiques ignorées, Band 17 der Reihe «l’Organisteliturgique», Herausgeber Gaston Litaize undJean Bonfils, Verlag Schola Cantorum, Paris)veröffentlicht. Seit kurzem sind sie auch in einermodernen Edition greifbar (Anhang des BandesV der Gesamtausgabe im Universal-Verlag).

Aufbau von «l’organiste I»: Vollendet und her-ausgegeben wurden, wie erwähnt, 59 Stücke (alsletztes das dritte in As-Dur). Geordnet ist dieSammlung nach Tonarten, chromatisch aufstei-gend von C aus, wobei Dur- und Moll-Variantengemischt vorkommen. In jeder Tonart stehen

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sechs Stücke, welche alle ungefähr gleich kurzsind und dann jeweils ein viel längeres, welchesmit Offertoire oder Sortie überschrieben ist unddie Themen der anderen Stücke potpourriartigaufgreift. Es handelt sich, wie der Komponistausdrücklich vermerkt hat, um Alternatim-Ver-setten zu den Schola-Versen des Magnificat.Deshalb die lapidare Kürze. Erstaunlich zahl-reich sind die Bearbeitungen von regionalenVolks- und Weihnachtsliedmelodien (airbéarnais, noël angevin, chant de la Creuse usw.),dies wohl als Reverenz an die Wirkungsstättender hauptsächlichen Adressaten der Sammlung.

Zu einzelnen StückenC-Dur, Nr. 1: Am Anfang eine häufig vor-

kommende Registrierung: Melodie «Zunge 8’»und «Grundstimme 8’», Begleitung «Grund-stimme 8’», Expression. Bei der Reprise im Takt25 lässt sich der Orgelpunkt ins Pedal nehmen(angehängt, evtl. mit Subbass 16’), damit auchhier die Melodie auf eigenem Manual gespieltwerden kann (Beispiel 3).

C-Dur, Nr. 2: Das erste Stück, bei dem dieRegistrierung (rechte Hand 16’, linke Hand 4’)einen «Zusammenzug» des Satzes zur Folge hat(Beispiel 4). Das Cellosolo darf nicht zu leise sein(eher Oktave 4’ als Flöte 4’).

C-Dur, Nr. 3: Ein Stück, das völlig entstelltwird, wenn man die Eigenheiten des Harmoni-ums nicht berücksichtigt: die ersten vier Taktesind auf einem Manual mit der «Zunge 4’» � zu

spielen (sie liegen unterhalb des e1), die nächstenvier mit der «Grundstimme 16’» �, dann das-selbe im zweitaktigen Abstand (Beispiel 5). Erstab Takt 13 spielt man auf zwei Manualen (wie imvorigen Stück).

c-moll, Nr. 5: Hier wie in anderen Stückendieser Art (d-moll, Nr. 3; Es-Dur, Nr. 2), kanndie tiefe Bassnote mit dem Pedal gespielt werden.Um die Schwäche der tiefen Töne bei Labial-pfeifen auszugleichen (auf dem Harmonium istdies anders!), kann man nebst der Koppel nocheigene Pedalregister zuziehen.

d-moll, Nr. 6, Vieux noël: Es handelt sich umdie Melodie, die bei Daquin als «Noël suisse» be-zeichnet wird und von Franck schon in einemfrüheren, wesentlich ausgedehnteren Werk bear-beitet worden war (Grand chœur C-Dur, Teilvon «l’organiste II» in Tournemires Ausgabe).

Es-Dur, Nr. 5: Hier heisst die Registrierungfür einmal rechte Hand «Grundstimmen 16’und 8’», linke Hand «Grundstimme 8’». Mankann bei Fehlen eines manualen 16’ also dierechte Hand mit 8’ und 4’ eine Oktave tieferspielen. Die linke Hand ist wohl wieder «quasiVioloncello» gedacht, aber diesmal nicht als Me-lodie, sodass eher eine Flöte oder ein schwacherStreicher 8’ angebracht ist.

e-moll, Nr. 1: ähnlich wie C-Dur, Nr. 1, hierwird aber für die Melodie eigenartigerweise 16’und 8’ verlangt. Ob dies auf der Orgel wirklichgut klingt, muss ausprobiert werden.

e-moll, Nr. 2: ähnlich Es-Dur, Nr. 5, rechteHand aber nur 16’, also wohl am besten 8’ eine

Beispiel 3: C-Dur, Nr. 1

Beispiel 4: C-Dur, Nr. 2

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Oktave tiefer. Die linke Hand muss dominieren:man beachte die Angabe (O), also das Öffnendes Forte-Loches für die Basslage. Es fragt sichallerdings, was mit dem Orgelpunkt im Takt 16geschehen soll. Hier übernimmt eindeutig derSopran die Führung. Möglich ist Spiel derganzen acht Takte im Pedal auf leiser 8’-Basis.

e-moll, Nr. 3, Prière: Eines der schönstenStücke der Sammlung in choralartigem obliga-tem vierstimmigem Satz. Der Bass lässt sich, viel-leicht mit Ausnahme der Takte 9 bis 12, mit demPedal spielen. Allerdings wird man dann wohlauf den Schwellergebrauch verzichten müssen,was auch wieder schade ist.

F-Dur, Nr. 1: Hier gilt dasselbe bezüglich desPedals. Offensichtlich geht hier Franck von derLieblingsregistrierung vieler seiner leisen Orgel-stücke aus: «Alle Grundstimmen 8’ mit Oboe 8’.»

F-Dur, Nr. 7, Sortie: Eines der wirkungsvolls-ten Stücke der Sammlung und wahrscheinlichdas zugkräftigste Manualiter-Stück aus demganzen französischen Repertoire des 19. Jahr-hunderts. Beispiel für die potpourriartigenSchlusstücke, hier, im Gegensatz zu manch an-derem Vertreter dieses Typs, von grosser formalerStringenz (schnell-langsam-schnell). Die vielenStaccato-Doppelgriffe machen es recht an-spruchsvoll. Hier ist pianistische Handgelenks-technik verlangt (schwierig auf nicht-mechani-schen Trakturen). Tiefoktavieren ist wegen dervielen Töne in der grossen Oktave für einmal lei-der nicht möglich. Allerdings tönt das carillonar-tige Stück auch mit (nicht allzu hohen) Mixtu-ren gut. Mittelteil: Hier muss die rechte Handbei den mit � � bezeichneten Stellen unbe-

dingt eine Oktave tiefer und molto legato ge-spielt werden. Die �-Stellen sind dann loco.Die günstigste Temporelation zum Hauptteil istwohl Achtel gleich Viertel. Der Molto-Modera-to-Übergang (Des-Dur) kann auf dem geschlos-senen Schwellwerk gespielt werden, ab den letz-ten sieben C-Dur-Sechzehnteln vor der Reprisespielt man dann auf dem Hauptwerk.

g-moll, Nr. 2, Vieux noël: Auch von diesemStück (welches die Noël-Melodie «Or, dites–nous Marie» bearbeitet) gibt es einen grossenBruder in «l’organiste II»: Offertoire pour unemesse de minuit.

G-Dur, Nr. 3, Noël angevin: Der Titel hatnichts mit Engeln zu tun: ein Weihnachtslied ausder Region Anjou! Das Motiv taucht in der Sor-tie wieder auf.

g-moll, Nr. 5: In den letzten zwölf Taktenkann für einmal die voix humaine eingeführtwerden – so man hat.

g-moll, Nr. 6: fällt mit seinem mendelssoh-nisch-unruhigen Gestus etwas aus dem Rahmen.Hier ist Zungenklang unumgänglich. Mit demSpiel der Bässe g–d in den Takten 4 bis 8 (undder entsprechenden Töne in den Parallelstellen)auf dem (angehängten) Pedal kann man sich dieSache wesentlich erleichtern.

G-Dur, Nr. 7, Sortie: Ein weiteres Zugstück!Die Harmoniumsregistrierungen Francks gebeneinige Rätsel auf: Beginn «Grundstimme undZunge 8’», dann zwei Mal unvermittelt das volleWerk G . Wie ist das zu verstehen? Es ist mög-lich, das Thema in Takt 21 auf einem leiserenManual zu spielen und dann nur die rechteHand mit der neuen Noël-Melodie im Takt 26

Beispiel 5: C-Dur, Nr. 3

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auf dem Hauptwerk zu führen. Die linke ziehtdann erst im Takt 39 nach (Beispiel 6).

