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Entwicklungsstörungen im Bereich des Zwischenkiefers

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444 Fortschritte der Kieferorthopgdie Bd. 26 H. 4 (1965)

Aus der Universit~tsklinik und Poliklinik ffir Zatm-, Mund- und Kieferkrankheiten Hamburg (Direktor: Prof. Dr. Dr. K. Schuchardt)

Entwicklungsst~rungen im Bereich des Zwischenkiefers Von E. Hausser, Hamburg

Mit 12 Abbildungen

Die Bildung des Mittelgesiehtes unterlieg~ dem Einflul3 zahlreicher Faktoren; sie ist weitestgehend abhgngig yon dem Ablauf yon Wachstum und Entwieklung als den biogenetischen Vorg~ngen, die schon friihzeitig in der embryonalen Ent:

wieklung die Morphogenese des Ge- sichtsschiidels bestimmen. Die kriti- sehe Phase f'tir die Entstehung yon EntwieldungsstSrungen im Bereich des Zwisehenkiefers ist naeh T 5 n du r y die 6. Woche der embryonalen Ent- wicklung, da sehon in dieser friihen Entwicklungsperiode mit der Bildung des primitiven Nasenh6hlenbodens die Formung des Mittelgesichtes dureh eine epitheliale Versehmelzung der die Nasentasche umgrenzenden Wiilste zu einer Epithelmauer und ihr Ersatz dureh Mesenehym beginnt (Abb. 1). StSrungen in dieser Phase der Gesichts- entwicldung kSnnen zu Spaltbildun- gen im Mittelgesieht fiihren, indem die Vereinigung der embryonalen An- lagen des Zwischenkiefers mid der Oberkieferfortsiitze auf einer oder auf beiden Seiten ganz oder teilweise un- terbleibt und sich eine Lippen-Kiefer- spalte bildet. Tr i t t dagegen der de- finitive Gaumenversehlufl in der 5. bis 9. Embryonalwoche nur teilweise

Abb. 1. Ventralansicht des Kopfes eines Era- ein oder bleibt er ganz aus, so entsteht bryos von 13 mm SSL mit durchgehender Spal- te links anstelle der Gaumenrinne (nach TSn- eine Gaumenspalte. Die Entstehung

d u r y) yon Lippen -Kiefer- Gaumenspalten ist somit die Folge von zwei nebeneinan- der ablaufenden EntwicklungsstSrun-

gen. Entwicklungsgeschichtllch liegt das Foramen ineisivum an der Grenze zwi- sehen Kieferspalten und Gaumenspalte. Das Determinisationsprinzip ist durch die Bildung von 2 NasenhaupthSh|en stets bilateral orientiert. Es kSnnen daher hie-

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mals mediane Spaltbildungen entstehen, und die Entwicklungshemmungen treten immer ein- oder doppelseitig auf. Die Ursaehe hierf/ir ist naeh B a u t z m a n n in einer induktiven lJbersehneidung yon Kopf- und Rumpforganisator zu sehen, die zu einer t Iemmung der reziproken Determination ftihrt.

An der Bildung des primitiven Nasenbodens sind drei morphogenetiseh diffe- rente Formationen, der mesektoqermale Stirnfortsatz, das mesodermale Gewebe der hinteren Seh/idelbasis und das sich entwiekelnde Kiemendarmentoderm be- teiligt und ihrem EinfluB unterliegt aueh die Morphogenese des Oberkieferwulstes. Nach T 6 n d u r y k6nnen Entwieklungsst6rungen als prim/ire Spaltbildungen in der Phase der Epithelmauerbildung entstehen, indem der Termin ftir die Versehmel- zung verpaBt wird, w/ihrend Kerbungen, Einrisse und Durehrisse zu sekund/iren Spaltbildungen ftihren ( H o e h s t e t t e r , S t e i n i g e r , Veau). Auf dem primitiven Gaumen, dem spgteren Alveolarkamm, tr i l l kurz naeh der Substitution der Epi- thelmauer eine Ektodermverdiekung auf, die ein Vorstadium der sieh spgter ein- senkenden Zahnleiste darstellt. Eine Unterbrechung der Differenzierung des Zahn- leistenepithels fiihrt naeh den Untersuehungen yon In o u ye zu einer Fehlsteuerung der formativen Potenz der freiendigen Epithelkomplexe.

Bei primgr entstandenen Spaltbildungen, bei denen das Lippenrot bis zum Naseneingang reieht, fehlt dann h/iufig die Anlage des seitliehen Sehneidezahnes, bei den sekund/tr aufgetretenen gigformen sind dagegen vorwiegend Doppel- anlagen der seitliehen Sehneidezahne und Mikroformen einzelner Zahnanlagen im Bereieh der Spaltbildung vorhanden (Pfe i fe r ) . Zwisehen dem Lippenrot und der Zahnleiste besteht entwieklungsgeschiehtlieh ein enger Zusammenhang, da sie aus einer bandf6rmigen EktodermMste entstehen und anfangs zusammenhSmgen. Daraus ist aueh der Untersehied in der Lage der spaltnahen Zahnanlagen bei den prim/tr und sekund/ir entstandenen Spaltbildungen zu erkl/iren, indem Doppel- anlagen der seitliehen Sehneidez/thne hitufiger bei den sekund/ir eintretenden Spaltbildungen, die mit einem kurzen Lilopenrotsaum einhergehen, zu finden sind. Bei einem langen, bis zum Naseneingang reiehenden Lippenrot, einem charakte- ristisehen Zeiehen f/Jr primiir entstandene Spaltbildungen, fehlt dagegen im all- gemeinen oft die Anlage des seitliehen Mflehsehneidezahnes (Abb. 2).

Naeh den versehiedenen statistisehen Untersuehungen hat die IK/iufigkeit der Entwieklungsst6rungen erheblieh zugenommen, da neuere Erhebungen eine H/iufigkeit yon 1:600 ergaben ( F o g h - A n d e r s e n , L e n z , Soivio) , w/thrend friiher mit einer tI/tufigkeit yon 1 : 900 und 1 : 1000 gereehnet wurde. Naeh Untersuehun- gen yon F o g h - A n d e r s e n , G y l l i n g und S o i v i o fanden sich Lippen-Kiefer-und Lippen-Kiefer-Gaumenspalten h/iufiger beim mgnn]iehen als beim weibliehen Ge- schlecht; mehr als die H/ilfte der Spaltbildungen waren Lippen-Kiefer-Gaumen- spalten und jede 3. Spaltbildung war eine bilaterale Spaltbildung. Einseitige Spalten waren links doppelt so h/tufig wie rechts lokalisiert.

In unserem Untersuchungsgut sind 29 ~ der 195 Lippen-Kiefer- Gaumenspalten bei Kindern weiblichen und 71~ der Fehlbildungen bei Kindern m~nnlichen Ge- schlechts vorhanden. Die doppelseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind beim mannliehen Geschlecht mit 700/0 mehr als doppelt so oft als beim weibliehen lest- zustellen, wie auch die einseitigen Spalten mit 70% beim mgnnlichen Gesehlecht h/~ufiger vorkommen. Die einseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind bei 31~ der F/~lle auf der rechten Seite lokalisiert, wobei 30% der reehtsseitigen Spalten bei Kindern weiblichen Geschleehts festzustellen sind. Von den 69% linksseitigen Lippen-Kiefer-Gaumenspalten waren 28~o bei Kindern weiblichen Geschlechts vorhanden.

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Diese Untersuchungen tiber die HKufigkeit, Lokalisation und die Verteilung der versehiedenen EntwicklungsstSrungen, die sich als Spaltbildungen im Bereich des Zwischenkiefers manifestieren, bestKtigen somit weitgehend die Ergebnisse der verschiedenen statistischen Untersuehungen anderer Autoren.

Abb. 2. Verschiedene Spaltbildungen mit fehlenden Zahnanlagen und Doppelanlage der seit- lichen Schneidez/~hne:

a) Linksseitige Spaltbildung mit distal stehendem seitlichen Milchschneidezahn und fehlender Anlage des bleibenden seitlichen Schneidezahnes

b) Linksseitige Spaltbildung mit Doppelanlage der seitlichen Milchschneidez~hne c) I)oppelseitige Spaltbildung mit Verdoppelung der seitlichen Schneideziihne

Die mangelhafte Vereinigung im Bereich des Zwischenkiefers bleibt nieht ohne Einflul3 auf die Entwieklung des ganzen Mittelgesichtes. Bei den durchgehenden einseitigen, besonders aber den doppelseitigen Spaltbildungen steht der Zwischen- kiefer auf Grund einer exzessiven Wachstumstendenz oftmals weir nach vorne und oben (Abb.3), wi~hrend die Breitenentwicklung im Bereich des Oberkiefers wie bei den isolierten Gaumenspalten zuni~chst keine Beeintriiehtigung zeigt. Das Mittelgesicht erf~hrt jedoch auf Grund der fehlenden Verbindung der einzelnen