Im Mittelteil fällt der übergrosse Abstand zwi-schen der Melodie im Bass und den Begleitstim-men in der rechten Hand auf, was auf die 16’–8’-Registrierung der letzteren zurückzuführen ist. Esist fraglich, ob dies auf der Orgel wirklich gutklingt. Jedenfalls darf die rechte Hand keinesfallshöher als achtfüssig genommen werden. ZweiMöglichkeiten für die Praxis: – alles auf einem Manual mit Grundstimme(n)

8’ und einer leisen Zunge 8’. Dann ergibt sichdie Hervorhebung des Basses von selbst.

– Ausführung der Bassmelodie mit dem Pedal.Die beiden Begleitstimmen können dann aufdie beiden Hände verteilt und perfekt legatogespielt werden.

Achtung: Der ganze Überleitungsteil ab Takt69 ist schon Allegro zu spielen. Die recht tief

liegenden Einwürfe der rechten Hand über demOrgelpunkt D klingen auf der Orgel, anders alsauf dem Harmonium, kaum gut mit 16’-Regis-trierung. Ganz am Schluss des Stückes kann mandas tiefe D mit dem Pedal verstärken (und viel-leicht sogar liegenlassen).

As-Dur, Nr. 3: Das Prélude in h-moll vonChopin lässt grüssen! Leider ist das Cellosolonicht auf dem Pedal ausführbar, sodass man vordie Aufgabe gestellt wird, den zweistimmigenDiskant mit seiner obligaten Oberstimme «ein-händig» in perfektem Legato zu spielen; eines derzauberhaftesten Stücke der Sammlung.

Zu den 30 Stücken von 1858 bis 1866(«l’organiste II)1. musikalische Qualität: ***2. technische Schwierigkeit: ****3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ****

Beispiel 6: Franck, Sortie G-Dur (59 Stücke)

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4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: * (unterschied-lich)

5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? in den grösserenStücken unumgänglich

6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: nein8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nein

9. Charakter der Stücke: einige kleinere Stücke im Stileder 59 Stücke von 1890, dann aber einige grossfor-matige Werke von grossem Schwung und sichererWirkung, die freilich nur auf grösseren Orgeln gutklingen.

Es handelt sich hier also – trotz der Ordnungs-zahl – um frühere Stücke (entstanden zwischen1858 und 1866, also immerhin genau zur glei-chen Zeit wie die «Six pièces pour Grand-orgue»mit den bekannten «Prélude, fugue et variation»,«Grande pièce symphonique» oder «Final» – wie-der ein erstaunliches Nebeneinander von Ge-legenheits- und Meisterwerken!). Die 30 sehrverschiedenartigen Stücke wurden aber erst nachdem Tode Francks von seinem Sohn Georgesherausgegeben («Pièces posthumes pour harmo-nium ou orgue à pédales pour l’office ordinaire»,Enoch, Paris, 1905). Im Vorwort bemerkte er, sieverdankten ihre Entstehung dem Wunsch einesFranck-Schülers aus der Provinz, der Meistermöge Stücke für seine kirchenmusikalische Pra-xis schreiben. Dies gilt jedoch kaum für dieganze Sammlung. Soweit, so gut. Nun besorgteaber Charles Tournemire im Jahr 1930 (undnicht 1905, wie André Manz angibt) eine Neu-ausgabe beider Sammlungen: «L’organiste. Re-cueil de pièces pour orgue ou harmonium. 1er et2e volume». Man beachte schon die aufschluss-reiche Nuance bei der Bezeichnung der Instru-mente! Hielt er sich bei den 59 Stücken von1890 noch eingermassen nahe am Original, hater bei den 30 Stücken von 1858 bis 1866 richtig-gehend gewütet. Besonders ins Gewicht fällt dieStreichung ganzer Abschnitte. 14 Stücke hat erganz unterschlagen, weil er sie für unecht hielt.Aber auch bei der Registrierung, den Bögen undden Titeln fühlte er sich zu Änderungen genötigt:die sieben grossen Stücke, die bei Franck allesamtdie neutrale Funktionsbezeichnung «Offertoire»tragen, sind hier mit «Sortie», «Grand cœur»,«Pièce symphonique» usw. übertitelt. Existiertvon der ganzen Sammlung bis heute leider keinekritische Gesamtausgabe, so sind wenigstens die-

se gewichtigsten Werke in einer modernen Edi-tion greifbar (die oben erwähnte bei den Editionsdu Marais).

Es sind gesamthaft etwas schwerere und auchlängere Stücke bis hin zur «Pièce symphonique,c-moll» (in Tournemires Bezeichnung) – quasi einkleines Pendant zur bekannten «Grande piècesymphonique». Erstaunlich ist der äusserliche, jamanchmal fast grosssprecherische Stil mancherAbschnitte: ein Franck, wie wir ihn nur am Randekennen und der fast an seine viel geschmähtenZeitgenossen Batiste und Lefébure-Wély erinnert.Nun, dass Franck als Komponist so begonnen hat,ist ein Faktum, dass Überreste davon bis in seinSpätwerk reichen, ebenfalls. Dieser «style pompier»(nach gängigem französischem Sprachgebrauch)findet sich etwa im Gloria der Messe in A-Duraber auch im Final in B-Dur und Relikte davonsogar in einem Spätwerk wie dem Psalm 150.

Obwohl das Pedal in den fast durchwegs aufzwei Systemen notierten Stücken fast immer nurNoten aufnimmt, die irgendwie schon in derBasslinie der linken Hand vorhanden waren oderdann ganz simple Orgelpunkte ausführt, handeltes sich ihrem ganzen Wesen nach doch umMusik für (grosse) Orgeln. Der Franck der 60er-Jahre hat sich offenkundig viel weniger mitdem Harmonium beschäftigt als der alte, krankeMann von 1890. Es sind Musterbeispiele für denTyp «grosse Musik fürs kleine Harmonium».Schwierigkeits- und umfangmässig sind sie zwi-schen den 59 Stücken von 1890 und den zwölfgrossen Stücke anzusiedeln. Wo sich jene (mitwenigen Ausnahmen) zum Leidwesen vielerKonzertorganisten energisch gegen jede liturgi-sche Verwendung sperren, ist hier ein Einsatz imGottesdienst durchaus denkbar.

Zu einzelnen StückenOffertoire f-moll (bei Tournemire: Sortie): Es

ist von den grösseren Stücken dasjenige, welchessich am ehesten ohne Pedal ausführen lässt. Aller-dings rufen die vielen Unisoni und Akkord-blöcke gebieterisch nach einem grossen, zungen-durchsetzten Instrument.

Offertoire E-Dur (bei Tournemire: Grandchœur): Ein Stück, über welches man schmun-zeln mag! Wenn einmal ein Blasmusikverein imGottesdienst mitwirkt, ist es genau richtig («zurrechten Zeit am rechten Ort»). Hier kommt manohne obligates Pedal und ohne freie Kombina-tionen nicht aus. Der Mittelteil ist ein verklei-nertes Gegenstück zum Andantino in g-moll

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und atmet denselben herbstlichen Charme. Keinleichtes Stück!

Es folgen 20 kurze bis sehr kurze Stücke, wel-che nur in Tournemires Ausgabe greifbar sind undden Schwierigkeitsgrad der Sammlung von 1890nicht überschreiten. Sie sind deshalb sehr gut inder Praxis zu verwenden. Allerdings kann mansich fragen, wieso man sich nicht gleich an die un-zweifelhaft besseren späten Stücke halten soll.

Offertoire in C-Dur (bei Tournemire: Grandchœur; in der Ausgabe von Verdin nicht vorhan-den, wohl aber in jener von Busch): Das bereitseinmal kurz erwähnte Stück verarbeitet Noël-Melodien in symphonischem Gestus. Der An-fang erinnert bizarrerweise an unser Lied «IhrKnechte Gottes allzugleich».

Offertoire pour une Messe de minuit, d-moll(idem bei Tournemire): Das ebenfalls schon er-wähnte, ziemlich ausgedehnte aber leichte Stückverarbeitet zwei Nöel-Melodien, eine in moll,eine in Dur.