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Abb. 3. Abb. 4

Abb. 3. Weit vorstehender Zwischenkiefer bei einem 5 Jahre alten Kinde und distale Verzah- hung der Zahnreihen

Abb.4. Stark dorsal gekippter Zwischenkiefer mit invertierter Durchbruchsrichtung der obe- ren Schneidez~hne bei einem 7 Jahre alten Kind mit doppelseitiger Lippen-Kiefer-Gaumen-

spalte

Abb. 5. Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit fehlender Anlage der oberen seitlichen Schneideziihne und korrektem Schneidezahniiberbill bei hochgradiger transversaler Entwick-

lungshemmung des Oberkiefers

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kn6chernen Oberkieferanteile oftmals eine auflerordentlich ungfinstige Beein- flussung seiner weiteren Entwicklung in transversaler und sagittaler Richtung. Insbesondere bleibt der frfihzeitige Verschlufl der Lil0penspalte mit der Vereinigung der Muskeln der Oberlippe nicht ohne Einflul3 auf die Entwicldung im Bereich des Zwischenkiefers (Abb. 4), die Stellung der seitlichen Oberkieferforts/itze und die Einstellung der oberen Front, indem die sagittale Entwicklung des Zwischen- kiefers gehemmt wird, die seitlichen Oberkieferforts/~tze abet meist eine ausge- pr/igte Schwenkung nach innen erfahren, so dab der Zwisehenkiefer zwischen den beiden Oberkieferforts/~tzen keinen Platz mehr findet und zuweit sagittal vorge- lagert stehen bleibt (Abb. 5). Der Zwischenkiefer kann aber auch bei nicht allzu-

Abb.6. Rechtsseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit starker Palatinalsehwenkung des rechten seitlichen Oberkieferanteils und starkem Rfickstand des Zwischenkiefers mit proge-

ner Verzahnung der Frontziihne"

grol3em sagittalem Vorstand durch den Druck der versch|ossenen Oberlippe in eine dorsale Stellung gelangen, so dal3 er zwischen den seitliehen Oberkieferfort- s~tzen steht oder von ihnen umschlossen wird. Das Fehlen einer knSehernen Ver- bindung zwischen den Oberkieferforts~tzen und dem Zwischenkiefer fiihrt in Abh~ngigkeit von dem WeichteilverschluB der Oberlippe zu aul3erordentlich unter- schiedlichen, stets sehr stark ausgepr~gten Entwicklungshemmungen und Ver- formungen des ganzen Oberkiefers, die nicht nur auf den Bereich des oberen Alveo- larfortsatzes und der apikalen Basis beschr/~nkt sind, sondern auch die Entwick- lung des ganzen Mittelgesichtesin erheb]Jchem Au smal3 beeintr/ichtigen (Abb. 6, 7, 8).

So erf/~hrt offensicht]ich das Wachstum und die weitere Entwicklung des gan- zen Gesichtsskeletts auf Grund der ver/~nderten statistischen Relationen und bio- mechanischen Verh/~ltnisse eine u~gfinstige Beeinflussung, denn das ganze Mittel- gesicht erscheint eingefallen und im Verh/i]tnis zum Sch/~del und Unterkiefer zu- r/icldiegend. Dieser Eindruck wird dutch die bei diesen F/~llen oftmals bestehende progene Verzahnung im al]gemeinen noch verst/irkt, wenn es sich dabei auch in

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Abb.7. Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit vorstehendem Zwischenkiefer und progener Verzahnung auf Grund der stark invertierten Stellung der oberen mittleren Milch- schneidez~hne bei fehlender Anlage des linken oberen seitlichen Milch- und beider bleibenden SchneidezKhne. :Dcr rechte obere Milchschneidezahn ist palatinal distal der Spalte durchge-

brochen

Abb. 8. Hochgradige transversale Unferentwicklung des Oberkiefers bei doppelseitiger Lippen- Kiefer-Gaumenspalte und laf~raler Stellung des Zwischenkiefers bei Nichtanlage der bleiben-

den oberen seitlichen SchneidezKhne

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der Mehrzahl der Fiille um das klinische Bild einer falsehen Progenie handelt (Abb.9). Die progene Verzahnung im Frontzahngebiet ist jedoeh nieht immer durch einen zu groflen Riiekstand des ganzen Zwischenkiefers bedingt, sie kann vielmehr aueh dadurch entstehen, dab die oberen Frontz~hne invertiert zum Durehbruch kommen, well der Zwisehenkiefer nach dorsal gekippt ist und die oberen Schneideziihne deshalb in einer zu steilen Achsenrichtung durchbreehen, die zu einer Verfangung hinter den unteren Sehneidez~hnen fiihrt (Abb. 4).