Offertoire g-moll (bei Tournemire: Piècesymphonique): Tatsächlich das symphonischsteStück der Sammlung mit grossartigen Tutti-Wir-kungen, die ein wenig an die A-Dur-Fantasievon 1878 erinnern. Hier ist nun die Schwelle zurKonzertmusik endgültig überschritten.

Sortie D-Dur (idem bei Tournemire; in derAusgabe von Verdin nicht vorhanden, wohl aberin jener von Busch): Zusammen mit dem Offer-toire in C und demjenigen für die Mitternachts-messe das zugänglichste und lohnendste der län-geren Stücke. Das Thema erinnert an das be-kannte französische Adventslied «Venez, divinMessie». Tournemire hat die beiden etwas sim-plen aber buchstäblich schlagkräftigen Akkord-stellen kommentarlos gestrichen! Meiner Mei-nung nach weist Busch in seiner Ausgabe demPedal unnötig viele Noten zu. Die folgende Ver-teilung dürfte eine wesentliche Erleichterungdarstellen (Beispiel 7).

Im Mittelteil Pedal erst bei den Orgelpunkten.Das Stück lässt sich problemlos von A bis Z inderselben (nicht zu grellen) Tutti-Registrierungspielen.

Offertoire fis-moll (bei Tournemire: Grandchœur): Existiert in zwei verschiedenen Versio-nen (beide von Verdin vorgelegt). Mit seinen vie-len punktierten Rhythmen und quasi Posaunen-soli demselben Blasmusikstil verpflichtet wie dasEs-Dur-Stück, allerdings weniger ausgedehntund auch technisch einfacher.

Camille Saint-Saëns (1835–1921):Neuf pièces (Das Orgelwerk Bd. 2,Butz-Verlag)1. musikalische Qualität: ***2. technische Schwierigkeit: **3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ****4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: ****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? ja6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nein

9. Charakter der Stücke: hübsche, kurze Miniaturen invorwiegend akkordischem Satz; wohl die leichtestenaller hier besprochenen Stücke.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesSaint-Saëns ist hier zu Lande als Orgelkompo-nist wenig bekannt. Es gibt auch anderes vonihm als den kümmerlichen Orgelpart der Sym-phonie in c-moll! Er war recht lang Titularorga-nist an der Madeleine-Kirche in Paris und hatmit der Orgel durchaus umzugehen gewusst.Hie und da gespielt wird die Fantasie in Es-Dur,ein Jugendwerk, wogegen seine klassisch anmu-tenden zwei mal drei Präludien und Fugen op.99 und op.109 viel zu wenig bekannt sind. Seinreiches Orgelwerk umfasst auch Werke «pourharmonium ou orgue», die sich hervorragendfür kleinere Orgeln eignen. Es handelt sich umJugendwerke, die später vom Komponisten inSammlungen herausgegeben wurden. ZweiStücke (Nr. 2 uns 6) sind in dieser Ausgabe in ei-ner vom Komponisten selber stammenden Bear-beitung für Orgel mit Pedal und zwei Manualendargeboten und lassen sich darum so nicht aufdem Harmonium darstellen.

Zu einzelnen StückenI, Marche-Cortège: Hier fällt, wie in vielen

Stücken der Sammlung, der pianistische Satz mitAkkorden in der rechten Hand und Oktaven inder linken auf. Man ist in solchen Fällen ver-sucht, das Pedal beizuziehen. Da es nie eindeutigist, welchen Ton man nun spielen soll und auchklanglich eine ungünstige Situation entsteht, las-se man das lieber.

II, Interlude fugué: Eine veritable Fuge, eineder ganz wenigen in diesem Repertoire (einigeweitere finden sich bei Ropartz). Die paar Bass-töne im dritten System lassen sich durchaus mitder linken Hand greifen.

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Beispiel 7: Franck, Sortie in D-Dur (30 Stücke) in der Ausgabe Tournemires

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VI, Procession: Eine Tasteninstrument-Fas-sung des Schlusschores «Tollite hostias» aus demberühmten Weihnachtsoratorium (Beispiel 8).Gleiche Bemerkung zum Satz wie unter Nr. I.

Théodore Dubois (1837–1924):42 pièces pour orgue sans pédaleou harmonium (Butz-Verlag)1. musikalische Qualität: **2. technische Schwierigkeit: **3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ***4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition:****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? ja6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden? ja9. Charakter der Stücke: kurze und einfache Stücke

mit gefälliger Melodik und recht simpler, eherfrühromantischer Harmonik.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesThéodore Dubois war ein unglaublich konserva-tiver, stark verspäteter Meister. In seiner Rück-ständigkeit schlägt er Guilmant um Welten.Auch ist sein Orgelsatz längst nicht so raffiniert,dafür noch einfacher. Sein bekanntestes Stückdürfte die Toccata in G-Dur sein. Auch seine (Pe-daliter-)Orgelstücke sind immer ausgesprochenleicht zu lesen und auszuführen, auch auf nicht-französischen Orgeln. Neuerdings sind sie in ei-ner modernen kritischen Gesamtausgabe greifbar(Bärenreiter-Verlag); eine gefällige Musik auf derLinie von Francks «l’organiste I», freilich ohne

dessen Originalität. Dubois hat Orgelregistrie-rungen angegeben mit Zusatzbemerkungen fürdie Ausführung auf dem Harmonium.

Aléxandre Guilmant (1837–1911):L’organiste liturgiste op. 65(Bellwin-Mills)1. musikalische Qualität: **2. technische Schwierigkeit: ***3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: **4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: ****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? ja6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts:

bedingt8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden? ja9. Charakter der Stücke: kleinere, meist homophone

Stücke über gregorianische Themen oder zu spezifi-schen liturgischen Situationen. Bemerkenswert diehochromantische Harmonisierung der Gregorianik.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesGuilmants Orgelœuvre ist unüberblickbar. Dakönnen auch Stücke, die in unsere Kategorie fal-len, nicht fehlen. Wenngleich Guilmant im Ver-gleich zu seinen Zeitgenossen ein eher konserva-tiver Komponist war, zeigen seine Werke dochhöchste handwerkliche Meisterschaft und geradein den kleinen Formen grössten Empfindungs-reichtum. Als einer der wenigen Franzosenschrieb er Stücke für alle Schwierigkeitsgradeund in allen nur denkbaren Gattungen: vomhochvirtuosen Toccaten-Schlusssatz der 1. Sym-

Beispiel 8: Procession

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phonie bis zum einfachen vierstimmigen Choral,vom süsslichen Charakterstück über die grego-rianische Paraphrase bis zur strengen Fuge. Sogarfür Klavier-Harmonium-Duett, damals eineModebesetzung, gibt es eine recht grosse AnzahlStücke von ihm (die sich bestens für die heuterecht ausgefallene aber sehr reizvolle Kombina-tion Klavier–Orgel eignen). Von allen Komponis-ten der französischen Romantik wartet Guil-mant, von Vierne als «Kolorist ersten Ranges»betitelt, mit den raffiniertesten Registrierungenauf. In der Ausnutzung der Mehrmanualigkeit(und sogar des gleichzeitigen Spiels mit einerHand auf zwei Manualen) geht niemand so weitwie er. Schade, dass ihn die Inspiration immerwieder im Stich lässt: häufig nur gut gemacht,nicht wirklich gut. Auch bei Guilmant ist seiteiniger Zeit eine (sehr kostspielige) moderneGesamtausgabe im Entstehen.

Es erstaunt, welche Bandbreite der Formender Komponist im op. 65 den unschuldigen gre-gorianischen Weisen abgewinnt. Die Stücke tra-gen Bezeichnungen wie Fugue (Sortie) sur l’an-tienne «Lumen ad revelationem gentium»; AveMaria, Offertoire pour la fête de l’annonciation;Strophe, Interlude et Amen sur l’hymne «Exsul-tet orbis gaudiis»; Variations et Fugue sur le chantdu Stabat mater; Marche religieuse (Offertoire)sur l’hymne «Iste confessor»; Elévation ou Com-munion dans le style de J. S. Bach (!). Obwohl essich also fast durchwegs um Bearbeitungen gre-gorianischer Cantus firmi handelt, sind dieStücke trotzdem unabhängig von diesen und so-mit überall zu verwenden. Zum einen sind diemeisten Melodien heute kaum mehr bekannt,zum anderen verwendet Guilmant sie in einerrhythmisierten, stark dem lutherischen Choralangeglichenen Form (!), wodurch sie häufig auchvon Kennern nicht identifiziert werden können.Man wird auf Tournemire warten müssen, um ei-ne freiere, dem Geist der Gregorianik besser ent-sprechende Art der Verarbeitung anzutreffen.