i

/ . ? J Abb. 9 Abb. 10

Abb. 9. Hochgradige transversale und sagittale Untorentwicklung im Bereich des ganzen Oberkiefers im Alter von 17 Jahren mit doppelseitiger Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

Abb. 10. Vergleich des Durchschnittsdiagramms auf Grund der Auswertung von 71 FemrSnt- genaufnahmen von Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ( ......... ) mit einem ~Mittel- wertsdiagramm von Probanden mit anatomisch korrekter Okklusion ( ) (Hoffens-

Villagrs

I3ber die morphologischen Besonderheiten, die der Aufbau des Gesichtssch~- dels bei Patienten mi t Lippen-Kiefer-Gaumenspalten aufweist, ergab die Auswer- tung einer groBen Zahl yon FernrSntgen-Profilaufnahmen, die H o f f e n s - V i l l a - g r s an der Hamburger Klinik durchftihrte, daft der Einflul3 der Spaltbildung sich im ganzen Bereich des Mittelgesichtes feststellen liil]t. Wie der Vergleich eines MittelwertAiagrammes mit einem Diagram m, das aus den ermittelten Durchschnitts- werten fiir die verschiedenen anthropologischen Winkel und Streeken bei den 71 untersuchten Patienten mi t Lippen-Kiefer-Gaumenspalten konstruiert wurde, zeigt, ist bei den Patienten mi t Lippen-Kiefer-Gaumenspalten eine sagittale Ent - wicklungshemmung des Gesichtssehiidels vorhanden, da alle Profilpunkte zuriick- liegen (Abb. 10). Es besteht in vertika]er Richtung jedoeh keine Unterentwicklung, der Abstand yon Nasion zu Gnathion ist sogar vergrSl3ert. Ein Vergleieh der Dia- gramme nach der Frankfur ter Horizonta]en ergibt ebenso wie ein Vergleich naeh

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der Oberkieferbasis, bei denen die durch die VergrSBerung des Sphenoidal- winkels und den Gelenkhochstand gegebene Drehung nach hinten ausgeschaltet ist, dab Frankfurter Horizontale, Oberkieferbasis und Kauebene nahezu parallel verlaufen und daB der Abstand zwischen Frankfurter Horizontale und Oberkiefer- basis stark verkleinert ist, w/ihrend der Abstand zwisehen Oberkiefer-Basis und Kauebene eine nur geringgradige VergrSBerung aufweist. Der UnterkieferwJnkel ist vergrSBert, in sagittaler Richtung liegt jedoeh keine Uberentwicklung der Mandibula vor, sie zeigt vielmehr eine ~hnliche Verkleinerung wit die Strecke N--S. Es besteht jedoch im anterioren Bereich eine beachtliche vertikale Uber- hShung, die in einem vergrSBerten Abstand yon Kauebene und Unterkieferbasis ihren Ausdruck findet. Die Lage des Unterkiefers und die Stellung der unteren Frontzs zur Unterkieferbasis sind fast korrekt, w/~hrend die Oberkieferbasis, die in ihrer absoluten Gr6Be keine wesentliehe Abweichung aufweist, insgesamt zu welt zur/ickliegt. Nach diesen Untersuchungsergebnissen ist somit im allgemei- nen bei den Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten eine sagittale und verti- kale Entwicklungshemmung im unteren Teil des Mitte]gesichtes vorhanden, wobei sich die vertikale Komponente in einer Ann~iherung der Oberkieferbasis an die Frankfurter Horizontalebene und der horizontale Anteil in einer Dorsallage der Oberkieferbasis ausweist, w//hrend der Unterkiefer --/~hnlich wie beim echten offenen BiB - - eine anteriore l~berh6hung ohne eine sagittale Vergr6Berung zeigt.