Eugène Gigout (1844–1925):L’orgue d’église (Enoch)1. musikalische Qualität: **2. technische Schwierigkeit: ****3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: **4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: *5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? möglich ja, nicht

unbedingt sinnvoll6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja

8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und Mehr-manualigkeit vom Komponisten vorhanden? nein

9. Charakter der Stücke: leichte und anspruchsloseStücke im Stile von Dubois’ Sammlung.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesEugène Gigout ist, wie Léon Böellmann, bei unsein «Ein-Werk-Komponist», wobei seiner Toccatain h-moll schon wesentlich seltener die Ehre er-wiesen wird als dem gleichnamigen c-moll-Stückseines elsässischen Schwiegersohnes. Gigout istwie Dubois ein unglaublich konservativer undverspäteter Komponist. Die 52 Stücke mit demUntertitel «deux volumes d’interludes» wurden1902 herausgegeben. Man bedenke: Zu jener Zeitlagen bereits einige Standardwerke von Debussyund Ravel vor! Und doch folgte 1911 er nun nichtetwa Louis Vierne dem verstorbenen AlexandreGuilmant als Professor am Conservatoire de Parisnach, was einen groben Rückschritt oder mindes-tens einen Stillstand bedeutete. Organisten wieMarchal und Duruflé bedauerten es jedenfallslebhaft, dass sie gezwungen waren, zumindest denoffiziellen Teil ihrer Ausbildung bei dem liebens-würdigen aber völlig rückständigen lothringi-schen Meister absolvieren zu müssen.

Seine sehr zahlreichen Orgelwerke stehen sti-listisch und schwierigkeitsmässig ungefähr zwi-schen Dubois und Guilmant. Sie glänzen nichtgerade durch besondere Originalität, überzeu-gen aber in Form und Satztechnik. Dies gilt auchfür die Stücke «pour orgue et harmonium» mitdem bezeichnenden Titel «L’orgue d’église» (dieswar also die Kirchenmusik jener Zeit, sichernicht die brillante Toccata), welche in seinemweit gespannten Œuvre natürlich nicht fehlenkonnten. Befremdend hier, wie auch in anderenStücken (Cent pièces brèves grégoriennes), dervöllig stilwidrige Umgang mit der Gregorianik.Damit teilte er allerdings die Irrtümer seinerZeit. Auch etliche Jahre nach Guilmant war manoffensichtlich noch nicht weiter ...

Cécile Chaminade (1857–1944):La nef sacrée, op. 171 (Combre)1. musikalische Qualität: **2. technische Schwierigkeit: ****3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: *4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: *5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? möglich und

unbedingt nötig6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: nein

8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch undMehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?Registrierung sehr detailliert, überall kleine Notenfürs Pedal

9. Charakter der Stücke: ziemlich bis sehr lange,mehrteilige Stücke in einem recht unorganistischen,wenn auch nicht schlecht klingenden Satz undausgesprochen süsslicher Melodik und Harmonik.

Zur Komponistin und zum Werk als GanzesCécile Chaminade ist eine der wenigen Kompo-nistinnen auf dem Gebiet der Orgelmusik, die eszu einer gewissen Bekanntheit gebracht haben.Neben ihren französischen Kolleginnen LouiseFarrenc, Mélanie Bonis (eine Franck-Schülerin),Lili Boulanger und Jeanne Demessieux, die nochhie und da auf Konzertprogrammen auftauchen,fällt sie mit ihrem offen zu Tage tretenden Hangzur Sentimentalität, ja zum Kitsch, etwas ab.Überwältigend allerdings ihre melodische Erfin-dungsgabe: Das hie und da zu hörende Concer-tino für Flöte und Orchester ist ein Hit, dereinem noch lange nachläuft. In ihrem riesigenŒuvre, welches zu Beginn des 20. Jahrhundertssehr in Mode war, sind auch Orgelwerke zu fin-den und sogar solche «pour orgue ou harmoni-

um». Von allen hier besprochenen Stücken han-delt es sich um die ausgedehntesten (zusammenmit den Sortie-Stücken aus Francks «l’organisteI» und den Offertorien aus «l’organiste II») undun-harmoniumsmässigsten. Sie sind wohl ma-nualiter ausführbar, wirken aber durch den (inkleinen Noten angedeuteten) Pedalgebrauch umein mehrfaches besser.

Zu einzelnen StückenOffertoire au Christ-Roi (zum Christkönigs-

fest), d-moll: gleich das leichteste (wenig Vorzei-chen) und handfesteste der Sammlung, wohlauch das unsentimentalste; relativ viele Register-manipulationen und dynamische Übergängesind vorgeschrieben.

Offertoire in G-Dur («la Madone»): ein Festfür alle Voix-céleste-Freunde (leicht zu lesen undzu spielen), an Süsslichkeit fast nicht zu überbie-ten.

Offertoire pour la Toussaint (zu Allerheili-gen), es-moll: kein schlechtes Stück, darf aufkeinen Fall zu langsam gespielt werden (Metro-nomangabe an der unteren Grenze). Ein dickerKlang ergibt sich durch die Schreibweise fast vonselbst (Beispiel 9). Achtung: trotz der Forte-An-

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Beispiel 9: Chaminade, Offertoire es-moll

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delt sich hier um etwas vom besten und brauch-barsten, was es auf diesem Gebiet gibt. Wer die«Suite gothique» liebt, sie aber nicht spielenkann und es gerne tun würde oder ganz einfachmehr Musik in dieser Art haben möchte, stürzesich sofort auf die Hefte: derselbe melodischeCharme, dieselbe harmonische Verzückung. Ei-nige Stücke sind von überwältigendem Schwungbei sehr mässigen technischen Ansprüchen: Wofindet man das sonst? Als Ganzes erinnert dieSammlung an «l’organiste I» von Franck, ist abernoch schlichter in der Anlage gehalten, technischnoch einfacher, musikalisch allerdings längstnicht so vielgestaltig. Der Komponist machtkeinerlei Angaben zur Harmoniumsregistrie-rung, auch keine für die Ausführung auf der Or-gel. Pedalgebrauch drängt sich nicht auf und istauch musikalisch fast nirgends nötig. Hier sinddie Stücke nach Funktion im Gottesdienst ge-ordnet: Eingangsstücke, Offertorien, Elevatio-nen, Kommunionen, Ausgangsspiele sowie Ver-setten.

Zu den einzelnen StückenEntrée I, C-Dur: klassischer Fall eines

Stückes, welches unbedingt eine Oktave tiefer zuspielen ist (durchaus mit 8’-Zunge).

Offertoire III, F-Dur: Die f- und p- bzw. mf-Angaben lassen sich hier mit Manualwechselumsetzen. Die mit 16’ bezeichneten Abschnittegegen Schluss kann man eine Oktave tiefer spie-len. Eventuell zieht man dann eine hohe Mixturhinzu.

Offertoire V, d-moll: ist ein Menuett («gothi-que» en miniature!) und darf keinesfalls zu lang-sam gespielt werden; auch hier Manualwechselund Tiefoktavieren der 16’-Partien.

Sortie in F-Dur: Die mit 16’ bezeichnetenAbschnitte lassen sich eine Oktave tiefer spielen.Eventuell zieht man hier eine hohe Mixtur hin-zu.

Sortie II, fis-moll: Ein Grand-chœur-Stück,das einen dunklen, lauten Zungenklang erfor-dert (nicht leicht zu realisieren). Welch Pathosfür ein Manualiter-Stück! Die Punktierungenkönnen nicht scharf genug gespielt werden.

Sortie IV, d-moll: eine Art Kurz- oder Ma-nualiter-Version der Toccata in G-Dur von Du-bois, gut liegend und wirkungsvoll klingend.Wohl eher nicht zu dunkel zu registrieren.

Sortie V, B-Dur: Hier lassen sich die dynami-schen Angaben mittels Manualwechsel realisie-ren. Sogar gleichzeitiges Spiel auf zwei Manualen

gabe sicher keine 2’-Register oder Mixturen zie-hen. Temporelation am Schluss: wohl drei Ach-tel gleich zwei Achtel.

Vier Pastorale für die Mitternachtsmesse:wohl die schwächsten Stücke der Sammlung. Siewollen anspruchslos und naiv sein, kommenaber reichlich spannungslos daher.

Cortège nuptial, B-Dur: wohl das besteStück, freilich auch das ausgedehnteste undschwierigste. Zwar verdoppelt das Pedal nur dieBassstimme der linken Hand oder führt Orgel-punkte aus, doch ist das Ganze nur auf grossenPedalorgeln und mit dickem, pathetischemKlang vorstellbar.

Leon Böellmann (1862–1897):Heures mystiques, op. 29 (Auswahl:Kalmus in 2 Bänden, Harmoniain 3 Heften; Gesamtausgabe:Bärenreiter, 3 Bände)1. musikalische Qualität: ***2. technische Schwierigkeit: **3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ****4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: *****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? selten sinnvoll6. Eignung für Pedalorgeln: ja 7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden:nein (nur Dynamik und spärliche 8’/16’-Angaben)

9. Charakter der Stücke: unterschiedlich lange, meistleichtere Stücke von ekstatischer Harmonik und derfür den Komponisten typischen mal schmissigen maleingängig-sentimentalen Melodik.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesLéon Boëllmann war bei uns lange Zeit ein «Ein-Werk-Komponist». Er schrieb aber beileibe nichtnur die etwas effekthascherische «Suite gothi-que»! Seit einiger Zeit ist eine Gesamtausgabe imBärenreiter-Verlag am Entstehen, welche diesewichtige Gestalt der französischen Hochroman-tik vielleicht ins rechte Licht zu rücken hilft.Boëllmann war ein exakter Zeitgenosse von De-bussy. Unglaublich, liegt doch seine Musik ganzauf der Linie der viel älteren Meister Widor,Guilmant und Gigout (seinem Schwiegervater).Allerdings starb Boëllmann sehr jung, sodass nie-mand sagen kann, wohin ihn sein grosses Talentnoch geführt hätte.

Schon lange sind Teile der Sammlung «Heu-res mystiques» in praktischen Ausgaben greifbar.Nun liegt auch eine Gesamtausgabe vor. Es han-

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ist zur Hervorhebung des Bassthemas möglich(Beispiel 10).

Versetten: Erstaunlich vielgestaltig undlängst nicht alle kurz und leise. Unter IV findetsich beispielsweise ein Menuett, unter VI einhuschendes Stück, unter XXII eine Art Trauer-marsch mit responsorialen Effekten.

Joseph-Guy Ropartz (1864–1955):Au pied de l’autel (Salabert)1. musikalische Qualität: ****2. technische Schwierigkeit: ***3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst:

*****4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: ****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? möglich aber selten

sinnvoll6. Eignung für Pedalorgeln: ja

7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nein, nur dynamische Angaben

9. Charakter der Stücke: zwei Serien von je 40Stücken, die hier besprochene zweite stammt von1940. Eine subtile Weiterentwicklung des «organiste»,alles etwas langfädiger, modaler, volksmusikhafter,manchmal handfester und von geringerer melodi-scher Erfindungskraft.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesDer Franck-Schüler Ropartz war Bretone. Zu-sammen mit Namen wie Déodart de Séverac,Vincent d’Indy und später Ermend Bonnal, JeanLanglais und Eugène Reuchsel steht er für dieStrömung der französischen Regionalisten, wel-che der ganz von folkloristischen Traditionen

Beispiel 10: Boëllmann, Sortie B-Dur

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losgelösten Orgelwelt der Hauptstadt etwasNeues entgegenzusetzen versuchten. Für Spielerwie Hörer eine sehr zugängliche Musik, die ge-wissermassen abstrakt daherkommt und auchauf kleinen und nichtfranzösischen Orgeln adä-quat realisierbar ist. Stilistisch steht Ropartz ir-gendwo zwischen Franck und Langlais. Es ist ei-ne Musik, die nicht auf Anhieb verzaubert, derenWirkung aber lange anhält. Auffällig ist die fastdurchgehend kontrapunktische Schreibweise,was in diesem Stilbereich doch eine Seltenheitdarstellt. Obwohl sich Ropartz mit dieser 1942herausgegebenen Sammlung als stark verspäteterMeister ausweist und die Romantik seiner Stu-dienzeit allenthalben durchschimmert, ist einromantisch-dunkler Orgelklang à la Franck fastnirgends mehr angebracht. Diese kernige Musikruft fast immer nach helleren Klangfarben (undeher nach Mixturen statt Zungen).

Zu einzelnen StückenI, C-Dur: schlicht und kernig, wohl für Mix-

turen gedacht. Die Dynamik lässt sich mit Ma-nualwechseln darstellen. Die breiten Akkorde imforte ohne Bögen sind wohl non legato gedacht.III, C-Dur: Das Stück lässt sich bestens mittelsManualwechsel «orchestrieren». Auf diese Weiseist die Dynamik auch auf schwellerlosen Orgeln

realisierbar. Sogar zweimanualiges Spiel kannangebracht sein (Beispiel 11). Ausnahmsweiselässt sich auch das Pedal beiziehen (Oktaven derlinken Hand am Schluss).

Nr. V, a-moll: eine hübsche Allegretto-Fuge«en demi teintes».

Nr. XII, D-Dur: ein sehr schwungvollesStück mit auffällig vielen Quintsprüngen, einesder längsten der Sammlung, mit elegischem Mit-telteil; gibt ein sehr geeignetes Ausgangsspiel zuLiedern wie «Lobe den Herren» oder «Komm,Herr, segne uns» ab.

XXXIII, Es-Dur: ein moderneres Gegen-stück zur Prière in e-moll von Franck, das mitexquisiten harmonischen Finessen aufwartet.

XXXVI, c-moll: eines der wenigen patheti-schen Forte-Stücke, Bearbeitung «einer typi-schen drehenden» bretonischen Volksmelodie.Mit seinen Unisoni- und Chant-lié-Passagen er-innert es an grosse Orgelwerke (Beispiel 12).Wohl das wirkungsvollste Stück der Sammlung:viel Musik bei geringem technischem Aufwand.Hier ist wohl für einmal der dunkle Zungentut-tiklang à la Franck angebracht. Die Dynamikkann bei Fehlen eines Schwellers mit Manual-wechseln nachgezeichnet werden, freilich dannunter Verzicht auf die zahlreichen Übergänge.

Beispiel 11: Ropartz, Au pied de l’autel, III, C-Dur

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Beispiel 12: Ropartz, Au pied de l’autel, XXXVI, c-moll

Charles Tournemire (1870–1939):Petites fleures musicales, op. 66(Universal Edition)1. musikalische Qualität: *****2. technische Schwierigkeit: **3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: *4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: *****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? nicht möglich und

nicht sinnvoll6. Eignung für Pedalorgeln: bedingt7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts:

bedingt8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden?nur Registrierung

9. Charakter der Stücke: musikalische Aquarell- undPastellmalerei, meist sehr kurze, luftige Stücke mitden für den Komponisten so typischen Arabesken.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesEin ausgezeichneter Blumenstrauss eines deram meisten unterschätzten Komponisten derSpätromantik und Frühmoderne. An Modernitätund Experimentierlust übertrifft Tournemire so-gar seinen gewiss nicht konservativen Altersge-nossen Vierne. Er kann als unmittelbarster Vor-läufer Olivier Messiaens gelten, der ihn übrigensin hohen Ehren hielt. Dass seine Musik nie be-sonders populär war (übrigens auch in Frankreichnicht), hat mehrere Gründe: So hat er nie derWirkung halber komponiert, das effektvolle Kon-

zertstück fehlt in seinem Werk ganz. Es schriebfast ausschliesslich für die katholische Liturgieund «zur höheren Ehre Gottes». So stellte ermehrmals apodiktisch fest, jegliche nichtreligiöseMusik sei wertlos. Die Bindung an die Liturgiegeht bei ihm viel weiter als bei Messiaen, der (mitAusnahme der «Messe de la Pentecôte») kaum jewirklich liturgische Musik schrieb. Mit letztererkann auch der monumentale Zyklus «L’orguemystique» (eine Reihe von je fünf Orgelstückenfür alle Sonn- und Festtage des Kirchenjahres)formal und von der Anlage her am ehesten vergli-chen werden. Mit dem Zusammenbruch der Kir-chenmusik in Frankreich nach dem Zweiten Vati-kanischen Konzil wurde seiner Kunst der Bodenvollends entzogen. Zudem schreibt er formalunübersichtlich (wiewohl sehr kunstvoll), harmo-nisch nicht leicht fassbar und auch technisch undin der Umsetzung auf die Orgel sehr diffizil (ob-wohl kaum je wirklich virtuos). In reformiertenPredigträumen mit Sprechakustik, ja im refor-mierten Gottesdienst überhaupt wirken seinegrossen Orgelwerke fast immer richtiggehend de-platziert. Nicht so die Sammlung «Petites fleuresmusicales», welche uns hier interessiert. Es han-delt sich um eine Art «orgue mystique ad usumdelfini». Die Qualität ist dieselbe, aber welcherUnterschied im Aufwand!