Die EntwicklungsstSrungen im Bereich des Zwischenkiefers, die als prim/~re und sekundgre Lippen-Kiefer-Gaumenspaltenbildungen in Erscheinung treten, ffihren in der weiteren postnatalen Entwicklung zu augerordentlich eindrucks- vollen Fehlbildungen des ganzen Kauorgans und beeintr~chtigen auch die weitere Entwicklung des Mittelgesiehtsaufbaues. Diese Fehtbildungen, die in engem Zu- sammenhang mit der fehlenden knSchernen Vereinigung zwischen den Oberkiefer- forts/itzen und dem Zwischenkiefer entstehen, werden abet in gleicher ~Veise auch durch die verschiedenen genetischen und/~tiologischen Faktoren, die auch in an- deren F/~llen zur Entstehung von GebiBfehlbildungen fiihren, beeinfluBt (Abb.11). Der EinfluB dieser endogenen und exogenen Faktoren ffihrt abet bei den Spalt- bildungen auf Grund der besonderen morphologischen Verh/~ltnisse im Mittel- gesiehtsbereich oftmals zu besonders hochgradigen Abweichungen. Aufgabe aller therapeutischen MaBnahmen ist es daher, vor allen Dingen einer ungiinstigen weiteren Entwicklung entgegenzuwirken und durch sinnvolles Vorgehen beim VerschluB der Spaltbildungen gfinstige Voraussetzungen f/Jr die weiteren ~Vaehs- turns- und Entwicklungsvorg/~nge im Bereich des Oberkiefers herzustellen. So hat sich aueh die ?Jberbrtickung des kn6chernen Defektes durch eine primate Osteo- plastik beim Verschlug der Lippenspalte ( S c h u c h a r d t ) als ein in vieler Hinsicht besonders vorteilhaftes Vorgehen erwiesen, indem durch die tterstellung der kn6- chernen Kontinuit/~t an der Oberkieferbasis eine so weitgehende Abstiitzung er- zielt wird, dab der prim~re Lippenverschlug sieh urs/ichlich nicht mehr ungfinstig auf die weitere Entwicklung auswirken kann und tin verh/~ltnism~gig gut geform- ter oberer Zahnbogen entsteht.

Bei den kieferorthop/klischen MaBnahmen, die zur Beseitigung yon Abwei- chungen der Zahnb6gen und der Okklusion erforderlieh sind, bedarf es bei den Entwieklungsst6rungen im Bereich des Zwischenkiefers oftmals nicht nut einer Umformung des oberen Zahnbogens, sondern auch einer Beeinflussung des ganzen Oberkiefers in transversaler und sagittaler Richtung, um der Entwicklungshem- mung im Bereieh des Mittelgesiehtes entgegenzuwirken und mit der Einordnung der Frontz/thne einen gesieherten Sehneidezahn/iberbig erreiehen zu k6nnen.

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Abb. 11 a

Abb. 11 b

Abb. l l . Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte bei Geschwistern, deren Mutter einen ausgepr~gten I)eekbiB hat. Bei beiden Kindern besteht eine hoehgradige Steilstellung der mittleren Schneidez/~hne. Bei dem einen Kind (a) sind die oberen mittleren Sehneidez~lme auch teilweise hinter der unteren Zahnreihe verfangen, w/~hrend bei dem anderen Kind (b)

die oberen Schneidez~hne welt fiber die unteren Frontz~hne iiberbeiBen a) Doppelseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte mit teilweiser progener Verzahnung der oberen

Schneidez~hne b) I)eckbiBartige ~berdeckung der unteren Frontz~hne durch die oberen Schneidez~hne

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Durch diese Umformungen des Oberkiefers kSnnen auch die Voraussetzungen fiir eine ~berbriickung des Spaltes und die Fixierung des Zwischenkiefers an den seit- lichen Oberkieferforts~tzen durch eine sekundKre Osteoplastik in giinstiger Weise beeinflul~t werden.