Die Bindung an die Liturgie ist hier von allenbesprochenen Komponisten am stärksten aus-geprägt. Die Gregorianik steht fast überall Pate,

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auch dort, wo nicht direkt gregorianische The-men zitiert werden. Viele Stücke sind sehr leichtzu spielen und auch leicht zu lesen. Anderes setzteine gewisse Entzifferungsarbeit voraus. Tourne-mires Musik wirkt oft reichlich verstrickt (Ara-besken!), liegt aber fast immer sehr gut. Das meis-te ist leise und dünn gesetzt, eine richtige Aqua-rellmusik, wie sie für Orgel nur selten kompo-niert wurde. Eigenartigerweise verlangt derKomponist bei den Registrierungen fast nieZungen. Die Stücke müssen mit Bedacht ein-gesetzt werden: das Gegenteil von Passepartout-Musik! Schon ihre kurze Dauer macht die Ver-wendung nicht leicht.

Zu einzelnen StückenDas meiste erklärt sich von selbst – genaue Be-achtung des Notentextes und der Registrierungs-hinweise vorausgesetzt. Grundsätzlich muss dieNote-commune-Regel angewendet werden(vom Komponisten allerdings häufig sogar mitBögen angezeichnet).

Epiphania Domini (Erscheinung des Herrn),Nr. 2, Offertoire: für einmal leise, eine wunder-bare Melodie. Die Punktierungen natürlichnicht an die Triolen angleichen. Statt umzure-gistrieren sind auch Manualwechsel möglich.

Beim Voix-céleste-Teil kann man dann koppelnund den Tremulanten zuziehen.

Dominica Resurrectionis (Ostersonntag),Nr. 2, Offertoire: Ein sehr attraktives Stück mitgewaltigen rhetorischen Pausen. Vorsicht bei derRegistrierung: «Petites Mixtures» heisst wohlMixtur auf 8’-Basis, nicht unbedingt Scharf oderZimbel in unserem Sinn. Bei allem Bestreben,quasi improvisatorisch zu spielen, ist es wichtig,zunächst alles genau rhythmisch darzustellen.Die viel beschworene Freiheit darf sich nur aufeinzelne Details beziehen (Spitzentöne, Deh-nung von Pausen). Vieles ist bereits in den No-tentext hineingelegt.

Nr. 5, Toccata: kurz und relativ leicht, trotzdes Titels; eine sehr schöne Manualiter-Inven-tion. Liturgisch nicht leicht zu verwenden: even-tuell mit etwas leiserer Registrierung (nur Flöten8’, 4’, 22⁄3’, 2’) als kurzer Zwischeneinwurf?

In festo Pentecostes (Pfingstfest), Nr. 5, Fan-taisie: eine musikalisch beredte Umsetzung desZungenredens. In Räumen mit grosser Akustikvon ganz toller Wirkung (Tonwiederholungen!).In Assumptione Beatae Virignis Mariae (MariäEmpfängnis), Nr. 2, Offertoire: ein zauberhaftesStück, wohl das poetischste der Reihe. Die Trio-len müssen absolut regelmässig gespielt werden.

Beispiel 13: Tournemire, In Assumptione B.V.M, Nr. 2

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Die angegebenen Registerwechsel sind meinerAnsicht nach nicht unumgänglich (und solltenniemanden davon abhalten, das Stück zu spie-len), hingegen ist es möglich, die einstimmigenThemeneinwürfe der linken Hand auf einem ei-genen, etwas lauter registrierten Manual zu spie-len; dies vor allem dann, wenn keine Dulcianaund Gambe zur Verfügung stehen (Beispiel 13).

Louis Vierne (1870–1937): 24 piècesen style libre, 2 Bände (MasterMusic Publications oder Leduc)1. musikalische Qualität: *****2. technische Schwierigkeit: *****3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ***4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: *****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? möglich und

manchmal auch sinnvoll6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts:

nein8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden? ja9. Charakter der Stücke: grandiose, vielgestaltige Cha-

rakterstücke mit entsprechenden Titeln, die sich nurin Länge und Schwierigkeitsgrad von den bekannten24 Phantasiestücken für Orgel mit Pedal unter-scheiden.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesDer zweite absolute Gipfelpunkt der ganzen Rei-he; Viernes Stücke sind von überwältigendermusikalischer Qualität und grosser Vielgestaltig-keit. Der Einfluss des verehrten Lehrers Franckist hier weniger spürbar als in anderen Werkendes blinden Notre-Dame-Organisten. Eher kannman als von einer Miniversion der berühmten«24 pièces de fantaisie» sprechen, mit denen sieleider häufig verwechselt werden (wobei sich«mini» hier nur auf die Ausdehnung und dietechnischen Schwierigkeiten bezieht, keinesfallsauf die Qualität). Da die Verkleinerung von et-was Riesigem immer noch gross ist, haben wir eshier weder mit besonders kurzen noch mit be-sonders leichten Stücken zu tun. Hier wie dortist jede Dur- und Moll-Tonart mit einem Stückvertreten, chromatisch aufsteigend geordnet vonC aus. Man kann sie als Vorstudien betrachten,nicht aber als Jugendwerke, denn Vierne war im-merhin 43 Jahre alt, als er sie 1913 komponierte(nach der dritten und vor der vierten Sympho-nie). Es sind die einzigen Stücke des überragen-den Virtuosen, welche von einem avancierten

Laien bewältigt werden und auch im Gottes-dienst ihren Platz finden können. Ein direkterBezug zur katholischen Liturgie ist aber prak-tisch nicht vorhanden; es handelt sich um Cha-rakterstücke mit entsprechenden Titeln (Berceu-se, Elégie, Carillon usw.). Nicht alle sind schwer;einige sind ausgesprochen zugänglich (siehe un-ten). Allen gemeinsam ist ihre ausgesprocheneOrgelgemässheit. Wohl fügt Vierne Harmoni-umsregistrierungen hinzu und ist alles mit denHänden zu greifen, der Klang der (grossen) Or-gel ist aber bei fast jedem Stück unüberhörbarhineinkomponiert. Dies ist auch nicht verwun-derlich, da Vierne, der Kathedralkomponist parexcellence, kaum je selber mit dem Harmoniumin Berührung gekommen ist. Er gibt von allenhier besprochenen Komponisten die genauestenOrgelregistrierungen an, die sich in nichts vondenjenigen seiner reinen Orgelwerke unterschei-den (ausser der Beschränkung auf zwei Manua-le). Das Pedal ist allerdings eigentlich fast immerentbehrlich. Würde man die entsprechendenAngaben Viernes realisieren, wären die Stückeviel schwieriger – ohne entscheidenden Gewinnan Wirkung. Dann wäre häufiger Schwellerge-brauch stark erschwert, womit ein wesentlichgrösserer Schaden entstünde. Einzelne Tönekönnen aber durchaus dem Pedal zugewiesenwerden, sei es zur Erleichterung, sei es, um mehrGravität zu erzielen. Wie bei den meisten fran-zösischen Komponisten müssen die typisiertenAngaben zu Manualverteilung und Koppelnrichtig verstanden werden:G. (manchmal G.O.): Spiel auf dem ungekop-pelten HauptwerkP. (manchmal Pos.): Spiel auf dem ungekoppel-ten Positiv (kommt hier nicht vor)R. (manchmal Réc.): Spiel auf dem SchwellwerkG.R.: Spiel auf dem Hauptwerk mit angekop-peltem SchwellwerkG.P.R.: Spiel auf dem Hauptwerk mit angekop-peltem Positiv und Schwellwerk (kommt hiernicht vor)Péd. (manchmal Péd. solo): Spiel auf dem un-gekoppelten PedalPéd.G.: Spiel auf dem Pedal mit angekoppeltemHauptwerkPéd.R.: Spiel auf dem Pedal mit angekoppeltemSchwellwerkPéd.G.P.R.: alle PedalkoppelnVierne fügt zu jedem Stück eine Metronom-angabe bei. Die meisten sind auffällig langsam.Dies hat verschiedene Gründe. Der nahe lie-

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gendste: grösste Verständlichkeit in einer Kathe-dralakustik; höchst nötig, angesichts seiner kom-plizierten Harmonik. In trockeneren Räumenaber dürfen vor allem die leisen Stücke nicht zulangsam gespielt werden, weil sonst der Sinnzu-sammenhang für die meist symmetrisch aufge-bauten Phrasen verloren ginge.

Die schon fast ungesund heftige Orgel-Fran-kophilie in Deutschland hat uns nicht nur eini-ge höchst willkommene moderne Ausgaben be-schert (von denen die Rede war), sondern auchdie deutsche Übersetzung der «Souvenirs» vonVierne sowie eine eingehende Analyse seinerMusik (siehe Literaturverzeichnis und, für letzte-re, zufälligerweise die Besprechung in diesemHeft auf Seite 45).

Zu einzelnen StückenBesprochen sind nachfolgend, mit einer Ausnah-me, nur die leichteren Stücke.

Nr. 2, Cortège c-moll: unbedingt ohne Pedal,vielleicht mit Ausnahme der letzten sechs Takte.Nr. 3, Complainte Des-Dur: Das Stück über el-lenlange liegende Stimmen ist wohl das leichtes-te der ganzen Sammlung. Die Registrierangabe«Fonds doux, Nazard» ist mit Vorsicht zu behan-deln: Der Nazard darf den Prinzipal nur leichtfärben, auf keinen Fall ist eine starke (prinzipali-sche) Quinte gemeint. Ausführung der Bassstim-me mit Pedal in den Grand-orgue-Teilen mög-lich. In den letzten zwölf Takten dann aber keinPedal oder höchstens angehängt zur Erzielungeines schöneren Legatos.

Nr. 4, Epitaphe cis-moll: Den langen Orgel-punkt ab Takt 41 nehme man ins Pedal. Durch

die tiefe Lage tönt das Stück auch auf kleinenOrgeln sehr gut.

Nr. 7, Méditation Es-Dur: eines der leichtes-ten Stücke. Eigenartigerweise verlangt Vierne fürdie tiefe Bassmelodie ab Takt 24 Manualspiel.Auf kleinen Orgeln ist aber Pedalgebrauch sinn-voll, dies vor allem, wenn im Manual kein Prin-zipal 8’ vorhanden ist. Schlussorgelpunkt Eebenfalls besser im Pedal.

Nr. 10, Rêverie e-moll: Das Stück darf nichtzu langsam genommen werden (Metronoman-gabe des Komponisten wohl an der unteren Gren-ze). Pedal eher entbehrlich (sonst handelt mansich Zuziehen und Wegstossen der Koppeln ein).

Nr. 17, Lied As-Dur: eines der schönsten undeingängigsten Stücke, eine wunderbar getrageneMelodie, die zunächst in einer grossen Bass-durchführung vorgestellt wird. Hier ist ein star-ker Grundstimmenklang gefordert. Die Aus-führung dieser Stelle (wie auch der Reprise) aufdem Pedal zur Erzielung der entsprechendenGravität ist möglich, stellt aber heikle Applika-turprobleme. Es ist nicht einfach, die vielen vier-stimmigen Partien wie es sich gehört schön le-gato zu spielen. Eventuell behelfe man sich mitdem angekoppelten Pedal (so in den Takten 20bis 24; hier muss die Bass-Gegenstimme wirklichsehr gebunden gespielt werden).

Nr. 19, Berceuse A-Dur: Ein typisch viern-sches Weltschmerz-Stück, in dem kein einzigerkonsonanter Dreiklang vorkommt. Obwohl An-dantino bei Vierne (anders als bei Mozart!) sichereine Verlangsamung des Andantes bedeutet, darfdas Tempo nicht zu langsam genommen werden.Wenn man wegen kleiner Hände nicht in der

Beispiel 14

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Lage ist, die vierstimmigen Partien durchwegslegato zu spielen, versuche man, wenigstens dieRandstimmen zu binden.

Nr. 20, Pastorale a-moll: Eines der attraktivs-ten Stücke, freilich nicht ganz leicht. Das Pedalist durchwegs entbehrlich, es würde das Stückbeträchtlich erschweren. Fürs Umregistrieren imMittelteil muss man sich eventuell in der Gene-ralpause davor und danach etwas mehr Zeit las-sen.

Nr. 21, Carillon de Longpont B-Dur: ganzanders als das bekannte «Carillon de Westmins-ter» (auch viel leichter), ein sehr wirkungsvollesStück, allerdings sicher das schwerste der hier be-sprochenen. Es fragt sich, ob man das Ostinatotatsächlich auf dem Pedal spielen soll. Vielleichtspart man sich dies lieber für die Reprise auf. Pe-dalgebrauch ist dann angebracht, wenn die Or-gel über wenig Gravität im Manual verfügt. DieFrage bleibt allerdings, was man dann mit derletzten Seite macht. Eventuell spielt man hiernur die langen Noten pedaliter (Beispiel 14). ImMittelteil lässt sich das Quasi-Thema im Tenorauf einem gesonderten Manual spielen. Das Pe-dal übernimmt dann den Pizzicato-Bass (Bei-spiel 15). Pedalgebrauch ist ebenfalls in der Stei-gerung vor der Reprise möglich.

Jean Langlais (1907–1991): Vingt-quatre pièces pour orgue ouharmonium, Heft I–II (EditionsCombre)1. musikalische Qualität: ***2. technische Schwierigkeit: **** (grosse Unterschiede)3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ***4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: ****5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? möglich, häufig

unbedingt nötig6. Eignung für Pedalorgeln: ja

7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts:eher nicht

8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch undMehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden: ja

9. Charakter der Stücke: sehr vielgestaltige Stücke vongrosser Eigenart, vielleicht die uneinheitlichste allerhier vorgestellten Sammlungen.

Zum Komponist und zum Werk als GanzesDie 24 Stücke von Langlais sind gewissermasseneine moderne Fortsetzung der Reihe Heures mys-tiques-L’organiste-Petites fleures musicales. IhrSchöpfer war ja auch als Titularorganist in derBasilika Ste-Clothilde in Paris Nachfolger derbeiden Meister Franck und Tournemire. Bei letz-terem hat er Improvisation studiert. Gleichwohlist Langlais’ Werk alles andere als epigonal. Esunterscheidet sich inhaltlich ziemlich stark vonallem bisherigen. Der blinde Meister war für dieNiederschrift seiner Stücke auf die Hilfe andererangewiesen. Dies erklärt die vielen Fehler, Un-klarheiten und Inkonsequenzen seiner Notation.Vielleicht hat er auch, vor allem in seiner letztenSchaffensphase, allzu kritiklos komponiert undveröffentlicht. In Langlais’ riesigem Orgelwerk,das sich über einen Zeitraum von rund 60 Jahrenerstreckt, repräsentieren die 24 Stücke aber denersten Zeitabschnitt, der noch spürbar von derRomantik beeinflusst ist. Die immer wieder zuTage tretende, wohl auf seine bretonische Her-kunft zurückzuführende Kernigkeit der Ton-sprache ist ein Hauptmerkmal seiner Musik.Gross ist hier, wie häufig bei ihm, die Bandbrei-te der Schwierigkeit und leider auch der Qua-lität. Stilistisch und gattungsmässig handelt essich ebenfalls wohl um die vielgestaltigste derhier besprochenen Sammlungen. Die Ordnungist dieselbe wie bei Vierne: chromatisch aufstei-gend von C aus, wobei sich Dur-und Moll-Vari-

Beispiel 15

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anten abwechseln. Auch hier sollen nur die leich-teren Stücke Erwähnung finden.

Zu einzelnen StückenI, Prélude modal: stilistisch noch sehr im

Geist der berühmten Vorläufer; alles kann gutohne Pedal gespielt werden.