Die MSg]ichkeiten fiir eine Nachentwicklung des Oberkiefers in sagittaler Richtung sind freilich stark begrenzt, und bei Verwendung extra- und intraoraler Verankerung der Gummiziige ist auch infolge dieser reziproken Wirkung eine Auswirkung auf den zur Abstiitzung dienenden Unterkiefer nicht zu vermeiden. Auf diese Weise kann jedoch eine Verringerung der sagittalen Entwicklungs- differenzen zwischen Mittelgesicht und Unterkiefer erreicht werden, indem eine

Abb. 12. Fernr6ntgen-Profilaufnahmen vor und nach kieferorthop~idischer Beeirdiussung der sagittalen Entwicklungsdifferenzen im Kiefer-Gesichtsbereich bei doppelseitiger Lippen-

Kiefer- Gaumenspaltenbildung

weitere Vorentwicklung des Unterkiefers gehemmt wird, so dal~ auch der Profil- verlauf im Zusammenhang mit der Beseitigung einer progenen Verzahnung eine gewisse Verbesserung erf~hrt.

Diese Einflul3nahme durch kieferorthop~dische Behandlungsmal~nahmen sollte bei den Entwicklungsst6rungen im Bereich des Zwischenkiefers m6glichst friih- zeitig erfolgen, so dab koordiniert mit dem chirurgischen Vorgehen so friih wie m6glich nicht nur vorhandene Abweichungen beseitig~ und dadurch gfinstige Vor- aussetzungen fiir die weiteren Wachstums- und Entwicklungsvorgi~nge geschaffen werden, sondern auch noch eine Beeinflussung dieser Vorg~nge m6glich ist.

Eine Beeinflussung der sagittalen Wachstums- und Entwicklungsvorg~nge am Gesichtssch~del durch kieferorthopfi~tische Mal3nahmen ist jedoch bei Entwick- lungsstSrungen im Bereich des Zwischenkiefers au~erordentlich schwierig, wie die Behandlung eines 7 Jahre alten Kindes mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zeigt, bei dem versucht wurde, mit der Beseitigung der progenen Verzahnung durch kieferorthop~dische tIilfsmittel (intermaxil|~re Gummizfige und Kopfkinnkappe) 31- Fortschritte der Kieferorthop~idie Bd. 26 H. 4

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auch der Entwicklungshemmung im Mittelgesicht entgegenzuwirken (Abb. 12). Ein Vergleich der FernrSntgen-Profilaufnahmen - - die 2. Aufnahme ist 6 Jahre nach Behandlungsbeginn im Alter yon 13 Jahren hergestellt - - veranschaulicht, dab w~hrend dieser Zeit eine erhebliche Weiterentwicklung des Gesichtssch/~dels in vertikaler l~ichtung eingetreten ist. In sagittaler gichtung ist das Verhs zwischen Sch/tdelbasis, Oberkieferbasis und Unterkiefer jedoch nahezu unver- '~ndert geblieben. Es weist auch der Unterkieferk6rper keine nennenswerte sagit- tale GrSgenzunahme auf. Durch die kieferorthopgdische Beeinflussung ist es daher wohl nut gelungen, einer progressiven Entwicklung der Abweichungen im Bereich des Untergesichtes entgegenzuwirken und durch eine Streckung des oberen Zahn- bogens eine giinstigere Frontzahnverzahnung herzustellen, wodureh auch der progene Habitus eine Abschwachung erfahren hat. Auch bei fr/ihzeitig einsetzen- der therapeutiseher Beeinfiussung kann eine Nachentwicklung im Bereich des Mittelgesichtes in sagittaler l~ichtung nur in begrenztem Umfang erreicht werden, w/ihrend eine Nachentwicklung in transverslaer Richtung ohne besondere Schwie- rigkeiten mSglich ist. Zur Verringerung sagittaler Entwieklungsdifferenzen er- scheint daher die Verwendung reziprok wirkender Behandlungsmittel mit extra- oraler Verankerung besonders geeignet, so dab durch die intermaxill/tre Wirkung der Behelfe nieht nur die okklusalen Beziehungen der Zahnreihen verbessert, sondern auch die Relationen der Kieferbasen und der Profilverlauf g/instig beein- fluBt werden. Wenn es auf diese Weise auch nicht m6glich ist, die durch die Ent- wicklungsst6rung im Bereich des Zwischenkiefers bedingte Entwicklungshem- nmng im Mittelgesicht vollkominen auszugleichen, so k6nnen jedoch die Auswir- kungen im Kiefergesichtsbereich dadurch erheblich verringert werden, indem mit der Schaffung eines funktionsf/ihigen Kauorgans auch das Aussehen eine Vet- besserung erf/~hrt.

Anschrift d. Verf. : Prof. Dr. Erich Hausser, 2 Hamburg 20, LenhartzstraBe 9