II, Hommage: an sich ein attraktives Stück(Gegensätze!). Die recht zahlreichen Registerma-nipulationen sind auf rein mechnischen Orgelnnicht einfach zu realisieren. Die Takte 31 bis 38müssen unbedingt mit dem Pedal gespielt wer-den, damit die Oberstimmen bequem auf diebeiden Hände verteilt werden können (Beispiel16).

V, Paraphrase sur «Salve Regina»: eines der li-turgischen Stücke über das Lieblingsthema desKomponisten; sehr kurz und schlicht.

VI, Nöel avec variations: ein sehr hübschesStück, welches harmonisch schrittweise avan-cierter wird. Für die zweite Variation gibt derKomponist eine triomässige Variante für Aus-führung auf der Orgel an.

X, Toccata: ein Zeugnis von Langlais’ breto-nischem Humor: 16 Takte zwei- und dreistim-miger Akkorde – das ist alles (!)

XV, Prière: das attraktivste Stück; eine sehrschöne Melodie, unterbrochen von gesättigtenAkkorden.

XVI, Choral orné: ein schlichtes Récit decornet.

XIX, Prélude und XX. Fuguette: von denschnellen Stücken die zugänglichsten. Die Pedal-angaben im Prélude können wohl nicht ernstgemeint sein.

XXI, Fantaisie: findet hier nur Erwähnungals Beispiel für den Versuch, das Harmonium alsKathedralorgel daherkommen zu lassen. Wennschon, spiele man auf der Orgel lieber die «Fan-taisie» aus «Hommage à Frescobaldi».

XXII, Chant élégiaque: ein sehr schönesStück mit der von Langlais geliebten Verdoppe-lung der Melodie im Tenor; dadurch nicht sehrleicht zu spielen aber lohnend.

XXIII, Point d’orgue: Es gilt dasselbe wie beiXXI; höchstens als Pedaletüde zu gebrauchen.

Beispiel 16: Langlais, Hommage

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André Fleury (1903–1995): Noëls etpièces diverses pour orgue ou har-monium (Editions de l’organiste,Nantes)1. musikalische Qualität: **2. technische Schwierigkeit: ** (ohne die letzten drei)3. Verwendbarkeit im (reformierten) Gottesdienst: ****

(ohne die letzten drei)4. Verfügbarkeit/Qualität der Edition: * (vergriffen?)5. Pedalgebrauch möglich/sinnvoll? ja6. Eignung für Pedalorgeln: ja7. Eignung für pedallose Orgeln hiesigen Zuschnitts: ja8. Hinweise zu Registrierung, Pedalgebrauch und

Mehrmanualigkeit vom Komponisten vorhanden: ja9. Charakter der Stücke: eine etwas heterogene Samm-

lung anspruchsloser, mehrheitlich rein tonaler, jakonsonanter Stücke «aus der Praxis – für die Praxis».

Zum Komponist und zum Werk als GanzesFleury gehörte der Generation der Duruflé,Langlais und Litaize an. Er war Schüler von Vier-ne und später einer der ersten Diplomanden vonDupré. Bei der Durchsicht dieser anspruchslo-sen Sammlung fällt es nicht leicht, dies zu glau-ben. Immerhin hat der virtuose Orgelspielerauch avanciertere Stücke geschrieben (zwei Or-

gelsymphonien und einen sehr schönen Marschfür Trompete und Orgel). Da Fleury von schwa-cher Gesundheit war, konnte er sich keine aus-gedehnten Konzerttourneen leisten und mussteauch für längere Zeit die Hauptstadt verlassen.Deshalb stand er etwas weniger im Rampenlichtals die eingangs erwähnten Zeitgenossen.

Zu einzelnen StückenSortie sur un vieux Noël, g-moll: über weite

Strecken ein Bicinium, dann leichte Drei- undMehrstimmigkeit, zuletzt Akkorde; ein Stück,das sehr gut auf Kleinorgel und Positiven aus-zuführen ist. Keine Orgelregistrierungen vomKomponisten vorhanden; Harmoniumsregis-trierung: � � � in beiden Händen, alsoGrundstimmen 8’, Zungen 8’ und 4’ (letzterewohl entbehrlich). Das Stück gewinnt an Wir-kung, wenn man es auf zwei Manualen spielt.

Variations sur «Adeste fideles», G-Dur: Dadas Lied «Herbei, o ihr Gläub’gen» nicht geradeüppig mit Bearbeitungen gesegnet ist, stellt dasStück eine willkommene Entdeckung dar. Dasdreistimmige Thema und die ersten drei Varia-tionen (zwei Bicinien und ein vierstimmigerChoralsatz) sind auch sehr leicht zu spielen. Die

Beispiel 17: Fleury, Adeste fideles, Variation 5

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Variation vier und vor allem die ausgedehntefünfte sind dann etwas schwerer (Beispiel 17).Man kann letztere auch auslassen und direktzum Piano-Epilog auf der voix céleste (!) sprin-gen. Das ganze Stück lässt sich durchaus ohnePedal und auf kleinen Orgeln darstellen, machtsich aber sehr gut mit etwas frecheren Klangfar-ben auf grossen Instrumenten. Die genauen Re-gistrierungangaben des Komponisten können alsHinweis dienen.

Versets sur l’hymne «Lucis creator»; Offer-toire pour une Messe de la Sainte Vierge; Pour leMagnificat du 8e ton: drei grössere gregoriani-sche Paraphrasen in etwas modernerem Gewand.Sie gehen allesamt in Richtung «grosse Musik fürkleine Orgeln», bei welcher der Verzicht aufsPedal nicht zwingend wirkt. Weit weniger abso-lute Musik als die entsprechenden Stücke vonGuilmant und Tournemire und deshalb auchweniger gut im reformierten Gottesdienst zu ver-wenden.

LiteraturKlaus Beckmann: Repertorium Orgelmusik I.Schott, Mainz 2001.Hector Berlioz: Grand traité d’instrumentationet d’orchestration modernes. Band 24 der Ge-samtausg. neu herausgegeben von Peter Bloom.Bärenreiter, Kassel 2003 (BVK 1586).Fréderic Blanc (Hrsg.): Maurice Duruflé. Souve-nirs et autres écrits. Séguier, Biarritz 2005.Hermann J. Busch (Hrsg.): Zur Interpretationder französischen Orgelmusik. Merseburger,Kassel 1986.Cécile und Emmanuel Cavaillé-Coll: AristideCavaillé-Coll. Fischbacher, Paris 1929.

Xavier Darasse et al.: Guide de la musique d’or-gue, Librairie Arthème Fayard, Paris 1991.Michel Davaille: La messe d’orgue. Associationdes Amis de l’orgue de Versailles, Versailles 1996.Norbert Dufourcq (Hrsg.): César Franck. L’or-gue, cahiers et mémoires, 1990 Nr. 2. Associa-tion des Amis de l’orgue, Paris 1990 (vergriffen).Norbert Dufourcq: La musique d’orgue françai-se de Jehan Titelouze à Jehan Alain. Floury, Paris1941 (vergriffen).Jean Guillou: L’orgue – Souvenir et Avenir.Buchet/Chastel, Paris 1978.Hans Uwe Hielscher: Alexandre Guilmant, Le-ben und Werk. Robert Beschauf, Bielefeld 1991.Markus Frank Hollingshaus: Die Orgelwerkevon Louis Vierne. Dohr, Köln 2005.Theo Hirsbrunner: Die Musik in Frankreich im20. Jahrhundert. Laaber Verlag, Laaber 1995.Marie-Louise Jaquet-Langlais: Jean Langlais.Ombre et lumière. Editions Combre, Paris1995.Jon Laukvik: Orgelschule zur historischen Auf-führungspraxis, Teil 2, Romantik. Carus, Stutt-gart 2001.Marie-Claire Mussat: Trajectoires de la musiqueau XXe siècle. Klincksieck, Paris 1995.Félix Raugel: Les organistes. Henri Laurens,Paris 1923 (vergriffen).Louis Vierne: Mes Souvenirs et Journal (Frag-ments). Nachdruck von: L’orgue, cahiers et mé-moires, 1970 Nr. 3 und 4. Ars Musicae, Chate-nay-Malabry, 1995.Louis Vierne: Meine Erinnerungen, nebst ergän-zenden Auszügen aus dem Tagebuch, übersetztund kommentiert von Hans Steinhaus. Dohr,Köln 2004.